Wolf Jahnke
Los Angeles
Mit Hollywood durch L.A.
Wolf Jahnke
Los Angeles – Mit Hollywood durch L.A.
Eine Geschichte in Los Angeles, London oder auf dem Land spielen zu lassen, ist eine der wichtigsten Entscheidungen: Die jeweiligen Schauplätze prägen Stil und Atmosphäre eines Filmes. Jede Stadt transportiert automatisch ein bestimmtes Image, das beim Zuschauer sofort Emotionen und Assoziationen weckt.
Robert Altman verfilmte in SHORT CUTS (1993) die Provinz-Geschichten von Raymond Carver in L.A. und verlegt damit die ländlichen Schauplätze in die Großstadt. So wurde SHORT CUTS ungeachtet seiner Wurzeln zum Großstadtfilm, der das Leben in Los Angeles reflektiert – bezeichnenderweise war der Arbeitstitel «L.A. Stories».
Wie man mit einem solchen Image spielen kann, zeigte auch Danny Boyle eindrucksvoll, als er in SUNSHINE (2007) mit dem düsteren Panorama des verdunkelten und schneebedeckten australischen Sydney einschließlich seiner berühmten Oper der globalen Bedrohung durch die sterbende Sonne ein Gesicht gab.
Oft zeigt bereits die Eröffnungsszene, in welcher Stadt ein Film spielt: FEGEFEUER DER EITELKEITEN (1990) filmt vom legendären Chrysler-Building hinab das morgendliche New York mit seinen Millionen förmlich unbedeutender Seelen. Mitunter erfolgt dieser Imagetransport auch etwas plakativer: Bei GODZILLA (1998) wird die Skyline von Manhattan gleich mit «Die Stadt die niemals schläft» untertitelt. Dass sich die bildgewordenen Vorstellungen von einer Stadt auch dazu eignen, karikiert zu werden, zeigt KENTUCKY FRIED MOVIE (1977), der den vertrauten Blick auf die New Yorker Skyline mit «Hong Kong» untertitelt. ORGAZMO (1997) schreibt unter die Ansicht des Hollywood-Emblems «Hollywood».
Wie «typisch» L.A.-Filme sein können, zeigt LOADED WEAPON 1 (1993): Zu Beginn kommt in der Polizeifilm-Parodie Detective Jack Colt (Emilio Estevez) in einen 24h-Laden. Dieser wird von ein paar beschränkten Indern geführt und von noch beschränkteren weißen Gangstern überfallen. Im wilden Feuergefecht legt Colt den Gangstern das Handwerk und den Laden in Schutt und Asche. Dann fährt er mit seinem Cabrio in die Nacht. Die Szene wird untertitelt: «Los Angeles» und dann «Nacht». Es zeigt, dass diese scheinbar ortsanonyme Szene nur in Los Angeles spielen kann, so wie, wenn es dunkel ist, auch Nacht ist. Die Szene ist ein Klischee, das jeder erkennt und eigentlich keine weitere Erläuterung mehr braucht. 24h-Shops, Cops, Gewalt, Action und Autos – Welcome to L.A.!
Die meisten Filme wie HEAT (1995) und L.A. CRASH nutzen die breite Palette der Schauplätze von der Skyline Downtowns, den Ghettos, den Hügeln, dem Strand und dem Lichtermeer und entwerfen so das Universum von Los Angeles. Die Filme bieten in einem Sinnzusammenhang gelebte Realität. L.A.-Filme setzen sich stets wie ein Puzzle zusammen. Sie fordern so einen zweiten Blick, um erkannt und verstanden zu werden.
Dass Großstädte nicht beliebige Kulissen sind, zeigen die US-Remakes europäischer Filme. Der französische Agenten-Thriller NIKITA (1990) wird in CODENAME: NINA (1992) zum klassischen L.A.-Film, der die lokalen Attitüden einbindet. Selbst der eng mit Berlin verwurzelte DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987), wird in STADT DER ENGEL (1998) ein komplexes Stadtporträt der kalifornischen Metropole.
Filme greifen die gegebenen Wirklichkeiten einer Stadt auf, reflektieren das Image und erzählen es fort. Stadtwirklichkeiten anhand von Spielfilmen zu beschreiben, ermöglicht zudem einen gefühlsbetonten Zugang zur Stadt und ihren Bewohnern. In der «Poetik des Raumes» wird die Stadt nicht nur in ihrem realen Dasein erfasst, sondern direkt erlebt: Wenn John Travolta in NUR SAMSTAG NACHT (1977) über die Brooklyn-Bridge nach Manhattan in die Wolkenkratzer-Skyline fährt, so ist dies ein Symbol des sozialen Aufstiegs in der Stadt New York.
Filme bieten ein ausschnitthaftes, ästhetisiertes Bild, aber sie müssen sich grundsätzlich auf die Wirklichkeit einlassen und können sie dadurch beeinflussen: Nach dem Erfolg der Liebeskomödie SCHLAFLOS IN SEATTLE (1993) stieg der Preis für Bootshäuser in Seattle, da der Held in einem solchen wohnt. Somit wird sich auch der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg Dank SOUL KITCHEN (2009) größerer Beliebtheit erfreuen. Regisseur Fatih Akin thematisiert in der Geschichte um eine alte Kiez-Kneipe das urbane Problem der Gentrifizierung bzw. «Yuppiesierung» eines Wohnviertels. Vermutlich wird er genau dieses Problem durch seine Szene-Ode fördern und nimmt somit Einfluss auf die Stadtentwicklung. Filme haben Einfluss auf das Stadtimage, aber Chicago war Anfang der 30er Jahre bereits eine Hauptstadt des Verbrechens und wurde nicht erst durch Gangsterfilme dazu gemacht.
Durch die Vielzahl von Filmen entstehen beim Zuschauer «mental maps». Großstadtimages sind in der Regel sehr komplexe Informationsgebilde. Ein Blick auf die Manhattan-Skyline ruft zahlreiche Erinnerungen an Spike Lees Ghettos, Woody Allens intellektuelle High Society oder Martin Scorseses italienische Mobster ab. Diese komplexen Bildwelten liefern im Verbund mit anderen Fakten und Impressionen ein vielfältiges Stadtbild, nach dem die Menschen auch suchen.
Spielfilme thematisieren in der Regel nicht mit dokumentarischer Genauigkeit alltägliche Arbeitsprozesse oder gesellschaftliches Elend. Doch selbst der für die Massen konzipierte Katastrophenfilm VOLCANO (1997) beginnt mit einer Stadtstudie, die an die Dokumentation BERLIN: SINFONIE EINER GROßSTADT (1927) erinnert. Sowohl der Polit-Thriller GEGEN DIE ZEIT (1995), als auch der Science Fiction-Reißer SIE LEBEN! (1988) zeigen die Obdachlosen in Downtown und machen deren Armut zum Unterthema des Films, das den Plot des Attentates bzw. der Alien-Ausbeutung unterfüttert.
