Im Bann des Tarots
Kosmos
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© 2007, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-13004-9
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Cool am Pool
»Zu Hause ist es doch am schönsten!«, sagte Marie und aalte sich im Bikini auf ihrem knallroten Liegestuhl. Dabei hörte sie mit geschlossenen Augen auf das gleichmäßige Glucksen des Wassers, das über den Rand des Pools schwappte.
Franzi, die am Beckenrand saß, warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Aber nur, wenn man einen eigenen Swimmingpool auf dem Dach hat wie du.«
Bevor Marie darauf antworten konnte, seufzte Kim: »Also ich vermisse die Nordsee total! Und die Sommerferien sowieso. Die erste Schulwoche war echt ätzend.«
Marie richtete sich auf, um einen Schluck von ihrer eisgekühlten Cola zu trinken. Dann blinzelte sie über den Rand der Sonnenbrille ihren Freundinnen zu. »Ich weiß gar nicht, warum ihr euch beschwert. Denkt doch mal positiv: Ihr dürft bei mir übernachten und ein superschönes Wochenende mit mir verbringen. Wir haben traumhaftes Wetter. Und wir können uns endlich mal wieder so richtig entspannen. Das haben wir auch wirklich nötig: Unser letzter Fall war tausendmal anstrengender als die läppische Schule.«
Marie, Franzi und Kim waren nämlich nicht nur Freundinnen, sondern auch ziemlich erfolgreiche Detektivinnen. Inzwischen hatten die drei !!! bereits acht Fälle gelöst, einen davon sogar im Ausland, in Paris. Ihr letzter Fall lag gerade mal eine Woche zurück. In den Sommerferien waren sie zusammen in einem Camp an der Nordsee gewesen und hatten dort üble Machenschaften von gefährlichen Strandhaien aufgedeckt.
»Klar freu ich mich auf das Wochenende«, räumte Franzi ein. »Trotzdem kann ich Kim gut verstehen. Meine Lust auf die Schule hält sich auch in Grenzen. Ich finde ja, Kommissar Peters sollte uns von dieser doofen Schulpflicht befreien, damit wir uns noch besser auf unsere Detektivarbeit konzentrieren können. Der nächste Fall kommt garantiert sehr bald.«
Kommissar Peters war ein Freund von Maries Vater und hatte ihnen schon oft bei ihren Ermittlungen geholfen.
»Erzähl das mal meiner Mutter«, sagte Kim, während sie sorgfältig Sonnencreme nachlegte. »Die wird bestimmt begeistert sein.«
Franzi grinste. Frau Jülich hatten einen richtigen Schultick und kontrollierte ständig, ob Kim auch ihre Hausaufgaben machte. Zum Glück waren Franzis Eltern in der Beziehung nicht so streng, aber am lockersten war Maries Vater. Kein Wunder, er hatte ja auch als Schauspieler viele andere Dinge um die Ohren. Besonders seit er den Hauptkommissar Brockmeier in der beliebten Vorabendserie Vorstadtwache spielte.
Franzi pflügte mit ihrer rechten Hand durchs Wasser. »Apropos Eltern. Ist eigentlich dein Vater dieses Wochenende da?«
Marie nickte. »Ja, ihr habt Glück. Heute Abend kommt er von einem Dreh am Gardasee zurück.«
»Super!«, sagte Kim. »Dann können wir ihn endlich mal mit Fragen löchern. Er hat sicher total spannende Dinge erlebt.«
»Gut möglich«, sagte Marie und musterte Kim interessiert. »Gibt es eigentlich in deinem Leben auch gerade was Spannendes? Du wolltest doch Michi eine Urlaubspostkarte schicken. Hat er dir zurückgeschrieben?«
Kims Gesicht, das ohnehin von der Sonne leicht gerötet war, fing an zu glühen. »Nein, hat er nicht«, murmelte sie. »Ich hab es nämlich doch nicht geschafft, ihm eine Karte zu schicken.«
Seit die drei !!! Michi Millbrandt bei ihrem ersten Fall kennengelernt hatten, war Kim bis über beide Ohren in ihn verliebt. Und obwohl das längst kein Geheimnis mehr war, tat sie immer noch so, als würden Franzi und Marie in ihre allerintimste Privatsphäre eindringen, sobald sie von ihm sprachen.
»Nicht geschafft oder nicht getraut?«, hakte Franzi nach.
»Das würdest du jetzt wohl gern wissen, was?«, sagte Kim und sprang auf. Und bevor ihre Freundin merkte, was sie vorhatte, schubste Kim sie vom Beckenrand.
