Kosmos
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© 2008, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-13183-1
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Der Liebeszauber
»Hände hoch!«, rief Marie. »Lassen Sie Ihre Waffe fallen, Johnny! Das Spiel ist vorbei. Sie sind umzingelt.«
»Aber ich war es nicht!«
»Ja klar, Sie sind natürlich völlig unschuldig! Das können Sie alles später beim Verhör erzählen. Ich bin schon sehr gespannt.«
Marie lachte verächtlich, machte eine Kunstpause und klappte den Krimi zu, aus dem sie gerade vorgelesen hatte. Kim und Franzi hingen noch ein paar Sekunden wie gebannt an ihren Lippen, dann fingen sie an zu klatschen.
»Super!«, sagte Kim. »Wie du die verschiedenen Stimmen nachgemacht hast. Das könnte ich nie.«
»Ich hab richtig Gänsehaut bekommen«, sagte Franzi und rieb sich die Arme. Ihr war eiskalt geworden, obwohl die Heizung in der Stadtbücherei auf Hochtouren lief.
Marie deutete eine kleine Verbeugung an, dann setzte sie sich wieder zu ihren Freundinnen in die Sofaecke neben den Regalen mit den Krimis und Hörspielen. Sie liebte schauspielerische Auftritte und übte bei jeder Gelegenheit für die Zukunft. Später wollte sie nämlich unbedingt eine berühmte Schauspielerin oder Sängerin werden. Aber vielleicht wurde sie ja auch eine berühmte Detektivin, das konnte man nie wissen. Wenn die drei !!! nämlich mit ihrem Detektivclub weiterhin so erfolgreich waren, war das gar nicht so aus der Luft gegriffen. In den letzten drei Monaten hatten Kim, Franzi und Marie allerdings keinen Fall an der Angel gehabt, und das machte ihnen langsam ein bisschen Sorgen.
Kim, die den Detektivclub gegründet hatte und der Kopf der drei !!! war, wurmte es am meisten. »Ich will endlich wieder selber Detektivin sein und nicht immer nur Krimis lesen!« Dabei war sie eine richtige Leseratte und hatte schon wieder zehn Krimis neben sich aufgestapelt, die sie alle ausleihen wollte.
»Ich auch«, sagte Franzi. »Ich würde alles darum geben, mal wieder in einer Höhle herumzuklettern oder auf einen Schuppen, um euch zu befreien.«
Marie lachte. »Stimmt, darin bist du wirklich unschlagbar.« Sie fand sowieso, dass ihre Fähigkeiten als Detektivinnen sich perfekt ergänzten: Kim kannte sich super mit Technik und Computern aus, Franzi war die Sportliche, und Marie war mit ihrem schauspielerischen Talent und ihren verrückten Verkleidungen schon oft als Erwachsene durchgegangen und hatte die Ermittlungen dadurch ziemlich erleichtert. Außerdem konnte sie ihren Vater jederzeit um Rat fragen. Der spielte nämlich den Hauptkommissar Brockmeier in der Vorabendserie Die Vorstadtwache und kannte jede Menge Tricks und Kniffe, die er sich von Kommissars Peters, einem Freund bei der Polizei, abgeschaut hatte. Inzwischen war Kommissar Peters auch der Freund der drei !!! und half ihnen ab und zu bei ihren Ermittlungen.
»Ein Einbruch wär nicht schlecht«, überlegte Kim laut vor sich hin. »Oder wieder eine Entführung oder Erpressung.«
»Tja«, sagte Marie. »Vielleicht sollte ich noch mal meine Tarotkarten befragen und einen Blick in die Zukunft werfen?«
Franzi tippte sich an die Stirn. »Bloß nicht! Das hilft uns auch nicht weiter.« Sie konnte mit Maries Hang zu Prophezeiungen, Tarot, Hexenzauber und Gläserrücken immer noch nicht viel anfangen, obwohl beim letzten Fall der drei !!! tatsächlich einige merkwürdige Dinge passiert waren, die sich auch Franzi nicht ganz erklären konnte.