Kino ist vor allem ein Platz für außergewöhnliche Abenteuer und Gefühle. Es kehrt die Gefühle der Filmfiguren in Bildern nach außen. So ist in L.A. STORY (1990) für den Wetteransager Harris K. Telemacher (Steve Martin) nicht der Verlust des Jobs tragisch, auch das Elend in der Stadt scheint ihn nicht zu berühren, sondern er leidet unter Langeweile und Liebessehnsucht. Fast könnte man annehmen, dass hier der Blick für die wesentlichen Probleme der sozialen Not verstellt wird. Andererseits wird das typische Großstadtproblem der Einsamkeit und Anonymität gezeigt. Filme machen die Stadtaura sichtbar, fangen Zeitgeist und Großstadtgefühle ein. Sie erreichen ein breites Publikum und die Gefühle der Zuschauer und sind damit der perfekte Weg um Stadtimages und -wirklichkeiten zu transportieren.
Die gefilmte Großstadt tritt häufig mit ihren geographischen, klimatischen und gesellschaftlichen Eigenschaften als (Haupt-)Darstellerin mit eigenem Charakter in Erscheinung. Die realen Orte lassen den Zuschauer in erfundenen Geschichten eine durchaus reale Welt betreten – oder wie es der Reise-Autor Bill Bryson sagte:
«Mein ganzes Weltbild wurde von Außenaufnahmen in Filmen wie ÜBER DEN DÄCHERN VON NIZZA, AUSSER ATEM, DREI MÜNZEN IM BRUNNEN und sogar Inspector-Clouseau-Filmen geprägt. Hätte ich diese Filme nicht gesehen, würde ich heute in Peoria, Illinois, leben und glauben, das Paradies auf Erden gefunden zu haben.»
Filme sind ein wunderbarer Reiseführer, allein James Bond 007 führte den Zuschauer in unzählige Länder mit vielen berühmten Sehenswürdigkeiten.
Mit DIVA (1981) und DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE (2001) flanierte der Zuschauer durch Paris, mit SUBWAY (1985) geriet er sogar in den Untergrund der Metro. Die Killergeschichte in BRÜGGE SEHEN … UND STERBEN? (2008) wurde zum ironischen Reiseführer durch die mittelalterliche, belgische Stadt. VERFLUCHTES AMSTERDAM (1988) jagte die Zuschauer durch die Gassen und Grachten der holländischen Metropole. Ohne Kaurismäki kein Helsinki. AMERICAN WEREWOLF (1981) schuf ein unvergleichliches Bild von London. Dank Ken Loach und Danny Boyle gibt es auch ein verfilmtes Großbritannien jenseits des Big Ben. Moskau als Moloch erforschten WÄCHTER DER NACHT (2004) und WÄCHTER DES TAGES (2006). In den alten Filmen von John Woo entluden sich Bleigewitter in Hong Kong. Das für den westlichen Zuschauer befremdliche Tokio spiegelte sich in den Rehaugen Scarlett Johanssons in LOST IN TRANSLATION (2003) ebenso wider, wie im Samuraischwert von Uma Thurman in KILL BILL (2003).
Seit einiger Zeit sind es nicht mehr nur die Postkartenansichten der Großstädte, die es auf die Leinwand schaffen: Die brutale und hoffnungslose Realität der dortigen Elendsviertel jenseits aller Hollywood-Klischees zeigen SLUMDOG MILLIONÄR (2008) in Mumbai, TSOTSI (2005) in Johannesburg, CITY OF GOD (2002) in Rio de Janeiro und AMORES PERROS (2000) in Mexico City.
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Film parallel zur Industrialisierung. Die schnell wachsenden Städte produzierten eine Reihe ambivalenter Großstadtempfindungen: Auf der einen Seite stehen eine hohe Kriminalität, Reizüberflutung, Abstumpfung, Anonymität und Isolation. Andererseits bieten Großstädte schier unbegrenzte Möglichkeiten für die persönliche Freiheit und Entfaltung. Sie gelten als Nährboden für Kreativität und Geschäftstüchtigkeit, und fördern kulturelle Vielfalt, sexuelle Freizügigkeit und geschäftlichen Erfolg. Die Stadt ist Bühne und Versteck, hier kann jeder groß herauskommen oder auch abtauchen. GIER (1924) und DER BLAUE ENGEL (1930) sind frühe Darstellungen dieser Ausprägungen. Die Angst vor dem Verirren und die Freude am Flanieren liegen in der Stadt so eng beieinander, dass diese Ambivalenz zum Drahtseilakt für den Einzelnen wird. Manche Menschen steigen hier auf in die Glamourwelt (DER TEUFEL TRÄGT PRADA, 2006), andere werden zu Amokläufern (FALLING DOWN, 1993).
Um diese unberechenbare Vielfalt voller Schönheit und Gefahren zu beschreiben, wird gern die Metapher des «Dschungels» herangezogen, die in KING KONG UND DIE WEISSE FRAU (1930) mit einem Schnitt von den Baumwipfeln des Dschungels auf die Dachspitzen von New York verdeutlicht wird. ASPHALT DSCHUNGEL (1950) griff dann das Bild des Dschungels buchstäblich auf und etablierte das Image der Großstadt als menschenfeindliches Gebiet.
Die Großstadt steht oft im Kontrast zur heilen Welt des Landes. Das Landleben darf sich als Oase der Ruhe, Naturverbundenheit und Hilfsbereitschaft präsentieren, in dem die Besinnung auf menschliche Werte im Vordergrund steht. Das Aufeinandertreffen von Land und Stadt kann zu wahren Kulturzusammenstößen führen: In DER EINZIGE ZEUGE (1985) verschlägt es den Großstadt-Cop John Beck (Harrison Ford) aus dem lauten Philadelphia zu den friedlichen Amish. Diese leben unter einem selbst auferlegten Verbot der Nutzung technischer Errungenschaften im ländlichen Idyll von Pennsylvania. Die Botschaft ist eindeutig: Das Land ist die bessere Welt, die dort lebenden Menschen sind reiner. Häufig bietet das Land den Großstadtmenschen die letzte Zuflucht, um ihr Leben zu retten: In CHRISTIANE F. – WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO (1981) schafft der Junkie (Nadja Brunckhorst) den rettenden Entzug in der Provinz fern vom Moloch Berlin.
Nur selten zeigt ein Film das platte Land als reine Selbsterfüllung wie IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN? (1947). Der verhinderte Weltenbummler George Bailey (James Stewart) muss zunächst sterben, um zu begreifen, wie wichtig und schön sein Leben in der Kleinstadt ist. Filme, die dagegen ein negatives Bild vom Landleben bzw. einer Kleinstadt zeichnen, stellen ihre Ortschaften meist als Käffer dar: So hinterlassen in DOGTOWN (1997) und DIE LETZTE VORSTELLUNG (1971) triste Landschaften einen Beigeschmack von Monotonie und Hinterwäldlertum.
Filme bilden ein kollektives Gedächtnis. Woody Allen ist der Ansicht, dass sein MANHATTAN (1978) in Zukunft viel über das typische Großstadtleben seiner Zeit vermitteln wird. Kinojournalist Heinz Peter Schwerfel fragt in ‹Kunst und Kino›: «Was haben Kino, Kunst und DNS gemein? Sie sind Datenträger einer Erinnerung mit Zukunft.»
