Der Tag, an dem Marilyn starb
Piper München Zürich
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Aus dem kanadischen Englisch von Sylvia Höfer
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95100-5
© Donna Milner 2009
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2010
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»Promise of Rain« im Quercus Verlag, London.
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagabbildung: Glasshouse / Mauritius Images
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
1
Meine Mutter starb am selben Tag wie Marilyn Monroe, nämlich am 5. August 1962. Und genau wie im Fall des Filmstars wurde die Leiche meiner Mutter erst am folgenden Tag entdeckt.
Zu ihren Lebzeiten war die Präsenz meiner Mutter unverwechselbar. Da sie sich bis zuletzt treu blieb, haftete auch ihrem Tod etwas Dramatisches an. Jedenfalls sollte er meinen Vater zwingen, zu seiner Familie zurückzukommen.
Auch wenn er während der ganzen elf Jahre meiner Existenz allabendlich in unser zweistöckiges, eigens für Veteranen des Zweiten Weltkriegs erbautes Haus in South Vancouver zurückkehrte, war doch ein großer Teil meines Vaters nicht wirklich da.
An seine Abwesenheit war ich gewöhnt. An ihre nicht.
Im Laufe der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es diese Abwesenheit war, die mich am frühen Morgen, als alles noch dunkel war, aus dem Schlaf schreckte. Tatsächlich war es wohl eher eine Windbö, die mein Fenster zum Klappern brachte, oder das Trommeln des Regens gegen die Glasscheibe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich die Augen aufschlug, unbedingt aufstehen und auf den schmalen Gang zwischen den beiden Schlafzimmern hinaustreten wollte. Mit pochendem Herzen stand ich oben auf der Treppe und horchte in die Stille des Hauses hinein.
Unten ging ich durch die offene Tür am Ende der Diele ins Schlafzimmer meiner Eltern. Der vertraute Duft von Mutters Soir de Paris stieg mir in die Nase, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ich sah mich im Raum um. Als ich in der Ecke eine Gestalt bemerkte, stockte mir der Atem. Aber es war nur ein Kleid meiner Mutter, das an der Schranktür hing. Das Zimmer war leer.
Ich stieg über die Wäschestücke, die auf dem Boden verstreut lagen, und strich mit der Hand über den weichen Stoff von Moms Kleid. Es war ihr Lieblingskleid, das sie ihre »Haut-alle-um-Sonntagsrobe« nannte, und nur dieses Kleid hängte sie immer auf einen gepolsterten Bügel.
An dem Tag, als es der Eaton’s Truck bei uns ablieferte, hatte sie mich, sobald sie es angezogen hatte, in ihr Zimmer gerufen. Sie beugte sich dicht zum Spiegel, um sich die Lippen anzumalen und den kleinen Hubbel auf ihrer Nase abzudecken, dann legte sie den Kopf zur Seite und studierte ihre Wirkung. Erfreut schob sie die Bücher, die Nylonstrümpfe und den halbgefüllten Aschenbecher auf dem Toilettentisch beiseite und trat einen Schritt zurück: »Wie findest du’s, Ethie?«
In meinen Augen war sie perfekt, egal, was sie trug. Aber an diesem Kleid war etwas, was ihre grünen Augen noch mehr strahlen, ihre tizianfarbenen Locken noch mehr glänzen und ihre Sommersprossen, die auch Puder nicht unsichtbar machen konnte, noch exotischer aussehen ließ. »Du siehst schön aus«, sagte ich. »Wie ein Filmstar.«
Sie beugte sich zu mir, zog mich an sich und hüllte mich in ihr neues grünes Kleid und ihr Parfüm. »Ach, Ethie«, seufzte sie, »es ist wunderbar, wenn jemand einen schön nennt. Vor allem, wenn es mein liebes Töchterchen tut.«
Ich habe wohl schon damals geahnt, dass der Kauf dieses Kleides als Strafe für irgendein Vergehen meines Vaters gedacht war. Wenn sie böse auf ihn war, bestand Moms Lösung darin, den Katalog durchzublättern und etwas zu bestellen, was sie sich nicht leisten konnten. Bei uns zu Hause kümmerte sich Dad um die Finanzen. Alles, was wir brauchten, einschließlich der wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe, wurde angeschrieben, und am Ende jedes Monats war er es, der die Rechnungen bezahlte.
Bevor meine Mutter arbeiten ging, konnte sie nur über die monatliche Familienzulage verfügen, zehn Dollar pro Kind. Irgendwie schien Dad zu glauben, dass dreißig Dollar für alle Extraausgaben reichen müssten.
»Es ist ein besonderes Kleid, oder?«, fragte Mom, und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mit dem, was sie sah, zufrieden war. Ich nickte, war mir aber ziemlich sicher, dass sie keine Antwort erwartete.
»Es ist ein Klassiker«, sagte sie, »und ich werde gut darauf aufpassen, damit du es tragen kannst, wenn du größer bist.« Jedes Mal, wenn sie das Kleid anzog, stellte ich mir vor, dass ich es eines Tages selbst anhaben würde. Doch es sollte anders kommen.