»Ich weiß nicht so recht, ich finde Tarot irgendwie unheimlich«, gab Kim zu und wechselte schnell das Thema. »Ich glaub, ich geh noch kurz in den ersten Stock und schau nach anderen Büchern. Wir sehen uns ja dann später bei der Ausleihe.«
Marie vertiefte sich wieder in ihren Krimi, und Franzi nickte und sah ihrer Freundin unschlüssig hinterher.
Kim war froh, dass keine der beiden ihr folgte. Sie suchte nämlich ein ganz bestimmtes Buch, das Marie vor ein paar Monaten ausgeliehen hatte: Zaubern leicht gemacht – Hexenzauber für Anfänger. Als Marie damals von einem der Liebeszauber erzählt hatte, den sie ausprobiert hatte, um ihre wahre Liebe zu finden, hatten Franzi und Kim nur müde gelächelt. Doch dann hatte Marie plötzlich Holger getroffen, sich sofort in ihn verliebt und er sich auch in sie. Eigentlich waren die beiden so gut wie ein Paar, wenn Holger nicht so weit weg wohnen würde: in Billershausen, das fünfundzwanzig Kilometer von ihrer Stadt entfernt war.
Seitdem ließ Kim der Gedanke an diese Liebeszaubereien nicht mehr los. Vielleicht funktionierten solche Rituale ja doch? Und vielleicht könnte sie dadurch endlich mit Michi zusammenkommen!
Michi Millbrandt hatte den drei !!! bereits bei einigen Fällen geholfen, und Kim hatte vom ersten Augenblick an gewusst: Der ist meine große Liebe und sonst keiner! Sie waren inzwischen richtig gute Freunde, unternahmen ab und zu Ausflüge zu zweit und flirteten sogar ein bisschen, aber irgendwie wurde nicht mehr daraus, und das machte Kim ganz verrückt.
Ungeduldig lief sie an den Regalen im ersten Stock entlang und suchte nach der Abteilung mit den esoterischen und übersinnlichen Büchern, um die sie bisher immer einen großen Bogen gemacht hatte. Endlich hatte sie die richtige Ecke gefunden. Zwei große Regale waren von oben bis unten mit Büchern über Magie, Hexen, Engel, Außerirdische, Wiedergeburt und andere unerklärliche Phänomene gefüllt. Aufgeregt fuhr Kim mit den Fingern die Buchrücken entlang. Hier waren lauter Hexenbücher, da konnte das Buch doch nicht weit sein ... Hoffentlich war es nicht ausgeliehen!
Da stach Kim der Titel auch schon ins Auge: Zaubern leicht gemacht. Erleichtert streckte sie die Hand danach aus, doch plötzlich knallte sie mit jemandem zusammen, der wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war.
»Aua!«, rief sie und rieb sich die schmerzende Stelle an der Stirn, an der sie garantiert eine fette Beule bekommen würde. »Kannst du nicht aufpassen?«
»Pass doch selber auf!«, gab die andere Person zurück, und erst da merkte Kim, dass es Franzi war.
Verblüfft starrte sie ihre Freundin an. »Was machst du denn hier?«
Franzi trat von einem Fuß auf den anderen. »Ach, nichts ... Ich wollte mich nur mal umsehen.«
»In der esoterischen Abteilung?«, hakte Kim nach. »Ich dachte, du hasst solche Bücher.«
»Ja, schon«, druckste Franzi herum, die immer verlegener wurde. »Ich wollte nur ... na ja ... ehrlich gesagt, ich hab was Bestimmtes gesucht ... ähm ... dieses Hexenzauberbuch, das Marie mal angeschleppt hat.«
Kim zog das Buch, nach dem sie gerade hatte greifen wollen, aus dem Regal und hielt es Franzi unter die Nase. »Meinst du zufällig das?«
Franzi nickte. »Hmm ... ja, genau. Ich wollte aber wirklich nur ... es ist nicht so, wie du denkst ...«
Kim hielt es nicht mehr länger aus und prustete los. »Sag bloß, du willst auch einen Liebeszauber ausprobieren!«
Franzi fielen fast die Augen aus dem Kopf. »W...was? W...wie? Wie kommst du den darauf?«
Kim grinste über das ganze Gesicht. »Das war nicht besonders schwer zu erraten. Du bist also doch in Benni verliebt, stimmt’s?«
Sofort wurde Franzi knallrot. »Nein ... doch ... nein ... doch ... Das ist ja das Schlimme. Ich weiß es immer noch nicht.«
Kim sah ihre Freundin mitfühlend an. Seit Franzi auf der Skateranlage Benni getroffen und er sich in sie verliebt hatte, fuhren ihre Gefühle Achterbahn: Mal war sie nicht verliebt in ihn, mal schon ein bisschen, und dann wieder wollte sie ihn nur als Freund haben und nichts von dem ganzen Liebeskram wissen.
