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SOS BELSER

Edgar Belser

SOS BELSER

Von den Höhenflügen und
Abstürzen meines Lebens

Bearbeitet von Franziska Schläpfer

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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

Für meine Kinder

»Hay que echar para adelante.
Para atrás, ni para tomar impulso

»Man muss immer vorwärtsgehen, nie zurück,
nicht einmal, um Anlauf zu nehmen.«

Inhalt

Vorwort

Frauen und Flieger

Kinderzeit

Lehrjahre

Wanderjahre

Venezuela

Studium

Heirat

Scheidung

Caracas

Schadeninspektor

Skandal

Daniele

Vorwort

Im Morgengrauen brach er auf und fuhr in seinem riesigen Camper von Lugano nach Zollikon. Stau vor Zürich, meldet er per Handy. Edgar Belser ist dennoch pünktlich. Steht da, eine imposante Erscheinung mit kahlem Schädel. Braun gebrannt, weißes Hemd. Ein Sommertag für den Venezolaner. Mein Fragenkatalog ist lang, der 78-Jährige schnell und konzentriert. Müde? Hunger? »Arbeiten wir weiter!« Auch nach zwei, nach drei, nach vier Stunden.

Im Eiltempo durchstreifen wir sein turbulentes Leben. Auswandern, um ein Vermögen zu scheffeln, hat ihn nie interessiert. Eine armselige Existenz fristen, um möglichst schnell wieder heimzukehren? Zu blöd. Edgar Belser hat in Venezuela »anständig« gelebt, Land und Leute gründlich kennen gelernt. Ein neugieriger Weltenbummler. Leistete sich bei jeder Geschäftsreise ein, zwei zusätzliche Tage, um Südamerika näherzukommen, dieser Mischung aus »Paradies, Fegefeuer und Karneval«. Er liebt seine Wahlheimat. Unzählige Straßen und Pfade hat er mit Auto, Lastwagen, Motorrad befahren. Flüsse mit Kanus, Motorbooten erkundet. Auf Hunderten von Pisten ist er mit seinen Sportflugzeugen gelandet – in Regenwäldern, Prärien, den Anden, an Meeresstränden.

Klingt das nach verbummeltem Leben? Der einstige »Taugenichts« brachte es nicht nur zum Maschineningenieur. Er hat für über dreißig Unternehmen hart gearbeitet, Tag und Nacht, wenn es sein musste. Belser korrigiert: »Seit meinem 25. Altersjahr arbeite ich nicht mehr, sondern übe eine Tätigkeit aus, die mir Freude macht.« Was ihn langweilte, tauschte er gegen Anregendes, Anspruchsvolleres. Ein Lebenskünstler.

Ein Händler auch. Kaufte nach Ende des Zweiten Weltkriegs den US-Soldaten Hemden und Zigaretten ab, um sie den Mitschülern profitabel zu verhökern. Tauschte Zigaretten gegen Schlangengürtel. Verkaufte seine Autos, Boote, Flugzeuge nur ungern ohne satten Gewinn. Ein Genießer sodann. Liebt feines Essen, luxuriöse Autos, wendige Flugzeuge, attraktive Frauen. Doch der Romantiker auf Glückssuche ist nicht der beste Menschenkenner. Zu gutgläubig, zu vertrauensselig. Er wurde ausgenutzt, enttäuscht, übers Ohr gehauen. Träume zerplatzten, Pläne zerschlugen sich, Projekte scheiterten. Edgar Belser trug es mit lateinamerikanischer Gelassenheit. »No hay mal que por bien no venga.« – »Es gibt nichts Schlechtes, das nicht für etwas gut ist.« Oder nach seinem ebenfalls spanischen Lebensmotto: »Man muss immer vorwärtsgehen, nie zurück, nicht einmal, um Anlauf zu nehmen.«

Selbst bei argen Abstürzen landete er auf den Füßen, rappelte sich auf, orientierte sich neu. Mobilisierte Willen und Verstand, nutzte seine handwerkliche Begabung: »Alles ist lernbar.« Ob Radios basteln, Wände streichen, Erdbebenhilfe leisten. Oder Sprachen lernen. Er hörte zu, entzifferte Zeitungsartikel, parlierte mit Taxichauffeuren – ein kommunikatives Talent. Mit der Mutter sprach er schweizerdeutsch; die deutsche Schriftsprache hat er nie richtig gelernt. Gelesen schon, Karl May, gewiss. Edgar Belser ist nicht Old Shatterhand. Ein Abenteurer durchaus, schnell zu begeistern, unerschrocken, naiv vielleicht, auch mal leichtsinnig – aber sein Flugzeug kontrollierte er lieber zweimal; bewusst ging er kein Risiko ein.