Als ich in der Dunkelheit eine Bewegung wahrnahm, fuhr ich herum. Aber ich sah nur die zerzausten roten Locken und das erschrockene Gesicht eines elfjährigen Mädchens, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrte.
Das Blut pochte mir in den Ohren und ich schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Am anderen Ende des Flurs sah ich ins Wohnzimmer und ins Bad. Beide Räume waren leer. Dann ging ich in Richtung Küche und sah ihn – meinen Vater, der allein im Dunkeln saß und aus dem Fenster starrte.
Irgendwie ahnte ich, dass es nicht die Zeit war, meinen kleinen Ablenkungstanz aufzuführen, mit dem ich so oft versuchte, ihn zurückzuholen, wenn er in seine Trancezustände versank.
Plötzlich zuckte das Licht von Scheinwerfern über das Fenster. Ohne seinen Blick von der Straße zu wenden, nahm Dad die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in der Untertasse aus. Ich schlich zurück in den Gang und ins Wohnzimmer hinein, wo ich mich bei den Frontfenstern an die Wand lehnte und eine Ecke der dünnen Vorhänge beiseite zog.
Am Randstein draußen stand ein schwarz-weißes Auto. Lichtgefüllte Tröpfchen bedeckten die Windschutzscheibe und machten die Insassen unkenntlich. In dem Augenblick, als die Autotüren aufgingen, teilten sich die Schlafzimmergardinen auf der anderen Straßenseite. Mit einem Ruck wurden sie wieder zugezogen, aber so, dass ein kleiner Spalt offen blieb.
Mrs. Manson. Die Nachbarin, der nichts entgeht, so nannte Mom sie – oder auch eine Wichtigtuerin. Und genau wie ich war sie gerade dabei, durch ihr Guckloch zu beobachten, wie vor unserem Haus zwei Polizisten aus dem Auto stiegen.
Ich rannte aus dem Wohnzimmer und flüchtete die Treppe hinauf. Atemlos setzte ich mich auf die Stufe über der Kehre und beugte mich vor, um besser lauschen zu können.
Das Klopfen an der Tür, das unser Leben für immer verändern sollte, war leise. Schon beim ersten zögernden Pochen öffnete sich quietschend die Eingangstür.
»Howard Coulter?« Die Stimme, die den Namen meines Vaters nannte, klang sehr jung. Noch jünger als die meines ältesten Bruders Frankie, der zwanzig war. Wie das Klopfen, so klang auch diese Stimme in meinen Ohren zu sanft und zu freundlich für einen Polizisten.
Mein Vater gab keine Antwort. Nach einem Moment des Schweigens fragte eine ältere, tiefere Stimme: »Dürfen wir hereinkommen, Mr. Coulter?«
Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter. Ich fuhr herum und sah Kipper über mir mit seinem schlaffen Mund, der versuchte, ein Wort zu bilden. Ich hob einen Finger an die Lippen. Er lächelte und ahmte meine Pssst-Geste nach. Ich deutete auf die Stufe neben mir, und er ließ sich mit seinem großen Hintern darauf plumpsen. Obwohl drei Jahre älter, war mein Bruder mit seiner schweren Stehaufmännchenfigur kleiner als ich. Er legte seinen kurzen Arm um meine Schulter: Auch wenn er nicht begriff, was vor sich ging, freute er sich doch, Teil einer Verschwörung zu sein. Wir müssen ein merkwürdiges Paar abgegeben haben, wie wir so in der frühmorgendlichen Dunkelheit dasaßen: ich in meiner Unterwäsche, eine Haarlocke zwischen den Fingern drehend, und mein grinsender vierzehnjähriger Bruder in seinem blauen Teddybären-Pyjama und dem braunen Filzhut auf dem Kopf.
Dieser Hut mit der hochstehenden Krempe war fast mit Kipper verwachsen. Er nahm ihn nur zum Schlafen ab. Der Hut hing dann auf seinem Bettpfosten, bereit, in dem Augenblick, in dem Kipper aufwachte, auf seinem Kopf zu landen. Er hatte Dads Hut – ein Geburtstagsgeschenk von Mom – schon vor Jahren geerbt. Dad hatte ihn nie getragen.
Unten im Eingang wiederholte die allzu junge Stimme den Namen meines Vaters, und ich spürte, wie mich bei dem mitfühlenden Ton die Angst packte. Ich beugte mich vor und bemühte mich, um die Ecke zu schielen. Da fühlte ich eine andere Hand auf meiner Schulter, und schon zwängte sich mein Bruder Frankie, ohne Hemd und mit bloßen Füßen, zwischen Kipper und mir hindurch. Seine honigblonden Haare, die normalerweise zu einem perfekten Entenschwanz gekämmt waren, standen ihm wie Flügel vom Kopf ab. Ich konnte noch die Brylcreem riechen, ein Überbleibsel seines Rendezvous am Abend zuvor. Ohne stehen zu bleiben, sagte er: »Geht wieder ins Bett!«, und zog, während er die Treppen hinuntersprang, den Reißverschluss seiner Jeans hoch.
