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Markus Mauritz, geboren 1956, ist promovierter Politologe und seit seiner Studentenzeit als Journalist unterwegs. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren führten ihn zahlreiche Reportage-Reisen kreuz und quer durch Europa. Jahrelang kommentierte er für verschiedene Zeitungen das politische Geschehen und berichtete über historische Ereignisse. Den 11. September 2001 erlebte er als leitender Redakteur in München. Der Autor weiß also sehr genau, worum es in seinem Kriminalroman geht. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit und lebenden oder schon toten Personen sind dennoch unbeabsichtigt und wären rein zufällig.

Markus Mauritz

Kubitsch
und der große
Scoop

München-Krimi

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August 2011

29. April 2011
13:30 Uhr

Am Ende gibt es kein Entkommen. Deshalb spielte es auch keine Rolle, dass sich Arthur Kubitsch verspätet hatte. Er stand ein wenig unschlüssig vor dem frischen Grab. Die Trauergemeinde war längst verschwunden, sofern sich überhaupt ein paar Leute zu Sandras Beerdigung eingefunden hatten. Sandra war immer einsam gewesen. Wahrscheinlich war sie auch einsam gestorben.

Kubitsch wusste es nicht. Er hatte Sandra seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sie einmal wie besessen geliebt, etliche verrückte Monate mit ihr erlebt, einige Artikel über sie geschrieben und dann aus den Augen verloren.

So war das damals im Sommer 2001, als alle Welt das grenzenlose Wachstum an den Aktienmärkten und anderswo mit immer noch tolleren Partys feierte und jedermann vom festen Glauben an die allein heilbringende Wirkung der Globalisierung durchdrungen war. Der Traum von einem globalen Dorf, das allen Menschen ein Zuhause bietet, endete sehr abrupt an jenem 11. September in New York. Seither hatte man sich in der neuen Welt-Unordnung weitgehend eingerichtet.

Kubitsch dachte nur noch selten an die alten Partyzeiten zurück. Erst der Anruf, dass Sandra tot sei, erinnerte ihn an das frühere Leben. Zu seinem eigenen Erstaunen konnte er dabei keinerlei Wehmut empfinden. Vielleicht hatte er Partys ohnehin nie sonderlich gemocht.

Kubitsch kamen die Blumen in den Sinn, die er eigens aus München mitgebracht hatte und die er noch immer in den Händen hielt. Achtsam wickelte er sie aus dem Papier und legte sie direkt vor das kleine Holzkreuz mit dem Schleier aus Billigsynthetik, das den Haufen Erde schmückte.

Der April war dieses Jahr viel zu trocken gewesen, und nun sog die Frühlingssonne noch den letzten Rest Feuchtigkeit aus dem Erdreich, das Sandras Körper für alle Ewigkeit bedecken würde.

Kubitsch dachte kurz an Sandras Schenkel und daran, ob denn deren Fleisch bis zuletzt hart und fest gewesen war. Nach zehn Jahren konnte man das nicht mit Gewissheit sagen.

Kubitsch beschloss, Sandra für immer als attraktive, junge Frau in Erinnerung zu behalten.

Er wusste aber auch, dass Sandra in ihrem Leben nie viel Glück gehabt hatte. Vielleicht hatte sie deshalb Selbstmord begangen. Am Ende gibt es eben kein Entkommen. Kubitsch verließ den Friedhof und fuhr zurück nach München.

11. September 2001
17:45 Uhr

So sieht das Ende aus. New York stand in Flammen. Die weltberühmte Skyline von Manhattan brannte und qualmte wie ein altes Müllkraftwerk. Arthur Kubitsch starrte abwechselnd auf den Fernseher vor ihm und auf Sandra, die heulend in einer Ecke des Sofas kauerte. Was er auf dem Bildschirm sah, war einfach unglaublich. An diesem Vormittag waren zwei Flugzeuge in das World Trade Center gerast. Seit ein paar Stunden waren dessen rauchende Türme live auf allen Kanälen zu sehen. Reporter berichteten von Tausenden von Toten und zeigten immer wieder dieselben Bilder einer weiß aufspritzenden gewaltigen Hochhausszenerie.

