Carolin Römer
Die irische Meerjungfrau
Ein Fin O’Malley Krimi
Ich danke ganz besonders John Ryan und Danny Kelly für ihre Hilfe. Ohne sie wäre die irische Meerjungfrau nur halb so irisch geworden.
Go raibh míle maith agat
Die lange farblose Kutte des Alten war voller mottenzerfressener Löcher. Sie flatterte im Wind und folgte dabei einem ganz eigenen Rhythmus. Der grobgewebte Stoff schien zu atmen, als ob außer dem klapprigen Knochengestell noch etwas anderes darin hauste und sich ganz offensichtlich wohlfühlte. Eine dürre, fast fleischlose Hand ragte aus dem ausgefransten Ärmel, die Haut, die sich über die Knöchel spannte, schimmerte wachsfarben und brüchig wie altes Pergament, blaue Adern liefen über sie hinweg wie Priele über einen Strand. Fingernägel gleich Tierklauen umklammerten einen langen, geschnitzten Gehstock. Mühsam hob er den schmutzstarren Saum, um vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er trug Sandalen, das Leder dünn und abgewetzt, und doch war jeder Schritt, als hätte er eiserne Ketten an den Füßen.
Das Auffälligste an dem Alten aber war sein Bart. Eine verfilzte und verschimmelte Matte reichte ihm fast bis zu den Knien herab, vielleicht auch nur bis zu seinem Hintern, die gebückte Haltung verfälschte die Erscheinung. Im haarigen Gestrüpp wimmelten Essensreste wie hilflose kleine Fische in einem Netz. Als hätte sein Träger vorsichtshalber ein paar Vorräte für eine lange Reise eingepackt.
Der glasige Blick aus wässrigen Augen war gen Himmel gerichtet als suche er dort Eingebung, mindestens aber Ermutigung für sein Tun, wenigstens jedoch eine Antwort auf die Frage aller Fragen – warum er es tat.
Hinter dem Alten stakste ein untersetztes, unscheinbares Männchen auf kurzen, krummen Beinen. Wo andere einen einzigen Schritt taten, brauchte es drei. Seine graue Kutte war um einige Ellen zu groß, ständig geriet der Kleine ins Straucheln und fiel seinem Vordermann in den Rücken. Die schwarze struppige Mähne hing ihm wirr ins Gesicht, selbst wenn er die schmierigen Strähnen bei jedem Schritt zur Seite strich, konnte er unmöglich sehen, wohin er trat. Es blieb ihm nicht viel mehr übrig, als an dem Alten zu kleben wie ein Schatten.
Der Dritte im Bunde überragte sie alle. Er schleppte ein wahres Gebirge von Buckel mit sich, sein spiegelblanker Schädel war zwischen die Schulterblätter gesunken, weshalb er anatomisch gar nicht in der Lage schien, die Augen vom Boden zu lösen. Sein Atem war ein müdes Rasseln, seine schweren Schritte hinterließen tiefe Pfützen im nassen Sand.
Hinter den Dreien folgten weitere Gestalten, alle im Gänsemarsch, eine lange, schweigende Prozession von Mönchen, die über den Strand zogen, bis sich der letzte als unbedeutende Silhouette im Nebel verlor.
Er sollte endlich mit dem Trinken aufhören.
Er blinzelte.
Mit etwas Phantasie sahen die Felsen tatsächlich aus wie eine düstere Prozession mittelalterlicher Mönche, besonders wenn die Phantasie von fünfzehn Jahre altem schottischen Single Malt beflügelt wurde. Im Reflex klopfte er gegen die Innentasche seiner Barbourjacke. Der Flachmann klang erschreckend hohl. Er sollte ihn im nächsten Pub nachfüllen.
Sein Reiseführer hatte das Naturschauspiel beschrieben. Welchem unergründlichen Muster auch immer Gott gefolgt war, als er diese Steine in den Sand geworfen hatte, sie gaben den Menschen seit jeher Rätsel auf. Mannshohe Felsbrocken, die in einer geheimnisvollen Ordnung über den Strand zu marschieren schienen, die aber anders als prähistorische Steinkreise nicht von Menschenhand dorthin gestellt worden waren, sondern allein das Werk von Mutter Natur waren. Sonne und Wind, Ebbe und Flut hatten den Steinen über die Jahrtausende zugesetzt. Algen und Flechten wucherten Bärten gleich auf der verwitterten Oberfläche. Muscheln hatten sich in den winzigsten Winkeln festgekrallt und bizarre Muster gebildet, während das Salzwasser stetig am Fundament nagte. Es war abzusehen, dass in ein paar hundert Jahren nichts mehr da sein würde, das die Phantasie eines Betrachters beflügeln konnte.
Im vergangenen Jahrhundert hatte ein findiger Tourismusmanager der Felsformation den Namen Pleurants gegeben. Das war Französisch und bedeutete frei übersetzt so viel wie Trauerzug, in Anlehnung an steinerne Figuren bedeutender Grabmale noch bedeutenderer Könige. Genützt hatte es nichts, Touristen waren keine gekommen, und die rätselhaften Steine wanderten weiter unbeachtet über einen menschenleeren Strand. Es gab weit und breit nichts Bemerkenswertes. Keine bedeutenden Kulturschätze, weder römische Ausgrabungen noch himmelstürmende Zeugnisse mittelalterlicher Baukunst. Nur Landschaft. Und selbst die war wenig spektakulär. Eintöniges Grün, Wiesen und Weiden, die ohne Vorwarnung in scharfen Klippen zum Meer hin abbrachen, ein schmaler Streifen Strand, mit Felsen gespickt, schließlich eine langweilig graue Pampe, die sich Atlantik nannte. Und über allem ein wolkenverhangener Himmel, aus dem es meistens regnete. Wer’s mochte …
Nein, hierher kam niemand freiwillig. Im Gegenteil, seit mehr als tausend Jahren hatten die Menschen alles daran gesetzt, von hier fortzukommen.