Großstadtfilme liefern unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität zahlreiche dokumentarische Informationen. In ROCKER (1972) kann man noch die gepflasterte Reeperbahn bewundern. Wim Wenders zeigt in DER HIMMEL ÜBER BERLIN und in IN WEITER FERNE, SO NAH! (1993) das Berlin kurz vor und kurz nach dem Mauerfall – Film-DNS.
In den L.A.-Filmen verfolgt man, wie aus dem Riesendorf der Stummfilmtage sich die heutige moderne Großstadt entwickelte. FRAU OHNE GEWISSEN (1944) und BOULEVARD DER DÄMMERUNG (1950) zeigen den wesentlichen Unterschied zu den Stummfilmzeiten: Die Vororte sind nun dicht bebaut, Einkaufszentren an jeder größeren Straßenkreuzung. Los Angeles hatte sich zu einer echten Großstadt entwickelt und wurde damit adäquate Kulisse für den ‹Film noir›, dessen düstere Atmosphäre stilprägend für die Stadt werden sollte. In ATEMLOS (1983) gleicht L.A trotz des hypermodernen Westin-Bonaventura-Hotels immer noch einem bunten Dorf. In DAS FLIEGENDE AUGE (1983) ist die Downtown-Skyline sehr schmal. Sichtlich ist hier ein neuer Wolkenkratzer im Bau, während wenige Jahre später in SPEED (1994) und COLLATERAL (1995) eine Großstadt mit großer Skyline und modernem Flair entdeckt werden kann.
Medienhistoriker des California Institute of the Art Norman M. Klein zeigt in «Anti-Touren» auf Basis von Noir-Klassikern das Verschwinden der Stadt. Er selbst fühlt sich dabei wie ein Archäologe einer jungen Ära. THE EXILES (1961) spielt in den Slums von Bunker Hill. Das Viertel gibt es heute nicht mehr, an selber Stelle steht Frank Gehrys Disney-Concert-Hall. Auch die aus BOULEVARD DER DÄMMERUNG berühmte Villa und der aus PULP FICTION (1994) bekannte Diner wurden abgerissen, so wie viele andere bekannte Filmschauplätze. Selbst der berühmte Hollywood-Schriftzug sollte 2010 abgerissen werden. Die moderne Stadt Los Angeles pflegt kaum die eigene Geschichte und ist in einem ständigen Erneuerungsprozess. Filme sind oft das letzte Zeugnis eines Stadtbildes.
Los Angeles ist mehr als eine Metropole. Sie ist eine Megalopolis, eine Stadtgalaxie! Hauptmerkmal ist ihr einzigartiger anti-urbaner Charakter als Riesendorf, das jedoch alle Städte der Erde eint. Diese Stadtgalaxie verbindet die unzähligen ethnischen Gruppen in einer Stadtcollage aus den Villen am Strand von Malibu bis zu den Wellblechkolonien tief im Landesinneren. Die Gegensätze ziehen sich hier an.
Regisseur James Cameron, der die Geschichte zu STRANGE DAYS schrieb, meint:
«L.A. ist einfach eine Stadt, in der es brodeln muss, weil dort so viele Rassen aufeinandertreffen und ein so großer Druck herrscht. Deswegen treten so viele Probleme als Erstes hier auf. Und wir sind mit den Medien direkt vor Ort, sodass sie sich schnell weltweit verbreiten.»
L.A. ist der sich am schnellsten entwickelnde Stadtraum der westlichen Welt. Der Großraum Los Angeles im «Golden State» Kalifornien ist global einer der größten und am dichtesten besiedelten Stadträume. In L.A.-City, im Talkessel zum Pazifik, leben rund 3,5 Millionen Einwohner. Im Großraum leben rund 18 Millionen Einwohner, fast die Hälfte der Bevölkerung Kaliforniens. Eine Viertelmillion zieht jedes Jahr hinzu.
L.A. hat durch die Filmbranche die weltweit mächtigste Unterhaltungsmaschinerie und bezieht aus ihr auch einen großen Reiz für den Tourismus. L.A. ist aber gleichzeitig eine der größten Industriestädte der Welt. Hier siedeln die Massenindustrien von Öl, Elektronik und Automobil. Die lokale Luft- und Raumfahrttechnik ist global führend. Der Flughafen LAX und der Hafen in San Pedro sichern die Handelswege rund um die Erde.
Der Großraum umfasst fünf Counties und bildet ein Stadt-Konglomerat ähnlich dem Ruhrgebiet – allerdings mit den Ausmaßen Schleswig-Holsteins. Weit über hundert Städte sind eingemeindet worden, ebenso viele autonome Städte wie Beverly Hills und Santa Monica sind in dem Komplex zusammengewachsen. Es gibt keinen klassischen Stadtkern, Downtown ist nur ein Großfinanzviertel. Los Angeles ist eine Stadt ohne Mitte und damit das Gegenteil der klassischen Urbanität.
Die Megalopolis ist vom Smog eingedeckt und von Autobahnen und Straßen durchzogen. Der ausgeprägte Individualverkehr war lange das Zeichen für eine mobile Stadt, die europäische Stadtvorstellungen verabschiedet hat. Das Gebiet ist von dem weltgrößten Straßensystem erschlossen, in dem das Auto das Hauptverkehrsmittel ist. Busse und Bahnen sind kaum existent. Bereits 1919 fuhren 141.000 Automobile auf den Straßen. Heute verursachen rund acht Millionen Fahrzeuge täglich die berühmtberüchtigten Staus auf den Freeways.
Wie ein städtisches Wahrzeichen durchzieht ein Netz breiter Freeways den Großraum mit seinen endlosen Wohnstraßen und Einfamilienhäusern. Viele der Häuser erinnern an Gartenhäuser, die vereinzelt von Hochhäusern überragt werden. Nur die beiden Hauptzentren Century City und Downtown haben die ausgeprägte Skyline einer klassischen Metropole.
Trotzdem gibt es einen architektonischen Wildwuchs. Bereits 1939 schrieb Nathanael West in ‹Der Tag der Heuschrecke› von mexikanischen Bauernhäusern, Südseehütten, italienischen Villen, ägyptischen und japanischen Tempeln, schweizer Charlets und altenglischen Landhäusern, zu denen sich später unzählige moderne und postmoderne Bauten hinzugesellten.
Die Multikulturalität ist für Mike Davis das natürliche Wahrzeichen der Stadt der Engel. Die Weißen halten die Macht, sind aber in der Minderheit. Die Menschen kommen aus insgesamt 140 Ländern, sprechen 224 verschiedene Sprachen und folgen unzähligen Glaubensrichtungen. L.A. ist vor allem eine lateinamerikanisch geprägte Stadt: Bereits 2000 stellten die 1,7 Millionen Lateinamerikaner fast die Hälfte der Bevölkerung von Los Angeles, die zweite Amtssprache ist bereits Spanisch.