Kipper stand auf, wie stets bereit, Frankie widerspruchslos zu gehorchen. Gewöhnlich tat ich das auch. Aber dieses Mal nicht. Ich ging Frankie hinterher. Unten stand mein Vater regungslos da. Er wirkte klein und zusammengefallen in dem unbeleuchteten Eingang. Seine Hand lag wie angefroren auf dem Knauf der offenen Tür zur Eingangsveranda. Draußen prasselte im schwachen Morgenlicht der Regen auf die beiden Polizisten nieder.
2
Ich wusste, dass er anders war.
Schon mit sechs Jahren war mir bewusst, dass mein Vater nicht so war wie andere Väter. Andere Väter saßen nicht herum und starrten auf die Wand, auf einen Punkt ein paar Zentimeter über dem Fernsehgerät. Sie tauchten nicht regelmäßig in eine Welt des Schweigens ab und irrten auch nicht auf langen Wanderungen durch den Regen von Vancouver. Mein Vater verschwand manchmal für Stunden, ja sogar für ganze Tage, und kehrte von diesen Reisen mit müden Augen und bis auf die Knochen durchnässt zurück, aber immer irgendwie besserer Laune, so als hätte der Regen seine Stimmung ebenso aufgehellt, wie er die Luft der Stadt klärte.
Ich wusste, dass andere Väter mit ihren Söhnen Fangen spielten. Neidisch beobachtete ich, wenn sie ihre Töchter auf die Schultern hoben und Huckepack in ihren Gärten spazieren trugen. Und ich wusste, dass sie ihre Kinder wirklich wahrnahmen. Bei meinem Vater war ich mir da nicht immer sicher.
In meinem ersten Schuljahr erlaubte mir Mom, bis zum Ende der Barclay Street zu laufen und dort auf ihn zu warten, wenn er von der Arbeit im Sägewerk heimkam. Jeden Abend stand ich ungeduldig da, bis mein gut aussehender Vater, in dessen schütteren braunen Haaren noch Sägemehl hing, aus dem Bus stieg. Und jeden Abend bemerkte ich für einen Sekundenbruchteil Verwirrtheit in seinen Augen, wenn er mich dort stehen sah. Dann sagte er rasch: »Ach hallo, Ethie.« Er setzte mir seinen Schutzhelm auf und reichte mir seinen Henkelmann, der nach Metall und Sardinensandwich roch. Auf dem Nachhauseweg schlenkerte ich das Gefäß in der einen Hand, während ich mich mit der anderen an seine klammerte. Er tat so, als freute er sich, mich wiederzusehen.
Ich begriff früh, warum mein Vater so von der Welt entrückt war. Oder zumindest glaubte ich es zu wissen.
Es war »der Krieg«. Er hing bei uns zu Hause in der Luft wie ein Phantom. Er lauerte hinter dem leeren Blick meines Vaters und in den Whiskeyflaschen oben auf dem Kühlschrank. Manchmal schrie Dad mitten in der Nacht in seinen Albträumen und weckte mit seiner Raserei das ganze Haus. Für diese Fälle hielt Mom einen Besen neben ihrem Bett bereit. Einmal, nicht lange nach seiner Heimkehr aus dem Krieg, hatte sie den Fehler gemacht, ihn zu berühren, während er gegen die Schreckgespenster ankämpfte, die ihn im Schlaf quälten. Ein heftig um sich schlagender Arm traf sie direkt zwischen die Augen, brach ihr das Nasenbein und meinem Vater das Herz, erzählte sie. Also sprang sie in den folgenden siebzehn Jahren, wenn er neben ihr gegen seine Schreckensvisionen kämpfte, aus dem Bett und versetzte ihm einen Stoß mit dem Besenstiel. Sie legte sich erst wieder hin, wenn sie sicher war, dass er richtig wach war. Dann lag ich oben in meinem Zimmer und lauschte, wie sie ihm in ihrer piepsigen Singstimme zusummte. Am nächsten Tag sahen die Augen meines Vaters leer und trocken aus, als warteten sie auf den nächsten Regen, der sie wieder beleben würde.
»Es ist der Krieg«, vertraute Mom Besuchern mit gedämpfter Stimme an, wenn sie versuchte, ihnen seine plötzlichen Rückzüge zu erklären. Als ich noch sehr klein war, hörte ich Mom und Frankie diese Worte im Zusammenhang mit den Absencen meines Vaters so oft sagen, dass ich »den Krieg« für eine Person hielt. Aber bald lernte ich, dass es nur Erinnerungen waren. Erinnerungen, die mein Vater mit niemandem teilte.