Day’s Foreland war eine Halbinsel im äußersten Nordwesten Irlands. Wobei Day eine englische Verballhornung des gälischen Wortes dia war. Dia bedeutete nichts Geringeres als Gott, und ursprünglich hieß der Landstrich An Lámh Dé – die Hand Gottes. Tatsächlich sah die Küstenlinie mit ihren tief ins Land reichenden fjordähnlichen Buchten auf der Landkarte aus wie eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern. Aber diese Gegend schien von Gott ebenso verlassen wie von allen anderen Lebewesen.
Die ersten Spuren menschlichen Wirkens hinterließ – wie sollte es in diesem Lande anders sein – eine Handvoll Mönche, die im achten Jahrhundert hier durchgezogen war. Sie hatten sich nicht lange aufgehalten. Der Legende nach waren sie mit einem Boot, einem lederbezogenen Curach, von einer Landzunge aus in See gestochen. Sie waren dem Zeigefinger Gottes gefolgt, der ihnen den Weg ins Gelobte Land weisen sollte. Wenn sie unterwegs nicht abgesoffen waren, hatten sie wahrscheinlich Grönland entdeckt. Was am Ende aus ihnen wurde, ist nicht überliefert. Aber es ist unwahrscheinlich, dass sie nach dieser Entdeckung noch große Lust verspürt hatten, mehr vom Rest dieser Welt zu sehen.
Wenig später begannen auf dem Nachbarfinger ganz andere Elemente einem eher unchristlichen Handwerk nachzugehen. Denn ganz oben, sozusagen auf der Kuppe des fast schon obszön langen Mittelfingers, lag das Dorf Foley – und der eigentliche Grund für Fins Anwesenheit.
Denn er war ganz und gar nicht freiwillig hier, und er hätte sonst was dafür gegeben, in diesem Augenblick woanders zu sein.
Fin schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schniefte.
An sonnigen Tagen konnte er einer solchen Landschaft durchaus etwas Reizvolles abgewinnen, aber an Tagen wie heute? Er war ein Stadtmensch. Völlig ungeeignet für das Leben unter freiem Himmel. Das einzige Grün, das er gelten ließ, waren die Parks in Dublin mit all ihrem staubigen Laub, den überquellenden Abfalleimern, umherirrenden Touristen und vierundzwanzigstündigem Lärmpegel. Autoabgase waren auch nicht schlechter als der muffige Geruch von abgestandenem Salzwasser, verwesenden Krabben und modernden Algen.
Es war viel zu still hier. Kaum ein Laut war zu hören, nicht mal eine einzige keifende Möwe. Das Meer kotzte lustlos auf den Strand und ließ den schmutzigbraunen Seetang hin und her schwappen. Kein Wind, der die Wellen dramatisch aufwühlte oder wenigstens die winzigen Mücken vertrieb. Dazu ein Nebel, der den dicksten Großstadtsmog in den Schatten stellte, milchig, sämig und unappetitlich wie Haferschleim. Der Horizont war hinter einem dichten Schleier aus feinem Nieselregen verschwunden. Während der ganzen Autofahrt hatte es geregnet, und noch immer trommelten die stecknadelfeinen Tropfen auf die harte Schale seiner nagelneuen Wachsjacke.
Er hatte sich gut vorbereitet. Nicht nur eine neue Jacke gekauft. Oder diesen handgestrickten Pullover aus handgesponnener Wolle von freilaufenden Schafen, der eigentlich bloß unangenehm auf der Haut kratzte und bei der ersten Wäsche wahrscheinlich auf Zwergengröße einschrumpfte. Er hatte sich sogar knöchelhohe, wetterfeste Schnürschuhe gekauft, bloß lagen die jetzt im Kofferraum seines Wagens oben an der Straße, weil er es viel zu unbequem fand, mit diesen klobigen Waldbrandaustretern Auto zu fahren.
Seine hellen Wildlederschuhe waren komplett durchweicht. Der kurze Spaziergang über den Strand hatte genügt. Nein, es waren keine handgenähten italienischen Maßschuhe, bloß ein Sonderangebot, aber es wurmte ihn dennoch. Sie waren fehl am Platz. Genau wie er.
Er hätte Gummistiefel mitbringen sollen. Auf der Fahrt war er an einem noblen Country Hotel vorbeigekommen. Dort hatte eine ganze Reihe von Gummistiefeln an der Garderobe ausgeharrt, kein Paar unter zweihundert Euro wert. Im hoteleigenen Pub hatten ihre Besitzer an der Theke gestanden und zwanzig Jahre alten Whisky geschlürft. Unternehmensberater, Investmentbanker und Topmanager, die ein Event-Weekend gebucht hatten und eine Menge Geld dafür hinlegten, in einem Selbsterfahrungskurs mit Anglerstiefeln bis zum Bauch im kalten Wasser zu stehen und ahnungslosen Lachsen aufzulauern. Für einen kurzen Moment hatten ihn Marmorbäder und Internetanschluss, Bibliothek und Rauchersalon gereizt, aber ihm war schnell klar geworden, dass die Preise sein Budget sprengten. So hatte er es bei einem feudalen Mittagsmahl belassen.