Die Facetten der Multikulturalität kommen deutlich in der TV-Serie THE SHIELD (2002–2008) zu tragen. Eine Polizeistaffel kämpft im östlichen Los Angeles für Recht und Ordnung. Die teils dokumentarisch wirkende Serie weist auf soziale Probleme wie Armut und Drogenmissbrauch hin, Polizisten, die kein Spanisch können, sind aufgeschmissen, die alte weiße «Herrenrasse» ist vom Aussterben bedroht. Die Serie verzichtet auf vertraute L.A.-Bilder wie das Hollywood-Sign. Ihr L.A.-Kennzeichen ist die Völkervielfalt.
L.A. ist für viele die Stadt der Zukunft. Ihre Vielfalt hat sie zum Zukunftslabor für Urbanologen gemacht. Es heißt, alles was passiert, geschieht hier zum ersten Mal. Am Rande der westlichen Zivilisation gelegen, scheint L.A. das Miniaturmodell unseres Planeten zu liefern, in dem Singapur neben El Salvador liegt und Little Tokyo an die South Bronx grenzt. L.A. ist im wahrsten Sinne global und entzieht sich in dieser Vielfalt und Widersprüchlichkeit eindeutigen Beschreibungen. Zwangsläufig erscheint L.A. als idealer Schauplatz für die Episoden-Filme GRAND CANYON (1991), L.A. CRASH (2004) und CROSSING OVER (2009). Sie zeigen in einer Vielzahl von Geschichten die Vielfalt der Stadt. Wie in einer Versuchsanordnung treffen und bewegen sich hier Menschen im Sinne der Chaostheorie. Die Filme sind jeweils Miniaturmodelle einer neuen multikulturellen USA und Weltgeographie.
L.A. besticht durch seine Geschichtslosigkeit, Modernität und Flüchtigkeit. Schauspieler und Regisseur Dennis Hopper: «Alles ist irgendwie nur provisorisch gebaut. Man scheint hier nur auf das große Erdbeben zu warten. Warum also etwas Dauerhaftes bauen?» L.A. liegt in einem geologischen Risikogebiet. Durch die ständige Gefahr der Erdbebenzerstörung unterliegt die Stadt einer Unbeständigkeit und Wurzellosigkeit. Im Gegensatz zu den traditionsreichen wie geschichtsträchtigen Städten New York und San Francisco, ist in L.A. nichts von Dauer, die Stadt wird förmlich täglich geboren, die Stadt ist bereit, sich ständig zu wandeln. Alles scheint hier möglich.
Film und Stadtentwicklung gingen Hand in Hand. Immobilienkapitalisten propagierten zur Wende des 20. Jahrhunderts das Bild der mediterranen Idylle mit dem Traum vom Eigenheim. Die Millionenstadt wurde als künstliches Gebilde mitten in einer Wüstenregion geschaffen. Zur selben Zeit entwickelte sich die Filmindustrie. Filmemacher fanden hier die idealen Bedingungen für die Produktion: ein mildes Klima, vielfältige spektakuläre Szenerien für Außenaufnahmen mit Bergen, Canyons und dem Pazifik, niedrige Preise und keine gewerkschaftlichen Zwänge. Die junge gesichtlose Stadt war charakterlos, nichtssagend und universell zugleich.
1909 errichtete ‹Selig› das erste Studio nahe von Los Angeles. Hier produzierten sie die Western mit dem legendären Cowboy Tom Mix. Blake Edwards setzte ihm mit SUNSET – DÄMMERUNG IN HOLLYWOOD (1987) ein Denkmal. 1911 eröffnete mit der ‹Nestor Company› das erste Filmstudio im legendären Stadtteil Hollywood. Es kamen Filmemacher wie Cecil B. DeMille, Samuel Goldwyn und Adolph Zukor. Mit Carl Laemmles ‹Universal› entstand hier 1915 das erste spätere Major-Studio. So entwickelte sich die Filmproduktion zu einer eigenständigen Industrie mit entsprechender Technik und Spezialisierung. Laemmle gilt als Gründer von «Hollywood». Dies steht noch heute als Synonym der US-Filmindustrie, obwohl bereits in den 30ern einige Studios in die benachbarten Städte auswichen. Von den Major-Studios blieb bis heute nur Paramount im legendären Stadtteil Hollywood.
«Hollywood» machte L.A. im Laufe der Jahre zur «Stadt aus dem Film». Sie entwickelte sich zu einer künstlichen Stadt, deren Wirklichkeit durch die Bilder, die die Kulturindustrie produziert hat, verschleiert und potenziert wurde. Los Angeles wurde nicht nur erbaut, sondern förmlich vom ersten Schöpfungsmoment als Illusion erschaffen. Mike Davis kommentierte diesen irrationalen Zustand ironisch: «Hinter den zahllosen Rhetoriken und Luftspiegelungen existiert die Stadt vermutlich wirklich.»
Mike Davis schrieb mit ‹City of Quartz› (1990) die erste seriöse Stadtgeschichte, in der er in wesentlichen Teilen auf die Mythen als Realität einging. Er schildert darin die Entwicklung vom gigantischen Landrausch Ende des 19. Jahrhunderts bis zum kapitalen Kulturboom der 80er Jahre, der die Metropole endgültig zur Welthauptstadt kürte. Er beschreibt die Entwicklung als einen kulturellen Krieg um die Identität der Stadt. Davis ignoriert dabei das Offensichtliche der kalifornischen Traumlandschaft: Sonne, Surfen und Hollywood. ‹City of Quartz› sei zwar ein Sachbuch, lobte Science Fiction-Autor William Gibson, stelle aber sämtliche Cyberpunk-Romane in den Schatten.
Bereits 1933 schrieb der Satiriker Morrow Mayo:
«Los Angeles ist eben nicht bloß eine Stadt. Im Gegenteil, es ist und war immer eine Ware, etwas für das man Reklame macht und das man dem Volk der Vereinigten Staaten verkauft wie Automobile, Zigaretten und Mundwasser.»
Los Angeles ist das Synonym des «Kapitalismus schlechthin» und es war auch immer seine Herausforderung.
L.A.s Stadtgeschichte ist bestimmt durch eine Vielzahl Mythen vom pazifischen Eden zu Beginn des 20. Jahrhundert, der freien Freeway-Stadt der 50er und dem internationalen Neu-Byzanz der 80er Jahre. Seit dem Anti-Mythos des Noirs der 30er Jahre wuchs der apokalyptische Mythos des neuen Babylon: die Gründer-Lügen, die Künstlichkeit der Wüstenstadt und deren Raubau, sowie Hollywoods Hybris und Skandale ließen die Stadt zum Sündenbabel werden. Viele, vor allem puritanische, Menschen dachten, die Stadt hätte sich den Zorn Gottes auf sich gezogen.
Davis unterteilt die Stadtgeschichte in die Mythen-Phasen der Boosters, Entlarver, Noirs, Exilanten, Hexer, Kommunarden, Söldner. Davis prägte dabei selbst das Image des neuen Babylons.