Nach der Rückkehr in die Schweiz notierte Edgar Belser seine Erinnerungen. Über zehn Jahre setzte er sich immer wieder an den PC. Ein genuiner Erzähler. Er berichtet anschaulich, unsentimental, humorvoll. »Alles basiert auf Tatsachen und eigenen Erfahrungen. Nichts ist erfunden.«

Während meiner Arbeit an seinem Manuskript schickte er mir ab und zu eine Mail: »Ich habe noch schnell etwas zusammengebracht über meine Erlebnisse als Pilot. Saludos de Heinz Edgar Belser.« – »Anbei eine Geschichte, an die ich mich gestern Nacht erinnerte. Vielleicht ist sie brauchbar.« Und wie! Es ist die anrührende Geschichte des herzkranken Buben Daniele. Belser, nicht zuletzt ein fantasievoller Helfer, hat für die lebenswichtige Operation alle Hebel in Bewegung gesetzt.

Es ist Nachmittag geworden. Edgar Belser setzt sich wieder hinters Steuer, er wird zum Nachtessen erwartet. »Drei Stunden Stau am Gotthard«, meldet er anderntags – und liefert ein paar Informationen und Geschichten nach. Ich schicke ihm die erste Fassung des Manuskripts – mit etlichen Fragezeichen. Er meldet sich nicht. Bestimmt auf Reisen, denke ich – und rufe erst Tage später an: Edgar Belser hat vor einer Stunde das Spital verlassen. Gallensteine.

Mit Galgenhumor schildert er die höllischen Schmerzen, die Operation, die Schwachheit nach sieben Kilo Gewichtsverlust. Meine Sendung liegt ungeöffnet in der Mailbox. Ich wünsche gute Erholung – und fürchte, die Verlegerin müsse ihren Produktionsplan ändern. Anderntags sind sämtliche Leerstellen gefüllt. Er hoffe, das meiste korrigiert und vervollständigt zu haben. »Mit den Daten hapert es.« In einer zweiten Mail schickt er mir lateinamerikanische Liebeslieder: »Besame mucho«, »Amor, amor«, »Solamente una vez«. »Perfidia« ist auch darunter. Belsers Leben in Musik.

Zollikon, im
Juni 2009

Franziska
Schläpfer

Frauen und Flieger

Was ich vorab sagen möchte

2003 verkaufte ich mein letztes Flugzeug, die Piper Lance mit total 2000 Flugstunden. Ich war 72 Jahre alt und hatte 18 500 Flugstunden hinter mir.

Drei Jahre früher war meine dritte Ehe am Ende. Alicia* blieb mit den Kindern in unserem Haus in der Innerschweiz, ich ging zurück ins Tessin. 2002 wurden wir geschieden. Ich lebte als zufriedener Junggeselle in San Nazzaro am Lago Maggiore, erstand ein gebrauchtes Wohnmobil, unternahm mit den jüngsten Söhnen Stefan und Walter diverse Reisen, besuchte in Venezuela Edgar-Reinaldo, den Ältesten, und die zwei Enkelkinder, verkaufte mein Haus in Caracas und erstand ein anderes im Fischerdorf Puerto Pirito.

2005 lernte ich Chiara kennen: Italienerin aus dem Veneto, verwitwet, eigensinnig, fünfzehn Jahre jünger, in Lugano zu Hause. Zehn Tage nach unserer ersten Begegnung zog ich zu ihr. Sie ist allerdings am liebsten unterwegs. Was mir ja auch gefällt. In ihrem neuen Mercedes-Camper fuhren wir durch die Schweiz und durch Europa. Reisten – ohne Camper – durch die USA. Chiara spricht nur Italienisch und ist froh, wenn ich mit meinen sieben Sprachen aus- und weiterhelfen kann. Ob ich noch Träume habe? Selbstverständlich. Reisen – am liebsten nach Indien und China.

Fliegen war das Schönste in meinem Leben. Am allerschönsten die Flüge in den Sonnenaufgang – jeden Tag, jahraus, jahrein. Ich war mit acht verschiedenen Sportflugzeugen in ganz Süd-, Zentral- und Nordamerika unterwegs, darunter mit dem aufregenden Wasserflugzeug Lake Buccaneer. Zahlreiche Kollegen kamen ums Leben, weil sie betrunken oder in schlechtes Wetter oder mit Maschinen flogen, die nicht hundertprozentig in Ordnung waren. Ich muss gestehen, dass ich oft feige war und nicht das kleinste Risiko wagte. Lieber verlor ich einen Tag.