»Nimm du ruhig das Buch«, sagte Franzi. »Ich glaub, das ist doch nichts für mich.«
Aber so leicht ließ Kim sie nicht davonkommen. »Quatsch! Natürlich ist das was für dich. Ich hab eine super Idee: Wir leihen das Buch zusammen aus und machen gemeinsam diesen Liebeszauber. Was hältst du davon?«
Franzi zögerte. »Ich weiß nicht ...«
Doch Kim ließ nicht locker. »Komm schon! Das wird bestimmt toll. Außerdem haben wir Glück, heute ist nämlich Vollmond, da wirkt der Zauber sicher besonders gut.«
Franzis Gesicht hellte sich auf. »Hmm ... wenn du meinst. Aber eins musst du mir versprechen.«
»Alles!«, sagte Kim.
Franzi sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, bevor sie Kim zuraunte: »Marie darf nichts davon erfahren. Sonst denkt sie womöglich noch, sie hat mich endlich zu ihrem übersinnlichen Hokuspokus bekehrt.«
Kim kicherte hinter ihrer vorgehaltenen Hand. »Keine Sorge! Mein Mund hat sieben Siegel.«
Punkt Mitternacht, als die Kirchenglocke hinter Franzis Haus zwölfmal läutete, trat der Vollmond hinter den Wolken hervor und tauchte die mit Raureif bedeckte Wiese in fahles Licht.
»Brrr, ist das kalt!«, stöhnte Kim und wickelte ihren Schal enger um den Hals.
Franzi, deren Zähne auch schon hörbar aufeinanderklapperten, kicherte. »Du hast doch darauf bestanden, den Liebeszauber unbedingt draußen zu machen.«
Kim nickte. »Ja, schon. Im Buch steht, dass er unter freiem Himmel viel besser wirkt, aber Anfang Februar bei fünf Grad minus ist das echt fies.«
»Stimmt«, sagte Franzi, obwohl sie die klirrende Kälte eigentlich liebte, besonders wenn sie mit ihrem Pony Tinka über die verschneiten Felder galoppierte, aber leider lag gerade kein Schnee. Und mitten in der Nacht sahen die Bäume mit ihren schwarzen, krummen Ästen aus wie Monster, die nur darauf zu lauern schienen, sich in einem unbeobachteten Moment auf sie zu stürzen.
»Dann lass es uns schnell hinter uns bringen«, schlug Franzi vor, während sie eine Wolldecke auf dem Boden ausbreitete und sie sich beide daraufsetzten.
Kim schlug feierlich das Hexenbuch auf, bei dem sie zwei Seiten mit gelben Zetteln eingemerkt hatte. Es gab nämlich tausend verschiedene Liebeszauber, und Franzi und Kim hatten eine Weile gebraucht, bis sie – zum Glück noch in Franzis geheiztem Zimmer – die beiden passenden ausgesucht hatten. Kim hatte sich für einen Kusszauber entschieden, weil sie endlich ihren ersten richtigen Kuss bekommen wollte, von Michi natürlich, aber das war ja sowieso klar. Und Franzi hatte nach einigem Hin und Her einen Zauber ausgewählt, der ihre Liebe zu Benni verstärken sollte. Sie hatten die Anleitungen nur kurz überflogen, um sich mit dem entsprechenden Material einzudecken, das sie dafür brauchten.
»Willst du anfangen?«, fragte Kim.
»Nein, du!«, sagte Franzi, die sich gerade fragte, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, sich von Kim überreden zu lassen.