Die «Booster» machten Los Angeles Ende des 19. Jahrhunderts zum gigantischen Immobiliengeschäft. Die Presse und Werbung schufen den Mythos vom mediterranen Paradies für weiße Kleinbürger des Mittleren Westens.
Aus dem winzigen Ort entwickelte sich binnen eines halben Jahrhunderts eine Millionenstadt. Klima und Sonne verhießen die gesunde Stadt. Im Vergleich zu Chicago galt L.A. als «smokeless city», doch allein der berühmt berüchtige Smog wurde in den 40ern zu einem der immer größeren Probleme.
Dem Zuwanderungs-Boom folgte eine Landgewinnung im Rahmen der Wasserverschwörung von 1905, die auch in CHINATOWN (1974) thematisiert wird. Drehbuchautor Robert Towne hat den Skandal 1937 angesiedelt, weil zu dieser Zeit die klassische Stadtstruktur von Los Angeles existierte. Großgrundbesitzer und Bösewicht Noah Cross (John Huston) sagt: «Wenn das Wasser nicht nach L.A. kommt, muss L.A. zum Wasser kommen.» Die Fertigstellung des Aquädukt führte zum Anstieg der Bodenpreise und zum Wachstum der Stadt Los Angeles mit dem San Fernando Valley, das zu Höchstpreisen an die Kleinbürger verkauft wurde.
Die aggressive Entwicklungspolitik schuf einen florierenden Wirtschaftsstandort, der sich zur größten und mächtigsten Stadt des Westens entwickelte. Die Missionsromantik mündete schließlich in eine stetig fortschreitende Urbanisierung, auch wenn die reich gewordene Mittelklasse mit Dienstboten und Villen den Kolonialstil vergangener Zeiten weiterführte. Und Hollywood erreichte mit seinen Bildern und Legenden zu diesem Wohlstand genug Menschen, die hoffnungsfroh nach L.A. zogen. Ohne natürliche Voraussetzungen und Standortvorteile entstand L.A. mitten in der Wüste.
Die Stadt boomte und begann auszuufern. Die vielen Einwanderer bildeten eine unvergleichliche kosmopolitische Vielfalt. L.A. war insbesondere für Farbige interessant, da sie hier im Gegensatz zu vielen anderen amerikanischen Städten Grund erwerben konnten. Zeitgleich kam es allerdings zu Ghettobildungen, da die weißen Angelenos ihre Viertel mittels harter Verträge oder Gewalt vor dem Zuzug von Schwarzen und Asiaten schützten. Außerdem entwickelten die aufsteigenden jüdischen Eliten jenseits von Downtown an der Westside ihr Machtmonopol, so dass kein typisches Stadtzentrum entstand.
Radikal gesinnte Journalisten gingen in den 20er Jahren als Entlarver gegen den Gartenstadt-Mythos der «Boosters» vor. Sie zeigten die Kehrseite der gewaltsam geschaffenen Stadt ohne urbanen Charakter auf.
Das so genannte «Riesendorf» wurde hämisch als menschenverschlingende künstliche Stadt ohne städtischen Charakter beschrieben, die von der ländlichen Kultur, den Ansichten und den Manieren ihrer provinziellen Bewohner geprägt sei. ‹Berlin Alexanderplatz›-Autor Alfred Döblin kommentierte: «In der Tat, man ist hier viel und ausgedehnt im Grünen – bin ich aber eine Kuh?» Gegen das negative Image musste das erschaffene Paradies-Image immer stärker behauptet werden, so dass sich immer stärker das paradoxe Image von «Himmel und Hölle» und «Stadt der Engel und Teufel» entwickelte.
In der großen Wirtschaftskrise der 20er verelendete und radikalisierte sich die Mittelschicht in Los Angeles stärker als irgendwo sonst in den USA. Der lange L.A.-Boom hatte sich aus dem Privatkapital des Mittelstandes genährt, das in Immobilien- und Ölspekulationen geflossen war. Nun waren die Kleinbürger bankrott, das Mittelstandsideal dahin. Das Bild vom Idyll verschwamm immer weiter und die Depression hatte einen neuen Mythos geboren: Der ‹Noir› zeichnete erbärmliche Schicksale der gebeutelten Mittelständler in James M. Cains ‹Wenn der Postmann zweimal klingelt›. William Faulkner (‹Golden Land›) sah im ewigen Sommer Kaliforniens unveränderliche, monotone, endlose Tage, die nie durch Regen oder schlechtes Wetter getrübt wurden. Bei Nathanael West (‹Der Tag der Heuschrecke›) ist Hollywood die «Müllhalde der Träume». Die ‹Noir›-Autoren malten das neue Image einer entwurzelten, städtischen Hölle. «Sie schrieben gegen den Mythos von ‹El Dorado› an und verwandelten ihn in sein Gegenteil, in den Mythos vom Ende des Traumes an den Ufern Kaliforniens.» (Davis).
Der ‹Film noir› der 40er Jahre stellte das Aufeinandertreffen zwischen dem ‹hard-boiled› Roman und dem deutschen expressionistischen Kino dar. Geographisch verlagerten sich die Handlungsorte von den Vororten des Mittelstandes nach Bunker Hill in Downtown. Der ‹Film noir› befasste sich dabei weniger mit sozialen Schichten als mit Kriminalfällen.
Während immer mehr düstere Kinovisionen entstanden, scheiterten Autoren wie Aldous Huxley (‹Brave New World›) und William Faulkner am Studiosystem oder Chester Himes (‹Lauf, Nigger, lauf›) am Rassismus der Studioleitenden. Die Welle pessimistischer Romane über L.A. als Stadt- und Rassenhölle setzte sich bis zu den modernen pervers-blutigen Abgesängen von James Ellroy (‹L.A. Confidential – Stadt der Teufel›) und kaltherzigen Westside-Jugend-Dramen von Bret Easton Ellis (‹Unter Null›) fort. Filmisch schlug sie sich in düsteren Zukunftsvisionen des entvölkerten L.A. in OMEGA MAN (1971) nieder und gipfelte in dem überbevölkerten, verseuchten L.A. in BLADE RUNNER.
Zwischen Hitlers Machtergreifung und McCarthys Hexenjagd wurde L.A. zum Exil vieler mitteleuropäischer Künstler und Intellektueller. Sie schufen den neuen Antimythos der «Unstadt».
Billy Wilder, Fritz Lang, Berthold Brecht und Albert Einstein erkannten die Reize des sonnigen Landes. Doch viele Emigranten beklagten die Abwesenheit einer europäischen Stadtkultur: keine öffentlichen Orte, keine historische Aura und keine Intellektuellen ihres gleichen. Sie empfanden L.A. als kulturelle Antithese zu ihren nostalgischen Erinnerungen an Berlin oder Wien. Allerdings lebten viele in Miniaturgesellschaften selbstauferlegter «Ghettos» in den Hügelvillen Pacific Palisades und klammerten sich an ihre alten Werte. In ihrer Ablehnung wurden sie Opfer des ‹Noir› und schrieben den Antimythos in literarischen und filmischen Konstrukten fort. Brecht entwarf sein Bild von «Himmel und Hölle», ohne aber jemals den wahrhaft «höllischen» Teil der Arbeiterunruhen gesehen zu haben, die zu dieser Zeit tobten.