Berufspilot hat mich nie interessiert. Ein Metier wie ein anderes. Man muss fliegen, auch wenn nicht alles perfekt ist. Einige Male kann man sich vielleicht weigern zu starten, wenn Technisches hapert, das Wetter schlecht, die Maschine überladen ist. Doch es findet sich immer jemand, der das Risiko eingeht.

Wie sehr genoss ich meine frühmorgendlichen Meditationsflüge. Die geschäftlichen Reisen. Die Taxiflüge für Freunde und Bekannte. Die Ferienflüge mit der Familie. Wie tröstlich der Gedanke, dass ein voll getanktes Flugzeug wartet, dass ich jederzeit wegfliegen kann: hoch in die Berge, übers Meer, auf eine Insel. Ich habe unendlich viele Sonnenauf- und -untergänge erlebt. Wunderbarste Wolkenformationen in allen Farbschattierungen. Fantastische Regenringe, rund wie Hula-Hoop-Reifen, nicht Regenbogen, wie man sie auf der Erde sehen kann. Ich schwebte mittendrin und fühlte mich dem Architekten des Weltalls nah.

Ich habe viel geliebt. Attraktivste Frauen. Müsste ich mich jedoch entscheiden zwischen Frauen und Flieger, ich würde fliegen wollen. Jederzeit. Heute noch.

*Alle Namen sind geändert.

Kinderzeit

Dramatische Geburt. Fremd im Tessin. Ministrant in Krisenjahren. Flugzeug-, Auto-, Radiobastler. Bubenstreiche, Lebensweisheiten und ein erster Kuss.

Ein Schrei und danach ein jämmerliches Geheul an diesem 19. Mai 1931 um 13 Uhr 55 im Kantonsspital Aarau. Mir wurden soeben beide Schlüsselbeine gebrochen, damit ich das Licht der Welt, später vielleicht sogar die Sonne sehen könnte. Ich wollte und wollte den warmen Bauch meiner Mutter nicht verlassen. Ein verspätetes Riesenbaby: 5040 Gramm schwer, 55 Zentimeter lang.

Ich war ein Missgeschick und nie wirklich willkommen. Das glaube ich noch heute. Mein Vater war fünfzig Jahre alt bei meiner Geburt und hatte bereits drei Kinder. Seine erste Frau war an der Spanischen Grippe gestorben, die zwischen 1918 und 1920 weltweit mindestens 25 Millionen Todesopfer gefordert hatte, 25 000 in der Schweiz. Kurz danach heiratete Vater meine Mutter. 1921 kam meine Schwester Hanna zur Welt, ich folgte zehn Jahre später. Mutter war bei meiner Geburt vierzig. Ob ich schon im Mutterleib spürte, dass draußen nichts Wünschenswertes auf mich wartete? Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Massenelend. Im Spital, wo ich meine ersten Tage interniert war, gefiel es mir ganz und gar nicht. Was immerhin einen Vorteil hatte: Ich brüllte so laut und ausdauernd, dass meine Mutter mich jeweils problemlos fand. Später klagte sie, mich mit meinem Gewicht nur mit Mühe herumtragen zu können.

Zweieinhalbjährig, bekam ich zu Weihnachten ein grellrotes Feuerwehrauto mit elektrischen Scheinwerfern und einer ausziehbaren Leiter. Zu dieser Zeit bröckelte das Glück meiner Eltern. Der Grund war so alt wie ich: Für die Zeit meiner Geburt hatte Mutter unsere Nachbarin gebeten, bei uns zum Rechten zu sehen. Anscheinend nahm die gut aussehende Witwe ihre Aufgabe etwas zu ernst, was Vater beglückte, Mutter aber betrübte. Ich war vier, als Mutter mit mir zu ihrer Schwester nach Zürich zog und Hanna ins Internat kam.

Das Feuerwehrauto ist meine früheste Erinnerung. Dazu kommen die sonntäglichen Spaziergänge im Park der Schuhfabrik Bally in Schönenwerd, der Aare entlang, zusammen mit meinem Poppeli, einem herzigen Rehpinscher, der, müde vom Laufen, auf dem Heimweg meist zu mir in den Kinderwagen durfte.