So etwas hatte die Welt noch nie gesehen. Zumindest nicht in Echtzeit. In New York wurde vor laufenden Kameras gestorben. Dennoch bezweifelte Kubitsch, ob Sandra die Fernsehbilder von jenseits des Atlantiks überhaupt wahrnahm. Jedenfalls warf sie ihm aus ihren verheulten Augen gelegentlich einen verächtlichen Blick zu, wenn er mit der Fernbedienung einen neuen Sender suchte. Eigentlich sollte er doch seine ganze Aufmerksamkeit ihr widmen.

Was Sandra an diesem Morgen erlebt hatte, war nämlich auch nicht ohne. Schon gar nicht aus Sicht eines Reporters. In dem Institut an der TU, in dem sie arbeitete, hatte jemand in der Nacht zuvor einen ihrer Kollegen ermordet. Kubitsch hatte den jungen Mann sogar flüchtig gekannt. Ein hochnäsiger, blasser Typ mit strohblonden Haaren, den ihm Sandra vor ein paar Wochen auf einem Empfang vorgestellt hatte.

Kubitsch erinnerte sich gut daran, wie unwohl er sich damals unter all den Professoren und deren Ehefrauen und Assistenten gefühlt hatte, und dass Sandras Kollege ihm ziemlich unsympathisch gewesen war. Nun hatte ihn also jemand umgebracht. Kubitsch verkniff sich zu fragen: »Weiß man schon, wer ihn ermordet hat?« Das hätte zu brutal geklungen, dachte Kubitsch. Daher sagte er: »Weiß man schon, wer’s war?«

Sandra blickte ihn wütend an. Das Taschentuch in ihrer Hand war nur mehr ein feuchtes Knäuel, aber allmählich hörte sie auf zu weinen. Der Rock ihres Kostüms war ihr über die Knie gerutscht. Das sah wegen ihrer kräftigen Oberschenkel ziemlich unvorteilhaft aus. Nun zog sie etwas unentschlossen an dem Stoff.

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie, »und nenn mich nicht ständig Sandra!« Kubitsch war sich nicht bewusst, sie Sandra genannt zu haben. Vor allem glaubte er nicht, dass die Polizei noch keine Spur vom Täter haben sollte. Er hatte schon eine Menge Gerichtsreportagen geschrieben. Die meisten dieser Verbrechen waren ziemlich schnell aufgeklärt worden. Aber solche Argumente ließ Sandra normalerweise nicht gelten. Kubitsch sagte daher nichts.

Als er eine Weile mit der Fernbedienung nach neuen Bildern aus New York gesucht hatte, meldete sich Sandra erneut vom Sofa aus: »Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn man mich Sandra nennt. Sandra klingt nach deutscher Tussi! Aber ich bin keine deutsche Tussi!«

Kubitsch wusste, dass Sandra eigentlich Aleksandra Schiwkowa hieß. »Mit ks, nicht mit x«, war einer ihrer Standardsätze. Sie war vor einiger Zeit aus Bulgarien gekommen und hatte als Computerexpertin in München rasch Karriere gemacht.

Anfangs fand Kubitsch es ziemlich sexy, dass sie teure, aber zu enge Röcke trug, über deren Bund sich die Haut in einer runden Falte wölbte, und dass sie über Dinge sprach, von denen er kein Wort verstand. Aber mittlerweile hatte er die Nase voll von ihrem Getue, wenn er eine Schallplatte mit gutem, altem Rock’n’Roll hören wollte, und von ihren Seufzern, wenn er nicht wusste, für was eine serielle Schnittstelle gut war.

Wieder krachte eines der beiden Flugzeuge in den Wolkenkratzer und sorgte für weißen Qualm unter einem makellos blauen New Yorker Himmel. Für einen Moment hing eine rotgoldene Feuerkugel wie ein ekelhaftes Geschwür an der stolzen Fassade. Aus dem Hochhausturm daneben quoll es bereits zäh und giftig. Schnitt. Verwackelte Bilder zeigten Menschen, die um ihr Leben rannten. Männer in weißen Hemden und dunklen Anzügen, Frauen in pastellfarbenen Kostümen, wie sie Sandra meistens trug, wenn sie ins Institut ging. Aus dem Off hörte man entsetzte Rufe.

Sandra kümmerte sich nicht um die brennenden Zwillingstürme in Manhattan. Der ganze Angriff auf das World Trade Center war ihr ziemlich egal. Sie wollte stattdessen über ihren toten Kollegen sprechen und wie sie ihn an diesem Morgen gefunden hatte.