Mangels echter Alternativen hatte er sich für ein Bed & Breakfast entschieden. An der Tankstelle in Foley hatte er gefragt und die Adresse der Witwe MacCormack erhalten, die am Ausgang des Dorfes wohnte und Zimmer vermietete. Er fand einen Bungalow aus den frühen achtziger Jahren, dessen große Panoramafenster über einen akkurat geschnittenen Rasen, ebenso akkurat gestutzte Büsche und weniger akkurat verblühte Astern auf eine weite Bucht hinausgingen. Im Garten die unvermeidliche Wäschespinne, auf deren Leine selbst bei strömendem Regen wenigstens ein einzelner Bettbezug die unermüdliche Hausfrau verriet. Auf einem Pfosten neben der Auffahrt zur Garage thronte eine kitschig bunte Marienstatue aus Gips, zu ihren Füßen ein Ewiges Licht. Hier würde man ihn gewiss nicht von der Schwelle weisen. Dennoch hatte ihn die Witwe MacCormack – fünfundsiebzig (geschätzt), hundertachtzig Pfund (über den Daumen gepeilt) und schwarzgefärbt (todsicher) – misstrauisch angesehen, als er vor ihrer Tür aufgekreuzt war. Die Urlaubssaison war längst vorbei, kein Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte verbrachte Anfang November seine Ferien an der rauen Nordwestküste, da pflichtete Fin ihr insgeheim bei. Aber schließlich hatte sie ihm doch ein Zimmer aufgesperrt, die Plastikschutzhülle vom Bett genommen und den Geruch von Mottenkugeln zum Fenster hinausgejagt. Ein gutes Geschäft ließ sich hier eben niemand entgehen. Wahrscheinlich tackerte sie in diesem Augenblick gerade den plüschigen blassgelben Bettvorleger auf dem Boden fest und nahm das vergoldete Kruzifix über dem Bett herunter. Nicht dass sie ihm nicht über den Weg traute …
Er hatte seine Reisetasche abgestellt, sich mit seiner Straßenkarte bewaffnet und war wieder ins Auto gestiegen. Erst mal wollte er die Gegend erkunden und war einfach der Straße nachgefahren. Am Kap vorbei mit dem alten Leuchtturm, immer die kurvenreiche Küste entlang bis ein Schild am Straßenrand ihn auf dieses touristische Highlight aufmerksam gemacht hatte.
Vom Parkplatz führte ein schmaler Trampelpfad durch Gras und Heidekraut bis zum Rand der Dünen. Er spazierte eine Weile über den Strand, die Hände in den Taschen vergraben. An manchen Stellen hatten Wind und Meer den nackten Fels unterm Sand freigefegt, im Dunst konnte er in der Brandung verborgene Riffe erahnen. Die Küste galt seit Menschengedenken als gefährlich. Vor Inbetriebnahme des Leuchtturms hatten die Menschen ihr karges Dasein aufgebessert, indem sie Schiffe mit falschen Lichtsignalen auf die Klippen lockten und ausplünderten. So auch die Einwohner von Foley. Das gälische Wort für Pirat lautete nicht von ungefähr foghlai …
Muscheln knirschten unter seinen Schuhen, als er den Hinterlassenschaften der allgegenwärtigen Schafe auswich. Der Spülsaum lag voller Treibgut. Im vertrockneten Tang hatten sich Reste eines Fischernetzes verfangen, etwas weiter lag eine Holzplanke, die wahrscheinlich schon seit hundert Jahren im Salzwasser badete. Hier ein rosa Flipflop mit abgerissenem Riemen, dort die unvermeidliche Plastikflasche, grün von Algen. Auch an den abgelegensten Stränden war man nicht sicher vor Zivilisationsmüll.
Da stand er, mitten im trostlosen Nichts, und betrachtete ein paar verwitterte Felsbrocken. Er fragte sich, ob diese Trauergesellschaft dieselben Mönche darstellen sollte, die damals im achten Jahrhundert zu neuen Ufern aufgebrochen waren. Der Ausflug schien ihnen nicht bekommen zu sein, irgendwie sahen sie aus wie eine Schar Schiffbrüchiger, die sich mit letzter Kraft ans rettende Ufer schleppte.
Zähe Nebelschwaden zogen in die Bucht, das Meer war kaum noch zu erkennen. Es war wie in einer Waschküche, nur kälter. Fin gönnte sich den letzten Schluck Whisky, verschloss mit klammen Fingern die leere Flasche und ließ sie wieder in die Jacke zurückgleiten. Dann machte er kehrt und stapfte zurück zum Parkplatz.
Der Strand erbebte.
Fin drehte sich um.
Aber da war nichts. Nichts außer den gespenstischen Nebelfetzen, die lautlos übers Wasser glitten. Nichts, das dieses eigenartige Geräusch verursachen könnte, dieses dumpfe, rhythmische Hämmern, das immer lauter wurde. Zuerst dachte er an das Tuckern eines Schiffsdiesels, ein Fischkutter draußen auf See. Aber dieses Geräusch stammte nicht von einer Maschine. Und es war viel näher als jeder Kutter sein konnte.
Er merkte, dass er unbewusst den Atem anhielt, als könne er dadurch besser hören. Seine Augen tasteten sich durch den Nebel, suchten nach einem Schatten, einer Bewegung. Das Vibrieren des Sandbodens unter seinen Füßen wurde stetig stärker, so als ob sich etwas Schweres, etwas Gewaltiges näherte. Langsam tastete er sich rückwärts in Richtung Dünen. Was da auch immer auf ihn zu kam, vielleicht war es nötig, in Deckung zu gehen …
Eine Gestalt schälte sich aus dem Dunst, wurde größer, begleitet von heftigem Schnaufen.
Dann konnte er das Geräusch einordnen.
Hufschlag.
Er atmete auf.
Ein Pferd tauchte aus dem Nebel auf. Ein riesiger Schimmel, der mit langen Sprüngen am Wasser entlanggaloppierte, aus tiefen Nüstern quoll jeder Atemzug als weiße Dampfwolke. Auf seinem Rücken eine dunkel gekleidete Gestalt, ein weiter Mantel bauschte sich im Wind.
Fin war stehengeblieben und starrte die Erscheinung so entgeistert an wie eine heranfliegende Untertasse. Keine fünfzig Meter trennten sie. Den Kopf tief über die flatternde Mähne gebeugt war der Blick des Reiters unbeirrt nach vorn gerichtet, als fixierten seine Augen ein imaginäres Ziel in der Ferne. Er schien Fin gar nicht zu bemerken. Wie ein Gespenst schwebte das Pferd über den Strand, kein Huf schien den Sand zu berühren. Der Nebel verzerrte nicht nur jedes Geräusch, er schien auch die Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren und jede Bewegung auf ein Minimum zu verringern.
Wasser spritzte, Sandklumpen flogen in hohem Bogen auf. Dann verschwand der Schimmel wieder im Nebel, sein Hufschlag folgte ihm wie ein Echo und verstummte schließlich.