Auch wenn unser Haus in Fraserview, wie all die gleich aussehenden Häuser für Veteranen in diesem Viertel von South Vancouver, gemeinhin als »Kriegshaus« bezeichnet wurde, redeten wir selten vom Krieg. Und nie, wenn mein Vater da war. Der Krieg lauerte als düsteres Gespenst in den Winkeln unseres Lebens, bereit, jederzeit ohne Vorwarnung aufzutauchen und meinen Vater so lange in seinem stummen Griff zu halten, bis er nach seinen endlosen Spaziergängen durch die Stadt zurückkehren konnte. Als ich in die Grundschule kam, gewöhnte ich mir an, immer dann, wenn das Licht in den blauen Augen meines Vaters zu erlöschen begann, um Regen zu beten.
Es dauerte nie lange, bis meine Gebete erhört wurden.
»Niemand würde über das Wetter in Vancouver klagen, wenn er jemals in Tahsis gewohnt hätte«, sagte meine Mutter oft. »Dort war es wie in einer Autowaschanlage.«
Vor meiner Geburt hatte unsere Familie an der Nordwestküste von Vancouver Island gelebt. Mom sagte, sie habe immer vermutet, dass Dad nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einen Job in einer besonders regenreichen Gegend gesucht habe. Als ein solcher Ort bot sich Tahsis an. Ich hatte Bilder gesehen und Moms Geschichten über die entlegene Stadt mit ihrer Holz verarbeitenden Industrie gehört, konnte mir aber kaum vorstellen, in einer Stadt zu leben, die nur per Schiff oder Wasserflugzeug zu erreichen war.
Einmal hörte ich Tante Mildred, Moms Schwester, sagen, die traumatische Flucht meiner Mutter von Tahsis nach Victoria an dem Tag, an dem mein Bruder geboren wurde, sei der Grund dafür gewesen, dass Kipper so auf die Welt kam, »wie er war«.
Ich erinnere mich, dass mir ihre Worte so große Angst machten, dass ich von der Wohnzimmercouch aufblickte und aufhörte, Kipper vorzulesen. Er saß neben mir und zog seinen Hut bis über die Augen herunter und seufzte schwer.
In der Küche, mit dem Rücken zu mir, saß Tante Mildred am Tisch. Sie hatte noch ihren Regenmantel an. Entweder muss ihr unser Haus zu kalt vorgekommen sein, oder sie fürchtete, ein Katzen- oder Hundehaar könnte an ihren teuren Kleidern hängen bleiben. Jedenfalls ließ sie immer ihren Mantel an, als wäre sie auf dem Sprung. Sie kam meistens dann zu Besuch, wenn Dad bei der Arbeit war.
Auf der anderen Seite des Tisches runzelte Mom die Stirn und blickte ihre Schwester über den Rand der Teetasse an. »Ich hab dir doch gesagt, dass das Down-Syndrom nichts mit den Umständen seiner Geburt zu tun hat«, seufzte sie. »Kippers Schicksal hat sich im Augenblick seiner Zeugung entschieden. Der Himmel hat es sich nicht im letzten Augenblick anders überlegt.«
»Leider«, murmelte meine Tante.
»Mildred!« In Mutters Stimme schwang eine Warnung mit.
Meine Tante schwieg einen Moment. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten und hakte noch einmal nach: »Ich meine ja nur, Lucy, dass dieser Junge in eine Anstalt gehört. Je länger du damit wartest, umso schwieriger wird es. Es wäre für alle besser, und er wäre unter Seinesgleichen auch glücklicher.«
»Seinesgleichen – das sind wir«, sagte Mom. Dann sah sie an meiner Tante vorbei und fing meinen Blick auf. Sie lächelte. »Und er ist glücklich bei uns, Gott sei Dank.«
Das stimmte. Meistens.
Kippers wirklicher Name war Christopher Adam. »Nach dem heiligen Christophorus«, sagte Mom. Obwohl sie nicht katholisch war, hielt sie es für angebracht, ihren Sohn nach dem Schutzpatron der Fahrenden und Reisenden zu nennen, »denn auf dieser stürmischen Überfahrt nach Victoria Harbour hat jemand die Hand über mich gehalten.«
Sie hatte mir erzählt, dass ich für seinen Spitznamen verantwortlich sei. »Sobald du gehen konntest, bist du immer hinter ihm hergewackelt und hast seinen Namen gerufen. Kipper, das war es, was aus dir herauskam.« Der Name blieb an ihm hängen. Und bis auf Tante Mildred nannten ihn alle so.
Meinen Spitznamen hatte ich wiederum ihm zu verdanken. Da er mit seiner Zunge das »L« in Ethel nicht aussprechen konnte, wurde ich Ethie. Ein fairer Austausch und ein Geschenk, für das ich ihm ewig dankbar sein werde.