Sandra war wie üblich als erste im Institut gewesen und hatte zunächst einmal Kaffee aufgesetzt. Typisch für dich, du Streberin, dachte Kubitsch, aber er sagte kein Wort. Vielmehr hörte er sich die Geschichte zum dritten oder vierten Mal an. Er war froh, dass Sandra endlich mit dem Heulen aufgehört hatte, und dass sie ihn nicht länger angiftete.

»Als ich die Tür zu seinem Büro aufmachte, lag er auf dem Boden. Und das viele Blut um ihn herum! Wie in einem Schlachthof!«

Sandra machte eine Pause. Kubitsch wusste ohnehin, was jetzt kam. Erst habe sie ihren Kollegen gar nicht erkannt, so entsetzlich habe er ausgesehen. Aber als sie neben ihm kniete, um vielleicht noch zu helfen, habe sie gesehen, dass es Waldemar Neumann war. Ausgerechnet Waldemar, mit dem sie sich so gut verstanden hatte. »Und sein Gesicht war ganz weiß«, sagte Sandra, »weiß wie Schnee.« Dann begann sie wieder zu heulen.

Klar, dachte Kubitsch, was sind schon Tausende von Toten im Fernsehen, verglichen mit einem Kollegen aus Fleisch und Blut, den man gemeuchelt unterm Schreibtisch findet. Aber irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass es ihm diese Tausende von Toten in New York morgen ziemlich schwer machen würden, seinem Chef die Waldemar Neumann-Geschichte schmackhaft zu machen.

An normalen Tagen wäre das eine Story für die Seite eins mit genüsslich breitgewalztem human touch. So mögen es die Leser morgens auf dem Weg zur Arbeit. Und für ihn wäre ‘ne schöne Stange Zeilenhonorar drin gewesen. Aber nach diesen Flugzeugattentaten reichte es wohl nur für einen Bericht im Lokalteil. Das war Kubitsch klar.

Im Fernsehen redeten unterdessen die Korrespondenten aus New York und Washington wie die Kriegsberichterstatter. »Die USA sind heute vor den Augen der ganzen Welt von einer beispiellosen Terrorwelle überrollt worden«, sagte einer der Reporter in sein Mikrofon. »Die Terrorangriffe haben die Welt erschüttert. Sie trafen zwei Bastionen der wirtschaftlichen und militärischen Supermacht USA: das Finanzzentrum Manhattan und das Pentagon in Washington«, tönte es aus einem anderen Sender. Alles deute auf Islamisten als Täter hin, weswegen der Bericht mit der schwerwiegenden Frage endete: »Wann schlägt das Imperium zurück?« Das Imperium waren die USA, das brauchte der Reporter seinen Zusehern in Deutschland nicht zu erklären. Dann erschien auf dem Bildschirm wieder das Gesicht des Moderators im Studio, der sehr betroffen in die Kamera blickte.

Allmählich begannen sich die Texte zu den Bildern auf allen Kanälen zu ähneln: »Ziele der Angriffe waren die Symbole der amerikanischen Macht: die Millionenstadt New York und die Hauptstadt Washington. Zwei in den USA entführte Passagierflugzeuge rasten am Morgen innerhalb von 18 Minuten ins World Trade Center in New York. Beide Türme fielen in sich zusammen. Kurz nach dem Anschlag stürzte ein ebenfalls entführtes Flugzeug auf das Verteidigungsministerium in Washington. Eine vierte Maschine stürzte bei Pittsburgh ab. Offenbar sollte sie den Präsidentenlandsitz Camp David treffen.«

11. September 2001
19:00 Uhr

Das ZDF hatte keine neuen Bilder. Die immer wieder gleichen Aufnahmen wirkten auf Kubitsch inzwischen ein bisschen wie die Wiederholungen der schönsten Bundesligatore samstags in der Sportschau, nur dass es die dann in Zeitlupe gab. Eigentlich hatte er an diesem Abend in ein Konzert der Al Jones Blues Band gehen wollen. Aber daraus würde nichts mehr werden. Nicht wegen der Bilder im Fernsehen. Da kommt nichts Neues mehr, dachte Kubitsch.