Nach der Scheidung ließ sich Mutter in Locarno Monti nieder. Vater besuchte uns regelmäßig. Wären die beiden nicht so starrköpfig gewesen, hätten sie vielleicht wieder zusammengefunden. Vater meinte: »Mutter ist ja weggezogen, will sie zurückkommen, ist sie willkommen.« Mutter sagte: »Zurück gehe ich nicht. Kommt Vater ins Tessin, ist mir das recht.« So blieb Vater im Norden, Mutter im Süden.

Sechs Jahre lang, zwischen acht und vierzehn, ministrierte ich täglich um sechs Uhr früh in der Kirche Madonna del Sasso. Das hatte seine Vorteile. Erstens gaben mir die Kapuziner-Patres nach der Messe eine Tasse Milchkaffee aus gerösteten Eicheln und den Viertel eines Brotes – damit war auch Mama geholfen, denn während des Zweiten Weltkriegs waren die Lebensmittel rationiert, und die Alimente des Vaters reichten nur knapp. Zweitens diente mir der Altardienst als plausible Ausrede, wenn ich verspätet zur Schule kam, ins Istituto Sant’Eugenio, von Schwestern des Klosters Ingenbohl geführt. Drittens bewunderten mich die Kameraden, weil ich Latein sprach – und warens auch nur die Messgebete.

Als Ausländer wahrgenommen zu werden, begleitete mich als Trauma durchs Leben. Es begann schon in der Kindheit. Mit Mama unterhielt ich mich auf Schweizerdeutsch. Meine Tessiner Lehrerinnen sprachen jedoch kein Wort Deutsch. Ich hatte enorme Mühe, etwas zu verstehen und verstanden zu werden. Man nannte mich »Züchin« oder »Tüderli«, gebräuchliche Übernamen für Deutschsprachige. Züchin bedeutete Zucchino, Blödling im übertragenen Sinn. Tüderli steht für das Schweizerdeutsche mit seinen vielen »ü« und »li«. Mutter lebte dreißig Jahre im Tessin, ohne Italienisch zu lernen. Sie verständigte sich auf Französisch, das die Tessiner in der Schule als Zweitsprache lernen – und war in Locarno und Umgebung die »Madam«.

Mit neun Jahren übte ich mich im Rollschuhlaufen, saß allerdings mehr auf dem Hintern. Überdrüssig, mir immer wieder neue Hosen kaufen zu müssen, stattete mich Mama mit einer echten bayerischen Lederhose aus. Vorne zwischen den Hosenträgern schimmerten zwei Edelweißblüten hinter einem Zelluloidfenster. Diese Hose verhöhnten meine Schulkollegen als das Lächerlichste auf Erden. Eines Tages ging das Plastikfenster kaputt, die Alpenblumen waren verloren. Mutter brachte die Hose zum Schuster und wünschte sich statt Edelweiß die Anfangsbuchstaben meines Names in zweifarbigem Leder – B und E. Nun hatten die Kollegen leichtes Spiel: Sobald ich auftauchte, begannen alle wie Schafe zu meckern: »BE BE BE BE BE …« Nach zwei Jahren war die Hose Gott sei Dank zu klein. Doch das Geblöke musste ich noch lange hören.

An meinem Italienisch gab es mittlerweile nichts mehr auszusetzen. Doch meine Ohren boten Gelegenheit zum Spott. Diese, von väterlicher Seite geerbt, konnten sich sehen lassen. Meine Kameraden verglichen sie mit einem Hasen – und nannten mich »Cünili«, eben Hase im Tessiner Dialekt. Dies alles machte mich wahnsinnig wütend. In der Deutschschweiz war ich der italienische, im Tessin der Deutschschweizer Ausländer. Später, in Südamerika, dann der Musiú – von Anfang an und auch nach 45 Jahren noch. Der Begriff kommt vom französischen Monsieur und wird für alle Europäer gebraucht. Die Nordamerikaner sind und bleiben Gringos, die Leute aus arabischen Ländern Turcos, jene aus dem Fernen Osten Chinos. Was vor allem die Japaner als Schimpfwort empfinden.