Nach der Wirtschaftskrise entwickelte sich ein industrielles Zentrum, dessen Wachstum insbesondere von der Waffenproduktion während des Zweiten Weltkrieges angeschoben wurde. Die Luftund Raumfahrtforschung machte L.A. zu einem der wichtigsten globalen Wirtschaftsstandorte. Hier wurde die Atombombe entwickelt und auch die späteren «Star Wars»-Programme der ReaganÄra hatten hier ihren Ursprung.
Im «California Institute of Technology» (Cal Tech) in Pasadena sammelte sich seit den 20er Jahren das weltweit größte Potenzial an Wissenschaftlern. Im Umfeld der Wissenschaft keimten verschiedene Sekten-Religionen auf, so dass sich Physik und Metaphysik vermischten. Es gab keinen Widerspruch zwischen «echter» Wissenschaft und «echter» Religion. In diesem Klima fand Science Fiction-Autor L. Ron Hubbard den Nährboden für Dianetik, aus der schließlich Scientology entstand.
Im Klima der Kalten-Krieg-Hysterie entwickelten Künstler und Beatniks den avantgardistischen bunten «L.A. Look», es entstand das Image des ‹Endlosen Sommers› mit Surfen und Motorradfahren, die Beach Boys aus Hawthrone/L.A. schrieben den Soundtrack dazu.
Der Aufbruch der Avantgarde endete mit den Rassenunruhen im August 1965 in Watts. Der Aufstand der Schwarzen zeigte, dass der massenhaften Einbindung schwarzer Arbeitskräfte in die Rüstungsindustrie keine soziale Integration gefolgt war. Die Unschuld vom ‹Endlosen Sommer› war vorbei. Den blutigen Schlussstrich zogen die Hippie-Sektierer der Manson Family, die das berüchtigte Massaker an Roman Polanskis schwangerer Frau Sharon Tate verübten.
Kulturell überlebte nur das, was am tiefsten verwurzelt war. Die ethnischen Communities ließen zum Beispiel die Chicano-Wandmalerei aufleben. Die Konzentration der Subventionen und Investitionen in Downtown und der Westside schöpfte allerdings anderen Stadtteilen die Gelder ab. So entwickelte sich L.A. zum Kunstmekka des kommenden Jahrhunderts, wobei die internationale Kunstorientierung in ihrem übermächtigen Schatten die ureigene Szene verkommen ließ.
In den 70ern hatte L.A. trotz aller Schwierigkeiten ein hervorragendes Image als moderne Stadt mit Meer, Bergen, Auto-Dynamik und Bungalows für Jedermann. Der britische Design-Historiker und Pop-Papst Reyner Banham verabschiedete in ‹Los Angeles: The Architecture of the Four Ecologies› (1971) lobend den «klassischen Stadtraum».
Bürgermeister Tom Bradley sagte 1985: «So wie New York, London und Paris Symbole vergangener Jahrhunderte waren, so wird Los Angeles die Stadt des 21. Jahrhunderts sein.»
Millionenschwere Investitionen und Subventionen schufen einen Kulturboom mit Museen, Galerien und modernster Architektur. Die Kulturinvestitionen lösten eine Migration von internationalen Designern, Architekten, Malern, Komponisten und anderen Künstlern und Intellektuellen nach L.A. aus. Sie wurden genutzt, um den Boden von L.A. erneut wertvoll zu machen: Kulturstrategie als Landerschließungsprozess.
Die Stadt missachtete jedoch die eigene multikulturelle Identität der Communities mit «Roots & Folklore», da sie in externe Künstler bzw. besondere Künstlerviertel investierte: In den schwarzen Communities kratzten unzählige Rapper an dem schönen Schein. 1988 machte Niggers With Attitude – N.W.A. mit ‹Straight Outta Compton› medienwirksam auf die herrschende Gesetzlosigkeit in Compton aufmerksam. Doch Rap bekam einen zweifelhaften Ruf, da offen zu Gewalt aufgerufen wurde. Nachrichten von Schießereien verkaufen sich besser als nette Geschichten, und deshalb musste ein ‹Gangsta-Rapper› echt böse sein, um möglichst viele Platten abzusetzen. Und so prägten auch N.W.A. den Mythos, dass es in dieser korrupten, geldgierigen Stadt jeder schaffen kann. YouTube-Clips wie «Gangbangin Fo’ Life» geben ein zwiespältiges Bild von Gewalt und Ruhm wieder.
Durch Bradleys aggressive allgemeine Politik der Internationalisierung boomte die Stadt zunächst global. Derweil stürzte die schwarze und lateinamerikanische Arbeiterklasse in die Armut. Die Schwarzen wurden vor allem Opfer der Deindustrialisierung, die die Arbeitslosigkeit im Ghetto in die Höhe trieb. Viele Jobs sind für Schwarze schwerer zu bekommen als für fügsame illegale Immigranten, die «problemlos» als Gärtner, Hausmädchen oder in Reinigungstruppen arbeiten und eine «Billiglohnklasse» etablieren.
Die angestrebte Internationalisierung, die mit ausländischem Geld gefördert wurde, setzte aber den Ausverkauf der Stadt in Gang. So erhielt Japan in der «Nipponisierung» immer mehr Macht in Los Angeles. Eine ordentliche, gesunde Stadtentwicklung konnte nicht entstehen. Die Probleme der ungewohnt strukturierten Stadt, traten im Turbo-Kapitalismus schnell hervor. Die Schattenseiten der Stadt wurden mit BLADE RUNNER schlagartig weltberühmt.
Der Weg nach Westen ist ein Mythos der Landerschließung der USA. «Ich will nach Westen. Solange es ihn noch gibt», erklärt Sergeant Dunbar (Kevin Costner) in DER MIT DEM WOLF TANZT (1990) und beschwört damit den amerikanischen Pioniergeist der Freiheit.
Der Weg nach Westen ist verbunden mit dem Ideal der Freiheit. Der Weg bedeutete den Kampf mit der Wildnis. «The frontier» ist kein geographischer Raum, sondern als symbolischer Zustand der ewigen Landeinnahme Richtung Westen zu verstehen – bis nach Asien und am besten noch ins All. Sie geht einher mit dem amerikanischen Freiheitsverständnis und steht umgekehrt für den Utopienverlust Amerikas. Es ist «die hybride Vision eines Super-Expansionismus, der die Pioniere des amerikanischen Westens nur als sein Vorkommando sieht», beschreibt Filmautor Joe Hembus den allgemeinen Mythos, nach dem sich die Amerikaner bereits schon am Anfang des letzten Jahrhunderts in Japan sahen. John F. Kennedy stellte seine Politik unter den Mythos der ‹New Frontier› und auch unter Ronald Reagan lebte dieser Mythos der ewigen Expansion fort.