»Na gut«, sagte Kim, blätterte nach vorne zum Kusszauber und las langsam vor: »So bekommst du mit etwas Glück und mithilfe der Liebesgöttin deinen ersten Kuss: Bemale deine Lippen mit Lippenstift, und drücke auf ein Blatt Papier einen dicken Kuss. Falte den Zettel zusammen, binde eine Schnur drum herum, und befestige den Zettel am obersten Ast eines Lindenbaums. Dann denke ganz fest an deinen Liebsten. Achtung: Der Zauber wirkt nur bei einem Lindenbaum, dem Baum der Liebenden mit seinen herzförmigen Blättern.«
»Das war’s schon?«, fragte Franzi. »Ist ja total easy.«
»Von wegen!«, seufzte Kim und warf einen gequälten Blick zur einzigen Linde hinauf, die in Franzis Garten stand. Der Baum war uralt und bestimmt vier Meter hoch. Wie sie da hinaufkommen sollte, war ihr schleierhaft. Sport war noch nie ihre Stärke gewesen, und Klettern schon gleich gar nicht.
»Ach was«, sagte Franzi. »Das schaffst du schon. Ich helf dir. Aber den ersten Teil kriegst du auch alleine hin, oder?«
Kim nickte und holte aus ihrer Tasche ein Blatt Papier, einen Taschenspiegel und den ersten Lippenstift heraus, den sie sich von ihrem Taschengeld geleistet hatte. Im Gegensatz zu Marie schminkte sie sich nur bei besonderen Gelegenheiten, und heute war eindeutig eine solche Gelegenheit. Leider musste sie dafür ihre Handschuhe ausziehen. Schon nach ein paar Sekunden fühlten sich ihre Finger wie Eiszapfen an und waren total steif, sodass ihr der Lippenstift gleich zweimal ausrutschte. Endlich war sie zufrieden, beugte sich über das Papier und drückte einen eiskalten Kuss darauf.
»Gar nicht schlecht«, sagte Franzi, die den gleichmäßigen Abdruck begutachtete.
Mit klammen Fingern faltete Kim den Zettel und band eine Schnur drum herum. Dann konnte sie ihre Handschuhe endlich wieder anziehen und seufzte ein zweites Mal. Am liebsten hätte sie Franzi darum gebeten, für sie den Baum hochzuklettern, aber dann wirkte der Zauber garantiert nicht.
»Also los!«, sagte Franzi. »Stell dich nicht so an.« Sie machte mit ihren Händen eine Räuberleiter und sah ihre Freundin erwartungsvoll an.
Als Kim aufstand, merkte sie, wie ihre Beine anfingen zu zittern, und diesmal nicht wegen der Kälte. Der unterste Ast war so weit oben, er schien meilenweit entfernt zu sein. Trotzdem biss sie tapfer die Zähne zusammen, holte Schwung und setzte ihren linken Fuß in Franzis Hände. So schnell wie möglich zog sie den rechten Fuß nach, aber kaum war sie in der Luft, verlor sie sofort das Gleichgewicht und plumpste zurück ins Gras. Der Boden war beinhart, und entsprechend weh tat auch ihr Hinterteil.
»Gleich noch mal!«, sagte Franzi ungerührt im Kommandoton.
Kim fluchte leise vor sich hin. Zum Glück war Franzi nicht ihre Sportlehrerin.
Kim versuchte es ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal. Erst beim fünften Mal gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten und sich zum untersten Ast hochzuziehen. Als sie es geschafft hatte, war sie fix und fertig und kurz davor, das Kusspapier einfach um den erstbesten Ast zu knüpfen.
Aber Franzi kommandierte bereits weiter: »Nicht schlappmachen. Siehst du die Astgabel über dir? Da musst du als Nächstes hin.«
»Das soll wohl ein Witz sein!«, rief Kim. »Die ist ewig weit weg.« Franzi schwieg, und Kim blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Mit Müh und Not erreichte sie nach drei Anläufen keuchend die Astgabel und war jetzt richtig stolz auf sich. Auf einmal packte sie der Ehrgeiz. Das wäre doch gelacht, wenn sie den Rest nicht auch noch schaffen würde!