Ein erniedrigendes Gefühl, als Ausländer, als zweitklassiger Mensch zu gelten, wo immer ich war. Nirgendwo daheim zu sein. Ich reagierte allergisch auf jede Form von Nationalismus, lernte aber schnell, meine Weltbürger-Ideen für mich zu behalten, da die meisten halt doch mehr oder weniger eingefleischte Nationalisten sind. Erzählte ich später während eines Ferienaufenthalts in der Schweiz einem Eidgenossen von meinem Leben in Südamerika, ließ die Frage nicht auf sich warten: »Aber Sie wollen doch sicher für immer zurück in die Schweiz kommen?« Dass ich dies nicht wollte, verstand kaum jemand. Da steht einer und erkennt das Paradies nicht! Ziehen nicht viele Ausländer die Schweiz ihrer Heimat vor? Natürlich bewundere ich mein schönes, perfektes, sicheres, sauberes Heimatland, aber jedes Land hat seine Vor- und Nachteile – und mir gefiel es in Venezuela. Das Klima ist angenehmer, das Land grösser, die Natur unberührter. Der Einzelne lebt freier, was allerdings seinen Preis hat: Gestatten sich nämlich alle Leute mehr Freiheit, kann diese auch ab und zu auf die Nerven gehen.

Zurück ins Tessin. Als nach dem Krieg die ersten Douglas DC-3 in Magadino starteten und auf dem Flug nach Barcelona ganz nah vorüberdonnerten, hatte ich nur einen Wunsch: fliegen. Einmal nur. Schon als Siebenjähriger ließ ich Hunderte von Papierflugzeugen von unserem Balkon in den Rebberg des Nachbarn segeln, bis dieser reklamierte, er möge wohl Trauben, aber keine Flugzeuge zusammenlesen. Ein paar Jahre später baute ich mein erstes Modellflugzeug. Beim Jungfernflug vom Monte Bré Richtung Lago Maggiore kam es vom geplanten Kurs ab. Die Suchaktion mit Schulkameraden blieb erfolglos – und ich stellte die Fabrikation von Flugzeugen ein.

Die Kunst, sich den Verhältnissen anzupassen, bringt Vorteile: Das kapierte ich schon als kleiner Bub. Einmal, ich war acht, spedierte meine Mutter mich in ein Jugendlager nach Fusio, letzter Ort im Val Lavizzara, im Norden des Maggiatals. Aufgewachsen mit Deutschschweizer Küche, war mir das Essen eine Qual. Täglich kam Polenta auf den Tisch, die Tessiner Nationalspeise: Polenta mit Ziegenmilch, Polenta mit Schafmilch. Ab und zu Reis oder Teigwaren. Ich vermisste Kartoffeln, Gemüse, Cervelats, Wienerli. Am scheußlichsten schmeckte die Schafmilch.

Noch schwieriger als das Essen war, mit den Kumpanen auszukommen. Wie gesagt, als Deutschschweizer, also »Ausländer«, war ich nicht sonderlich beliebt. Im Lager bildeten sich schnell ein paar Gruppen. Jede baute am Bachufer Burgen. Ich hielt mich an eine Gruppe gleichaltriger und jüngerer Kinder. Regelmäßig überfielen uns ältere Schüler, zerstörten die Burgen, nahmen uns gefangen, banden uns an Marterpfähle, führten triumphierend Indianertänze auf und bespritzten uns mit Wasser und Sand, denn skalpieren konnten sie ihre Kriegsgefangenen nun doch nicht. Anderntags wiederholte sich das erniedrigende Spiel, die Prügeleien. »Bin ich lieber der Schwanz eines Drachens oder der Kopf einer Maus?« Diese – spanische – Frage lernte ich erst viel später kennen. Damals entschied ich mich intuitiv dafür, Schwanz eines Drachens zu sein, und lief zum Feind über. Ich musste die unbeliebteste Arbeit übernehmen: Wache halten. Aber ich gehörte der stärksten Bande an, die Misshandlungen hatten ein Ende.

Nach diesen Sommerferien in Fusio hatte ich das Glück – oder das Pech – zweimal in ein Skilager zu dürfen. Erst nach Arosa, dann nach Andermatt. Skiausrüstung und Kleider lieh Mutter von Bekannten aus, Reise, Aufenthalt und Skiunterricht finanzierten irgendwelche Kinderhilfsaktionen. Leider verrenkte ich mir beide Male gleich in den ersten Tagen den Knöchel und verbrachte die restlichen Ferien liegend. Mehr Pech als Glück also und trotzdem ein unvergessliches Erlebnis. Die schönsten Momente waren abends, wenn alle zusammensaßen und Soldatenlieder sangen.

Bevor ich zehn Jahre alt war, kam ich zweimal mit der Polizei in Konflikt. Aus alten Kinderwagen, die ich auf Müllhalden fand, baute ich Rennautos. Primitive, aber rassige. In diesen flitzte ich auf der Staatsstraße die drei Kilometer von Monti nach Locarno hinunter. Die Neigung war perfekt. Allerdings taugte das Holzbrett im Rücken, das ich als Bremse gegen die Räder drücken musste, bei höherer Geschwindigkeit nicht; so fuhr ich Slalom, um das Tempo zu drosseln. Die anderen Kinder bewunderten meine Kühnheit, was meine Selbstsicherheit stärkte.