Wer außer Lucy Coulter hätte sein Töchterchen auch ausgerechnet Ethel genannt? Als ich alt genug war, um mich zu beklagen, erklärte mir Mom, sie habe mich Lily nennen wollen, aber Dad sei damit nicht einverstanden gewesen. »Es war, soweit ich mich erinnere, das einzige Mal, dass dein Vater sich auf die Hinterbeine gestellt hat.«
Kurz vor meiner Geburt schenkte Tante Mildred unserer Familie ihren alten Schwarzweißfernseher. Moms erstes Fernsehgerät. Und die erste Sendung, die sie ansah, war die erste Folge von I Love Lucy. Niemand außer meiner Mutter hätte aus all diesen Premieren das Zeichen herausgelesen, dass sie, wenn sie ein Mädchen bekäme – das sie nicht Lily nennen durfte –, es nach Lucy Riccardos Busenfreundin Ethel nennen sollte. Jedes Mal, wenn die Sendung anfing, zwitscherte Mom: »Da sind wir schon: Lucy und Ethel!«, als müsste ich daran erinnert werden, woher mein Name kam. Und jedes Mal drückte ich mir stöhnend ein Sofakissen aufs Gesicht. Wenn Kipper da war, schob er sich seinen Hut übers Gesicht und stöhnte ebenfalls.
Mein Bruder ahmte die Gefühle der Menschen nach, die er liebte. Das galt besonders für mich. Wenn ich lachte, lachte auch er, laut und bellend vor Freude. Wenn ich weinte, heulte er mit mir zusammen, schluchzte und schnappte nach Luft. Die Art, wie er meine Gefühle nachempfand, war so unmittelbar und intensiv, dass ich mir selbst oft erst dann, wenn ich seine Reaktion sah, bewusst wurde, was ich tatsächlich fühlte. Mit der Zeit lernte ich, solche Ausbrüche zu unterdrücken, weil ich wusste, dass sie bei Kipper einen Asthmaanfall auslösen konnten.
Dad gegenüber verhielt er sich vollkommen anders. Er war ruhig und friedlich, unabhängig davon, in welcher Verfassung Dad sich befand. Mom war der Meinung, dass Kipper unseren Vater am besten verstand. Wenn Dad in seine Stimmungen verfiel, in denen er sich sozusagen abmeldete, schmiegte sich mein Bruder mit seinem gedrungenen Körper an ihn. Dann legte er den Arm um Dads knochige Schulter und tätschelte ihm den Rücken, während sie schweigend vor dem Fernseher saßen, als wären sie zusammengewachsen.
In der letzten Woche hatte es heftig zu regnen angefangen. Während der ersten Augusttage schnitt Mom Artikel aus der Daily Province aus, die über eine Rekordzahl von Unfällen mit Blechschäden berichteten; die Zahl passte zur Rekordregenmenge. In den serienmäßig gebauten Veteranenhäusern, die sich in unserer Straße aneinanderreihten, brüteten Kindergesichter hinter regenverschlierten Fensterscheiben, während die Dachrinnen verstopften und die Abwässerkanäle überliefen. Zum Spielen ins Haus verbannt, fühlten sich die Kinder um den Rest ihrer Sommerferien betrogen. Ihre Mütter empfanden das genauso. Ich hörte, wie sie sich bei ihrem wöchentlichen Kaffeeklatsch in unserer Küche darüber unterhielten, dass ihre Männer den Wetterumschwung schon im Voraus gespürt hätten. Sie empfanden einen pochenden Schmerz um das Metall, das tief in ihren Muskeln steckte. Sie fühlten ihn in ihren vernarbten Kriegswunden. Und in den Knochen, die ihnen bei der Erinnerung an die windgepeitschten Brückenköpfe und die überfrorenen Schlachtfelder Europas wehtaten. Zu ihren Gesprächen leistete Mom keinen Beitrag. Im Gegensatz zu den anderen Vätern in unserer Straße war Dad äußerlich unversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt. In unserem Keller wurden keine Tapferkeitsmedaillen, zusammen mit einer eingemotteten Uniform, aufbewahrt. Anders als seine Nachbarn freute Dad sich über den Regen.
Auf dem Höhepunkt der sommerlichen Schlechtwetterperiode, am Donnerstagnachmittag, hatte Dad seine Lederbomberjacke aus dem Garderobenschrank geholt. Obwohl sie für ihn mindestens zwei Nummern zu groß und das braune Leder längst brüchig war, trug unser Vater auf seinen Rundgängen immer diese Fliegerjacke. Er zog sie sich über die Schultern, klappte den Schaffellkragen hoch und schlüpfte aus der Tür. Während wir anderen erleichtert aufatmeten, nahm Kipper seinen gelben Regenmantel und folgte ihm. Frankie sprang auf, um ihn aufzuhalten, aber Mom winkte ihn zurück. Wenn der Regen im Lauf des Tages nachließ, kamen Dad und Kipper ausgekühlt und nass nach Hause, aber beide erklärten, hungrig zu sein.
Sie setzten sich an den Esstisch, und Kipper nahm seinen nassen Hut ab. Sein dünnes Haar, eher orangefarben als rot, stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Mein Vater lächelte ihn melancholisch an und nannte ihn »meinen Leutesortierer«.
»Ja, Heutesortiera«, plapperte Kipper nach.
Ich glaube, wir alle sahen Dad mit fragendem Blick an.
»Leutesortierer?«, fragte Mom.
