wie es Euch gefällt
Bei allem – durchaus begreiflichen – Gefühl der Entwurzelung fällt Heinz Berggruen, einmal in Kalifornien, ausgesprochen weich. Neben einem Stipendium und einer Unterkunft erwartet ihn in Berkeley, wie er bei der Einreise angibt, eine Kontaktperson von Format: Unter den vielen hochrangigen Akademikern aus Europa, die an der Elitehochschule bereits Zuflucht gefunden haben, ist auch der ursprünglich aus München stammende Wirtschaftswissenschaftler Carl Landauer (1891 – 1983), der bis 1933 eine Professur in Berlin innegehabt hatte. Seit 1912 Mitglied der SPD, hatte Landauer, ein vehementer Verfechter der Menschenrechte und Gegner der Nationalsozialisten, die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und Deutschland schon früh verlassen. Seit 1934 unterrichtete er in Berkeley – und sah der Ankunft des jungen Studenten, den er persönlich nicht kannte, mit Enthusiasmus entgegen, denn: »Er wurde mir von deutschen Freunden, deren Urteil ich vertraue, wärmstens empfohlen. Er wurde mir als hochintelligent, zuverlässig und äußerst kontaktfreudig beschrieben.« [1]
Professor Landauer kannte die Tücken und Schwierigkeiten, wusste aber auch aus eigener Erfahrung um die Chancen der Einwanderung in die USA. [2] In bester amerikanischer Tradition kümmert er sich um seinen frisch eingetroffenen, nominellen Schützling, lädt ihn ein und vermittelt Kontakte. Freundlicherweise stellt er ihm nach wenigen Wochen ein Empfehlungsschreiben für das begehrte Dauerquartier im Studentenwohnheim aus: »Seit Herr Berggruen in Berkeley ist, habe ich ihn häufig getroffen und kann die hohe Meinung meiner deutschen Freunde nur bestätigen. Ich bin sicher, dass er einen anregenden Beitrag zum intellektuellen Leben der Studentengemeinschaft des International House leisten wird.« [3]
Berggruen bekommt das Zimmer seiner Wahl im siebten Stock des – für europäische Verhältnisse luxuriösen – Wohnheims auf dem Campus der Universität. In der CV-Zeitung berichtet er den Daheimgebliebenen davon: »Bad, Duschräume, Haustelefon, Bibliothek, Zeitschriftensaal, Post-Office, Restaurant, Café, Tanzsaal, ein Laden für Kleiderreinigung […] schließlich auch ein Basar, wo man von Milchschokolade und Ansichtskarten bis zu japanischen Kimonos […] alles erhalten kann.« Ausführlich beschreibt er das Rahmenprogramm: »Tanz, Vorträge, Diskussionsgruppen, Sprachtische, Führungen, Ausstellungen, gemeinschaftliches Singen, Tees, literarische Abende, Vorführung künstlerisch hochwertiger Filme, Konzerte, es fehlt einfach nichts in der Reihe aller Möglichkeiten und denkbarer Unterhaltungen […] Wenn die Amerikaner – und wie sehr erst die Kalifornier! – so vollkommen unproblematisch sind, so liegt es wahrscheinlich daran, dass sie es durch dieses Betäubungsmittel des ›social life‹ niemals zu einer eigentlichen Problematik des Ich kommen lassen.« [4]