L.A. konnte jedoch als Weltstadt und Stadt des Kapitalismus der Herausforderung an den Kapitalismus nicht bestehen und zerbrach an den globalen Ansprüchen. Das sinkende Image der USA und der schwindende «amerikanische Traum» wurden insbesondere in L.A. sichtbar.
L.A. war machtpolitisch eine Stadt mit zwei Köpfen. Der lange Platzkrieg zwischen Downtown und Westside löste sich schließlich in funktionaler Sortierung der zentralen Orte auf: Downtown als internationales Finanzzentrum, Century City als Unterhaltungsindustrie mit den Filmstudios von Sony und 20th Century Fox und dem LAX als Luft- und Raumfahrtzentrale. Diese Sicherung diente den Eliten, um die staatlichen Fördergelder überproportional in der wiederbelebten Downtown und in der sich bereichernden Westside für sich zu vereinnahmen. Außerdem wollten sie sich gegen internationale Kräfte, speziell asiatische, schützen.
Die Internationalisierung und Kommerzialisierung der 70er Jahre hatte insbesondere für Asien die Markttüren geöffnet, Downtown geriet immer stärker in japanische Hand, westlich von Downtown wuchs Koreatown.
In STIRB LANGSAM (1988) residieren die Japaner bereits in einem Hochhaus in Century City über den Dächern der Stadt. Während einer Weihnachtsfeier überfallen europäische Terroristen eine japanische Firma, um Wertpapiere zu stehlen. Es wird sozusagen «Japan» in «Amerika» von der «europäischen Gemeinschaft» angegriffen – das Kapital ist entnationalisiert. Die Internationalisierung der Stadt bringt unangenehme Aspekte wie fremdes Kapital und Terrorismus mit sich, FBI und LAPD sind dabei zu doof, das internationale Spiel zu begreifen. Allerdings vergisst der Film, dass weder die USA noch L.A. jemals «Opfer» im Prozess der Internationalisierung, sondern aktive Teilnehmer waren.
Der Börsensturz in Tokyo 1990 machte den USA-Eliten bewusst, ein Kolonialstaat zu sein, dessen Machtzentrum in der Fremde liegt, unter Entsetzen wurde Columbia-Pictures an Sony verkauft.
Den Roman ‹Nippon Connection›, der als DIE WIEGE DER SONNE (1993) verfilmt wurde, schrieb Michael Crichton als «Weckruf für ein Amerika, das in Gefahr ist, eine Weltmacht zweiter Ordnung zu werden.» Vor dem Hintergrund einer geplanten Übernahme einer US-Computer-Chip-Firma durch einen japanischen Konzern geschieht ein Mord. Die Ermittlungen des schwarzen Cop Web Smith (Wesley Snipes) und seines weißen Partners John Connor (Sean Connery) führen durch die multikulturelle Stadtlandschaft von bunter und bedrohlicher wie fremder Vielfalt. Sie stoßen dabei auf einen korrupten und rassistischen Komplott von Staat und Wirtschaft. DIE WIEGE DER SONNE dreht sich um Rassismus. So versteht der tumb-patriotische Cop Tom Graham (Harvey Keitel) die Japaner nicht und beschimpft sie als «Perverse auf Weltklasse- Niveau». Am Ende lässt er sich genau von ihnen kaufen.
Die anfangs eingespielte Westernsequenz in einer japanischen Karaoke-Bar in Century City zeigt, dass der Western nur noch eine Illusion ist. Die Staaten Asiens erweitern hingegen ihre Grenzen gen Osten und haben an der Westküste der USA Fuß gefasst. Der Film zeigt eine «überfremdete» Stadt. Diese Form von natürlichem und hysterischem Fremdenhass minderte sich in den Filmen, so wurden Schwarze und Latino zu «normalen» Bürgern. Hingegen blieb ein stark asienfeindliches Bild, das noch in THE FAST AND THE FURIOUS (2001) Japaner als hinterhältige «Schlitzaugen» darstellte. Das fremdenfeindliche Bild gab es vor allem gegen Koreaner (siehe Kapitel «Exkurs Asiatische Feindbilder»).
Los Angeles gilt als die Autostadt schlechthin, ihre Struktur wurde seit der Erfindung des Automobils frühzeitig auf den Individualverkehr ausgerichtet.
«Mobilität» war in den 20er Jahren das Zauberwort, in den 40ern sorgten erste innerstädtische Autobahnen für freie Fahrt. Das öffentliche Verkehrsnetz expandierte 1925 und bot eine vorbildliche Struktur. Der 1928 spielende DER FREMDE SOHN (2008) zeigt ein weit verzweigtes Netz der ‹Red Car›-Tram. Das Netz aus Bussen und Bahnen wurde jedoch in den 40er Jahren durch eine Verschwörung von General Motors, die um ihre Umsätze fürchteten, torpediert. FALSCHES SPIEL MIT ROGER RABBIT (1988) thematisiert diesen verbrecherischen Vorfall: In dem 1947 angesiedelten ZeichentrickRealfilm-Noir will der böse Richter Doom (Christopher Lloyd) die Zeichentrickfiguren der Stadt zu einer Suppe verarbeiten, aus der Autobahnen gebaut werden sollen.
1963 gab die Stadt das Straßenbahnnetz auf, und das verbliebene Bus-System funktionierte nur noch lückenhaft. In den 70ern beendeten Rushhours und die Ölkrise die Vision der freien Autostadt. Der Autowahn wurde für die Luftverschmutzung mit Smog, den verkommenen Gemeinschaftssinn und die entleerten Innenstädte verantwortlich gemacht. 1974 wurde der Aufbau eines neuen Nahverkehrssystems beschlossen. 1990 fuhr die erste Metro auf der ‹Blue Line› oberirdisch von Downtown nach Long Beach.
Im Showdown von SPEED (1994) erlangte die brandneue U-Bahn der ‹Red Line› erste Berühmtheit. Sie kracht in die Baustelle der Station Hollywood Western Avenue und landet auf dem Hollywood Boulevard vor dem Chinese-Theatre Kino, an dem gerade 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM (1968) plakatiert ist. Mitten auf dem Hollywood Boulevard küsst sich das überlebende Liebespaar (Keenu Reeves & Sandra Bullock) zum ersten Mal: Öffentlicher Personennahverkehr kann so schön sein!
Die ‹County Metro Rail› hat bis heute fünf Linien ausgebaut. Sie verbinden bereits die West- und Süd-Küste mit dem Hinterland, Downtown und Westside haben jedoch keine Verbindung. VOLCANO machte diesen Punkt zur Diskussion: In einer Demonstration verlangen die zumeist lateinamerikanischen Angestellten ein solches System, um zu ihren «Herren» zu kommen. Diese befürchten das schnelle Kommen und Verschwinden der Gangster. Letztlich vereitelt ein Vulkanausbruch diese Diskussion, in dem er aufzeigt, wie gefährlich es ist, in einem erdbebengefährdeten Gebiet unterirdisch zu bauen.
