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eISBN 978-3-89425-810-8

Inhalt

Prolog

Teil I Eine durchdringende Erschütterung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil II Im Schatten der Bluttat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil III Offene Wunden

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil IV Bittere Gerüche, erfüllt von Angst und Leid

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil V Entscheidungen, geboren im Dickicht vager Instinkte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil VI Totensamstag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil VII Die Wahrheit, gefangen in einem einzigen Augenblick

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Der Autor

Der gelernte Kaufmann Frank Bresching, 1970 in Lahnstein geboren und als angestellter Vertriebsleiter in einem großen Unternehmen tätig, trat in den Neunzigerjahren erstmals als Autor in Erscheinung. Bei Grafit legte er 2007 mit Das verlorene Leben einen außergewöhnlichen Psychothriller vor.

Frank Bresching lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern am Stadtrand von Koblenz.

Zitat

Selbst die geringste Unwahrheit verdirbt den Menschen, wie ein Tropfen Gift einen ganzen See verdirbt.

Mahatma Gandhi (1869–1948)

Prolog

Der alte Mann schwitzte. Trotz der Schwüle drang ihm kalter Schweiß aus den groben Poren seiner tief gebräunten Gesichtshaut. Sein Puls schlug viel zu schnell – ein simpler Ausdruck für seine Erregung, die von Sekunde zu Sekunde wuchs.

Er verkrampfte unwillkürlich, was nicht nur daran lag, dass er hinter dem handgefertigten Schrein mit den kunstvollen Verzierungen kniete und sich dabei so klein wie möglich machte. Nein, vor allem trug diese unbeschreibliche Angst Schuld daran. Eine Angst, die sich wie ein Parasit in ihm ausdehnte, als wollte sie ihn völlig verzehren. Dabei verspürte er keine Furcht vor den Konsequenzen seiner Tat. Vielmehr graute ihm vor dem Augenblick, in dem er seinem Opfer in die Augen sehen musste. Er glaubte, dass er zu lange zögern könnte. Dass ihn vielleicht noch im allerletzten Moment Zweifel heimsuchten. Oder dass ihm das Monstrum entkommen würde, wenn er nicht sofort den Abzug der Unique-Pistole betätigte, sobald es vor ihm auftauchte. Dann hätte er den inneren Kampf, der in den letzten Tagen all seine Überlegungen, all sein Handeln beeinflusst hatte, umsonst ausgefochten. Wenn er versagte, wären das Mädchen und er nicht mehr zu retten. Niemand würde ihm glauben.

Demnach durfte er nicht scheitern. Er musste es zu Ende bringen.

Aber Clement Saver hatte noch nie in seinem Leben auf jemanden geschossen. Er hatte niemals zuvor auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, einen Menschen zu töten, ein Leben zu vernichten. Nicht einmal als Angehöriger der Police Municipale hatte er je eine Schusswaffe in den Händen gehalten. Es war zwar ohnehin nicht üblich, dass die Ortspolizei über Handfeuerwaffen verfügte, aber es gab immer Ausnahmeregeln. Allerdings nicht für Clement. Er war nie in eine Situation geraten, in der er den Wunsch verspürt hatte, eine Pistole ziehen zu können. Sein gesunder Menschenverstand und sein ausgeprägter Scharfsinn waren ihm stets nützlicher gewesen als jede Waffe.

Er wünschte, er hätte auch jetzt eine Wahl. Doch er sah keinen anderen Ausweg. Er musste seine Bedenken beiseite wischen und durfte sich nicht von der Unsicherheit beeindrucken lassen, die seinen Entschluss ins Wanken zu bringen drohte.

Ein Schweißtropfen perlte von seiner Stirn und lief in seinen linken Augenwinkel. Er verspürte ein Brennen auf seiner Netzhaut. Mit dem Handrücken wischte er über sein Auge und atmete tief durch. Sein Herz hämmerte inzwischen wie ein Trommelfeuer in seiner Brust und seine Muskeln begannen zu schmerzen.

Clement verharrte schon lange in seinem Versteck, viel zu lange. Doch er konnte es sich nicht erlauben, ungeduldig zu werden. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Nur auf seine Aufgabe. Das war wichtig. Verdammt wichtig.

Er schloss die Augen. Er war hierher gekommen, um ein unschuldiges Mädchen aus einem grausamen Martyrium zu befreien. Er war hierher gekommen, um weitere schmutzige Erniedrigungen zu verhindern, die einem dunklen Trieb entsprangen. Seine Verantwortung wog schwer, viel schwerer als die Pistole, die er fest umklammerte, während er sich an den breiten Schrein lehnte, der zwischen einer Fensterfront und der gekippten Terrassentür stand.

Er öffnete die Augen wieder. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich erneut an das allmählich fahler werdende Licht der Sonne gewöhnt hatte. Die langen Schatten der Palmen, die den Garten in Richtung Westen begrenzten, fielen bedrohlich in das große Zimmer, berührten ihn. Er vernahm den lauen Sommerwind, der über das weitläufige Grundstück wehte. Ein Geräusch, das sich mit dem schwachen Rauschen des Verkehrs auf der Schnellstraße vermischte, die in weitem Bogen um das Anwesen verlief.

Dann schweifte sein Blick durch das Büro und über die drei mit Bildschirmen, Unterlagen und Akten bedeckten Schreibtische zu der halb offen stehenden Zimmertür. Der Flur dahinter lag im Dunkeln, doch Clement wusste, dass von dort aus eine kostbar marmorierte Treppe mit einem filigranen, vergoldeten Handlauf in das obere Stockwerk führte. Vor einigen Stunden war er sie heruntergelaufen. Nicht zum ersten Mal, denn er war schon einmal hier gewesen. Er kannte das Haus und die Menschen, die darin lebten. Und er kannte den Mann, auf den er in tödlicher Absicht wartete. Aber erneut kamen Zweifel in Clement auf: Vielleicht würde der Mann heute Abend gar nicht mehr in sein Büro kommen, vielleicht hatte er noch etwas anderes vor.

Er geht fast jeden Abend in sein Büro, sogar am Wochenende. Also auch heute. Bestimmt. Zunächst holt er eine Cognacflasche aus seiner Minibar, nimmt ein Glas vom Tablett und schüttet sich etwas ein. Nachdem er den Weinbrand getrunken hat, nimmt er auf seinem drehbaren Sessel Platz und fängt an, sich mit seinen E-Mails, der Auftragsliste, den aktuellen Ausschreibungen und mit seinen persönlichen Terminen zu beschäftigen, die Andréa Guilline, seine Sekretärin, ihm in einem Kalender notiert hat.