Gut ging das nur, solange kein Auto in die Quere kam. Nachdem ich sogar das Postauto zweimal fast in den Straßengraben gezwungen hatte, wurde ich verpfiffen. Der Dorfpolizist sprach bei Mutter vor und beschlagnahmte meinen Rennwagen. Ich musste wieder einmal den Teppichklopfer hinter dem Kühlschrank verstecken. Von Hand waren die Schläge gut auszuhalten, denn Mutter schmerzte ihre Hand bald mehr als mir der Po. Mit dem Teppichklopfer lag die Sache anders. Oft musste meine ältere Schwester der Mama helfen, mich festzuhalten; deshalb mochte ich Hanni nie besonders. Als meine Mutter umzog – ich war schon längst erwachsen –, fand sie hinter dem Kühlschrank an die zwanzig Teppichklopfer.

Das zweite Mal verklagten mich Nachbarn bei der Polizei, weil ich mich mit Mutters Wäscheseil von einem Felsen unter unserem Haus über zwanzig Meter in eine Schlucht abseilte. Aus meiner Perspektive sah das Ganze harmloser aus als von der anderen Talseite, jedenfalls hatte niemand Verständnis für meine Initiative, das Klettern zu erlernen.

Einmal blieb mir keine Zeit, den Teppichklopfer zu verstecken. Mutter kam früher als erwartet von einem Konzert nach Hause und erwischte mich beim Soldatenspiel mit dem Nachbarsbuben. Wir besaßen eine Menge Soldaten. Allerdings nicht aus Blei, sondern aus Papiermaché. Aus Karl-May- Büchern wusste ich, wie die damaligen Gewehre mit Pulver und Blei zu stopfen und mit einem Feuerstein zur Explosion zu bringen waren. Mit hart erspartem Taschengeld hatte ich mir ein Pfund schwarzes Schießpulver erworben. In Mutters Schrank fand ich überzählige Vorhangröhren. Mit diesen plus Holz, Nägeln und Schrauben bastelte ich zwei Kanonen, füllte die Rohre mit Pulver, kaute Zeitungspapier, bis ich damit einen starken Pfropfen formen und damit das Pulver zusammenpressen konnte – sonst krachte es nicht, sondern verbrannte nur blödsinnig. Der Pfropfen diente gleichzeitig als Kugel; sie warf die feindlichen Soldaten prächtig um, ohne sie zu zerstören. Nachdem sie einige Zeit im Lazarett verbracht hatten, konnte ich sie wieder an die Front schicken.

Mit meiner Artillerie spielte ich nur, wenn Mutter weg war, und versteckte sie nach dem Krieg behutsam. Bis zu jenem unglücklichen Tag. Das Geschrei höre ich jetzt noch; erst schrie Mutter, dann ich, als sie mich mit dem Teppichklopfer traktierte. Am allertraurigsten war: Die schönen Kanonen landeten im Abfallkübel und das teure Pulver in der Toilette.

Meine anderen Hobbys waren beschaulicher. In Fachgeschäften bettelte ich kaputte Radios zusammen und experimentierte trotz Strom- und Fehlschlägen. Es gelang mir sogar, ohne genau zu wissen wie und weshalb, einen Apparat wieder zum Funktionieren zu bringen. Mutter war mächtig stolz; ich musste das Radio allen ihren Freundinnen vorführen.

Im Tessin besuchten Mädchen und Buben getrennten Schulunterricht. Einmal, es war in der ersten Primarklasse, stolperte ich auf dem Heimweg und schlug mein Knie auf. Ein Mädchen half mir, die Schulsachen aufzuheben. Ich fand die Geste überaus nett und die Siebenjährige wunderhübsch. Nächtelang konnte ich nicht einschlafen und träumte von diesem Erlebnis. Ich habe sie nie wieder gesehen. Dafür verliebte ich mich in eine blonde Schönheit meines Alters; die Holländerin schien mir das Erhabenste und Erstrebenswerteste. Während Jahren fuhren wir in derselben Drahtseilbahn von Locarno hinauf nach Monti; in der ganzen Zeit kam es zu einem oder zwei kurzen Wortwechseln. So scheu waren wir.