Die amerikanischen Juden sieht er in einem ähnlichen Licht: »Ich habe versucht, während meines kurzen Aufenthaltes in Kalifornien in das jüdische Leben des Landes einzudringen. Ich habe dabei entdeckt, dass die jüdische Haltung weder religiös noch politisch, sondern rein gesellschaftlich bestimmt ist.« Als Beweis zitiert er aus einem Merkblatt der Hillel Foundation: »Durch wöchentliche Tees, Tänze und Empfänge bietet Hillel jüdischen Männern und Frauen eine geeignete Stätte der Zusammenkunft mit ihren Glaubensgenossen und eine Gelegenheit, Bande der Freundschaft mit ihren eigenen Brüdern zu festigen. Ihr gesellschaftliches Leben erzeugt jene Wärme und Farbe, die Ersatz schafft für die Bande der Häuslichkeit.« Sein Fazit: »Dieser Erklärung lässt sich kaum etwas hinzufügen. Jüdisches Leben ist eben Gesellschaftsleben, wer mehr erwartet, wird es sicher in den jüdischen Massensiedlungen des Ostens der Staaten finden, kaum aber in Kalifornien.« [5] 1923 von Rabbi Benjamin Frankel in Illinois gegründet, verfolgte die nach dem jüdischen Schriftgelehrten Hillel benannte Stiftung ursprünglich das Ziel, einer wachsenden Zahl von studierenden Kindern jüdischer Immigranten »ein Zuhause fern der Heimat« [6] zu bieten. 1935 waren neun Prozent aller College-Studenten in den USA jüdischer Herkunft, das entsprach etwa zweieinhalbmal dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung. Da ihnen fast alle etablierten Clubs, Fraternities und Sororities verschlossen blieben, standen sie vor der Wahl, ihre jüdische Identität zu verleugnen oder eigene Gruppen zu gründen. Getragen von Spenden jüdischer Geschäftsleute, bot Hillel einen jüdisch-gesellschaftlichen Wirkungskreis mit beachtlichem karitativen, religiösen und politischen Engagement. In den 1930er Jahren hat die Organisation ein »Refugee Student Program« geschaffen, um europäischen Studenten zu Stipendien an amerikanischen Universitäten und damit zur Einreise zu verhelfen. In Amerika eingetroffen, wurden die Stipendiaten von örtlichen Mitgliedern der Organisation betreut. [7]
Heinz Berggruen ist einer der Glücklichen, die diese Hilfeleistung genießen. [8] Die Bedingungen, die Hillel für ihn schafft, konnten kaum besser sein. Sein Stipendium von $ 600 im Jahr oder $ 50 im Monat ist großzügig bemessen. [9] Zum einen ist es kein Darlehen, das zurückgezahlt werden muss, zum anderen sind die Lebenshaltungskosten in den USA sehr viel niedriger als in Deutschland. [10] Für die ersten zwei Sommermonate, während der Ferienzeit, zahlt er im International House den höheren Gästetarif von monatlich $ 29, die Mahlzeiten inklusive. Danach, vom 1. August 1937 bis zu seinem Auszug am 1. April 1938, gilt der reguläre Satz von $ 72 pro Semester oder $ 18 im Monat. [11] Objektiv betrachtet, hat Berggruen genug Geld – auch ohne die $ 1900, die er bei der Einreise offiziell einführte. Doch in der CV-Zeitung klagt er über die unzureichenden Zuwendungen, zumal auch die Studiengebühren »höher sind, als ich erwartet hatte« [12] – dabei hat er als Stipendiat gar keine zu bezahlen. Das romantische Bild des Einwanderers, der in der Fremde, ganz auf sich gestellt, all sein Können einsetzen muss, um Hunger und Kälte zu trotzen, malt Berggruen mit den Jahren in immer bunteren Farben. Sein Stipendium habe »bei weitem nicht ausgereicht, auch nur die nötigsten Kosten zu decken«, schreibt er in seiner Autobiographie. Nur mit Deutschstunden und Musizieren bei kleinen Festlichkeiten habe er sich »über die ärgsten Klippen hinweg« helfen können: das »brachte eine warme Mahlzeit und ein paar Dollar ein«. [13]