Diese Information hatte Clement von Camille. Sie hatte es ihm verraten, zugeflüstert wie ein finsteres Geheimnis, das sie nun miteinander verband, am selben Tag, an dem sie ihm den Schlüssel in die Hand gelegt hatte. Sie hatte nicht gefragt, wozu er ihn benötigte, denn sie wusste es. Und deswegen war sie seiner Aufforderung nachgekommen. Camille vertraute ihm, das wiederum wusste er. Und er würde sie nicht enttäuschen. Bald würde sie nicht mehr leiden müssen. Ein leises Versprechen, das er ihr gegeben hatte, ohne es in klare Worte zu kleiden.

Als er Schritte im Erdgeschoss, direkt über dem im Souterrain befindlichen Bürotrakt hörte, blickte Clement spontan zur Decke und rutschte ein Stück weit nach hinten, bis er den Heizkörper in seinem Rücken spürte. Er verstärkte den Griff um den Lauf der Pistole und fing an, mit den Zähnen zu mahlen.

Die nächsten Sekunden zerrannen. Clement fühlte sich elendig. Ein unartikulierter Laut entwich seiner Kehle, als er bemerkte, dass die Geräusche von oben klarer und lauter wurden.

Jemand kam die Treppe herunter.

Clement entsicherte die Waffe. Dann rieb er über seine Beine, die sich taub anfühlten. Jetzt konnte er nur beten, dass seine Muskeln und seine ohnehin entzündeten Knie ihn nicht im Stich ließen und er nicht stürzte, wenn er aufzustehen versuchte.

Behutsam beugte er sich ein wenig nach vorn und lugte um den Schrein herum. In dem fensterlosen Flur wurde das Licht eingeschaltet. Es flackerte zweimal auf und verströmte daraufhin eine milchige Helligkeit, die bis in das Büro drang.

Schließlich war es so weit. Er sah den Mann, der das Zimmer betrat. Mit dem stolzen und aufrechten Gang eines Menschen, der von sich selbst vollkommen überzeugt war und glaubte, dass er sich alles nehmen könnte, wonach er seine Hand ausstreckte. Ein großer, kräftiger Kerl mit einem markanten Gesicht und wachsamen Augen, die eine besonders eigentümliche Cleverness zum Ausdruck brachten. Er hatte seine Kleidung der Temperatur angepasst, trug eine dünne Leinenhose und ein veilchenblaues Polohemd.

Clement hielt die Luft an und richtete sich mühevoll auf. Dabei ließ er den Mann nicht aus den Augen, der erst stehen blieb, als er die Minibar erreicht hatte. So wie es Camille vorausgesagt hatte.

Clements Knie schmerzten plötzlich höllisch, und sein Herz pochte so heftig in seiner Brust, dass es ihn regelrecht durchschüttelte. Doch er widerstand dem Bedürfnis, die Waffe einfach fallen zu lassen und zu fliehen.

Ich kann nicht anders handeln! Es muss sein!, dachte er inbrünstig, bevor er aus seinem Versteck trat.

Teil I

Eine durchdringende Erschütterung

1

Vier Wochen vorher. Ein Samstagabend, Ende Mai.

Camille entdeckte den Fremden zuerst. Er stand völlig regungslos am äußersten Rand der alten Burgruine und sah ins Tal hinunter, wobei er die Hände wie einen Schutzschild über seine Augen legte, um nicht von der tief stehenden Sonne geblendet zu werden. Es war ein schlaksiger Mann mit halblangen, blonden Haaren, die verfilzt wirkten. Bekleidet war er mit einer verblichenen Jeanshose, einem weißen, kurzärmeligen Hemd und ausgelatschten Sandalen aus Leder, wie sie auch die einheimischen Angler in Sanary trugen. Camille schätzte ihn auf um die dreißig, vielleicht auch ein wenig älter. Sie war von Natur aus neugierig und hätte gerne mehr von seinem Gesicht gesehen, aber dafür war die Entfernung zwischen ihnen zu groß. Hinter dem Mann erkannte sie einen verbeulten grauen VW Transporter, der ziemlich verstaubt war und durch dessen Lackierung sich an etlichen Stellen enorme Rostflecken gefressen hatten.

Camille bremste ihr Fahrrad spontan ab und hüpfte vom Sattel herunter, ohne im ersten Moment eine Erklärung dafür zu finden, warum der Fremde ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Wahrscheinlich lag es daran, dass er nicht aussah wie ein gewöhnlicher Urlauber.

Oceane kam mühevoll hinter ihr zum Stehen. Der mit Schlaglöchern übersäte Weg, der sich durch ein violettes Lavendelfeld bis kurz vor Grimaud schlängelte, war schmal und ließ kaum Platz zum Ausweichen.

»Verdammt, Camille, du kannst doch nicht einfach abbremsen, wenn ich so dicht hinter dir herfahre!«, fluchte sie. Ihr Vorderreifen streifte scheppernd das Schutzblech von Camilles Fahrrad.

Camille wischte eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht und kniff die Augen zusammen.

»Wer ist das?«, ignorierte sie den Protest ihrer gleichaltrigen Freundin und sah stirnrunzelnd den Hügel hinauf.

»Keine Ahnung. Vermutlich nur ein Tourist. Aus dem Dorf ist er jedenfalls nicht.« Desinteressiert zupfte Oceane das luftige Sommerkleid zurecht, durch das ihr kirschroter Bikini schimmerte.

»Er sieht aber gar nicht wie ein Tourist aus.«

»Mein Gott, Camille, man merkt, dass du noch nicht lange in Grimaud wohnst! Natürlich ist das ein Tourist! Die Burgruine zieht jeden Sommer Hunderte, wenn nicht Tausende von Besuchern an. Sie genießen von dort oben die Aussicht auf die Bucht von Saint-Tropez.« Sie seufzte hörbar auf und schüttelte ihren brünetten Lockenkopf. »Jetzt komm schon! Ich will wirklich nach Hause! Papa macht sonst wieder Theater, wenn ich nicht pünktlich um acht daheim bin.«

»Er sieht aber gar nicht zur Bucht!«, ließ Camille sich nicht beirren. »Er blickt eher ins Landesinnere. Findest du das nicht seltsam?«

»Was soll denn daran seltsam sein? Irgendeinen Grund wird er dafür schon haben.« Oceane wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen hin und her. »Lass uns endlich weiterfahren!«

»Wonach hält er wohl Ausschau?«

»Camille, mir reicht’s! Ich fahre jetzt los, und mir ist auch egal, ob du mitkommst oder nicht!«

Oceane setzte sich wieder auf den Sattel, hob trotzig ihr Kinn in die Höhe und trat kräftig in die Pedalen. Nach ein paar Metern winkte sie ihrer Freundin noch einmal zu, eine Aufforderung, die Camille jedoch nicht weiter beachtete. Vielmehr registrierte sie, dass der Fremde sie inzwischen bemerkt und seinen Blick in ihre Richtung gelenkt hatte.