»Iieeh!«, kreischte Franzi. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als sie mit dem Po voraus mitten im Pool landete.
»Mensch, pass doch auf!«, schimpfte Marie. »Mein Bikini ist gerade so schön trocken geworden.«
Kim schlich sich von hinten an sie heran. »Dann wird es allerhöchste Zeit, dass er wieder nass wird.« Damit zog sie Marie aus dem Liegestuhl und sprang zusammen mit ihr in den Pool.
Prustend tauchten die beiden auf und wurden sofort von Franzi mit einer Wasserfontäne angespritzt.
»Na, warte!«, sagte Marie. »Dich krieg ich schon noch.« Sie versuchte, Franzi unterzutauchen, aber die kraulte mit ein paar kräftigen Schwimmzügen davon.
Von den drei Detektivinnen war Franzi mit Abstand die Sportlichste, nicht nur beim Schwimmen, sondern auch beim Skaten, Reiten und Klettern. Letzteres war ziemlich praktisch, wenn die drei !!! bei ihren Ermittlungen irgendwo eingesperrt waren.
Schließlich gelang es Marie doch noch, ihre Freundin zu erwischen. »Hab ich dich!«, rief sie triumphierend und drückte Franzis Kopf unter Wasser.
Die rächte sich, sobald sie wieder hochkam.
Prustend und kichernd alberten die Freundinnen im Pool herum. Die Zeit verging wie im Flug, und Kim, Franzi und Marie lachten so laut, dass sie gar nicht merkten, als irgendwann Schritte näher kamen und ein Schatten die Sonne verdeckte.
Erst die tiefe Männerstimme hörten sie. »Bei euch geht’s ja lustig zu!«
»Huch!«, rief Kim.
»Haben Sie uns aber erschreckt«, sagte Franzi.
Marie schwamm zum Beckenrand und zog sich mit einem eleganten Schwung hoch. Dann lief sie zu ihrem Vater hin und schlang ihm die Arme um den Hals. Dabei hinterließ sie zwei dunkelblaue Spuren auf seinem hellblauen Hemd.
Herr Grevenbroich lächelte. »Prinzessin! Schön, dich zu sehen.«
Marie strahlte ihn an. »Kochst du uns was zum Abendessen? Wir haben einen Bärenhunger.«
»Natürlich«, sagte Herr Grevenbroich. »Wie wär’s mit Auberginen-Auflauf?«
Marie leckte sich die Lippen. Ihr Vater kochte zwar selten, aber wenn, dann richtig gut. Und sein Auberginen-Auflauf schmeckte absolut genial.
»Super Idee!«, sagte sie und klimperte mit ihren langen Wimpern. »Ich würde dir ja gern helfen, aber ich kann meine Freundinnen nicht allein lassen und außerdem muss ich noch duschen und mich umzuziehen.«
»Ich glaub, ich hab dich doch zu sehr verwöhnt«, seufzte Herr Grevenbroich, aber im nächsten Moment lächelte er schon wieder.
Marie warf ihm zum Dank eine Kusshand zu. Sie hatte den besten Papa auf der ganzen Welt. Für nichts und niemanden würde sie ihn eintauschen, nicht mal gegen ihren kompletten Kleiderschrank, und den liebte sie wirklich heiß und innig.
»Kommt«, sagte sie zu Kim und Franzi. »Lasst uns reingehen und duschen. Wenn ihr wollt, dürft ihr euch ein paar Klamotten von mir ausleihen.«
Das ließen sich ihre Freundinnen nicht zweimal sagen. Kichernd schnappten sie sich Handtücher und Taschen, schlüpften in ihre Flipflops und folgten Marie hinunter in die großzügige Penthauswohnung.
Eine halbe Stunde später standen sie alle frisch geduscht vor Maries weißem Kleiderschrank, der die gesamte Breite ihres Zimmers einnahm.
Franzi pfiff durch die Zähne, als Marie die Schiebewand aufmachte und eine schier endlose Kleiderstange zum Vorschein kam, auf der die Klamotten nach Farben sortiert waren. Unten gab es auch noch extra Fächer für eine Unmenge an Gürteln, Tüchern und Schuhen.
»Dein Vater hat recht«, sagte Kim. »Er verwöhnt dich wirklich zu sehr.«
Weder Kim noch Franzi schwammen zu Hause im Luxus. Im Gegensatz zu Marie waren sie auch keine Einzelkinder. Kim hatte zwei kleine Brüder und Franzi einen großen Bruder und eine große Schwester.