Er würde nicht ins Konzert gehen, weil Sandra in einem mittlerweile ziemlich zerknautschten Kostüm auf dem Sofa saß und über ihren toten Kollegen reden wollte und über den jämmerlichen Anblick, den dessen Leiche geboten hatte. Und darüber, wie die Polizei sie in die Mangel genommen hatte. Sie war schließlich die Hauptzeugin in einem Mordfall. Deshalb würde Kubitsch heute zu Hause bleiben und nicht zur Al Jones Blues Band gehen. Und auch deshalb, weil es eine Chance gab, noch ein paar Infos aus Sandra herauszukitzeln, die keiner seiner Kollegen bei den anderen Zeitungen haben konnte, wenn er morgen einen Artikel über den Mord in der TU schreiben würde.

Waldemar Neumann war erstochen worden. Jemand hatte ihm ein Messer in den Bauch gerammt Als Sandra ihn fand, lag er tot und zusammengekrümmt auf dem Boden. Der Hieb hatte zugleich ein Stück Darm durchtrennt, dessen Inhalt mit viel Blut aus Neumanns Unterleib gequollen war und den Geruch eines frisch geschlachteten Tiers verbreitet hatte. So beschrieb es Sandra immer wieder. Kubitsch hatte keine Ahnung, wie ein frisch geschlachtetes Tier riecht. Aber genau so würde er es morgen in seinem Artikel formulieren.

Kubitsch hatte das Szenario genau vor Augen. Die Assistenten-Büros hatte er zum ersten Mal gesehen, als er Sandra vor einem halben Jahr kennenlernte. Er sollte damals eine Reportage über junge Wissenschaftler aus Osteuropa schreiben. Schon am Telefon, als er sich mit Sandra verabredete, fand er ihren Akzent hinreißend.

Er traf sich mit ihr im Institut und konnte während des Interviews seine Augen nicht von ihren kräftigen Händen mit den blutrot lackierten Fingernägeln lassen. Anschließend hatte er sie zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Dann war sie ohne Umstände zu ihm nach Hause mitgekommen. Die Osteuropäerinnen sind einfach anders drauf, hatte er sich damals gesagt. So herrlich unkompliziert und gar nicht zickig.

»Ist dir denn sonst nichts in Neumanns Büro aufgefallen, als du rein-kamst? War da irgendetwas anders als gewohnt?«

Kubitsch hatte das Gefühl, dass Sandra langsam wieder ihre Fassung gewann, denn jetzt gab sie ganz ruhig zurück:

»Das haben mich die Polizisten auch dauernd gefragt.«

»Und was hast du denen gesagt?«

»Nichts, es war alles normal.«

»Sah es vielleicht so aus, als habe Neumann mit seinem Mörder gekämpft? War was umgestoßen oder kaputt?«

»Nein, da war nichts kaputt. Außerdem hätte sich Waldemar doch nie gewehrt! Waldemar war ein so sanfter und gutmütiger Mensch.«

Sandra tupfte mit dem Taschentuch unter ihrer Nase herum. Dann wiederholte sie: »Waldemar war so gutmütig. Denk doch an die Sarajevo Science Society. Das war seine Idee. Ohne Waldemar hätte es die Sarajevo Science Society nie gegeben.«

Kubitsch hatte sich oft geärgert, dass Sandra so viel Zeit mit Neumann wegen dieses Hilfsvereins zugebracht hatte. Es ging wohl irgendwie darum, Geräte oder Instrumente oder alte Computer, die an deutschen Unis ausgemustert wurden und die niemand mehr brauchte, zu sammeln und nach Bosnien zu schicken. Dort fehlte es den Hochschulen an allem, hatte ihm Sandra erklärt. Genauer hatte Kubitsch das nie wissen wollen, weil Sandra ihren Kollegen dann in den höchsten Tönen lobte. Und überhaupt, was ging ihn Bosnien an! Fand Kubitsch.

»Wenn’s keinen Kampf gab, heißt das doch, Neumann hat seinen Mörder gekannt? Ich meine, niemand lässt sich so einfach abmurksen! Männer wehren sich. Das machen sie aus Instinkt.«

Kubitsch erntete einen verächtlichen Blick und kam sich augenblicklich wie ein Idiot vor. Sandra hatte ihm oft genug erklärt, dass sie deutsche Männer für Weicheier hielt. Einer aus Bulgarien oder sonst wo von dort unten, der hätte sich gewehrt. So einer hätte wahrscheinlich selbst ein Messer in der Tasche gehabt und jeden Angreifer erledigt. Die Deutschen, die hätten doch keine Ahnung vom wirklichen Leben, sagte sie ihm immer wieder. Kubitsch wunderte sich seit einiger Zeit, dass er sich das gefallen ließ.