»Er schaut zu uns runter«, rief sie Oceane aufgeregt hinterher. Diesmal war es ihre Freundin, die sie ignorierte. Eine kleine Revanche.

»Er starrt uns regelrecht an«, fügte Camille nach ein paar Sekunden hinzu, diesmal allerdings leiser, fast flüsternd.

Im Grunde genommen hatte Oceane natürlich recht damit, dass sie ihre Heimfahrt nicht unterbrechen wollte, nur weil irgendein Fremder an der hohen Ringmauer der Burganlage stand und suchend ins Tal hinabstierte. Ein langer, vergnüglicher Tag lag hinter ihnen. Sie waren heute Morgen gegen neun Uhr aufgebrochen und hatten einige Kilometer nach Cavalaire zurückgelegt, um den reichlich überfüllten Sandstrand zu erreichen. Dort hatten sie mehrere Stunden damit zugebracht, inmitten einer Schar von Touristen und Einheimischen in der Sonne zu brutzeln oder im Meer zu baden. Es wurde mittlerweile höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Sie waren müde und erschöpft. Die Hitze und der stetig ansteigende Rückweg, der eine echte sportliche Herausforderung darstellte, hatten sie ausgelaugt. Außerdem war Oceanes Vater immer sehr besorgt um seine Tochter. Am liebsten hätte er sie den ganzen Tag eingesperrt, um sie vor den Widrigkeiten des Lebens zu schützen, wie er es ausdrückte. Im Hause Guilline gibt es klare Regeln, und diese Regeln hat Vater nur für mich aufgestellt, hatte Oceane ihrer Freundin einmal spöttisch erklärt.

Camille wusste, dass das keineswegs übertrieben war. Sie hatte schon selbst ein paar Mal erlebt, wie Yves Guilline seiner Tochter eintrichterte, stets wachsam zu sein und sich niemals mit irgendwelchen Jungs vom Campingplatz Les Prairies de la Mer einzulassen, der im Sommer völlig ausgebucht war und ausländische Besucher wie ein Magnet anzog. Das wichtigste Gebot von allen war jedoch, dass sich Oceane an fest vereinbarte Uhrzeiten halten sollte. Die schlimmste Sorge ist die um das eigene Kind, erklärte Yves immer zum Schluss seiner Litanei, woraufhin Oceane ihm stets einen beruhigenden Kuss auf die Wange drückte und versprach, jede einzelne Vorschrift ernst zu nehmen.

Camille riss sich endlich von dem Antlitz des fremden Mannes und ihren Gedanken los. Sie sah auf die Uhr. Oceane, die schon längst aus ihrem Blickfeld verschwunden war, hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Sie würde es pünktlich nach Hause schaffen. Schließlich waren es höchstens noch fünf Kilometer bis ins Dorf.

Wie unglaublich gehorsam sie doch ist, dachte Camille und musste unwillkürlich lächeln. Dann schwang sie sich ebenfalls auf ihr Rad und fuhr los, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

Oceane stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, als die ersten Häuser Grimauds in ihr Blickfeld gerieten. Ihre schlanken Beine fühlten sich bereits ziemlich schwer an, zudem war sie durstig. Sie hatte zu wenig zum Trinken mitgenommen, die beiden Wasserflaschen in ihrer Umhängetasche waren schon seit geraumer Zeit leer. Sie nahm sich fest vor, am nächsten Tag eine dritte Flasche einzupacken, unabhängig davon, ob sie und Camille erneut nach Cavalaire oder eher auf den Jahrmarkt nach Cogolin fahren würden. Sie hatten sich noch nicht festgelegt. Deshalb würden sie morgen früh miteinander telefonieren müssen, um gemeinsam eine Entscheidung zu treffen. Bis dahin wäre auch der fahle Nachgeschmack, den ihre Meinungsverschiedenheit verursacht hatte, wieder verflogen.

Oceane wusste, dass der kleine Dissens ihre Freundschaft nicht ernstlich berührte. Sie mochte ihre neue Freundin seit ihrem ersten Aufeinandertreffen vor drei Monaten, als Camille mit ihrer Mutter Anne Jeunet hierher gezogen war. Noch bevor sich die beiden Anfang März in der luxuriös ausgestatteten Villa von Nicolas Leroche einquartiert hatten, verbreitete sich im Dorf bereits die Kunde, dass der zweifellos einflussreichste Mann im hiesigen Département sich mit einer attraktiven Frau aus Nizza verlobt habe. Diese Frau war Anne Jeunet. Oceanes Mutter wiederum war die Privatsekretärin von Monsieur Leroche, und so waren sich die beiden Mädchen zufällig noch vor Camilles erstem Schultag in dem neuen Collège über den Weg gelaufen. Oceane erkannte sofort, dass Camille noch hübscher war als sie selbst. Mit ihren vollen, schwarzen Haaren und den dunklen Augen, die sie von ihrem spanischen Vater geerbt hatte, versprühte sie den jugendlichen Charme einer Südländerin, die sich ihrer Aura und Wirkung auf andere sehr wohl bewusst war. Doch gelegentlich wirkte sie von einer seltsamen Traurigkeit erfüllt. Dann ging ihr Blick ins Leere, sie saß teilnahmslos da und redete kein Wort. Fragte man Camille nach dem Grund, winkte sie ab und erklärte lächelnd, es sei halt ihre Art, manchmal in Tagträumen zu versinken. Vielleicht vermisste sie ihren Vater, der sich nach der Trennung von ihrer Mutter vor drei Jahren einfach nach Spanien abgesetzt hatte und nichts mehr von sich hören ließ. Vielleicht vermisste sie auch ihre Freunde in Nizza, ihr dortiges Zuhause, das sie wegen der Beziehung ihrer Mutter zu Monsieur Leroche hatte aufgeben müssen.

Eins stand jedenfalls unumstößlich fest: Oceane war glücklich, dass sie Camille kennengelernt und als Freundin gewonnen hatte. Sie genoss die zahlreichen Ausflüge, die sie nach Schulschluss oder am Wochenende unternahmen, die Stunden, in denen sie zusammen für das Collège lernten oder darüber sinnierten, welcher der Jungs in der Schule es wohl am ehesten verdient hätte, sie zum ersten Mal zu küssen. Richtig und leidenschaftlich zu küssen, wie Leonardo DiCaprio seine Filmpartnerin Claire Danes in William Shakespeares Romeo + Julia küsste.