»Ja«, erwiderte Dad leise. »Er teilt die Leute in zwei Gruppen ein. In diejenigen, die sich mit ihm wohl fühlen, und die anderen, die das nicht tun.« Er zog die Schultern ganz leicht hoch. »Ich stell mir vor, das sagt einem so ungefähr alles, was man über einen Menschen wissen muss.«
Ich schaute Kipper an. Eine Erbse fiel von seinem Löffel und gesellte sich zu den anderen Eintopfspuren rund um seinen Teller. Unbekümmert schob er sich den nächsten überladenen Löffel in den Mund. Er kaute mit offenem Mund, schluckte und grinste meinen Vater an.
Frankie sah auf seine Uhr und sprang auf. »Muss jetzt gehen«, sagte er und wuschelte Kipper durch die nassen Haare. »Vielleicht könnte ich dich ja dazu bringen, dass du mir auch meine Freundinnen aussortierst.«
»Okay, Frankie«, rief Kipper ihm hinterher. Mom verdrehte die Augen.
Ich dachte über Vaters Worte nach. Es war eindeutig, dass die Leute auf Kipper reagierten, wenn sie ihn zum ersten Mal sahen. Ich hatte es bei den Kindern in unserer Nachbarschaft erlebt. Es gab diejenigen – meine Freundinnen –, die ihn akzeptierten, und andere, die ihn entweder hänselten oder ignorierten. So oder so – eine Reaktion gab es immer. Ich wunderte mich nur, dass mein Vater es überhaupt bemerkt hatte.
3
Jahre später, als Frankie und ich uns zum ersten Mal über diese Augustnacht des Jahres 1962 unterhielten, stellten wir fest, dass wir ganz unterschiedliche Erinnerungen hatten. So wusste er nicht mehr, dass Kipper und ich auf der Treppe saßen oder dass er uns ins Bett zurückgeschickt hatte. Ihm war nur noch in Erinnerung, dass er ins Wohnzimmer kam und unseren Vater an der offenen Tür stehen sah, während der Regen in den Vorraum wehte.
Frankie hatte das Licht im Eingang eingeschaltet. »Dad?«
Dad drehte sich langsam um und blinzelte, als würde er gerade aufwachen.
»Was ist los?«, fragte Frankie, führte die beiden Polizisten herein und schloss die Tür.
»Es geht um eure Mutter.« Dads Stimme war leise und merkwürdig ausdruckslos. »Es hat einen Unfall gegeben.«
»Geht es ihr gut?« Frankie richtete die Frage nicht an unseren Vater, sondern an die beiden Polizeibeamten.
Der Kleinere, dessen glattes Gesicht zu seiner allzu jungen Stimme passte, blickte seinen Kollegen an, der ihm ermunternd zunickte. »Nein«, sagte er leise. Er nahm seine triefende Mütze ab und sah auf sie hinunter: »Es tut mir leid, aber Ihre Mutter …«
»Sie ist heimgegangen, Frankie«, flüsterte Dad.
»Heimgegangen?«
Kipper, der mir nach unten gefolgt war, grapschte nach meiner Hand. Ein leises Pfeifen drang aus seiner Kehle, während er Luft in seine asthmatischen Lungen sog. Dads Blick sprang dorthin, wo wir beide hinter Frankie standen, aber er nahm unsere Anwesenheit nicht wirklich zur Kenntnis. Er fuhr sich mit der Hand durch das ungekämmte Haar und sprach dann das Unglaubliche aus: »Eure Mutter ist tot.«
Während sich diese klaren Worte setzten, herrschte Grabesstille. Dann ging das Heulen los. Ein animalischer Schmerzensschrei übertrug sich von Kippers offenem Mund zu meinem. Ich sah, wie er verzweifelt nach Luft schnappte, seine vor Schreck aufgerissenen Augen suchten meine, und seine Fäuste hämmerten gegen seinen Hut, als er versuchte, meine Hysterie nachzuahmen. Aber ich konnte nicht aufhören.
Es war Frankie, nicht mein Vater, der mir die Hände auf die Schultern legte. »Hör auf, Ethie«, sagte er mit leiser, aber fester Stimme. »Das hilft überhaupt nicht weiter.«
Ich kämpfte gegen mein Schluchzen an, zog mein Unterhemd hoch und wischte mir mit einem Zipfel übers Gesicht.
Frankie wandte sich Kipper zu. Er nahm ihm die trommelnden Hände vom Kopf. »Schau mich an, Kipper«, sagte er und hielt Kippers Gesicht mit beiden Händen fest. »Du musst jetzt ein großer Junge sein.«
Kippers Brust hob und senkte sich. Er nickte, presste sich die Hände auf den Mund, und die Tränen rannen ihm, mit Rotz vermischt, zwischen den Fingern hindurch.
»Tief durchatmen.« Frankie atmete tief durch und wartete, bis Kipper es auch tat. Links und rechts einen Arm um unsere Schultern gelegt, wandte er sich den Polizeibeamten zu. »Was ist passiert?«, fragte er.