»Du bist wie diese Polizisten! Du kannst nicht aufhören zu fragen!« Sandra wurde langsam sauer. Kubitsch kannte diesen Tonfall. Aber er ließ nicht locker:

»Sag doch, hat er seinen Mörder vielleicht gekannt?«

»Weiß ich doch nicht, ob Waldemar seinen Mörder gekannt hat. An einem Institut ist ständig was los. Das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, aber da kommt immer irgendwer zur Tür rein und will was von einem. Irgendwelche Studenten, die bei ihrer Arbeit nicht durchblicken, oder irgendein Kollege, der was braucht, oder was weiß ich!«

Sandra schnaubte kurz durch die Nase, als wollte sie Luft holen, dann zeterte sie ziemlich sauer weiter:

»Denk doch nur daran, dass bei mir seit Wochen ein Aktenordner verschwunden ist. Den hat mir garantiert jemand geklaut. Und die Putzfrau war’s nicht, die kann damit sicherlich nichts anfangen!«

Kubitsch nickte. Sandra lag ihm seit geraumer Zeit mit diesem gestohlenen Ordner in den Ohren, und Kubitsch begriff zunehmend weniger, was es damit auf sich hatte. Gibt’s eben einen blöden Aktendeckel weniger, dachte er sich. Aber er sagte das nicht.

Auch Sandra hatte heute offenbar kein großes Interesse an dem verschwundenen Aktenordner.

»Ich kann mir das mit Waldemar nur so denken: Da klopft’s, dann steht einer da, und wenn der ein Messer rausholt und zusticht, hast du keine Chance!«

Für Kubitsch hörte sich das nun wirklich nach Balkan an. Zumindest wie er sich den Balkan vorstellte. Auf alle Fälle hatte das nichts mit den gesitteten Verhältnissen an einer zentraleuropäischen Uni zu tun.

»Kann denn Neumann in irgendeine Sache reingerutscht sein, dass ihm jemand einen professionellen Killer auf den Hals hetzt?«

»Vergiss es!«

»Irgendwelche krummen Geschäfte?«, fragte Kubitsch.

»Ausgeschlossen«, sagte Sandra überzeugt, »Waldemar hat nur für die Wissenschaft gelebt. Den hat sonst nichts interessiert.«

»Woran hat er zuletzt gearbeitet?« Vielleicht hatte Neumann eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, hinter der jetzt dunkle Mächte her waren oder der KGB oder der CIA. Ein guter Zeitungsartikel fällt und steht mit der Fantasie des Reporters. Alles ist wahr, was man hinterher nicht dementieren muss. Zumindest nicht sofort.

Kubitsch hatte den Eindruck, dass Sandra bei der Vorstellung fast gelacht hätte.

»Waldemar hat sich mit Computerechtzeitprogrammen beschäftigt«, sagte sie. Dann, nach einer Pause, fiel ihr aber doch noch etwas ein:

»In letzter Zeit habe ich Waldemar ein paarmal mit so seltsamen Typen gesehen. Die haben irgendwie nicht in die Uni gepasst. Wenn die kamen, durfte niemand zu Waldemar ins Büro. Da war Waldemar wie ausgewechselt.«

»Hast du das der Polizei erzählt?«

»Natürlich nicht. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Die haben so viel gefragt, dass ich gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf steht. Aber jetzt, wo du mich frägst, jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Was waren das für Typen?«

»Keine Ahnung.«

»Waren sie jung oder alt? Wie sahen sie aus?«

»Du bist wie diese Polizisten. Du kannst nur fragen! Was weiß ich, wie die aussahen. Mittelalt. Graue Anzüge. Irgendwie sahen sie ziemlich tough aus. Nicht so wie typische Deutsche. Mehr wie aus einem Film. Die sahen gar nicht echt aus.«

Das war doch was für den Anfang, dachte Kubitsch. Ein paar hartgesottene Männer mit grauen Anzügen. Kubitsch hatte sofort ein Bild von ihnen vor Augen. Er wusste, wie sie aussahen. Mit Sicherheit hatten sie breite Schultern und kurze Haare. Sie würden Trenchcoats tragen. Immer! Nicht nur bei Regenwetter. Sie würden nicht viel reden und sich mit kurzen Kopfbewegungen verständigen. Selbst betrunkene Fußballfans in der U-Bahnstation unterm Hauptbahnhof würden um diese Kerle einen weiten Bogen machen. Und solche Typen verkehrten also in letzter Zeit bei Neumann!