Fin blickte noch eine ganze Weile auf die Stelle, an der er verschwunden war. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das eben wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hatte. Er ging hinunter ans Wasser und suchte vergeblich den glattgespülten Sand ab. Entweder hatten die Wellen die Hufspuren schon weggewischt, oder es hatte sie nie gegeben.
Er sollte wirklich mit dem Trinken aufhören.
Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den Rückweg. Dort, wo der Strand zu Ende war und ein Weiterkommen von scharfkantigen Felsen vereitelt wurde, führte der Trampelpfad durch die Dünen zur Straße hinauf. Er fand seine Fußspuren wieder, die er beim Runtergehen hinterlassen hatte, aber sie waren nicht alleine. Tiefe Hufabdrücke hatten den feuchten Sand aufgewühlt.
Oben bei seinem Wagen blieb er stehen und lauschte. Fast erwartete er, irgendwo in der Ferne Hufe auf Asphalt klappern zu hören, aber alles war still.
Immerhin, der Reiter war real gewesen. Keine Halluzination. Kein sagenumwobener kopfloser Kerl. Kein Rächer auf einem feuerschnaubenden, glutäugigen Ross, geradewegs einer irischen Legende entsprungen. Nicht einmal einer der apokalyptischen Vier. Nur ein ganz normaler Mensch auf einem Pferd aus Fleisch und Blut.
Glaubte er wenigstens.
Mit einem Blick auf die Uhr beschloss Fin, dass es Zeit war für ein Pub. Zeit für ein Abendessen und einen verdammt großen Whisky.
Das Fisherman war das angesagteste Pub in Foley. Und das einzige. Und wo es keine Konkurrenz gab, bestand auch keine Notwendigkeit, irgendetwas zu verändern.
Die Holzverkleidung der Wände und Nischen, die verschrammten Tische und Stühle, die wuchtige Theke, alles war im Laufe von Jahrzehnten durch Nikotin und Torffeuer dunkel geworden. Die letzte Generalüberholung der rissigen, dunkelroten Lederpolster musste mehr als zwanzig Jahre zurückliegen. An den kleinen Fenstern filterten brüchige Gardinen das Licht und verhinderten die freie Sicht auf staubige Scheiben. Auf dem blankgescheuerten Boden fristete ein abgetretener Teppichläufer ein trauriges Dasein vor einem rußgeschwärzten Kamin, zwischen dessen schiefen Mauern ein Feuer bläulich flackernd vor sich hin kümmerte und wenig Wärme verbreitete. Aber die war auch nicht nötig, das Pub war gut besucht, fast alle Nischen und Tische waren besetzt. Es roch nach Zigaretten, nassen Pullovern und verbranntem Kaffee.
Fin ergatterte einen Platz an der Theke. Hier hatte er den Überblick und die beste aller Aussichten. Eine ganze Batterie umgedrehter Flaschen wartete direkt vor seiner Nase darauf, den hochprozentigen Inhalt in seine durstige Kehle laufen zu lassen. Erwartungsvoll rieb er sich die kalten Hände und bestellte einen Whisky.
Die Klientel war bunt gemischt. Jung und Alt, Männer und Frauen. Neben dem Kamin war ein Kinderwagen abgestellt, der Inhalt plärrte derweil in einer anderen Ecke. Unter irgendeinem Tisch kläffte ein kleiner Hund. Und jeder kannte jeden. Kein Wunder, bei rund hundertzwanzig Menschen war die Einwohnerzahl von Foley überschaubar. Die meisten waren wahrscheinlich miteinander verwandt, drei oder vier Großfamilien, der Rest war zu vernachlässigen.
Nicht zu vernachlässigen waren allerdings die Brüder Keane, die bis vor etwa zehn Jahren hier ihr Unwesen getrieben hatten.
Fin nippte an seinem goldgelben Drink. Irgendwann musste er mit seiner Arbeit anfangen, warum also nicht gleich?
Seine Augen fielen auf ein Plakat neben dem Foto der lokalen Rugbymannschaft und dem Durchgang zur Küche. Es kündigte den Auftritt eines Folkduos an und war fast auf den Tag genau fünf Jahre alt.
»Gibts hier auch Musik?«, fragte er und bedeutete dem Wirt, sein Glas noch mal zu füllen.
Der Mann löste seinen Blick vom Fernseher, wo die Wiederholung einer uralten Folge von Ally McBeal mit abgedrehtem Ton über die Mattscheibe geisterte, und wandte ihm seine gedrungene Boxergestalt zu. »Nee, nur im Sommer.« Das Flimmern des Bildschirms spiegelte sich auf seinem kahlrasierten Schädel. »Touristen mögen so was.«
Also eher selten.
Ein volles Glas tauchte vor ihm auf. »Sie sind auf der Durchreise?«
Fin hielt die Frage für einen schlechten Scherz. Durch Foley kam niemand durch. Hinter Foley war die Welt zu Ende, da lag nur noch das Meer und dahinter Amerika. Aber er hatte damit gerechnet, dass die Leute neugierig sein würden. Wahrscheinlich wusste bereits das ganze Dorf, dass bei der Witwe MacCormack ein Fremder abgestiegen war.
»Urlaub.«
»Urlaub? Im November?«
Fin hatte sich vorbereitet. »Naja, eher so ne Art Beziehungsurlaub. Habn bisschen Stress mit meiner Frau. Musste einfach mal raus.« Das stimmte natürlich nicht. War aber auch nicht komplett gelogen.
Der Wirt nickte verständnisvoll. »Kenn ich. Wünsche ich mir auch manchmal. Kann nur leider den Laden nicht einfach zumachen.« Er stellte zwei Bier in die Nachbarschaft. »Ich heiße übrigens Ronan. Ronan O’Shea. Für meine Freunde Ronnie.«
Fin nickte. Klappte besser als er dachte. »Fin.«
»Fin?«
»Einfach nur Fin. Für alle.«
Finbar. Er hasste diesen Namen. Welcher Teufel hatte seine Eltern damals geritten, ihn Finbar zu nennen? All seine Schulkameraden hießen John, Peter, George oder Andrew, und alle hatten sie ihn mit seinem komischen Namen aufgezogen. Am meisten hatte er es gehasst, wenn er etwas ausgefressen hatte und seine Mutter nach ihm rief, um ihn zur Rede zu stellen. Die Art, wie sie die zweite Silbe betonte, dabei völlig unnötig in die Länge zog und am Ende auch noch die Stimme anhob. Finbaaaaaar …
Susan hatte es letzten Endes genauso gemacht.