In diesem Punkt gehen Frankies und meine Erinnerungen auseinander. Ich erinnere mich an nichts von der Erklärung, die, wie er schwört, der junge Polizist lieferte, während Dad nur dastand und vor sich hin stierte. Vielleicht war ich in einem Schockzustand, verloren in dem Bild, das sich vor meinem geistigen Auge von Mutters grünem Hudson auftat, der irgendwo auf einer regenglatten Straße zu Schrott gefahren war.
Ich erinnere mich nur an Frankies nächste Worte, die mich erreichten, als kämen sie aus einem langen Tunnel. »Moment mal«, sagte er. »Das kann nicht stimmen. Da muss ein Missverständnis vorliegen.« Und die Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, weckte mich auf.
Der ältere Polizeibeamte blickte auf irgendetwas in seiner Hand. »Es tut mir sehr leid«, erwiderte er. Er drehte das Papier um und hielt es hoch.
Frankies Schultern sackten zusammen, einen Sekundenbruchteil bevor ich den Namen unserer Mutter erkannte, der uns aus dem Führerschein in die Augen sprang.
4
Howard saß im Fond des Streifenwagens und versuchte, sich zu konzentrieren, während der Beamte mit dem Milchgesicht auf dem Beifahrersitz redete. Gegen Mitternacht, so erklärte er, habe ein Mann, Besitzer eines Hausboots in Coal Harbour, in einem in der Nähe vertäuten Segelboot Licht bemerkt. Er habe im Jachthafen angerufen, um das zu melden, was er für einen Einbruch hielt.
Howard konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen. Was hatte ein Segelboot mit Lucy zu tun? Er hatte nie im Leben eins betreten und war sicher, dass das auch für sie galt. Während der Beamte berichtete, wie die Polizei an Bord des Segelboots gegangen war und die Leichen entdeckt hatte, meinte Howard immer noch, alles sei ein großes Missverständnis. Doch sobald er den grünen Hudson auf dem Parkplatz des Jachthafens sah, spürte er, wie die falsche Hoffnung zu Bitterkeit wurde.
Er konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, als er den Beamten die Rampe hinunter und durch das Labyrinth schwankender Stege folgte. Es regnete kaum noch. Die Möwen ließen sich vom Wind tragen und bettelten mit ihrem unablässigen Kreischen um Almosen. Der Morgen wirkte zu hell, das Licht zu grell. Die aufgehende Sonne schien durch die lockeren Wolken hindurch. Die ersten Strahlen prallten vom Wasser ab und brachen sich auf dem polierten Holz eines Segelboots, das am Ende des Kais vertäut war. Eine kleine Menge drängte sich vor dem Schiff zusammen. Gedämpfte Gespräche brachen ab, als Howard und die Polizeibeamten näher kamen.
Ein Mann in einem Geschäftsanzug – der zwischen den lässig gekleideten Zuschauern fehl am Platze wirkte – lief vor einem anderen Beamten, der sich Notizen machte, auf und ab.
»Verdammt noch mal!«, brummte der Mann vor sich hin. Als er Howard bemerkte, schnauzte er: »Was zum Teufel soll das? Kommen jetzt noch mehr Gaffer?«
Der Beamte blickte von seinem Notizbuch auf. »Der Ehemann des anderen Opfers«, erklärte er.
»Verdammt noch mal!«, wiederholte der Mann, jetzt mit leiser Stimme.
Der junge Beamte neben Howard beugte sich zu ihm. »Das ist Jeremy Telford«, flüsterte er. »Ihm gehört das Boot.«
Der Name kam Howard irgendwie bekannt vor.
Weiter vorn blieb der ältere Polizist stehen und wandte sich an Howard. »Sind Sie bereit?«, fragte er.
Howard nickte. Er hielt sich an einem Pfosten fest und schwang sich an Deck. Zwei weitere Polizisten standen rechts und links von der offenen Luke im Cockpit. Sie wichen Howards Blick aus, als er die hölzerne Leiter hinunterstieg. In der Kabine herrschte – bis auf das Geräusch der Wellen, die gegen den Schiffskörper klatschten, und das Knarren der Festmacher – eine unheimliche Stille. Die Luken waren geöffnet. Zu spät.
Howard wurde es plötzlich schwindelig, aber nicht, weil das Boot schaukelte oder weil er meinte, in der muffigen Seeluft noch etwas Gas zu riechen, sondern weil er auf dem Tisch zwei leere Weingläser sah und in der Ecke der Kabine eine marineblaue Jacke. Lucys Regenjacke.
Draußen rief der Bootsbesitzer mit schmerzerfüllter Stimme: »O Gott, und für die nächste Woche bereiten wir gerade eine große Kunstausstellung vor. Wir wollten das heute Abend feiern.«
An Deck murmelte einer der Beamten: »Sieht so aus, als hätte sie eine andere Vorstellung von einer Feier gehabt.«
Der Beamte neben Howard runzelte die Stirn und drängte ihn sanft weiter. »Hier hinein, bitte«, sagte er.