1940/41 lernte meine Mutter eine vornehme italienische Industriellenfamilie kennen, Juden, die vor den Nazis aus Mailand in die Schweiz geflüchtet waren. Eine außergewöhnliche Familie, die wir sehr bewunderten. Lucia, die zwanzigjährige Tochter, betete ich mehr an als meine Mutter die Madonna del Sasso. Dass in der Wohnung der Familie ein elektrischer Kühlschrank stand, schien mir wie ein Weltwunder. Meines Wissens besaß damals keine Schweizer Familie einen Eisschrank. Waren wir dort zu Besuch, konnte ich nicht nur Lucia anhimmeln, sondern bekam fast immer einen Eiswürfel. Eines Tages, es war mein Geburtstag, drückte meine Angebetete mir einen Kuss auf die Wange. Über eine Woche lang hütete ich mich, das Gesicht zu waschen. Ich fühle ihn noch heute, diesen ersten Kuss.

In der sechsten Klasse wurde ich mutiger und lud an langen Sommernachmittagen nach der Schule eine Angebetete mit dem Fahrrad auf Spazierfahrten ins Maggiadelta ein. Wir plauderten, wagten erste Küsse.

Einmal durfte ich in den Sommerferien nach San Nazzaro zu einer Freundin meiner Mutter. Verheiratet mit einem älteren Architekten, bewohnte sie ein prächtiges Haus am Lago Maggiore. Hier lernte ich Regula Lehmann kennen – und lieben. Die Tochter eines Hautspezialisten aus Basel brachte mir das Schwimmen bei. Ich vergötterte sie, mehr oder weniger verstohlen zwar. Ihr Vater stellte fest, dass ich an Urticaria, Nesselfieber, litt. War das Wasser kühler als 23 Grad, reagierte mein Körper innert weniger Minuten mit brennenden, stechenden Quaddeln. Ich sah monströs aus.

Das erste Jahr im Gymnasium am privaten Collegio Papio in Ascona schlug ich mich noch leidlich, doch schon im zweiten Jahr waren meine Leistungen so himmeltraurig, dass man mich hinauswarf. Ich durfte das Schuljahr nicht einmal wiederholen. Auch das öffentliche Gymnasium von Locarno wollte mich unter keinen Umständen aufnehmen. Es blieb nichts anderes, als die zweite Klasse der Oberstufe an der Sekundarschule zu absolvieren. Die schlimmste Strafe in diesem Jahr war, vom Klassenlehrer ins Schulzimmer der Mädchen geschickt zu werden, wo man allen erzählen musste, was man ausgefressen hatte. Danach hatte ich meine acht Pflichtschuljahre hinter mir. Für ein Studium taugte ich definitiv nicht. Das enttäuschte meine Mutter bitter.

Lehrjahre

Vom Taugenichts zum Seifenhersteller. Boheme in Neuchâtel. Feuerspiele. Wo bleibt das Gefühlsleben? Hotelfachschule und Kellner im »Club zur Geduld«.

Ich wollte eine Lehre als Radiotechniker machen, scheiterte aber schon an der Eignungsprüfung. Kein Musikgehör, lautete das Verdikt. Da dieser Lehrmeister neben dem Radiogeschäft noch Musikinstrumente verkaufte, suchte er jemanden, der die Instrumente auch stimmen konnte. In der Scuola d’Arti e Mestieri in Bellinzona machte ich eine Art Berufswahljahr, lernte Metallteile feilen, sägen, bohren. Das war langweilig, aber nicht übel. Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug nach Bellinzona. Dabei lernte ich die Tochter des SBB-Stationsvorstands von Gerra kennen. Verliebt reiste ich mehrmals zu ihr. Das Geld für die Fahrten sparte ich mir buchstäblich vom Munde ab und verzichtete an diesen Tagen einfach auf das Mittagessen. Doch das Mädchen zeigte mir die kalte Schulter.

So wandte ich mich halt wieder meinen Tüfteleien zu, bastelte mit kaputten Radios, baute sogar einen Sender zusammen, mit dem ich aus etwa dreißig Metern Entfernung meine Stimme zum Radio in unserem Haus übertragen konnte. Natürlich wusste ich, dass mein Tun illegal war. Was das Ganze doppelt interessant machte. Die nachbarlichen Freunde bewunderten mich.