Oceane schüttelte mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf. Dass ihr gerade jetzt solche Vorstellungen in den Sinn kamen!

Sie befeuchtete ihre spröden Lippen mit der Zunge, während sie sich dem alten Friedhof näherte. Ihr Sommerkleid klebte inzwischen an ihrem Rücken und in ihrem ovalen Ausschnitt glänzte Schweiß auf ihrer Haut. Sie war froh, dass der Stoff des Kleides so dünn war, auch wenn ihr Vater es kritisch beäugt hatte, weil sich der Bikini darunter deutlich sichtbar abzeichnete. Aber diesmal hatte sich Oceane durchgesetzt. Ich liege sowieso den ganzen Tag im Bikini am Strand, also sei bitte nicht so engstirnig, hatte sie gesagt, ihre Tasche geschnappt und war losgefahren, um Camille abzuholen.

Camille … Ob sie den Fremden immer noch beobachtete? Oceane warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, doch sie konnte nicht sonderlich weit sehen. In diesem kurvigen Abschnitt des Pfades säumten große Platanen den Wegrand und versperrten ihr die Sicht.

Sie zuckte mit den Schultern, wandte sich wieder um und fuhr weiter. Kurz bevor sie die Straße erreichte, die den holprigen Weg kreuzte und ins Dorf führte, vernahm sie ein leises, verräterisches Zischen. Sie begriff sofort, was die Ursache dafür war. Ihr Fahrrad geriet ins Schlingern, als die Luft aus dem vorderen Reifen entwich.

»Verfluchte Scheiße!«, schimpfte Oceane, stoppte das Rad und atmete tief ein und wieder aus. Von hier aus waren es noch ungefähr drei Kilometer bis ins Dorf. Keine große Entfernung zwar, aber nun würde es für sie knapp werden, um noch pünktlich nach Hause zu kommen. Sie rutschte vom Sattel, beugte sich hinunter und drückte gegen den Reifengummi, der augenblicklich nachgab. Es hatte keinen Sinn mehr weiterzufahren, sie würde nur die Felge verbiegen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.

Oceane stapfte los, ohne eine weitere Sekunde zu verlieren. Das Fahrrad schob sie neben sich her. Bereits nach wenigen Schritten betrat sie die Straße. Sie hoffte, dass Camille jeden Moment neben ihr auftauchte, sich mit ihr solidarisch erklärte und ebenfalls zu Fuß weiterging. Doch ihre Erwartung ging nicht in Erfüllung, Camille blieb leider verschwunden.

Oceane trottete am Straßenrand weiter. Plötzlich vernahm sie ein dumpfes Motorengeräusch in ihrem Rücken. Sie blieb stehen und schaute hinter sich. Dann wartete sie ab, bis sie den Wagen erblickte, der um eine lang gezogene Linkskurve bog und in Richtung Dorf fuhr.

Als der Fahrer Oceane am Straßenrand stehen sah, drosselte er das Tempo und hielt an, ohne den Motor abzustellen. Er beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete mit einem freundlichen Gesicht die Tür, wobei er mit einem Kopfnicken auf den platten Reifen deutete.

»Soll ich dich mitnehmen? Wir können das Fahrrad im Kofferraum verstauen.«

Oceane lächelte erfreut und nickte dankbar. Jetzt würde sie es doch noch pünktlich nach Hause schaffen.

2

»Die schlimmste Sorge ist die um das eigene Kind!«

Ein Satz, der von Yves selbst stammte und ihn nun mit Unruhe erfüllte. Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr. Inzwischen war es schon kurz nach acht Uhr und Oceane war noch nicht nach Hause gekommen. Das passte nicht zu ihr. Normalerweise hielt sie sich an seine Anweisungen.

Yves Guilline stand auf dem Balkon seines Hauses, das sich im mittelalterlichen Ortskern von Grimaud befand, und schaute die belebte Gasse auf und ab. Er vernahm das unruhige Stimmengemurmel und den Klang zahlreicher Schritte, die auf dem Kopfsteinpflaster hallten. In der Nähe ertönte gedämpfte Musik aus einem offen stehenden Fenster. Ein alter französischer Chanson. Ein schönes Stück. Yves mochte die Klassiker. Allerdings konnte er die Melodie in diesem Augenblick nicht genießen. Dafür war er bereits viel zu verstimmt.

Er hoffte inbrünstig, seine Tochter jeden Moment zu erblicken. Sie würde das Fahrrad durch die Menschenmenge schieben und ihm fröhlich zuwinken. So wie sie es immer tat. Und durch diese Geste würde sie seinen wachsenden Ärger über ihre Unpünktlichkeit dämpfen, bis seine Wut genauso verflog wie die Beklemmung, die sich in ihm ausbreitete.

Er nahm sein Handy aus der Hosentasche, klappte es auf und wählte Oceanes Mobilfunknummer. Es meldete sich nur ihre Mailbox. Yves fluchte leise auf, schüttelte den Kopf und steckte das Handy wieder weg. Seine Sorge wuchs. Wahrscheinlich würde sich sein Zorn dieses Mal doch nicht so schnell verflüchtigen.

Im Hintergrund vernahm er Schritte. Seine Frau Andréa stellte sich neben ihn.

»Wo bleibt unsere Tochter?«, fragte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das Essen ist fertig.«

»Ich weiß es nicht. Sie ist jedenfalls noch nicht da«, antwortete Yves barsch und spürte, dass sich seine Unruhe allmählich in Furcht verwandelte.

Andréa verzog den Mund und zuckte gleichzeitig mit den Achseln, bevor sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Sie ist bestimmt irgendwo aufgehalten worden. Kein Grund zur Sorge. Sie wird gleich daheim sein.«

»Kein Grund zur Sorge, sagst du? Sie ist noch nie zu spät gekommen! Und jetzt ist es schon zehn nach acht!«

»Jeder kann sich mal verspäten, auch unsere Tochter. Mach ihr bitte keine Szene! Gib ihr wenigstens die Chance, ihre Unpünktlichkeit zu erklären.«

Yves verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute seine Frau missmutig an. »Auf die Erklärung bin ich gespannt«, murmelte er. Dann wandte er sich wieder ab und hielt erneut angestrengt Ausschau.

Andréa blieb neben ihm stehen. Die Minuten verstrichen, ohne dass Oceane auftauchte. Langsam wurde auch Andréa nervös. Ihre Gesichtsmuskeln spannten sich an und eine schmale Falte auf ihrer Stirn verriet ihre zunehmende Erregung.