Susan, seine zukünftige Exfrau.
»Darfs noch was sein?« Ronan blickte fragend auf sein leeres Glas.
Fin fuhr sich durch seine struppigen, vom Regen noch immer feuchten Haare und zögerte. Vielleicht sollte er lieber etwas essen, bevor er sich weiter dem Alkohol widmete. Der Abend konnte lang werden.
»Vielleicht einen Fisherman’s Fellow?«
»Einen was?«
»Spezialität des Hauses. Ursprünglich wollten wir’s Fisherman’s Friend nennen, aber der Name war schon besetzt, also haben wir’s Fisherman’s Fellow genannt.«
»Und was genau ist ein Fisherman’s Fellow?«
Ronan tat geheimnisvoll. »Altes Familienrezept.«
»Na, dann her damit.«
Es konnte auf keinen Fall schaden, sich mit dem Wirt gut zu stellen, Vertrauen aufzubauen. Vor allem, wenn man Informationen wollte. Und wo wechselten Informationen schneller und häufiger den Besitzer als in einem Pub?
Ronan verschwand in der Küche und kam einen Augenblick später mit einem Tonkrug wieder, aus dem es mächtig dampfte. Er tat furchtbar geheimniskrämerisch und wandte Fin den Rücken zu, damit der ja nicht sah, was er noch so alles in den Drink hineinmixte.
Schließlich stellte er den Krug vor ihn auf die Theke. »Genau das Richtige für ein Wetter wie heute, wärmt und weckt die Lebensgeister. Sláinte!«
Fin betrachtete argwöhnisch seinen Fisherman’s Fellow. Oberflächlich gesehen schien es sich um ein Pint heißes Bier zu handeln, dessen dünne Schaumkrone einige verräterische rote Tropfen wie Blutspritzer zierten. Was sich allerdings darunter verbarg, ließ sich nur auf einem Weg herausfinden. Vorsichtig nippte er an dem Zeug. Es war kochend heiß, hochprozentig und brannte wie die Hölle. So schnell es ging würgte er den Schluck hinunter.
»Klasse …!«, krächzte er. Zuhause würde er damit den Gartenzaun abbeizen. »Was ist da drin?«
»Tja, heißes Guinness mit selbstgebranntem Whisky, eine Prise brauner Zucker, ein paar Spritzer Tabasco obendrauf«, verkündete Ronan nicht ohne Stolz, »und noch so ein paar geheime Zutaten.«
Wahrscheinlich Sanitärreiniger oder Unkrautvertilger. Eins allerdings stimmte, das Gebräu wärmte ungemein. Für die Unversehrtheit eventuell vorhandener Lebensgeister würde er aber nicht unbedingt die Hand ins Feuer legen.
Er zog seine Jacke aus, als sich ein weißhaariger Zausel neben ihn an die Theke drängte und mit schiefsitzendem Zahnersatz einen Fisherman’s Fellow bestellte. Offenbar war der Trank nicht nur kreiert worden, um ahnungslosen Fremden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ronan trollte sich in die Küche, und Fin nutzte die Gelegenheit, nach der Dame des Hauses Ausschau zu halten, um endlich von flüssiger auf feste Nahrung umzusteigen. Isobel, so hatte Ronan sie wohl gerufen, verteilte einen gut gefüllten Teller nach dem anderen unter ihren Gästen und das auf Absätzen, die einen vom bloßen Hinsehen schon schwindlig machten. Sie schien um einiges jünger als ihr Mann, mindestens zwanzig Jahre – wenn die beiden überhaupt verheiratet waren. Sie war höchstens Anfang dreißig, dunkelhaarig und ausgesprochen wohlproportioniert. Der Rock war gefährlich kurz, das T-Shirt eine Spur zu eng, und das, was für Fins Geschmack an einer Stelle zu wenig war, war an anderer Stelle zu viel. Zu viel Make-up, zu viel Haarspray, zu viel auffälliger Schmuck.
»Neu in der Gegend?«
Die Stimme kam aus einem ganzen Stockwerk tiefer. Fin blickte nach unten und bemerkte den Alten, der neben ihm auf dem Barhocker saß und im Stehen wahrscheinlich auch nicht größer war als im Sitzen.
»Meinen Sie mich?«
»Türlich. Alle anderen hier kenn ich ja.«
Bei genauem Hinsehen entpuppte sich der Alte allerdings als zottelige Oma, körperlich wohl irgendwo in den Achtzigern, geistig allerdings eher in den Sechzigern angesiedelt. Die abgewetzte Fransenjacke aus braunem Wildleder hätte Jimi Hendrix alle Ehre gemacht, das Sammelsurium an Halsketten, von denen das Peace-Zeichen noch das unauffälligste war, hätte den Neid jedes Beatniks erregt, und das schneeweiße, spröde Gekringel auf ihrem Haupt, Zeugnis einer missglückten Dauerwelle, hätte ihr einen Ehrenplatz in jeder Hippiekommune beschert. Und wenn ihn seine Nase nicht völlig im Stich ließ, umwehte die alte Dame eine sanfte Brise von Marihuana. So etwa stellte er sich die Mutter von Keith Richards vor.
»Ich mache Urlaub hier.«
»Ha! Das sagen sie alle.« Und nahm einen großzügigen Schluck von ihrem dampfenden Fisherman’s Fellow. Fin wartete darauf, dass winzige Rauchwölkchen aus ihren Nasenlöchern stiegen.
»Wer sagt das?«
»Na, die anderen eben.« Mit Todesverachtung leerte sie ihren Krug und schob ihn in Ronans Reichweite, der ihn im Vorbeigehen schnappte und schon in die Küche entwischt war, ehe Fin etwas zu essen ordern konnte.