»Würdest du den einen oder anderen von ihnen wiedererkennen?«

»Schwer zu sagen. Ich glaube schon. Die waren richtig auffällig. Solche Männer merkt man sich. Soll ich das der Polizei sagen?«

»Auf keinen Fall! Ich mach das schon. Verlass dich auf mich! Ich schreib da morgen eine Riesengeschichte«, sagte Kubitsch.

»Weißt du, ich glaube, die Polizei hat mich irgendwie in Verdacht.«

»Unsinn«, sagte Kubitsch. »Was soll die Polizei dich in Verdacht haben. Ich check das morgen mit den Kerlen ab, die bei Neumann waren. Das wird ein richtiger Scoop. Und dann soll die Polizei die Typen finden. Dann bist du auf alle Fälle aus dem Schneider.«

Kubitsch sah die Schlagzeile schon vor sich: »Physiker-Mord – Spur führt in die Unterwelt«. Oder besser mit Fragezeichen: »Führt die Spur in die Unterwelt?« So passte die Geschichte zusammen.

Oder warum sonst sollte jemand dieses Milchgesicht ermorden wollen? Und warum sonst sollte ein moderner Mensch wie Neumann, der sich für – wie hatte Sandra das genannt? – Computerechtzeitprogramme interessierte, auf so archaische Weise ums Leben kommen?

Aber dann hörte er im Fernseher, dass die Flugzeugentführer in den USA auch nur mit Dolchen und Teppichmessern bewaffnet gewesen waren. Und trotzdem hatten sie ein Höllenfeuer verursacht, wie es sich ein Hollywoodregisseur nicht gruseliger hätte ausdenken können. Mit ein paar einfachen Messern hatten sie »eine glitzernde Ikone der Freiheit und des Wohlstands« zum Einsturz gebracht, wie der Sprecher im Fernsehen die Zwillingstürme immer wieder nannte.

12. September 2001
9:50 Uhr

Joachim M. Stachel war ständig in Bewegung. Selbst wenn er an seinem Schreibtisch saß, wirkte er wie ein Formel-1-Fahrer, der es nicht erwarten kann, endlich das Gaspedal voll durchzutreten, um allen davonzufahren. Und als Treibstoff warf Stachel ständig Tabletten gegen Sodbrennen ein. Auch an diesem Morgen, als Kubitsch zu ihm ins Büro kam, signalisierte sein wuchtiger Körper: Ich bin in Bewegung. Niemand hätte sagen können, wozu dies gut sein sollte. Klar war nur, Stachel war startbereit. Joachim M. Stachel war Chef der Lokalredaktion und der Schrecken aller, die mit ihm zu tun hatten.

»Kubitsch, was hast du in der Pipeline«, fauchte er statt eines »Guten Morgen« und ohne wirklich von seinem Designerschreibtisch aufzublicken. »Um halb elf ist Redaktionskonferenz. Da will ich von euch Geschichten zu diesen verdammten Anschlägen in den USA hören!«

»Geschichten zu den Anschlägen in Amerika? Wie stellst du dir das vor?«

Stachel überhörte den Widerspruch. Er teilte gern aus, war aber auch hart im Nehmen. Wahrscheinlich hielt er rüde Töne für normal. »Blödsinn, da gibt’s zehntausend Tote. Da sind bestimmt Deutsche drunter. Vielleicht sogar ein paar aus München. Also sogar mit ziemlicher Sicherheit. Da müssen wir was draus machen. Hintergrund. Gespräche mit Angehörigen. Fotos. Mensch, Kubitsch, hat dir denn keiner beigebracht, wie das Geschäft läuft!«

So ähnlich hatte sich Kubitsch das Gespräch vorgestellt. Stachel war seit zwei oder drei Jahren in München. Zuvor hatte er als Chefreporter bei einer Berliner Boulevardzeitung gearbeitet. Nach Bayern war er wegen der schönen Berge gekommen. Jedenfalls behauptete er das. Es gab aber auch das Gerücht, dass man ihn in Berlin gefeuert habe, weil er es mit den Tatsachen selten sehr genau nahm. »Die ganze Wahrheit passt sowieso nicht auf eine Zeitungsseite, deshalb gibt es immer nur die halbe Wahrheit zu lesen«, war einer seiner Lieblingssprüche, wenn bei der Redaktionskonferenz einer der jüngeren Kollegen mit irgendwelchen Bedenken ankam. Von Bedenken hielt Stachel nichts.