»Ruf Camilles Mutter an!«, sagte Yves unvermittelt.

»Sollen wir nicht noch ein wenig warten?«

»Auf keinen Fall! Ich will auf der Stelle wissen, ob Camille schon zu Hause oder auch noch unterwegs ist.« Seine Stimme zitterte leicht.

Andréa schluckte schwer, während sie ihren Mann anstarrte.

Yves war ein feister Kerl mit einem unförmigen Körper und einem rötlichen Gesicht, der die außergewöhnliche Fähigkeit besaß, seinen Familienangehörigen allein mit seinen stechenden Blicken Befehle zu erteilen. Allerdings reichte ihm diese Gabe im Regelfall nicht aus. Und gerade jetzt musste er sicher sein, dass Andréa seiner Aufforderung ohne weitere Einwände nachkam.

»Mach schon!«, fügte er deshalb bestimmt hinzu.

Andréa nickte und ging mechanisch zurück ins Esszimmer, wo das Telefon auf einer Anrichte stand.

Yves zögerte kurz, dann folgte er der mageren Gestalt seiner Frau und beobachtete mit versteinerter Miene, wie sie den Hörer abhob.

 

Anne Jeunet hatte es sich auf einem Liegestuhl am Pool bequem gemacht und genoss die Ruhe, die sie umgab. Sie trug nur ein knappes gelbes Bikinihöschen, das einen harmonischen Kontrast zu ihrer gebräunten Haut bildete, und eine auffällige Sonnenbrille von Chanel. Ein Geschenk von Nicolas. Eins von vielen Präsenten, mit denen er sie geradezu überschüttete.

Sie lächelte zufrieden und rieb ihren Körper zum wiederholten Mal mit Tiaré-Öl ein. Anne konnte sicher sein, dass die hohen Hecken, die rund um das prächtige Anwesen und hinter dem stählernen Zaun verliefen, sie vor neugierigen Blicken schützten. Nicolas’ Sekretärin und sein Buchhalter brauchten am Wochenende nicht zu arbeiten, sodass lediglich Monique Puchon, die Haushälterin, irgendwo in der Villa herumschwirrte. Und wenn die ihre Brüste sah, war Anne das ziemlich egal. Sie war nicht prüde. Im Gegenteil. Wäre sie es gewesen, hätte sie niemals einen solch dicken Fisch wie Nicolas Leroche an Land gezogen. Das war auch Catherines Meinung, die mit ihr in dem stilvollen Restaurant an der Promenade des Anglais in Nizza gearbeitet hatte, in dem sich vor allem Reiche und Prominente tummelten. Laurent, der Inhaber, hatte die beiden Frauen aus der sozialen Unterschicht nur angestellt, weil sie höllisch gut aussahen. Es war für ihn ein hartes Stück Arbeit gewesen, sie mit den wichtigsten Umgangsformen vertraut zu machen und ihnen beizubringen, wie sie sich gegenüber den Gästen zu verhalten hatten. Aber es funktionierte. Im Gegenzug gewährte ihnen Laurent ein wenig Freiheit. Denn die Frauen träumten nicht nur davon, eines Tages von einem reichen Kerl aus ihrem schnöden Alltagsleben befreit zu werden, nein, sie investierten auch einiges in dieses Vorhaben: kurze Röcke und offenherzige Dekolletés, die einen Tick mehr zeigten, als es eigentlich schicklich war. Doch zunächst sprangen dabei nicht mehr als ein paar Abenteuer heraus. Unnötigerweise ließ sich Anne auch noch auf eine Affäre mit dem spanischen Barkeeper Esteban ein, der ihr hoffnungslos verfiel – und sie schwängerte.

Für Anne war es ein Drama, ein Kind von einem einfachen Barmixer zu bekommen. Sie wollte es abtreiben lassen. Doch Esteban gelang es, sie davon abzubringen. Er appellierte an ihre Moral und wies sie auf die Selbstvorwürfe hin, die sie immer heimsuchen und quälen würden, wenn sie das ungeborene Leben tötete. Außerdem versprach er, für sie und das Kind zu sorgen. An diese Zusage hielt er sich mehr schlecht als recht, bevor er nach neun langen Jahren verschwand.

Natürlich hatte Anne dazu beigetragen, dass er es nicht mehr mit ihr aushielt. Sie verbrachten ein ärmliches Leben, das Annes Träume zu verhöhnen schien. Das Geld, das sie verdienten, reichte gerade einmal aus, um halbwegs über die Runden zu kommen. Ein Zustand, der Anne an ihre eigene Kindheit erinnerte, als sie gezwungen war, in einem düsteren Loch in der Altstadt von Nizza aufzuwachsen. Der Geschmack der Socca, einer pizzaähnlichen Flade, die unter armen Leuten beliebt war, weil sie nicht viel kostete und dennoch schnell den Magen füllte, lag ihr noch bis heute auf der Zunge.

Das gleiche Schicksal sollte nun auch ihre Tochter Camille erleiden? Dagegen setzte sich Anne zur Wehr. Sie beschimpfte Esteban regelmäßig, er sollte sich um einen besseren Job kümmern oder mehr arbeiten gehen, damit sie besser leben könnten. Anne setzte ihm dermaßen heftig und so lange zu, dass er eines Tages entschied, seine kleine Familie im Stich zu lassen.

Es folgten weitere trostlose Jahre. Oftmals kellnerte Anne über zwölf Stunden am Tag, um ihre Tochter und sich selbst durchzubringen. Laurent nutzte ihre Situation schamlos aus und zahlte ihr nur noch einen Hungerlohn. Für Camille hatte Anne nie Zeit, was sie traurig stimmte, obwohl sie das Kind ursprünglich nicht gewollt hatte. Aber der Gedanke, eine schlechte Mutter zu sein, nagte an ihrem Gewissen. Sie war nun einmal der einzige Mensch, der ihrer Tochter Liebe schenkte.

Das Leben ging weiter, enteilte ihr, und irgendwann begann Anne, ihre Träume zu vergessen. Ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft schienen zu verblassen wie einst kräftige Farben auf alten, vergilbten Bildern. Bis sich ihr Los unversehens änderte.