»Welche anderen?«
»Die Kerle, die Shergar suchen.«
Fin stutzte. »Die suchen wen?«
»Shergar.«
Ohrenbetäubender Lärm setzte ein, als plötzlich jemand den Fernseher lauter drehte. Ein Rugbyspiel, vielleicht auch Gaelic football – die Begeisterung erwachsener Männer für Raufen mit Ball war Fin schon immer suspekt gewesen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sich das Pub allmählich gefüllt hatte. An der Theke standen die Leute bereits in Zweierreihen. Zigarettenqualm vernebelte die Sicht. Das landesweite Rauchverbot war nicht bis hierher gedrungen, was nicht weiter verwunderte, waren doch die Einwohner von Foley seit jeher Opportunisten. Schon aus Tradition.
»Aber die haben schon damals hier jeden Stein einzeln umgedreht und nix gefunden.«
»Wer?«
»Die Polizei natürlich.«
»Was hätte sie denn finden sollen?«
Die Alte sah ihn verständnislos an. »Na Shergar, wen denn sonst?«
Ein frischgezapfter Krug knallte vor ihr auf den Tresen. »Nora Nichols, bitte, fang nicht wieder mit dieser alten Leier an«, schimpfte Ronan gutmütig und an Fin gewandt, »glauben Sie ihr kein Wort.«
»Äh, Ronan …«
»Ronnie.«
»Schön, Ronnie. Könnte ich vielleicht –«
»Klar doch. Ist unterwegs.« Ronan war schon wieder in der Küche verschwunden, aber Fin bezweifelte, dass das, was da unterwegs war, dazu geeignet sein würde, seinen Hunger zu stillen.
»Alle haben sie geglaubt, dass die IRA ihre Finger im Spiel hätte«, murmelte die Alte vor sich hin, »aber die hatten ja keine Ahnung. Was sollten die denn mit dem Gaul anfangen …«
Langsam dämmerte es an seinem geistigen Horizont.
Shergar.
War da nicht mal was mit einem entführten Rennpferd? Das musste mehr als zwanzig Jahre her sein. Der Klepper hatte irgend so einem schwerreichen Scheich gehört, aber seltsamerweise war kein Lösegeld bezahlt worden. Soweit Fin sich erinnern konnte, war Shergar einfach von der Bildfläche verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
»Ich hätt denen damals gleich sagen können, was mit dem Gaul passiert ist, aber mich hat ja keiner gefragt«, meinte die alte Nora, und der beleidigte Unterton ließ ahnen, dass sie auch nach mehr als zwanzig Jahren noch eingeschnappt war.
»Was ist denn damals passiert?« Fin fragte mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.
»Die Gomballs haben Shergar geklaut. Die sind immer scharf auf schnelle Pferde.«
»Soso, die Gomballs …« In Foley herrschte ganz offensichtlich kein Mangel an kriminellen Talenten. »Und wer sind die Gomballs?«
»Feen.« Ronan schob ihm einen frischen Fisherman’s Fellow vor die Nase, dabei hatte er den ersten noch nicht ausgetrunken. »Freunde von Nora.« Er zuckte mit den Achseln, als wolle er sich für die Alte entschuldigen.
»Du bist ein … ein Inogrant, Ronan O’Shea. Ich weiß, dass du mir nicht glaubst. Solltest du aber. Ist alles wahr. Habs mit eigenen Augen gesehen«, entgegnete Nora pikiert.
»Was genau haben Sie denn gesehen?«
Sie nahm einen langen Zug aus ihrem Krug und sah Fin mit todernster Miene an. Ihre Stimme war heiser von zu vielen Fisherman’s Fellows. »Sie haben ihn mit einem Lkw hergebracht. Um Mitternacht wars. Und es war Vollmond, ich war nämlich unterwegs, weil ich ein paar Freunde treffen wollte. Und da ist der Lkw durchs Dorf gerollt. Ganz leise und ohne Licht … Am Strand haben sie Shergar ausgeladen und sind auf ihm davongeritten. Drei Gomballs hab ich gesehen … drei …« Zur Bekräftigung klopfte sie dreimal mit dem Finger auf die Theke.
»Und der Lkw?«, erkundigte sich Ronan scheinbar interessiert.
»Das weißt du ganz genau. Hab ich dir schon hundertmal erzählt.«
»Dann erzähls mir noch mal.«
»Den haben sie im Meer versenkt.«
»Und da liegt er heute noch.«
»Natürlich nicht, du Dummkopf. Den haben die Meerjungfrauen auseinandergenommen. Die können alles gebrauchen, vor allem wenns schön glänzt.« Sie hielt Ronan ihren leeren Krug hin.
»Hätt ich auch selber drauf kommen können.« Er eilte davon, als ob irgendwo Bier anbrannte.
»Super Geschichte«, meinte Fin.
So wie die Alte dem Alkohol zusprach, hätte sie vermutlich auch geschworen, dass in der fraglichen Nacht Marilyn Monroe auf einem steppenden Dinosaurier durchs Dorf geritten war. Er nahm einen vorsichtigen Schluck von dem Höllentrank. Andererseits – vielleicht war ja was dran an der Geschichte. Was immer die Alte auch zu sehen geglaubt hatte, in Foley hatten sich schon die merkwürdigsten Dinge zugetragen.
Sein Magen knurrte aufdringlich. Um ihn wenigstens vorübergehend zu beruhigen, griff sich Fin eine Tüte Chips aus einem Ständer auf der Theke.
»Aber du glaubst mir doch, nicht wahr?«, rempelte ihn Nora von der Seite an.
Fin verschluckte sich und hustete Krümel. »Sicher. Klar doch. Feen. Warum nicht?«
Offenbar war er hier an den Dorfdeppen von Foley geraten.