»Also«, sagte Marie, »was wollt ihr anziehen?«
Franzi und Kim zögerten. Die Auswahl war fast schon zu groß. Doch als sie die Kleider näher betrachteten, hatte bald jede ein Lieblingsteil entdeckt. Franzi entschied sich für eine sportliche Kombi aus dunkelgrünen Shorts und passendem T-Shirt, und Kim suchte sich ein gestreiftes Top und weiße Jeans aus. Marie schlüpfte in ein elegantes blaues Seidenkleid mit Spagettiträgern, das perfekt zu ihren blonden Haaren passte. Zu dritt drehten sie sich vor dem großen Spiegel.
»Na, wie sehen wir aus?«, fragte Marie.
»Toll«, sagte Franzi.
Kim trat von einem Fuß auf den anderen. »Können wir jetzt rübergehen? Das Essen ist doch bestimmt schon fertig.«
»Typisch!«, rief Marie. »Unser Leckermaul kann es mal wieder kaum erwarten.«
Kim ließ sich von solchen Sprüchen längst nicht mehr aus der Bahn werfen und zuckte nur mit den Schultern. Als Kopf der drei !!! brauchte sie eben Nervennahrung und ab und zu Süßigkeiten für ihre Gehirnzellen. Schließlich war sie es gewesen, die den Detektivclub gegründet hatte, und außerdem hatte sie die volle Verantwortung für das Detektivtagebuch, in dem sie akribisch alle Details der Ermittlungen notierte.
Kurz darauf saßen die drei Freundinnen am langen Tisch im Esszimmer, und Herr Grevenbroich reichte die Schüssel mit dem duftenden Auberginen-Auflauf herum. Nachdem alle mit Essen und Mineralwasser versorgt waren, stand er noch mal auf, um sich ein Glas Rotwein aus der Küche zu holen. Als er zurückkam, fragte er: »Stört es euch, wenn ich den Fernseher anschalte? Gleich kommen die Nachrichten.«
»Kein Problem«, sagte Kim. Und dann sagte sie nichts mehr, weil sie sich voll und ganz aufs Essen konzentrierte.
»Hmm, lecker!«, lobte Franzi.
Herr Grevenbroich lächelte. »Freut mich, dass es euch schmeckt. Wie geht es euch denn so? Seid ihr schon wieder an einem neuen Fall dran?«
»Noch nicht«, sagte Marie.
»Aber wir halten natürlich Augen und Ohren offen«, sagte Franzi.
Kim hatte ihren ersten Hunger gestillt und sah Herrn Grevenbroich bewundernd an. »Wie geht es Ihnen? Wie war es beim Drehen?«
»Stressig wie immer«, sagte Maries Vater. »Und diesmal hatten wir noch mehr Schaulustige als sonst. Am Gardasee waren jede Menge Touristen, die uns ständig im Weg herumliefen. Am Anfang hat sich der Regisseur total geärgert, aber dann hat er einfach aus der Not eine Tugend gemacht und die Leute in den Film integriert, als Statisten.«
Franzi lachte. »Tolle Idee! Und worum ging es bei dem Fall?«
»Wir hatten eine Leiche im See«, antwortete Herr Grevenbroich. »Natürlich war es nur eine Puppe, aber unser Maskenbildner hat ganze Arbeit geleistet: Die Leiche sah richtig echt aus.«
Marie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Einen Mord hatten die drei !!! zum Glück noch nie aufklären müssen. Das wäre wahrscheinlich doch eine Nummer zu groß für sie, obwohl sie inzwischen ziemlich profimäßig ausgerüstet waren: Sie hatten nicht nur Fotohandys, sondern auch Lupen, Taschenlampen, ein Fernglas, ein Fingerabdruckset, eigene Visitenkarten, eine Digitalkamera und ein supertolles Aufnahmegerät mit Richtmikrofon, das sie sich von der Belohnung für einen erfolgreich gelösten Fall gekauft hatten.