»Ich hab noch was Besseres. Das wird der totale Scoop«, sagte Kubitsch und versuchte, möglichst begeistert zu klingen. Stachel legte Wert darauf, dass seine Reporter mit Begeisterung an eine Geschichte herangingen. Stachel verzog seine Oberlippe, bis sein Gesicht wie eine Grimasse aussah, und wartete darauf, dass Kubitsch weitererzählte.

»In der TU hat man gestern einen jungen Wissenschaftler umgebracht. Wahrscheinlich steckt die russische Mafia dahinter. Vielleicht auch die jugoslawische. Ich muss das erst ausrecherchieren.«

»Ah, komm, das ist doch nicht juicy. Eine Story muss juicy sein!«, sagte Stachel, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, um Langeweile zu demonstrieren. Aber Kubitsch wusste, dass Stachel angebissen hatte.

»Die Geschichte ist absolut heiß. Der Typ hat irgendwas mit einem neuen Computerprogramm rausgefunden. Ich weiß das, weil, ich hab da eine Informantin im Institut sitzen. Der Typ wollte das Zeug an die Amis verkaufen oder an wen weiß ich! Das war total geheim. Top secret, verstehst du?«

»Was sind denn das wieder für Weibergeschichten? Informantin. Wenn ich das schon höre! Irgendeine Institutsmaus abgeschleppt?«

Stachel hing am Haken. Kubitsch spürte das genau.

»Nein wirklich, da müssen wir was draus machen. Das wird ‘ne Riesensache. Ich hab da Infos, an die kommen die andern nie ran. Das geht bis ganz oben. Das haben wir exklusiv.«

»Na gut. Erzähl mal! Zwei Minuten.«

Im Klartext hieß das, die Geschichte war praktisch im Blatt. Kubitsch rechnete kurz im Kopf: Wenn ihm Stachel neunzig Zeilen einräumte, waren das hundertvierzig Mark. Dazu noch zwei Fotos, eines vom Mordopfer, das musste ihm Sandra besorgen, ein anderes vom Tatort. Zur Not reichte auch eins von der Bürotür davor. Dann waren das schon zweihundertsechzig Mark. Natürlich würde Kubitsch den Artikel so schreiben, dass ein paar Fragen offenblieben, dann könnte er in den nächsten Tagen noch zwei- oder dreimal nachdrehen.

Wichtig war nur, dass die Polizei den Täter nicht allzuschnell zur Strecke brachte. Alles in allem würde ihm der tote Neumann einen runden Tausender einbringen. Nicht schlecht für einen unsympathischen Typen, dachte Kubitsch. Er musste Stachel nur noch ein paar saftige Brocken präsentieren, dann war die Miete für die nächsten zwei Monate so gut wie auf dem Konto.

Kubitsch zog die Luft geräuschvoll durch die Zähne, überlegte kurz und fing dann an: »Dieser Waldemar Neumann war so eine Art mathematisches Wunderkind. Also so einer wie der Bill Gates, sag ich mal. Der hat seinen Profs noch was vorgemacht. Ich weiß das alles von einer seiner Kolleginnen. Deswegen kam der auch auf dieses Wahnsinnscomputerprogramm. Eigentlich hätte das nun der Uni gehört, also praktisch dem Staat, denn er hat es ja in seiner Dienstzeit geschrieben. Jedenfalls hätte er es nicht verkaufen dürfen, weil das hätte man irgendwie auch militärisch nutzen können.«