»Ronan, noch einen Whisky für meinen neuen Freund hier!«
Der Abend nahm nicht ganz den erwünschten Verlauf. Er musste aufpassen, dass er nicht unter die Räder kam. Was er brauchte, war ein klarer Kopf, keine zugedröhnte Birne vom Saufen. Schließlich hatte jeder hier im Lokal es faustdick hinter den Ohren. Allesamt Nachfahren von Piraten …
Wie von Zauberhand hatte sich ein Glas Whisky vor seinen Augen materialisiert, Fin hatte es gar nicht bemerkt.
»Auf dein Wohl, Junge!« Die alte Nora hob ihren Fisherman’s und sah ihn erwartungsvoll an. »Und darauf, dass Tirfotoin nie untergehen wird!«
»Tifo – was?«
»Das Feenreich«, murmelte Ronan im Vorbeigehen.
»Ah.« Fin nippte an seinem Glas, während Nora ihren Krug in einem Zug leerte. So wie die Alte soff, konnte sie unmöglich von dieser Welt sein. Entweder war sie höchstpersönlich im Feenreich zu Hause oder sie zog hier eine verdammt gute Show ab. Irgendwie musste er sie loswerden, je eher desto besser. Er versuchte es mit einem Themenwechsel.
»Ich dachte, in unseren irischen Pubs herrscht Rauchverbot«, sagte er, als Ronan wieder in Hörweite war.
»Bei mir hat sich noch keiner beschwert.«
»Kontrolliert das niemand?«
Ronan zuckte vielsagend seine muskulösen Schultern und schob den Schaum von zwei Pintgläsern.
Hätte er sich eigentlich denken können. Foley war schon immer ein rechtsfreier Raum gewesen, daran hatte sich über all die Jahre nichts geändert. Kein Polizist würde auf die Schnapsidee kommen und sich hierhertrauen, um so etwas Banales wie ein Rauchverbot durchzusetzen.
Apropos Schnaps.
Er merkte, dass er den Überblick verlor. Er hätte schwören können, dass dieses Whiskyglas vor seiner Nase eben noch halbleer war – und nicht randvoll. Misstrauisch starrte er Ronan an, der ihm seinerseits aufmunternd zunickte.
»Kommt ausm Norden.« Ein kantiges Kinn deutete auf sein Glas und dessen Inhalt. »Zwanzig Jahre alt, kleine uralte Destillerie. Mein Bruder arbeitet dort. Macht mir immer einen guten Preis.«
Fin wollte gar nicht wissen, von welchem Lieferwagen die Kiste runtergefallen war, aber in einem Punkt musste er Ronan recht geben, der Stoff streichelte wie Samt durch seine Kehle.
»Und dann haben sie ihn einfach abgeknallt!«
Fin zuckte zusammen. »Wie?«
»Na, was man eben mit jedem Gaul macht, der sichs Bein gebrochen hat.« Nora war wieder in ihrer Spur. »Kannte halt bisher nur die flache Rennbahn. Die Gomballs haben ihn über Stock und Stein gejagt, und es kam, wies kommen musste. Der Gaul is in ’n Erdloch getreten und das wars. Zack!« Ihre flache Rechte fiel auf die Theke, als verdiente das Geräusch eines knackenden Knochens eine besondere Betonung. »Die haben nicht viel Federlesens gemacht. Bo Gomball wars, der hat sich ne Knarre geschnappt und aus wars mit Shergar.«
»Und da waren Sie natürlich auch dabei.« Fin leerte sein Glas.
»Nicht nur das …« Nora machte eine bedeutungsschwangere Pause und rückte ein Stück näher an Fin heran. Ihre nächste Aussage mochte sie nur hinter vorgehaltener Hand machen. »Ich weiß sogar, wo sie ihn begraben haben«, wisperte sie verschwörerisch.
Fin bemerkte im Augenwinkel eben noch, wie Ronan mit der Whiskyflasche nahte und schob rechtzeitig die Hand über sein Glas.
»Soll ich’s dir zeigen?«
»Nein, Nora, ein andermal vielleicht.« Den Gedanken an Abendessen hatte er schon lange aufgegeben. Müde zerrte er seine Jacke hervor. »Ich muss jetzt wirklich …«
»Noch einen für den Heimweg?« Ronan hielt die Flasche hoch.
»Danke, Ron… Ronnie. Ich muss irgendwie noch nach Hause fin–«
»Zur Tür raus, einmal links, an der Kreuzung rechts und dann immer geradeaus.«
»Danke.«
Natürlich wussten sie Bescheid. Alle.
Er musste jetzt nur noch rausfinden, wie viel sie wirklich wussten.
Er hatte keinerlei Erinnerung daran, wie er in sein Bett gefunden hatte. Zwar war Ronans Wegbeschreibung korrekt gewesen, aber begünstigt durch die Tatsache, dass in ganz Foley trotz Nacht und Nebel nur zwei Straßenlaternen brannten – eine am Ortseingang bei der Tankstelle, die andere am Ende einer Sackgasse, die zum Hafen führte – musste Fin feststellen, dass das Dorf im Dunkeln verdammt anders wirkte als bei Tageslicht. Es war nicht mal Mitternacht gewesen, trotzdem schienen alle Bürgersteige, so es denn welche gab, hochgeklappt und alle braven Bürger, davon gab es wahrscheinlich weitaus weniger, in ihren Betten. Die anderen waren alle im Pub.
Vor der Toreinfahrt hatte er dann noch den Schlüssel fallen lassen, und er war eine ganze Weile fluchend zu Füßen der Muttergottes herumgekrochen, um das verflixte Ding schließlich im schwachen Schein des Ewigen Lichts wiederzufinden.
Sein Zimmer lag – Gott sei Dank – direkt neben der Haustür. Keine Gefahr, auf der kurzen Strecke dem tadelnden Blick der Witwe MacCormack zu begegnen. Seine Augen hatten sich mittlerweile so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er nicht einmal den Lichtschalter bemühte, um das Bett zu finden. Obwohl er für seine Verhältnisse nicht wirklich viel getrunken hatte, schlief er in der Sekunde ein, als sein Kopf das Kissen berührte.