Sie schaffte es tatsächlich, aber nur, weil Franzi sie Stück für Stück weiterlotste und weil Kim es krampfhaft vermied, nach unten zu sehen. Sie wusste nämlich nicht, ob sie überhaupt schwindelfrei war, und wollte es lieber nicht heute testen.
»Ja, jetzt bist du oben!«, rief Franzi schließlich.
Kim konnte es kaum glauben. Ängstlich klammerte sie sich an einen Ast in der Baumkrone, der bedenklich hin und her schwankte, aber sie war wirklich am Ziel. Über ihr leuchteten die Sterne, und der Mond war ganz nah. Mit zitternden Fingern holte Kim das Papier aus der Tasche und befestigte es mit einem dreifachen Knoten am obersten Ast. Und plötzlich spürte sie die Kälte nicht mehr, ihr Herz klopfte ganz schnell und ihr wurde unglaublich warm.
Michi!, dachte sie. Michi! Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr!
Das Gefühl für ihn war in dem Moment so stark, dass sie glaubte, gleich würde ihr Herz zerspringen vor lauter Liebe.
Da zischte Franzi von unten: »Ich frier gleich ein! Bitte komm wieder runter!«
Mit einem Schlag war Kim zurück in der Kälte der Nacht. Aus Versehen warf sie doch einen Blick nach unten, und sofort wurde ihr schwindelig. Genauso hatte sie sich gefühlt, als sie das erste Mal im Freibad auf dem Fünfmeterbrett gestanden hatte.
»Siehst du den Ast links unter dir?«, fragte Franzi. »Versuch ihn zu erreichen!«
Wieder lotste Kim sie Stück für Stück nach unten, half ihr mit der Räuberleiter, und wie durch ein Wunder kam Kim heil unten an. Kaum hatte sie festen Boden unter den Füßen, gaben ihre Knie nach.
»Ich glaub, ich muss mich setzen«, murmelte sie und ließ sich erschöpft auf die Wolldecke fallen. Dann beschloss sie, dass dies der erste und letzte Liebeszauber in ihrem Leben gewesen war. Noch mal würde sie so was nicht durchstehen.
Franzi grinste von einem Ohr zum andern. »Gratuliere! Du bist gar nicht so unbegabt. Wir sollten mal einen Kletterkurs zusammen machen.«
»Das kannst du dir abschminken«, sagte Kim. »Los, jetzt bist du dran! Mal sehen, was du alles machen musst, damit du dich richtig doll in Benni verliebst.«
Franzi nahm ihr das Hexenbuch aus der Hand und las aufgeregt vor: »Das ist die Kunst, das eigene Gefühl der Liebe zu verstärken: Zünde eine Kerze an und steige damit in einer Vollmondnacht auf einen Hügel. Denke fest an den Menschen, den du noch mehr lieben willst. Wenn du ihn tief in dir spürst, flüstere zwölfmal seinen Namen. Danach blase die Kerze aus, und verlasse schweigend den Hügel. Achtung: Der Liebeszauber wirkt nur, wenn du in dieser Nacht kein einziges Wort mehr sprichst.«
»Das ist viel einfacher als bei mir!«, beschwerte sich Kim.
Franzi zuckte mit den Schultern. »Wart’s ab! Vielleicht kommt ja ein Sturm und bläst meine Kerze aus. Oder ich sage statt zwölfmal nur elfmal den Namen.«
»So ein Quatsch!«, rief Kim. »Wir müssen nur jetzt schon Gute Nacht sagen, weil wir später in deinem Zimmer ja nicht mehr reden dürfen.«
Franzi umarmte ihre Freundin und flüsterte ihr ins Ohr: »Viel Glück für deinen Liebeszauber!«
»Dir auch viel Glück für deinen«, flüsterte Kim zurück. Dann kramte sie in ihrer Tasche, holte eine Kerze und Streichhölzer heraus und gab beides an Franzi weiter.