Aus der Sicht eines jungen Emigranten für die CV-Zeitung schreibend, beteuert Berggruen sein Misstrauen gegen Verallgemeinerung – »vor allem seit ich jetzt selbst sehe, was alles in Europa als ›typisch amerikanisch‹ serviert wird«. [14] Doch in den 1990er Jahren nach Deutschland zurückgekehrt, liefert er seinem Publikum vorzugsweise Klischees: Die Kommilitonen waren nur interessiert an »Baseball, Basketball und allen möglichen anderen körperlichen Ertüchtigungen«. [15] – »Es wurde einem zu oft auf den Rücken geklopft und die Beine wurden zu oft auf den Tischen ausgestreckt, statt auf dem Boden zu bleiben.« – »Ich empfand die Amerikaner als zu pragmatisch, zu extrovertiert und auch als zu materialistisch.« [16] Vor allem Letzteres: »Der Slogan America’s business is business erschien mir auf peinliche Weise zutreffend.« [17] Die herzliche Gastfreundschaft und anregenden Gespräche über deutsche Literatur und Philosophie, die er im Hause des berühmten, politisch und sozial engagierten Meeresbiologen und Philosophen Ed Ricketts (John Steinbecks Vorbild für die Gestalt des guten »Doc« in Die Straße der Ölsardinen) genoss, [18] lässt er unerwähnt. Ein naheliegendes Gegenbeispiel bietet, bei allem finanziellen Erfolg, auch die Familie seiner künftigen Ehefrau Lillian S. Zellerbach, die er sehr bald kennenlernt. Die Zellerbachs, die ihr Vermögen in der Papierherstellung erwarben, manifestierten von jeher einen beispielhaften Bürgersinn und spielten im wirtschaftlichen, religiösen wie auch künstlerischen Leben der Stadt eine wichtige Rolle. Als Mitbegründer und Sponsoren der San Francisco Opera etwa wurden 1923 nicht weniger als fünf Zellerbachs, darunter Lillians Vater Henry, gewürdigt. [19] Bis heute ist die Zellerbach Foundation ein Musterbeispiel für kulturelles und soziales Engagement, das über jüdische Belange weit hinausreicht. [20]
Dem Hörsaal ist Berggruen nach einem knappen Semester ferngeblieben, [21] und am Ende des Studienjahres gab er sein Germanistik-Studium ganz auf. [22] Bald will er nämlich gespürt haben, dass »die deutschen Dichter« in diesem »pragmatischen Amerika« leider »keinen großen Stellwert hatten«. [23] Gleichzeitig hatte er, auch durch seinen Deutschunterricht, reichlich Gelegenheit, junge Amerikaner zu treffen, die »besondere Beziehungen zu Deutschland [hatten], sei es, dass ihre Vorfahren deutscher Herkunft waren und dort noch Verwandte wohnten, sei es, dass sie Geschichte oder deutsche Literatur studierten«. [24] Viele jüdische und nichtjüdische Deutsche hatten sich in den letzten hundert Jahren in Kalifornien angesiedelt und ein reges Kulturleben entwickelt, das zwischen 1933 und 1945 weiteren Auftrieb erhielt. 130 000 deutschsprachige Flüchtlinge ließen sich zwischen 1933 und 1945 in Los Angeles und Umgebung nieder, unter ihnen Bertolt Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Emil Ludwig, Erich Maria Remarque, Walter Mehring, Vicki Baum und Bruno Frank. [25] Der Küstenbezirk Pacific Palisades, westlich von Los Angeles, wurde in »Weimar am Pazifik« umgetauft, insbesondere die Villa Aurora, das Domizil der Feuchtwangers, wurde zum Magnet und Treffpunkt intellektueller Exilanten. In Kalifornien stießen die Neuankömmlinge auf eine starke einheimische Tradition des Mäzenatentums, das von breit angelegtem kulturellen und gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein geprägt war – eine fruchtbare Mischung.