Und genauso wachte er am nächsten Morgen auf. In zerknautschten Kleidern, die malträtierten Schuhe noch an den Füßen, auf der linken Gesichtshälfte das Rüschenmuster der Polyestertagesdecke. Sein Magenknurren hatte ihn geweckt. Durch die offenen Vorhänge fiel Tageslicht ins Zimmer; wenn er den Kopf hob, konnte er über den Rasen bis zur Straße sehen. Dahinter nichts als Nebel. Das Wetter konnte bei labilen Menschen Selbstmordgedanken hervorrufen.
Er verließ das Bett und versuchte dabei unnötige Bewegungen zu vermeiden, um seinen Kopf langsam und vorsichtig von der Horizontalen an die Vertikale zu gewöhnen. Nein, einen Kater hatte er eigentlich nicht, aber er war sich ziemlich sicher, dass der ein oder andere Fisherman’s Fellow für das Vakuum in seinem Schädel verantwortlich war. Im Spiegel über dem Waschbecken starrte ihn jemand an, der ihm vage bekannt vorkam. Er wusch ihn trotzdem. Nach einer ausgiebigen Dusche und sorgfältiger Rasur war er mit dem Ergebnis durchaus zufrieden.
Susan hatte in den letzten Monaten gemäkelt, er ließe sich gehen, was Fin wiederum gar nicht nachvollziehen konnte. Was erwartete sie von ihm? Dass er mit Mitte vierzig anfing und sich die Haare färbte, damit die grauen Stellen nicht so auffielen? Haareschneiden, okay, darüber konnte man reden, aber Färben? Im Leben nicht. Außerdem kamen Männer mit grauen Schläfen bei manchen Frauen durchaus an. Aber das war eine andere Geschichte, die er jetzt lieber nicht verfolgen wollte. Nicht so früh am Morgen.
Er zog ein paar bequeme Jeans und ein frisches Hemd aus seiner Reisetasche, stellte die neuen Schuhe und den ebenso neuen Rucksack bereit und verkleidete sich als Tourist, den nur noch ein Frühstück daran hinderte, dem Lockruf der Natur zu folgen.
Draußen vor seiner Zimmertür roch es nach Kaffee. Nicht einfach nur nach Kaffee, nein, es roch wie ein ganzer Starbucks Coffee Shop. Fin war einigermaßen überrascht. Aber warum sollte eine Frau, die ein derart grässlich großgeblümtes Kleid ihr Eigen nannte, nicht trotzdem wunderbaren Kaffee kochen können?
»Guten Morgen, Mrs. MacCormack.«
»Guten Morgen, Mr. O’Malley. Haben Sie gut geschlafen?« Die obligatorische Frage schien ohne Vorbehalte ernst gemeint zu sein.
»Danke. Wunderbar«, murmelte Fin und setzte sich an den Platz, den die Dame des Hauses für ihn eingedeckt hatte.
»Kaffee? Oder lieber Tee?«
»Kaffee wäre fantastisch, Mrs. MacCormack.«
Sie goss ein und stellte eine Thermoskanne vor seine Nase. »Wie mögen Sie Ihre Eier?«
»Ähm, Spiegeleier, wenns keine Umstände macht.«
»Kein Problem, Mr. O’Malley. Dazu Speck? Tomaten? Würstchen? Black Pudding?«
Sein Magen grummelte aufdringlich. »Gern, Mrs. MacCormack.«
Sie entschwand in Richtung Küche und ließ ihn mit dem Kaffee und einer großzügigen Auswahl an Frühstückscerealien zurück und mit der Frage, was wohl den Sinneswandel seiner Gastgeberin herbeigeführt hatte. Der Kaffee war der beste, den er seit Monaten getrunken hatte, und er war gerade mit seinen Cornflakes fertig, als sie zurückkam, umweht von einem köstlichen Duft nach knusprigem Speck und geschmorten Tomaten, in der Hand einen riesigen Teller, auf dem sich alles häufte, was seinen Magen nach der unfreiwilligen Fastenzeit glücklich machte.
»Das sieht wunderbar aus.« Er meinte es ehrlich.
»Lassen Sie sich’s schmecken, Mr. O’Malley.« Sie stellte frischen Toast auf den Tisch und überließ ihn ihren Gaben.
Fin putzte alles weg, sogar die obskuren Würstchen, die er zu Hause stets verweigerte. Nein, er wollte nicht wissen, woraus sie gemacht waren. Nicht so früh am Morgen. Nachdem er den Rest Eigelb mit Toast aufgewischt, das verbliebene Brot mit Marmelade bestrichen und niedergemacht und die Kaffeekanne bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, fühlte er sich satt und zufrieden.
Trotzdem traute er der ganzen Sache nicht. Führte die gute Frau etwas im Schilde?
Was Fin nicht wissen konnte, war, dass der Witwe MacCormack seine nächtliche Heimkehr natürlich nicht entgangen war. Durch den Spalt zwischen ihren Schlafzimmervorhängen hatte sie seinen Kniefall vor ihrer Marienstatue allerdings völlig falsch interpretiert, und als gläubige Katholikin war sie zur Nächstenliebe verpflichtet, besonders wenn man hier in der Diaspora einem anderen gläubigen Christenmenschen begegnete. Selbst wenn Fin dies gewusst hätte, er hätte den Teufel getan, diesen Irrtum aufzuklären – dazu war der Kaffee einfach zu gut.
Es war kurz nach elf, als er sich auf den Weg machte. Die frische Luft konnte Tote aufwecken. Schon nach wenigen Minuten begann sich der Nebel zu lichten. Wenigstens der in seinem Kopf.
Er hatte die wetterfeste Jacke übergeworfen, den Rucksack geschultert und marschierte mit forschen Schritten in seinen neuen Schuhen in Richtung Dorf. Er wollte das tun, was alle Touristen an seiner Stelle taten, das Terrain sondieren und dessen Möglichkeiten erkunden. In einem Ferienort hätte er sich unters Volk gemischt, in Foley konnte das ein sehr einsames Unterfangen werden.
»Schöner Tag heute.«
Fin hob den Blick.
Der alte Mann tippte grüßend zwei Finger an seine Schirmmütze und ging unbeirrt seines Weges.