Franzi schaffte es gleich mit dem ersten Streichholz, die Kerze anzuzünden. Sie flackerte zwar ein bisschen, aber es war so gut wie windstill, sodass sie eigentlich nicht ausgehen konnte. Vorsichtig balancierte sie die Kerze vor sich her und schirmte die Flamme mit einer Hand ab. Zum Glück gab es einen Hügel auf dem Grundstück ihrer Eltern. Er war nicht weit weg, gleich neben dem alten Pferdeschuppen, in dem die drei !!! ihr Hauptquartier hatten und regelmäßig ihre geheimen Besprechungen abhielten.
Langsam ging Franzi auf den Hügel zu. Bald war sie am höchsten Punkt angelangt und blieb stehen. Sie starrte in die Kerze und versuchte sich auf Benni zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach. Dauernd schwirrten tausend andere Gedanken in ihrem Kopf herum:
Hoffentlich ist Mama nicht aufgewacht, als ich mich mit Kim aus dem Haus geschlichen habe! Verdammt, hier ist es ja noch kälter als unten! Wenn Marie mich jetzt sehen könnte. Sie würde sich schieflachen. Nein, ich muss an Benni denken, nur an Benni!
Plötzlich fiel ihr ein, wie Benni auf dem Rückweg vom Skaten ihre Hand genommen hatte. Und wie er ihr an der Bushaltestelle noch schnell einen Abschiedskuss auf die Wange gehaucht hatte. Das war so süß von ihm gewesen! Überhaupt war er sehr, sehr süß mit seinen blonden Locken und den unglaublich blauen Augen. Und dem Lächeln, bei dem ihr immer sofort warm ums Herz wurde.
Jetzt spürte sie ihn ganz stark, fast hatte sie das Gefühl, Benni wäre hier, ganz nah neben ihr. Franzi holte tief Luft, und dann flüsterte sie: »Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni, Benni.«
Am Ende war sie sich hundertprozentig sicher, dass sie zwölfmal seinen Namen ausgesprochen hatte, obwohl sie nicht akribisch mitgezählt hatte. Trotzdem wusste sie es einfach, genauso wie sie wusste, dass der Zauber bereits angefangen hatte zu wirken. Glücklich blies sie die Kerze aus und kehrte zurück zu Kim. Ihre Freundin faltete gerade die Wolldecke zusammen und hing sich ihre Tasche um. Franzi lächelte ihr zu und legte den Finger an die Lippen. Dann liefen sie gemeinsam zum Haus, in dem alle tief und fest zu schlafen schienen.
Franzi machte leise die Haustür auf und gab Kim ein Zeichen, dass sie vorgehen sollte. Die verschwand lautlos im Flur und schlich die Treppe hinauf. Franzi wartete ein paar Sekunden, bis sie ihr folgte. Das war ja alles viel leichter gegangen, als sie dachte! Beschwingt nahm sie zwei Stufen auf einmal. Doch auf der obersten Treppenstufe blitzte ihr plötzlich ein greller Lichtstrahl mitten ins Auge. Beinahe hätte sie »Hilfe!« gerufen, aber im letzten Moment erinnerte sie sich an ihr Versprechen und verschluckte das Wort im Mund. Und dann erkannte sie ihre Mutter. Sie stand in einem bodenlangen weißen Nachthemd vor ihr und hatte eine Taschenlampe in der Hand.
»Schatz! Wo kommst du denn her?«, fragte sie besorgt.
Franzi deutete mit einer vagen Handbewegung an, dass sie draußen im Freien gewesen war.
Frau Winkler schüttelte besorgt den Kopf. »Du bist ja völlig durchgefroren, deine Lippen sind ganz blau! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Franzi zuckte entschuldigend mit den Achseln.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Jetzt sag doch endlich was!«, drängte ihre Mutter und fasste sie an der Schulter.
Franzi presste die Lippen aufeinander und machte ein paar hilflose Gesten. Unter anderem griff sie sich dabei zufällig kurz an den Hals.
Frau Winkler interpretierte es sofort als Zeichen. »Du hast Halsschmerzen, du Arme! Dir ist die Stimme weggeblieben. Kein Wunder, dass du dir da draußen eine Erkältung eingefangen hast. Den Tod hättest du dir holen können, mitten im Winter. Jetzt komm aber schnell! Ich lasse dir ein heißes Bad ein, und dann bringe ich dir eine Kanne mit schönem, heißen Kamillentee.«