Generell war das amerikanische Bildungsbürgertum, speziell an der Westküste, zu jener Zeit Deutschland gegenüber wesentlich wohlwollender eingestellt, als man es heute, in Kenntnis dessen, was bald folgen sollte, für möglich halten würde. Der Kunsthändler Karl Nierendorf schreibt 1936 aus Los Angeles: »Von Deutschland haben sie kaum eine Ahnung und haben gänzlich falsche Vorstellungen von allem. Trotz vieler Missverständnisse wird aber Deutschland als Land der Kunst und Kultur allgemein geschätzt. Es wird viel gute deutsche Musik aufgeführt, und wenn man, wie ich, etwas kulturell Wertvolles aufbauen will, so ist man als Deutscher überall respektiert und willkommen.« [26] Mit regem Interesse verfolgte die örtliche Presse das deutsche Kulturgeschehen: Als beispielsweise im März 1938 der dritte Band von Thomas Manns Joseph-Zyklus auf Englisch erschien, füllte die San Francisco Chronicle, »die New York Times der Westküste«, [27] fast zwei Seiten mit einer ausführlichen Kritik, gefolgt von einem langen Gespräch mit dem Autor. Das Werk, das auf den zweiten Platz ihrer Beststeller-Liste stieg, lag drei Monate später noch an vierter Stelle. Auch Lotte in Weimar, im September 1940 in englischer Übersetzung erschienen und in derselben Zeitung ausführlich besprochen, war wochenlang ein Verkaufsschlager. [28] Als Thomas Mann am 30. März 1938 in San Francisco eine Rede hielt, drängten Tausende in das zum Bersten gefüllte War Memorial Opera House, um ihn zu hören, und die Chronicle gab lange Passagen seiner Ansprache wieder. [29]
Sei es eine Ausstellung neuer Werke des damals im Exil in Amsterdam lebenden Max Beckmann, die im August 1938 im San Francisco Museum of Art gezeigt wurde, oder Max Reinhardts Faust-Inszenierung in Hollywood, der die Zeitung Anfang September eine volle Seite widmete, [30] die deutsche Kultur wird mit Interesse, Respekt und Wohlwollen betrachtet. So groß war die Resonanz etwa im Falle Reinhardts, dass »der Weise von Salzburg«, wie die Chronicle ihn betitelte, seinen Faust anschließend im San Francisco Civic Auditorium aufführen konnte, finanziert von der California Festival Association und unter Beteiligung von 150 Statisten sowie des Balletts der San Francisco Opera – mit überwältigendem Erfolg. [31] Bei Heinz Berggruen ist nichts von alledem zu lesen. Das erstaunt umso mehr, als er zu diesem Zeitpunkt bereits für die Zeitung arbeitet, die die Kultur seines Heimatlandes so facettenreich präsentiert.
Die San Francisco Chronicle spiegelt die sich wandelnde Einstellung der kalifornischen Gesellschaft zu Deutschland in den 1930er Jahren exemplarisch wider. Während sich der redaktionelle Tenor entschieden gegen Hitler und, angesichts der Entwicklungen in Europa, auch zunehmend gegen den amerikanischen Isolationismus richtet, wird bis zum Kriegsbeginn zwischen Deutschen und Nationalsozialisten deutlich unterschieden. Prinzipiell ist Deutschland kein Feindesland, sondern lediglich der unterlegene Gegner im letzten Krieg – einem Krieg, in den die USA spät und gegen großen internen Widerstand eingegriffen hatten, nicht aus Animosität gegenüber Deutschland, sondern um das Gleichgewicht der Mächte in Europa ein für alle Mal wiederherzustellen. [32] Noch im April und Mai 1938 veröffentlichte die Chronicle ganze Serien, in denen die Kampfmoral der Deutschen im 1. Weltkrieg gewürdigt wurde. [33]