Los Angeles wurde in funktionaler Stadtstruktur geschaffen, so dass jeweils reine Wohn- und Industriegebiete entstanden. So gibt es große Stadtteile aus einheitlichen Einfamilienhäusern und Gebiete wie die programmatisch getaufte Stadt ‹Industry›. Ein natürliches Wachstum wurde unterbunden, Einförmigkeit und Charakterlosigkeit bestimmen das Stadtbild.
Durch diese funktionale und sozialräumliche Trennung entwickelten sich einzelne voneinander unabhängige Stadtsegmente. Diese führten zur Ghettoisierung von South Central und Kolonisierung von Chinatown und Little Tokyo. Eine Verbindung gibt es auch durch den gering entwickelten öffentlichen Nahverkehr nicht. L.A. ist eine «Stadt der Städte», deren ‹Communities› nebeneinander von einer unsichtbaren Mauer getrennt stehen. Einheiten wie Koreatown sind ethnisch und wirtschaftlich selbstständig.
Die funktionale Struktur findet sich in GRAND CANYON, SHORT CUTS und PULP FICTION wieder. Los Angeles zerfällt hier in Segmente aus lauter autonomen Welten. Es gibt keinen sozialen oder kommunikativen Mittelpunkt. In PULP FICTION leben die Figuren jeweils in ihren eigenen Mini-Universen der Autos und Viertel. Die Funktionalität der Stadt spiegelt sich im begrenzten Aktionsradius und dem intellektuellen Fassungsvermögen der Figuren wider und führt zu einer grotesken Arbeitsteilung: Die Killer Jules und Vincent wissen zu töten, verstehen es aber nicht, wie man eine Leiche entsorgt. Hierfür wird der «Cleaner» Mr. Wolf als Krisenmanager bestellt. Er steht den beiden kaffeeschlürfend zur Seite und gibt eher banale Anweisungen.
Diese Funktionalität findet sich in vielen Genrestreifen wieder: In LEBEN UND STERBEN IN L.A. ist die Kriminalität von den schwarzen Zulieferern in South Central bis zum weißen Anwalt in Beverly Hills durchstrukturiert. In POINT BREAK stößt der Gangster Walker auf eine Verbrecher-Organisation, die sich AG-ähnlich aufgebaut hat – treffenderweise ist im, in New York spielen, Remake PAYBACK Verbrechen noch Familiensache.
Die Vervorstädterung durch die Bereitstellung von Land in den Außengebieten, wie im San Fernando Valley, setzte die «weiße Flucht» in die Vororte in Gang. Die Innenstädte wurden derweil als Enklaven der Armut zurückgelassen und setzten Stadtraum frei, den die schwarze Bevölkerung «besetzte». Infolgedessen entwickelt sich das jahrzehntelang schwarze South Central zum Latino-Gebiet. Stadtpolitische Maßnahmen versuchen kaum, diese Gebiete zu halten, und unterstützten lieber die Bodenspekulation im Hinterland.
Das in Downtown liegende Skid Row verkam seit den 30ern bis in die 80er völlig, so dass ein Großteil der Innenstadt für über 50 Jahre Niemandsland war. Und auch die reichen Büroviertel verwandelten sich nachts in eine Geisterstadt.
In den 90ern folgte die Renaissance Downtowns: Vorstadtpreise waren teuer, die Staus unerträglich und die Menschen wollten wieder in der Stadt leben. Gesetze zur Trennung von Büro- und Wohnhäusern wurden aufgehoben und kulturelle Anreize wie das Staples Center geschaffen. Mit städtischen und privaten Strategien wurden Bürogegenden zu beliebten Wohngegenden. Durch diesen Boom explodierten die Preise, und im Rahmen großer Luxussanierungen mussten Baracken und soziale Stätten Neubauten weichen, ohne dass die Obdachlosen von Hilfsprogrammen aufgefangen wurden. Der Boden ist wertvoll, die Menschen sind es nicht. LAND OF PLENTY (2004) und DER SOLIST (2009) zeigen dokumentarische Bilder von den ärmlichen Straßenunterkünften, die neben den Häusern der Reichen stehen. Arm und Reich prallen hier unmittelbar aufeinander.
Nach den Aufständen von Watts 1965 wurde die Aufrüstung in der Luft zum Eckstein einer Polizeistrategie für die ganzen Innercities.
South Central ist eine klassische Innercity. In fast allen US-Städten ist der Stadtkern rund um den Geschäftsbezirk, die «Innercity», die Gegend mit dem höchsten Anteil von Nicht-Weißen, der größten Armut, der höchsten Kriminalitätsrate und dem niedrigsten Bildungsniveau. Die Innercities sind die Reviere der Drogenhändler und Gangster; nationale wie kommunale Politiker haben angesichts der Häufung der Probleme und des chronischen Geldmangels kapituliert. Die Polizei nutzte militärische Technologie des Vietnamkrieges für seine Luftwaffe: Das ‹Astro-Programm› überwacht mit seiner Hubschrauberstaffel die Gebiete mit hoher Kriminalität. Rapper Ice-T nannte die Hubschrauber «Ghetto-Birds». Zur Luftüberwachung ist der Stadtraum mit Zahlen auf Dächern zum Zwecke der Überwachung von oben gerastert. Die Kritik, Krisengebiete von der Luft aus zu kontrollieren, was schon in Vietnam scheiterte, formulierte deutlich DAS FLIEGENDE AUGE (1983). «Hier herrscht Krieg. […] Das hier ist Vietnam», verkündet Polizeichef Gates 1988. Er bezieht sich damit auf den Kampf gegen die verfeindeten, lose verbundenen Supergangs Bloods und Crips in South Central und die lateinamerikanische Gang Vatos Locos in East L.A.
Ihren Ursprung haben die Gangs in den 40er Jahren. Sie dienten dem Schutz gegen rassistische Übergriffe von Weißen und sind also keine rein «schwarze Gefahr». Dem Rassismus folgten die zunehmende Arbeitslosigkeit und die ersten Riots in den 60ern. Nach der ersten Ganghysterie in den 70ern konnten die Latinos ihre interne Eskalation durch den Appell an die «Einheit der Chicanos» verhindern. Sie reduzierte die Zahl der Gangtoten in den 80er Jahren an der Eastside auf Null, bis im Rahmen der Crackwelle die Gewalt erneut eskalierte.
Der Krieg ging weiter und kostete bis heute rund 15.000 Menschen, zumeist Unschuldige und Jung-Erwachsene, das Leben. Der schwarze Problem-Bezirk Compton wurde zum Inbegriff von Rap, Gangs und Gewalt. Die ohnehin hohen Ausgaben für das Polizeiwesen wurden in den 70ern weiter erhöht, Arbeitsstellen wurden hingegen nicht geschaffen. Zur Rechtfertigung wurden Gangster dämonisiert. Lokalpolitiker sprachen von «mörderischen Milizen von Beirut» und zählten 100.000 Gangmitglieder, wobei neben den rund 10.000 echten «High Rollers» und «Stone Killers» auch «Pseudos» und Familienmitglieder mitgezählt wurden. So «wunderten» sich Kritiker, warum während der Riots von 1992, die Polizisten nicht reihenweise Opfer der Gangster-Armee wurden.