Es war ein kühler Novemberabend, als ein attraktiver Mann um die vierzig das Restaurant betrat. Sofort fiel Anne sein ausdrucksvolles Gesicht mit den stahlblauen Augen und den hohen Wangenknochen auf. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen schon leicht ergraut, was ihm eine gewisse Reife verlieh. Gelassen und selbstsicher steuerte er auf einen Tisch am Fenster zu. Anne fixierte ihn aus sicherer Entfernung. Er war gut gekleidet. Ein dunkler Anzug mit dezenten Streifen schmiegte sich eng an seinen athletischen Körper. Die perfekt gebundene Krawatte leuchtete in einem kräftigen Grün und seine glänzenden italienischen Halbschuhe waren aus bestem Leder.

Der Mann war nicht allein gekommen. Zwei ältere Herren und eine Frau begleiteten ihn. Ein Geschäftsessen, dachte Anne und war bemüht, die Gruppe eine Nuance liebenswürdiger zu bedienen, als es sonst ihre Art war. Sie versuchte, mit dem gut aussehenden Mann zu flirten, ihm versteckte Blicke zuzuwerfen, und war enttäuscht, dass er nicht reagierte. Er gab ihr nicht einen einzigen Fingerzeig, dass er an ihr interessiert war. Umso überraschter war Anne, als er zwei Stunden nach dem Essen erneut in dem Restaurant auftauchte und sie um eine Verabredung bat.

Vermutlich ist er ein Spieler, der sich nicht gerne in die Karten blicken lässt, sinnierte Anne. Und nachdem sie ihre Tochter am nächsten Abend bei einer Nachbarin untergebracht hatte, traf sie sich mit ihm. Er führte sie aus. Ins Boccacio, ein Fischrestaurant der gehobenen Klasse, und ins L’Ambassade, ein sündhaft teurer Nachtklub. Und danach ging sie mit ihm in die Suite eines Fünf-Sterne-Hotels am Place Garibaldi, in der sie sich die ganze Nacht hindurch liebten.

Anne tat alles, damit es diesmal kein flüchtiges Abenteuer blieb. Nicolas Leroche war wie ein Sechser im Lotto. Das wusste sie inzwischen. Sie hatte Laurent über ihn ausgefragt. Der Gastronom kannte nämlich Gott und die Welt – das behauptete jedenfalls Catherine. Und sie schien recht zu behalten. Freimütig plauderte Laurent über den Mann, der ein florierendes Unternehmen mit über fünfzehn Steinbrüchen und Kiesgruben im Süden des Landes besaß und dessen Firma sich auf die Baustoffproduktion und den Verkehrswegebau spezialisiert hatte. Leroche verfügte über hervorragende Kontakte zur Politprominenz, die bis nach Paris reichten. Verbindungen, die für ihn von enormer Bedeutung und besonders dann entscheidend waren, wenn sich seine Unternehmung, die ihren juristischen Sitz in Grimaud hatte, um öffentliche Ausschreibungen bewarb.

»Bist du auf mein Geld scharf?«, fragte er in jener Nacht grinsend, als Anne ihm ins Schlafzimmer der Hotelsuite folgte.

»Auf dein Geld und auf dich«, entgegnete sie schmunzelnd, drückte ihn auf das Doppelbett und presste ihre vollen, feuchten Lippen auf seinen Mund, während sie den Reißverschluss seiner Hose öffnete.

»Du bist wenigstens ehrlich«, sagte er. »Ich schätze aufrichtige Menschen.«

»Entspann dich«, forderte sie ihn auf und wischte seine Bemerkung einfach beiseite. Sie sah die Begierde in seinen Augen. Eine Begierde, die sie ausnutzen und noch steigern musste. Was ihre Hände und ihr Mund mit ihm taten, ließ ihn förmlich erbeben. Sie spürte seine animalische Lust, die sie aus ihm herauskitzelte, noch bevor sie sich mit gespreizten Schenkeln auf ihn setzte. Sie ritt ihn so lange, bis er kam. Dann gönnte sie ihm eine kurze Pause, bevor sie weitermachte. Sie kannte die Macht, die man durch Sexualität ausüben konnte, und setzte all ihr Können ein, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Und Nicolas ließ sie gewähren.

Sein Verlangen büßte auch in den folgenden Wochen und Monaten nichts von dieser Kraft der ersten Stunde ein, von dieser Gier nach ihrem Körper, ihren Berührungen. Seine Leidenschaft schien sogar noch zu wachsen. Er war völlig verrückt nach ihr. Annes Träume hatten nicht nur den Weg zu ihr zurückgefunden, besser noch, sie waren Wirklichkeit geworden. Der mit einem Diamanten besetzte Goldring an ihrem Finger bezeugte es.

Annes Lächeln wurde breiter und sie strich über ihre gewellten Haare, die in der Abendsonne tiefbraun schimmerten. Dabei blickte sie zufrieden in Richtung der Villa, einem Symbol für ihr neues Leben. Herrschaftlich und einladend wirkte der apricotfarbene Bau auf dem riesigen Areal. Im hinteren Teil des Gebäudes lagen der Bürotrakt und die Einliegerwohnung, in der Monique lebte. Ihre eigenen Wohnräume nahmen den vorderen Bereich des Hauses ein, zu dem ein mit Säulen flankiertes Portal führte. Sämtliche Fenster waren in einem edlen Sprossendesign gestaltet und raum-hoch, wodurch viel Tageslicht in die großen Zimmer drang. Im obersten Stockwerk befanden sich insgesamt drei Schlafräume, zwei Bäder und eine überdachte Terrasse, die sich über die gesamte Front erstreckte.

Camille stand dort oben und schwenkte ihren rechten Arm übermütig hin und her, um ihre Mutter zu begrüßen. Sie konnte erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen sein. Jedenfalls hatte Anne sie bislang noch nicht bemerkt. Sie warf ihrer Tochter eine Kusshand zu und wollte gerade aufstehen, um sich bei Monique zu erkundigen, was sie gekocht hatte, als das schnurlose Telefon klingelte, das neben ihr auf dem Gartentisch lag.

Anne griff nach dem Hörer.

»Ja, hallo?«, fragte sie und erwartete eigentlich, ihre Freundin Catherine zu hören, mit der sie seit ihrem Umzug mindestens einmal am Tag telefonierte.

»Anne? Hier spricht Andréa. Es tut mir leid, dass ich Sie am Samstagabend störe. Aber es ist wichtig. Wir machen uns Sorgen um Oceane.«

Anne stutzte. »Was ist mit Ihrer Tochter?«

»Sie war doch heute den ganzen Tag mit Camille unterwegs.«

»Ja, sicher.«

»Sie ist noch nicht zu Hause, obwohl es schon fast halb neun ist. Eigentlich hält sie sich immer an die verabredeten Zeiten. Na ja, und deshalb wollte ich mich erkundigen, ob Camille schon wieder bei Ihnen angekommen ist.«

Anne hörte eine quälende Besorgnis aus Andréas Stimme heraus. »Ich habe Camille gerade auf der Dachterrasse gesehen. Warten Sie eine Minute. Ich gehe zu ihr. Sicherlich wird sie uns sagen können, warum Oceane noch nicht daheim ist«, sagte sie und stand auf.