Viele Amerikaner empfanden, dass den Deutschen mit dem Versailler Vertrag Unrecht getan worden war und die überhöhten Reparationsforderungen das Land an den Rand des Zusammenbruchs geführt hatten. Im Frühjahr 1938 regten sich vereinzelt auch kritische Stimmen, die die Ansicht vertraten, die Schonzeit für die Nationalsozialisten sei inzwischen übergebührlich lang. [34] Bei aller wachsenden Skepsis aber blieben die Kalifornier Hitler gegenüber noch abwartend bis offen. Der Hitler der ersten Jahre unterschied sich aus ihrer Sicht nicht besonders von den Oberhäuptern anderer totalitärer Regime, zu denen manche Kommentatoren auch traditionelle Monarchien zählten, [35] und vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise standen die Vorzüge einer starken Zentralregierung auch in den Staaten zunehmend zur Debatte. [36] »Wir teilen vielleicht nicht den deutschen Regierungsgeschmack«, so Royce Brier, der politische Kommentator der Chronicle, noch im Juli 1938, »aber man muss zugeben, dass sie die Lage wirtschaftlich im Griff haben, individuell wie kollektiv, und das ist mehr, als man von den Amerikanern behaupten kann.« [37] – »Es gibt zwei, drei Aspekte der europäischen Politik«, gibt derselbe Kommentator schließlich zu bedenken, »die für Amerikaner unverständlich bleiben.« Dazu gehöre ein gewisses Maß an Antisemitismus, das als Bestandteil der europäischen Tradition zu betrachten sei. [38]
Ingesamt wurden Hitlers Drohungen lange Zeit nicht ernst genommen, zumal sogar direkt Betroffene den Ernst der Lage nicht immer richtig einschätzten. Die Titelseite der Chronicle etwa zitiert am 8. Januar 1938 aus einer Ansprache von Klaus Mann vor dem örtlichen Commonwealth Club: »Der Bann, den Hitler über die Deutschen gelegt hat, wird schwächer. Der Zusammenbruch der Hitler-Diktatur ist unausweichlich«, denn: »Die Deutschen begreifen allmählich, dass er auf einen Krieg zusteuert.« Dass es aus ebendiesem Grund zum Krieg nicht kommen würde, bleibt auch nach dem Anschluss Österreichs bis zur Annexion des Sudentenlandes im September 1938 noch vorherrschende Meinung, umso mehr, als aus Europa selbst noch Beschwichtigendes zu hören ist. Wie etwa als Eduard Beneš, damals tschechischer Präsident und im Amerika der 1920er und 30er Jahre allgemein, wenn auch unverdient, [39] als »hochkarätiger Diplomat« respektiert, [40] noch im April desselben Jahres in der Chronicle betont: »Ich glaube nicht, dass uns ein bewaffneter Konflikt in Europa bevorsteht […] Ich glaube nicht, dass irgendein europäischer Staatsführer so arm an Phantasie und Gewissen sein kann, dass er sein Land, egal warum, in einen solchen Krieg führen oder involvieren würde […] Ich habe nicht mehr den geringsten Anlass, mir über unsere deutschen Mitbürger Sorgen zu machen. Sie haben mein volles Vertrauen.« [41] Die Einstellung zu Deutschland kippte schlagartig nach der »Reichskristallnacht«. Doch auch weiterhin wurde zwischen Nationalsozialisten und Gegnern des Regimes, zwischen deutscher Politik und deutscher Kultur klar unterschieden.
Heinz Berggruen schrieb für This World, eine hervorragende, etwa 30 Seiten umfassende Beilage der Sonntagsausgabe mit Schwerpunkt Kultur und Politik. [42] Das 1937 neu eingeführte Format folgte einem festen Schema: auf der ersten Seite zwei redaktionelle Beiträge – einer ernst, einer humoristisch, im Anschluss ein Resümee der politischen Ereignisse der Woche, danach einige politische Kommentare oder subjektive Berichte, gefolgt von Literatur-, Theater- und Musikkritiken. Den Abschluss bildete mit »Around the Galleries« ein Rundgang durch die Galerien. Bei allem Interesse für nationale Belange gilt Europa, vor allem der Lage in Spanien und Deutschland, besondere Aufmerksamkeit. Die auf den Wochenüberblick folgenden, fünf bis sechs politischen Meinungsartikel decken in bester angelsächsischer Tradition das ganze Spektrum an Sichtweisen ab: von Heinrich Mann [43] bis hin zu Baron Manfred von Killinger, [44] deutscher Generalkonsul in San Francisco und erklärter Nationalsozialist, der die »deutsche Sache« vertritt; von Hemingway direkt aus Spanien [45] bis zu General Franco. [46] Dem Leser wird überlassen, sich sein Urteil selbst zu bilden.