»Mussten Sie nach der Leiche tauchen?«, wollte Kim wissen. »Mit Sauerstoffflasche und Taucherbrille und allem Drum und Dran?«
Herr Grevenbroich schüttelte den Kopf. »Zum Glück nicht! Das haben Profitaucher gemacht, die wir extra angeheuert haben. Aber ich musste zum ersten Mal segeln, obwohl ich das eigentlich gar nicht kann. Ich hab mir ein paar Handgriffe von einem Segler abgeschaut und dann so getan als ob.«
Franzi stellte die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf den Lippen gebrannt hatte: »Und wer war der Mörder?«
Herr Grevenbroich ließ sich Zeit mit der Antwort. Erst verteilte er den Nachtisch, Vanillepudding mit Himbeeren, auf die einzelnen Schälchen. Dann zwinkerte er Kim, Franzi und Marie zu. »Das verrate ich euch lieber nicht. Ihr wollt doch die Folge sicher ansehen und dann würde ich euch die ganze Spannung verderben.«
»Schade!«, sagte Franzi.
Auch Kim war enttäuscht, aber sie tröstete sich schnell mit ein paar Löffeln Vanillepudding. Den mochte sie fast so gern wie Schokolade und Gummibärchen.
Herr Grevenbroich rückte inzwischen mit seinem Stuhl näher zum Fernseher, weil er den Rest der Nachrichten verfolgen wollte. Die politischen News waren allerdings schon vorbei und es kamen nur noch Sport und Wettervorhersage. Danach wurde eine Folge einer Kulturgeschichte-Reihe angekündigt. Marie bekam schon allein beim Vorspann das große Gähnen.
Kim und Franzi sahen auch nicht mehr allzu frisch aus. Die Sonne und das Schwimmen hatten sie müde gemacht.
»Können wir aufstehen und in mein Zimmer gehen?«, fragte Marie ihren Vater.
Herr Grevenbroich nickte. »Ja, klar … Natürlich.« Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört und war ganz in die Sendung vertieft.
So leise wie möglich räumten Marie, Franzi und Kim das Geschirr ab und zogen sich danach in Maries Zimmer zurück. Dort klappten sie das Schlafsofa auf, das so groß war, dass Kim und Franzi locker zu zweit darauf Platz hatten.
Franzi hüpfte darauf herum und testete die Sprungfedern. Dann ließ sie sich mit einem Plumps in die Kissen fallen. »Ist das herrlich!«
Kichernd schlüpften die Freundinnen in ihre Nachthemden und kuschelten sich in die Decken.
Marie löschte das Licht. »Zum ersten Mal übernachten wir zu dritt bei mir«, sagte sie. Es klang richtig feierlich.
»Jetzt quatschen wir die ganze Nacht«, sagte Franzi.
»Klar«, sagte Kim. »Schlafen können wir wieder, wenn wir allein zu Hause sind.«
Nach einer kurzen Pause sagte Marie: »Hoffentlich bekommen wir bald einen neuen Fall. Ich bin schon total gespannt, was es diesmal sein wird. Autodiebstahl hatten wir noch nicht – oder Umweltsünder, von denen hört man immer öfter. Vielleicht erwischen wir ja auch einen Erbschleicher ...« Im Kopf malte sie sich noch etliche weitere Verbrechensarten aus. Dann richtete sie sich im Bett auf und fragte: »Was meint ihr denn?«
Statt einer Antwort kam vom Schlafsofa nur leises Schnarchen zurück.
»Na, toll«, murmelte Marie. »Von wegen, wir quatschen die ganze Nacht!«
Rätselhafte Post
Nach dem schönen Wochenende bei Marie fiel es Kim doppelt schwer, am Montag wieder in die Schule zu gehen. Dass sie auch noch total viele Hausaufgaben aufgebrummt bekam, steigerte ihre Laune nicht wirklich. Wütend stapfte sie mittags nach Hause und machte die Wohnungstür auf. Sie hatte sie kaum einen Spaltweit geöffnet, da flog ihr ein Fußball entgegen. Mit voller Wucht knallte er gegen ihren Kopf.
»Aua!«, rief sie und rieb sich die Stirn. Dann suchte sie die Schuldigen. Das konnten nur ihre supernervigen Zwillingsbrüder sein.
Prompt tauchten Ben und Lukas im Flur auf und bückten sich nach dem Fußball, der in eine Ecke gerollt war. Statt sich zu entschuldigen, streckten sie ihr auch noch frech die Zunge raus.
»Heulsuse!«, rief Lukas.
»Planschkuh!«, rief Ben.
Kim stemmte die Hände in die Hüften und sah ihre Brüder verächtlich an. »Lasst euch mal neue Schimpfwörter einfallen, langsam werden die alten langweilig. Und, wie war’s in der Schule? Seid ihr immer noch so schlecht wie letztes Jahr?«
Die Zwillinge hatten nur mit Ach und Krach die Versetzung ans Gymnasium geschafft, weil sie schlicht und ergreifend stinkfaul waren.