»Danke«, entgegnete Andréa. Und diesmal klang es, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

3

Die Lichter der Taschenlampen und Laternen zerschnitten die Dunkelheit, als die Dorfbewohner ausschwärmten, um die Felder und das Umland nach Oceane abzusuchen. Ein milder Wind wehte vom Meer über ihre Köpfe hinweg und verfing sich in den Baumwipfeln der Kastanien und Platanen, die wie finstere Monumente in den Nachthimmel ragten. Immer wieder wurde Oceanes Name gerufen. Manchmal blieb jemand stehen und richtete den Lichtstrahl seiner Lampe abrupt in eine andere Richtung, weil er glaubte, ein verräterisches Geräusch gehört zu haben. Die Menschen spürten die plötzliche Spannung, die in ihre Gemeinschaft geschlichen war wie ein beklemmender Traum.

Nach dem Gespräch zwischen Andréa und Anne hatte Oceanes Mutter sämtliche Freundinnen ihres Kindes angerufen, ohne auch nur einen einzigen Hinweis auf dessen Verbleib zu erhalten. Die Telefondrähte hatten geglüht, und das Dorf war durch die beunruhigende Nachricht aufgeschreckt worden, dass die Tochter des Weinbauern Yves Guilline verschwunden sei. Im Nu hatten sich die ersten freiwilligen Helfer an der Polizeistation eingefunden, um von dort aus an einer Suchaktion teilzunehmen, die von dem Beamten Philippe Nuret organisiert wurde.

Aber die Straßen, Cafés und Gaststätten wurden vergebens abgegrast. Eine kleine Gruppe fuhr zum Campingplatz hinaus, um mit dem Betreiber zu sprechen und sich umzusehen. Der restliche Trupp durchkämmte die Gegend außerhalb des Dorfes. Unter ihnen waren auch die ehemaligen Bediensteten der Police Municipale Hugo Durand und Clement Saver, die bereits vor vielen Jahren in Ruhestand gegangen waren. Dass Clement bei der Suchaktion half, verdeutlichte den Dorfbewohnern, wie ernst die Situation war. Denn seit dem Tod seiner Frau lebte er zurückgezogen in seinem Haus außerhalb von Grimaud und ging bloß noch in den Ort, wenn er Lebensmittel einkaufen musste oder seinen Freund Hugo besuchte. Andere Gründe gab es für ihn nicht mehr. Nur die heutige Nacht bildete eine Ausnahme.

»Du bist sehr still«, bemerkte Hugo, während er auf dem Boulevard des Aliziers konzentriert neben Clement herging und das dichte Unterholz zu beiden Seiten ableuchtete. Ihr Ziel war die altertümliche Dorfmühle Moulin Saint-Roche. Ein Lieblingsplatz von Oceane, wie ihr Vater kundgetan hatte.

»Seit du mich angerufen und gebeten hast, bei der Suche zu helfen, geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf, wie sehr die Eltern des Mädchens jetzt leiden müssen.«

»Vermutlich ist sie nur ausgerissen.«

»Ja, vermutlich.«

»Wahrscheinlich gab es bei ihr zu Hause einen Streit.«

»Könnte sein. Trotzdem, die Ungewissheit bleibt und quält die Eltern so lange, bis das Mädchen wieder bei ihnen ist.«

Hugo nickte und fuhr sich über seine Glatze, die im Mondlicht glänzte. Dann warf er einen raschen Blick über die Schulter nach hinten. Die Schemen, die ihnen folgten, wirkten wie Teilnehmer einer unheilvollen Prozession. Irgendwo unter ihnen war auch Yves Guilline, dessen heiseres Rufen sie alle frösteln ließ. Seine Frau war zu Hause geblieben, um auf Oceane zu warten, falls sie doch noch dort eintraf.

»Wohin gehen wir als Nächstes, wenn wir an der Mühle angekommen sind? Ich meine, wenn wir Oceane nicht an diesem Platz antreffen, wo sollen wir dann suchen?«, fragte Hugo. »Hast du eine Idee?«

Clement zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gehen wir danach am Bach entlang, der zum Waldrand führt. Da unten stehen ein paar verrottete Gartenhäuschen herum, in denen man sich ziemlich gut verstecken könnte.«

»Meinst du, es hat wirklich noch Sinn, in der Dunkelheit herumzuirren? Möglicherweise wäre es besser, morgen in aller Frühe weiterzusuchen – wenn das Mädchen bis dahin nicht schon längst wieder bei seinen Eltern ist«, sagte Hugo leise.

»Was soll denn dieses Gerede? Du hast mich doch angerufen, damit genügend Helfer zusammenkommen. Und jetzt willst du schon so früh aufgeben?«, fragte Clement seinen Freund verständnislos und blieb kurz stehen.

»Na ja, mir kommen halt Zweifel, ob wir überhaupt etwas bewirken«, entgegnete Hugo kleinlaut und verharrte ebenfalls auf der Stelle.

Yves rief erneut nach seiner Tochter. Seine Stimme klang erstickt.

»Wir helfen ihm, indem wir die Gegend rund um Grimaud absuchen«, sagte Clement leise und deutete mit dem Daumen auf Oceanes Vater.

Hugo seufzte auf. »Das stimmt wohl. Suchen wir weiter!«

Sie gingen wieder los. Nach ein paar Minuten bogen sie von der Straße ab und betraten einen gepflasterten Weg. Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zur Mühle, die sie schweigend hinter sich brachten.

»Wir sind da«, meinte Clement schließlich und richtete den Scheinwerferstrahl auf das alte Gemäuer mit den vier Flügeln. Plötzlich streifte das Licht ein Fahrrad, offensichtlich achtlos auf den Boden geworfen und mit einem platten Vorderreifen.

»Oceanes Rad, das ist Oceanes Rad!«, stöhnte Yves Guilline hinter ihnen auf und rannte los.

Clement beschlich ein ungutes Gefühl, als er zusah, wie Oceanes Vater das Fahrrad seiner Tochter abtastete.

»Oceane, wo bist du?«, schrie Yves aus Leibeskräften.

Die anderen Helfer wurden dadurch regelrecht wachgerüttelt und fingen fieberhaft an, die nähere Umgebung zu durchkämmen, während Clement auf den Eingang der Mühle zusteuerte. Hugo und Yves folgten ihm.