Aus der Taufe gehoben wurde die Beilage durch den jungen Scott Newhall, Sohn einer begüterten kalifornischen Familie und wie Berggruen 1914 geboren. Nach einem Kunststudium in Berkeley war er zunächst als Fotograf zur San Francisco Chronicle gekommen. Als er 1936 infolge eines Unfalls ein Bein verlor, sattelte er um zum Redakteur. [47] Mit beachtlichem Erfolg: Nach der Redaktion von This World würde er 1952 die ganze Zeitung übernehmen und die Auflage beträchtlich steigern. Nicht nur wegen seines Holzbeins beschrieb ihn ein Kollege als den »überlebensgroßen Piratenprinz des Journalismus«. [48]
Für This World hatte Newhall ein junges, motiviertes Team um sich geschart. Neben ihm selbst als Chefredakteur bestand die Redaktion aus zwei associate editors, John E. Pegues und Alfred Kay, sowie sechs sogenannten contributing editors – der gängige Schmucktitel für eine Einstiegsposition in der amerikanischen Zeitungswelt. Diese Jungjournalisten waren vorwiegend mit Recherchen, der Überprüfung von Fakten und Bearbeitung von Meldungen beschäftigt; [49] doch von Zeit zu Zeit durften sie auch eigene Artikel veröffentlichen, gezeichnet mit vollem Namen. Einen Monat lang, für die vier Ausgaben im November 1938, gehörte Berggruen zum festen Team, davor und danach war er freiberuflich für die Chronicle tätig. Die tägliche Zeitungsarbeit war seine Sache nicht, auch wenn er später gerne an seine Zeit als »Redaktionsmitglied« erinnert. [50] Wie in Berkeley nahm man ihn auch hier mit offenen Armen auf, ohne, was ihn rückblickend selbst erstaunt, »meine Schwierigkeiten mit der englischen Sprache besonders zu erwähnen oder irgendwelche Qualifikationen von mir zu fordern. Das war Amerika.« [51] Schon Anfang des Jahres, am 23. Januar 1938, erscheint in den politischen Meinungsseiten der erste Artikel aus seiner Feder. Er trägt die Überschrift »Die letzte Hoffnung für die europäische Jugend wächst aus der Verzweiflung« und geht über eine volle Seite. [52] Dass Heinz Berggruen, noch kein Jahr in Amerika und soeben 24 Jahre jung, es schafft, in dieser illustren Reihe, in der Autoren wie H. G. Wells und George Bernard Shaw regelmäßig veröffentlichten, einen so ausführlichen Beitrag zu platzieren, ist bemerkenswert. Und wie alle Autoren dieser Serie, hat auch der junge unbekannte deutsche Journalist freie Hand.
»Kein Tag vergeht«, so beginnt er, »an dem nicht Millionen von Amerikanern ihre Zeitungen aufschlagen und mit wachsender Verwunderung von den Ereignissen lesen, die sich zur Zeit in Europa überschlagen. Frankreich ist durch Regierungskrisen erschüttert, es gibt Gerüchte über ernsthafte und weitverbreitete religiöse und wirtschaftliche Unruhen in Deutschland, der politische Henker macht Überstunden in Russland […]« Ob man »einen jungen Deutschen oder Franzosen nach seinen Plänen für die nächsten fünf Jahre« oder ob man »den durchschnittlichen jungen Europäer nach den Aussichten für Krieg und Frieden« fragt – beide Fragen ernten europaweit dieselben »skeptischen«, mit einem »altklugen, zynischen Lächeln« begleiteten Antworten, [53] und überall werde zu Varianten derselben Strategien gegriffen: »Aus dem Gleichgewicht geworfen und richtungslos verloren inmitten der wechselnden und komplexen Phänomene ihres Lebens«, gebe die Jugend »freiwillig ihre Unabhängigkeit auf, um sich großen organisierten politischen Gruppen anzuschließen und damit eine kollektive Macht zu gewinnen. Das scheint der beste Weg aus den Schwierigkeiten zu sein. Andere, die bei solchen Organisationen nicht mitmachen wollen oder dürfen oder […] darin nicht die Befriedigung fanden, die sie sich erhofften, suchen eine Zuflucht oder ein Ventil in ausländischen Feldzügen. […] Alle wollen sie der Unsicherheit, die zur Zeit Europa dominiert, entkommen. Optimismus ist schließlich das ewige Privileg der Jugend.« Von den fragwürdigen Thesen einmal abgesehen, besticht vor allem das Fehlen jeglicher Parteinahme. Es ist fast unmöglich, über den Spanischen Bürgerkrieg zu schreiben, ohne Farbe zu bekennen, aber nicht für Berggruen: »So paradox die tragische Situation in Spanien erscheinen mag, verbindet den jungen Menschen auf beiden Seiten derselbe verzweifelte Optimismus: Die Hoffnung, das neue Spanien möge auch ein neues Europa einläuten, befreit von der Last und dem Druck unerträglicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedingungen.« Die rhetorische Frage: »Sind Europäer gutgläubiger als Amerikaner?« beantwortet er differenziert: »So sehr ist die amerikanische Jugend mit Ideen der Freiheit und individuellen Souveränität durchtränkt, dass es ihr schwerfällt, die Gründe für die volle Unterstützung und Zustimmung der jungen Leute in Europa, angesichts der ihnen durch Massenbewegungen und Diktatoren auferlegten Einschränkungen, zu begreifen.« Wer wirbt hier schon fast um Verständnis für den jugendlichen Faschismus und Kolonialismus? Berggruen schreibt »als jemand, der viele Jahre in Europa wohnhaft war und reiste«; er will »aufrichtig sein und die Situation so beschreiben, wie ich sie vorfand«. Nicht einmal andeutungsweise ist sein Standpunkt der eines deutsch-jüdischen Emigranten auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, dessen Familie, während er schreibt, noch immer in Deutschland lebt. Da wird die deutsche Propaganda gegen Russland mit der dortigen Propaganda gegen Deutschland gleichgesetzt: »Der staatlich kontrollierte Rundfunk hämmert dem jungen Deutschen tagtäglich ein, die größte Gefahr, der größte Feind der Welt sei ein militaristisches und kommunistisches Russland; im Gegenzug hört die russische Jugend ähnliche giftige Propaganda über Deutschland.« Die propagandistische Hetze gegen die Juden wird nicht einmal erwähnt. Wie kann man 1938 verharmlosend von »Gerüchten über ernsthafte und weitverbreitete religiöse und wirtschaftliche Unruhen in Deutschland« schreiben? Sind Arbeits- und Konzentrationslager, sind Berufsverbote und organisierte Boykotte nicht längst öffentlich bekannte Tatsachen? Es war eine kritische Zeit, und amerikanische Zeitungen waren ein wichtiges Forum. Sie formten die öffentliche Meinung, die wiederum auf die Politik der Regierung Einfluss übte. Nur klare Augenzeugenberichte und Analysen konnten bewirken, dass die USA mehr Flüchtlinge aufnahmen und sich früher im Krieg engagierten. In diesem Kontext muss Berggruens erster Artikel in der San Francisco Chronicle enttäuschen.
Als er im April jenes Jahres die Universität verließ und regelmäßiger für die Zeitung zu schreiben begann, wurden ihm zunächst andere Themen vorgegeben. Mehrfach besuchte er Kunstausstellungen im Auftrag von Alfred Frankenstein, von 1934 bis 1965 Musik- und Kunstkritiker der Zeitung. Frankenstein, Jahrgang 1906, wurde weit über die Grenzen der Stadt hinaus für sein Urteilsvermögen, seinen lebhaften Stil und den eloquenten Einsatz für die amerikanische Gegenwartskunst und -musik geschätzt. [54] Die Artikel im Hauptteil der Chronicle verfasste er selbst, in der Beilage kam mit wachsendem Können mitunter auch sein Assistent Berggruen zum Zuge. Bereits im Februar 1939 durfte der junge Nachwuchsautor zweimal für die komplette Seite »Around the Galleries« verantwortlich zeichnen. [55] Seine Palette reichte von kalifornischer Keramik und frühkindlicher Musikerziehung bis zu den Originalzeichnungen für Disney-Zeichentrickfilme, wobei die Beiträge, durchaus informativ, auch manches über den Autor durchblicken lassen. Aufschlussreich ist beispielsweise ein im September 1938 veröffentlichter Artikel zum De Young Museum, dem ältesten der Stadt, das eine umfangreiche amerikanische Privatsammlung beherbergt. Seiner Geringschätzung der konventionellen Malerei des späten 19. Jahrhunderts als auch ihrer Sammler und ihres Publikums lässt er freien Lauf und spottet über die vielen Besucher, die »hundertfach pro Tag« nach »den Ölbildern« fragen, vor denen sie dann mit offenem Mund erstarren: »Die Ausdrucksweise ändert sich automatisch, und alle nur möglichen Worte der Bewunderung, alle denkbaren Superlative kommen ihnen über die Lippen. […] Es ist bezeichnend, dass die Biographien der meisten hier ausgestellten Künstler keinerlei aufregende oder revolutionäre Perioden aufweisen. […] Keiner war ein Außenseiter, keiner ein Genie. […] Ihre Beliebtheit entspringt einer harmlosen Gefälligkeit, gebaut auf Mitleid, Moral und Konvention. […] Viele Jahre sind seither vergangen, aber es scheint noch immer zu ›funktionieren‹.« [56]