Die Schule vermittelte mir eine Stelle als Feinmechanikerlehrling in Neuchâtel. Die Firma fabrizierte Telefonzentralen und elektrische Uhren für SBB-Bahnhöfe. Meine Mutter brachte mich hin, mietete in der Rue des Parcs ein Zimmer für monatlich fünfzig Franken. Dieses hatte sogar einen Balkon; Lavabo und WC befanden sich auf dem Gang. Vater gab mir monatlich ebenfalls fünfzig Franken, verlangte jedoch eine genaue Abrechnung; erst nachdem er diese genehmigt hatte, bekam ich das Geld. Schleckereien oder Kino lagen nicht drin. Die drei Mahlzeiten musste ich in der Kantine einnehmen: das Frühstück zu 55 Rappen, Mittag- und Abendessen zu je einem Franken fünfzehn Rappen. Um mir ab und zu einen kleinen Luxus leisten zu können, verzichtete ich auf Frühstück und Abendessen.

In Neuchâtel gab es diverse Haushaltsschulen, in denen Mädchen aus der Deutschschweiz Französisch und Kochen lernten. Am Sonntag hatten sie Ausgang. Es ergaben sich zwar Bekanntschaften, aber Nennenswertes entwickelte sich nie. Mehr Glück hatte ich in finanziellen Dingen. Die Stelle als uniformierter Platzanweiser im Kino Studio brachte mir zwei Franken pro Abend. Ich durfte mir zwischendurch auch den Film anschauen. Da jeder Film eine Woche auf dem Programm stand, konnte ich mir Stück für Stück zusammensetzen. Vier Monate ging das gut, bis ich eines Abends eine Freundin ins Kino schmuggelte und erwischt wurde. Weg war die Stelle.

In der Lehre musste ich tagelang Eisenblöcke zersägen und auf Maß feilen. Trotz der eintönigen Arbeit hielt ich mich recht gut. Bis zu jenem Tag, an dem man mich beschuldigte, die Fabrik in Brand gesteckt zu haben. Es ging mir damals wohl wie jedem jungen Mann, der älter scheinen will, als er ist. Ich rauchte, nicht weil es ein Genuss war, sondern um zu beweisen, dass ich erwachsen war. Wichtigstes Attribut des Lasters war ein Zigarettenanzünder (Streichhölzer waren zu vulgär). Dieser streikte eines Frühlingsmorgens auf dem Weg zur Arbeit – das Benzin war alle. Einige Tage zuvor mussten wir Lehrlinge eine Metallplatte auf den Hundertstelmillimeter präzis feilen. Für diese heikle Arbeit erhielt jeder eine Büchse mit etwas Benzin und einen Pinsel, um die Feile von den Spänen zu reinigen. Daran erinnerte ich mich, tröpfelte mit dem Pinsel vorsichtig ein paar Tropfen Benzin in den Anzünder – voilà, er funktionierte wieder. Mein Nachbar meinte, die Flamme könnte größer sein, nahm meinen Pinsel aus der Benzinbüchse und tropfte Benzin auf das Feuerzeug. Der Pinsel in seiner Hand wurde sofort zur Fackel. Der Kollege steckte ihn in die Benzinbüchse, um das Feuer zu löschen – und die Umstehenden bewunderten das Feuerwerk. Jemand meinte, man müsse die Büchse zu Boden werfen, um den Brand zu stoppen. Doch hier breitete sich das Feuer weiter aus und schwärzte Arbeitsbänke und Decke, erlosch dann aber ganz von selber, da wenig Benzin in der Büchse war. Der Skandal allerdings war perfekt. Als Brandstifter angeklagt, versuchte ich, meine Unschuld zu erklären. Niemand hörte zu. Ich landete auf der Straße. Aus Furcht vor Vaters Reaktion, ihn würde man ja bestimmt verständigen, zog ich aus meinem Zimmer aus, in der naiven Hoffnung, für meine Eltern unauffindbar zu sein. Ich schickte Vater auch keine Spesenabrechnungen mehr. Mit einem Kollegen mietete ich eine Mansarde für 25 Franken im Monat, zwölf Franken fünfzig pro Kopf.

Schneite es, verschlief ich, weil der Schnee auf dem schrägen Dachfenster das Zimmer verdunkelte. Öffnete ich das Fenster, um den Schnee wegzuräumen, stürzte ein Teil davon ins Zimmer, das ohnehin ungeheizt und schlecht isoliert war. Zum Glück gab es »bric-à-bracs«, Trödelläden mit günstigen Dingen aus zweiter, dritter, vierter Hand. Wir erstanden einen elektrischen Strahler, und als dieser zu wenig wärmte, einen Petroleumofen. Mit je drei Wolldecken en plus überwinterten wir. Auf dem Ofen ließ sich sogar kochen. Unsere Kenntnisse waren minimal, aber nach etlichen verbrannten, versalzenen, verkochten Speisen lernten wir auch das.