Die Finsternis, die ihnen innerhalb der Mauern entgegenschlug, ließ sie einen Augenblick lang verharren. Die Luft war stickig und heiß. Feine Staubflocken wirbelten herum, verstopften Clement die Nasenlöcher und setzten sich in seinem Rachen fest. Er musste husten.

Als er sich wieder beruhigt hatte, vernahm er Yves’ ängstliche Stimme. Der Weinbauer flüsterte den Namen seiner Tochter in die Dunkelheit und schob sich an der Wand entlang.

Clement hingegen beschloss, die Mühle direkt zu durchqueren. Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er gegen einen festen Gegenstand stieß, über den er fast gestolpert wäre.

»Verflucht, was war das?«, stieß er erschrocken hervor und erhellte mit der Taschenlampe den Boden.

Ihm stockte der Atem und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen wie einen tosenden Wasserfall.

Hier, direkt vor seinen Füßen und inmitten einer riesigen roten Pfütze, lag der leblose Körper von Oceane Guilline.

 

Yves’ Schrei war so ohrenbetäubend, als ob er Grimaud in seinen Grundfesten erschüttern wollte. Minutenlang hatten Clement und er versucht, seine Tochter mit einer Herzmassage zu reanimieren, als wollten sie nicht wahrhaben, was sie eigentlich schon längst wussten. Sie hatten nach ihrem Pulsschlag gefühlt und in ihrer Verzweiflung die klaffende blutende Verletzung an ihrem Hals ignoriert, die so tief war, dass man die Wirbelsäule dahinter sehen konnte. Yves hatte Oceane mehrmals auf die Wangen geschlagen und sie angeschrien, sie sollte die Augen öffnen und wieder anfangen zu atmen.

Aber natürlich waren seine Bemühungen vergeblich gewesen. Oceanes Körper war schon starr. Sie war tot. Und als diese Erkenntnis endlich zu Yves durchdrang, erlahmte sein sinnloses Streben, seiner Tochter wieder Leben einzuhauchen. Er schrie noch einmal auf wie ein verwundetes Tier. Dann sackte er in sich zusammen.

Clement wich zurück, an die Seite des fassungslosen Hugo. Der Anblick des Weinbauern, der neben dem Leichnam seiner Tochter kauerte und ihren Kopf fest gegen seine Brust drückte, während sich sein Gesicht zu einer grauenvollen Maske verzerrte, riss alte Wunden in ihm auf. Er beleuchtete das Schreckensszenario mit seiner Taschenlampe und sah tatenlos zu, wie Yves sich sein eigenes Hemd auszog, um Oceanes entblößte Brüste und ihre nackte Scham damit zu bedecken. Ihr Kleid war in zwei Hälften zerrissen worden. Eine dunkle Blutspur reichte von ihrem Unterleib bis hinunter zu ihren Knöcheln. Ihr roter Bikini lag zerknüllt neben ihr.

»Jetzt müssen wir nicht mehr nach ihr suchen«, murmelte Hugo nach endlos erscheinenden Sekunden mit erstickter Stimme.

»Nein, das müssen wir nicht mehr«, erwiderte Clement tonlos, machte auf dem Absatz kehrt und ging mit gesenkten Schultern durch die Menschengruppe, die sich inzwischen in die Mühle gedrängt hatte.

4

»Es tut mir so leid«, hörte Camille ihre Mutter mit gedämpfter Stimme sagen.

Ihr war auf einmal schwindlig. Mutter umarmte sie. Camille roch das Öl, mit dem sie sich am Abend eingerieben hatte und das ihren eigenen angenehmen Körpergeruch nur leicht übertünchte. Ein blumiger Duft, der Camille so vertraut war. Dennoch vermochte er sie nicht zu trösten oder den Schock abzuschwächen, den die Schreckensbotschaft in ihr ausgelöst hatte. Die Worte, die sie soeben vernommen hatte, waren von einer solchen Intensität, dass sie ihr wie scharfe Messerklingen in den Magen stachen.

Ihre Freundin Oceane lebte nicht mehr. Jemand hatte sie getötet!

»Du musst jetzt tapfer sein, Camille, verstehst du? Sehr tapfer sogar«, sagte ihre Mutter leise und deutete zu dem Polizisten, der in seiner blauen Uniform und mit regloser Miene durch den Raum stapfte.

Camille erkannte ihn erst auf dem zweiten Blick. Es war Monsieur Nuret, der Beamte aus dem Dorf mit dem bleichen, scharf geschnittenen Gesicht, der sich unauffällig in ihrem Zimmer umsah, das Nicolas für sie eingerichtet hatte. Ein exquisites Reich für die neue Prinzessin des Hauses, hatte er gesagt, als er Camille das Zimmer mit den in dezentem Rosa gehaltenen Wänden und den pompösen Vorhängen präsentierte. Es war mit Möbeln aus exotischem Holz und einer Sitzecke in orientalischem Stil ausgestattet. Unter einem lang gezogenen Regal standen ein massiver Schreibtisch und ein gepolsterter Stuhl, gegenüber war ein viertüriger Schrank in die Wand eingelassen. Das Auffälligste aber war das riesige Himmelbett mit dem Baldachin aus weißem Stoff, das den Mittelpunkt des Raumes bildete. Der Rahmen bestand aus verzierten Eisenstäben und die seitlichen Fassungen waren mit Rattan bestückt. Auf der Matratze lagen etliche Kissen in erdfarbenen Tönen. Es war ein wundervolles Bett, auf dem Camille jetzt mit ihrer Mutter saß und spürte, wie Tränen ihre Augen füllten. Tränen, die sie unterdrücken musste. Sie wollte nicht weinen. Auf keinen Fall! Nicht vor Mutter und schon gar nicht vor dem Polizisten.

»Monsieur Nuret wird dir ein paar Fragen stellen, Camille. Versuch, dich zu konzentrieren, Liebes. Es ist wichtig, dass du ihm antwortest und alles erzählst, was du weißt«, fuhr Mutter fort. »Wirklich alles!«

Camille nickte bedächtig.

Nuret packte den Schreibtischstuhl und stellte ihn direkt vor Camille ab. Dann nahm er Platz, zückte ein Diktiergerät aus der Innentasche seiner Jacke und schaltete es ein.

Camille war dankbar, dass der Beamte ihre Mutter nicht fortschickte. Dass sie bleiben und ihr Beistand leisten konnte, wenn es nötig wäre.

Nuret sah Camille einen Augenblick lang schweigend an, als suchte er nach den passenden Worten. Dann räusperte er sich.