Kubitsch hoffte, sein Chef würde ihn endlich unterbrechen, denn je mehr Unsinn er erzählte, desto mehr musste er sich später für seinen Artikel aus den Fingern saugen. Und für ein bisschen von dem, was er jetzt mit viel Verve vortrug, brauchte er hinterher entsprechende Anhaltspunkte. Auf Sandra konnte er sich dabei nicht verlassen. Die hatte selbst keine Ahnung. Vor allem das mit der Mafia hätte er vielleicht besser nicht gesagt, denn über kurz oder lang würde die Polizei den Täter schnappen, und das konnte dann weiß der Teufel wer sein. Besser war da der Aspekt mit der mathematischen Begabung. Denn natürlich versteht ein Computerexperte immer etwas vom Rechnen. Das brauchte man nicht zu beweisen. Außerdem ist Mathematik von Haus aus etwas Geheimnisvolles. Jedenfalls für die meisten Menschen. Und dass ein hoffnungsvoller, fleißiger Jungwissenschaftler hinterhältig ermordet wurde, das trieb jeder Oma die Tränen in die Augen. Mit einem solchen Stoff hatte Kubitsch nie Schwierigkeiten.

Deshalb verkniff er sich, nochmal mit den Mafiosi oder den Amerikanern anzufangen, die dieses Computerprogramm angeblich kaufen wollten. Das konnte nur ins Auge gehen. Stattdessen sagte er: »Also dieser Neumann war sagenhaft talentiert. Der hätte vielleicht eines Tages den Nobelpreis bekommen. Und sein Tod ist absolut mysteriös.« Damit war er aus dem Schneider, fand Kubitsch. Etwas in der Art konnte er schreiben.

»Na gut«, überlegte Stachel. »Wie sieht’s mit den Fakten aus?«

»Um elf ist ‘ne Pressekonferenz im Polizeipräsidium. Da geh ich auf alle Fälle hin. Und dann werde ich in der Uni recherchieren. Vielleicht erwische ich einen von den Profs oder irgendeine Sekretärin. Irgendwas finde ich schon noch heraus für die morgige Ausgabe.«

»Aber nicht wieder so ein Blödsinn wie damals mit deiner Schutzgeldgeschichte!« Stachels strenger Blick sollte heißen: ich vergesse nichts.

Kubitsch sah schuldbewusst zurück. Vor ein paar Monaten war er finanziell völlig abgebrannt gewesen. Seine Bank hatte ihm sogar das Konto gesperrt. Da war ihm Heidi Damberger eingefallen, die seit vielen Jahren in der Nähe des Ostbahnhofs einen Pizzaladen hatte. Italienische Pasta, das klang nach Schutzgeld, fand Kubitsch. In der Redaktionskonferenz erklärte er rasch entschlossen, er sei einer Bande von Erpressern auf der Spur, die bei den italienischen Restaurants kräftig abzockte. Stachel war begeistert. Die Geschichte käme als Anriss auf die Seite eins, sagte er. Nur Heidi reagierte nicht so, wie Kubitsch gehofft hatte. Sie war sogar ziemlich sauer. Niemand zahle Schutzgeld, sagte sie. Das sei in Deutschland undenkbar. Schon gar nicht in München. Man sei hier doch nicht in Palermo. Gut, sie habe ihm einmal erzählt, dass alle italienischen Köche beim selben Großhändler einkaufen müssten. Und sie wisse nicht, was wäre, wenn sie sich ihr Zeug woanders besorgen würden. Aber das habe doch nichts mit Schutzgeld zu tun!

Kubitsch war dann eine ganze Weile nicht mehr in der Redaktionssitzung aufgekreuzt, und um Heidis Il Giardino machte er auch längere Zeit einen weiten Bogen. Schließlich gab es genug andere Pizzaläden. Stachel sah ihn seither immer mit etwas Missmut an.

Jetzt war Kubitsch auf alle Fälle erleichtert, dass Stachel wegen der Mafiakiller nicht mehr nachgefragt hatte. Mit etwas Glück würde er das bis zum Abend vergessen haben. Immerhin waren da gestern in New York ein paar tausend Menschen ums Leben gekommen. Die Hintergrundgeschichten über die Angehörigen der Opfer aus München und die Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen draußen in Freising würden Stachel sicherlich den ganzen Tag in Bewegung halten. Wer konnte schon sagen, ob sich Stachel am Abend überhaupt noch an den toten Wissenschaftler erinnern würde? Was ist schon einer, verglichen mit so vielen, sagte sich Kubitsch. Er hatte das Gefühl, dass es Zeit war zu gehen.

Als er schon fast an der Tür war, rief ihm Stachel hinterher: »Achtzig Prozent müssen stimmen. Sonst nehm ich die Story nicht.«