Die Tür zur vorderen Koje stand offen. Ein Lichtstrahl fiel auf das weiße Laken, das über das Bett drapiert war. Als der Beamte den Rand des Tuchs anhob, glaubte Howard, bereit zu sein. Aber nichts hatte ihn auf den entsetzlichen Schlag vorbereitet, der ihn bei Lucys Anblick direkt in die Brust traf. Oder auf die Art, wie sie eingerollt neben ihrer Freundin Marlene Telford lag.
Howard begriff jetzt, warum ihm der Name des Geschäftsmannes draußen auf dem Kai bekannt vorgekommen war. Er hatte ihn nie persönlich kennengelernt, aber er musste Marlenes Mann sein.
Howard schüttelte den Kopf: Sein betäubter Geist bemühte sich angestrengt, sich auf all das einen Reim zu machen. Zu seinen Füßen rollte eine leere Weinflasche über den Boden der Kabine. Der rote Fleck auf dem Teakholz war der Rest des verschütteten Inhalts. Die Welt stand kopf. Lucy hier? Und sie soll getrunken haben? Lucy trank nicht. Selbst ihre Kleidung ergab keinen Sinn: eine alte Hose und ein Hemd, das sie sonst beim Putzen trug. Was konnte sie veranlasst haben, in diesem Aufzug irgendwohin zu gehen? Lucy würde sich niemals ohne tadellose Kleidung und sorgfältiges Make-up in der Öffentlichkeit zeigen.
Dennoch war sie auch im Tod eine schöne Frau. Ihre kastanienroten Locken lagen ausgebreitet auf dem Kopfkissen neben dem wilden Gekräusel von Marlenes graumelierter Mähne. Die Sommersprossen auf Lucys milchweißer Haut nahmen gegen das schwarze Leinen der Bluse ihrer Freundin eine rosa Färbung an.
Howard beugte sich vor, streichelte ihr über die Wange und bemerkte die zerknüllten Papiertaschentücher in ihrer Hand. Er bemühte sich, auf den Beinen zu bleiben, nickte und wandte sich ab, während der Beamte das Laken wieder über Lucys Gesicht zog.
Howard stellte die Tüte auf den Autositz. Das waren die Habseligkeiten seiner Frau, alles in einem braunen Papierbeutel. Er öffnete ihn. Lucys süßer Moschusduft breitete sich im Wageninneren aus. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Er brauchte einen Drink. Ein Bedürfnis, gegen das er seit den frühen Morgenstunden angekämpft hatte, als er allein im Ehebett aufgewacht war.
Das Herz schnürte sich ihm zusammen bei dem Gedanken daran, wie er Lucy in Embryonalstellung im Boot hatte liegen sehen, den Arm der Freundin wie zum Trost um sie geschlungen. Er öffnete die Augen und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie gestern früh ausgesehen hatte. War sie beunruhigt? Er erinnerte sich, dass sie das Frühstück im Morgenrock und mit Lockenwicklern auf dem Kopf zubereitete, während sie ihn und Frankie aufzog und sagte, dass sie ihr etwas Schönes kaufen könnten von all dem Extrageld, das sie mit ihren Überstunden verdienten. War das gestern oder an einem anderen Morgen gewesen?
Einmal hatte Lucy ihm vorgeworfen, dass er sich nie umschaute, wenn er aus dem Haus ging. »Dann komme ich mir so vor, als würdest du mich sofort vergessen«, sagte sie. »Wenigstens besteht keine Gefahr, dass du jemals zur Salzsäule erstarrst«, fügte sie trocken hinzu.
Wenn er sich doch bloß gestern früh umgedreht hätte!
Er machte die Papiertüte wieder zu, packte das Lenkrad und blickte hinüber zum Burrard Inlet. Die Ironie traf ihn mit voller Wucht. In seinem Kopf schwirrten die Erinnerungen an den Moment, als er diese Gewässer zum ersten Mal gesehen hatte, an die verschwommenen Bilder, die er durch den Nebel wahrgenommen hatte, bevor er in den Krieg gezogen war.
Damals hatte er ihr nachgeblickt. Er hatte es immer getan bis zu seiner Rückkehr an dieselbe Pier vier Jahre später, als alter Mann von vierundzwanzig, niedergedrückt von einer Schuld, die zu schwer war, als dass er sie mit jemandem hätte teilen können. Nicht einmal mit Lucy. Eines Tages, so hatte er sich immer wieder vorgenommen, eines Tages würde er es ihr erzählen. Doch während der siebzehn Jahre hatte er niemals den Mut dazu aufgebracht.
Er sackte über dem Steuer zusammen und vergrub das Gesicht zwischen den Armen. Augenblicke später klopfte jemand an das Autofenster. Howard hob den Kopf und blickte in die Augen des jungen Polizeibeamten. Er riss sich zusammen, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und kurbelte das Fenster herunter.
»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte der Polizist.
Howard schaffte es gerade noch, mit einem »Ja« zu antworten.
Aber er war nicht in Ordnung. Er war seit langer, langer Zeit nicht in Ordnung.