Kims letzte Frage wirkte. Grummelnd verzogen sich Ben und Lukas in Richtung Küche.
Kim pfefferte ihre Schultasche in die Ecke, fuhr sich vor dem Spiegel im Flur schnell durch die kurzen braunen Haare und folgte dann ihren Brüdern. Aus der Küche roch es säuerlich nach Zwiebeln und Fisch. Auch das noch! Heute gab es eingelegte Heringe mit Kartoffeln, das Essen konnte sie nicht ausstehen.
»Hallo, mein Schatz!«, sagte Frau Jülich fröhlich, als Kim die Küche betrat. »Na, was gibt’s Neues aus der Schule? Habt ihr schon die Termine für die ersten Schularbeiten bekommen?«
»Noch nicht«, antwortete Kim und rutschte auf die Eckbank neben ihren Vater.
Ihre Mutter stellte lächelnd die Platte mit den Heringen auf den Tisch. »Wir müssen unbedingt einen Lernplan fürs neue Schuljahr aufstellen.«
Bei der Vorstellung wurde Kim jetzt schon schlecht. Wo nahm ihre Mutter eigentlich immer die ganze Energie her? Mit ihrem Halbtagsjob als Grundschullehrerin und ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für Wohltätigkeitsveranstaltungen müsste sie doch eigentlich mehr als ausgelastet sein. Hilfe suchend sah Kim ihren Vater an. Doch der sortierte gerade seine Post und hatte offenbar gar nicht zugehört.
»Ben, Lukas!«, rief Frau Jülich. »Hört bitte auf herumzurennen und setzt euch endlich hin!«
Maulend gehorchten die Zwillinge.
Frau Jülich reichte die Platte herum. Kim nahm sich nur ganz wenig, der Appetit war ihr inzwischen gründlich vergangen.
»Guten Appetit«, sagte ihre Mutter.
Herr Jülich nahm gedankenverloren seine Gabel in die Hand, während er mit der anderen Hand weiter die Post durchsah. Er bekam jeden Tag einen Haufen Papierkram, meistens Werbung oder irgendwelche geschäftlichen Sachen, die mit seinem Beruf als Uhrmacher zu tun hatten.
Seine Frau runzelte die Stirn. »Muss das jetzt sein? Kannst du damit nicht bis nach dem Essen warten?«
»Hmm …«, machte Herr Jülich und betrachtete einen braunen A-4-Umschlag von allen Seiten.
»Ist da was für uns drin?«, fragte Lukas.
Sofort wurde Ben auch neugierig. »Dürfen wir ihn aufmachen?«
Herr Jülich reagierte nicht darauf. »Hmm …«, machte er wieder.
Seine Frau stöhnte. »Bitte! Musst du das ausgerechnet jetzt erledigen?«
»Wie?«, fragte Herr Jülich. »Ach so … entschuldige, ich leg die Post gleich weg, aber dieser Umschlag ist wirklich merkwürdig. Da steht gar kein Absender drauf und die Anschrift ist mit dem Computer getippt.«
Jetzt wurde auch Kim hellhörig. Einen anonymen Brief verschickte normalerweise nur jemand, der etwas zu verbergen hatte. Vielleicht war es ja sogar ein Drohbrief!
»Ich finde, du solltest ihn aufmachen«, sagte sie und rückte ein Stück näher zu ihrem Vater, damit sie ihm über die Schulter sehen konnte.
»Ja, das finde ich auch«, sagte er. Energisch öffnete er den Umschlag und griff hinein. Als er ein zusammengefaltetes Stück Papier herausholte, fielen ein paar bunte Karten auf den Tisch, die offenbar lose zwischen den Seiten gelegen hatten.
Sofort stürzten sich die Zwillinge auf die Karten.
»Ist das ein Spiel? Geil!«, rief Lukas.
»Können wir es gleich spielen?«, fragte Ben.
Jetzt musste Kim einschreiten. »Kommt nicht infrage! Ihr macht bloß wieder alles kaputt.«
Das hatte sie oft genug selber erlebt. Ihre Brüder schlichen sich mit Vorliebe an ihren Computer heran und nutzten ihn für ihre Spiele, obwohl sie es ihnen schon tausendmal verboten hatte. Einmal hatten sie ihr sogar einen Virus draufgeladen.
Herr Jülich faltete inzwischen das Papier auseinander. Auf den ersten Blick erkannte Kim, dass es ein Brief war. Genau wie die Anschrift auf dem Umschlag war er am Computer getippt und enthielt keinen Absender.