Chrys Punzengruber
Die Suppe danach
© 2011 Chrys Punzengruber
Covergestaltung: Roland Hörmann
Coverfoto: Chrys Punzengruber
ISBN 978-3-902840-11-0
Herausgeber der E-Book-Ausgabe
Richard K. Breuer
Vienna
Austria
Daran habe ich noch gar nicht gedacht, was sich andere über meine linkische Schrift mit dem Bleistift denken könnten? Ich bemerke, wie langsam das geht, ganz anders als mit der Rechten freilich. Früher haben die Leute ja meine Handschrift bewundert, sind extra zu mir her gekommen und jetzt ist da mein Selbsturteil über das Gekrakel. Die abgenützte Lederjacke. Die vielen Erinnerungen, die durch meinen Kopf gehen und was rundherum passiert. Ich habe einen exponierten Sitzplatz hier im Wartebereich des Flughafens. Was ich alles sagen wollte, aber zuerst geht es doch um die Schrift.
Der Wechsel von blau zu weiß draußen wieder, unmerklich und plötzlich hat er stattgefunden. Schnee. Letztes Mal, also vor vier Jahren, waren da diese Enteisungsmaschinen oder Fahrzeuge, da hatte ich davor Lilith aus Györ geholt und mit ihr vor der endgültigen Trennung noch ein paar Tage in Wien verbracht. Dass ihr Name jetzt so schnell auftauchen würde, hätte ich nicht vermutet. Wie viel Aufmerksamkeit es doch verlangt, zu schreiben! Die Körperspannung. Immer noch die Entzündung am Auge. Eine Durchsage über die Enteisung des Flugzeugs auch diesmal. Noch vor zwei Tagen wäre das nicht nötig gewesen. In meinem Kopf eine kurze Unterhaltung mit der Nachbarin: es ist doch wohl eine Frau? Der Sitz zwischen uns ist frei. Sie zieht Rotz oder Schleim durch die Nase hoch und ich habe die Fantasie, dass sie hübsch ist, auch wenn ich noch gar nicht zu ihr hinübergeschaut habe, weil mich das hier so in Anspruch nimmt. Eigentlich ist es wie Meditation, aber da stellt sich wieder die Frage nach dem Anschlussflug.
Doch wieder diesen Rollstift verwenden anstelle des Bleistifts. Die Ohren, der Druckausgleich in Flugzeugen. Früher habe ich da immer Nasenbluten bekommen, deshalb muss ich aufpassen wegen der Trockenheit der Luft. Die Schleimhäute. Jemand hinter mir bekommt Tee. So viele Überlegungen: welchen Saft ich nehmen soll und wie das dann für den Magen ist und den Körper im Allgemeinen? Wenn ich nicht anders schreiben könnte als mit dieser linkshändigen Schrift, wie wäre das dann? Ob es auf andere wie eine Behinderung wirkt? „Viele kleine Wölkchen draußen“, dachte ich zuerst, aber es ist doch eine einzige, sogar endlos wirkende Wolkendecke. Ich trinke einen Schluck Apfelsaft. Die Frau neben mir hat gehustet und gleich fühle ich mich mit dem Klang ihrer Stimme verbunden. Dabei finde ich sie gar nicht hübsch, wie ich vorhin beim Hinüberschauen festgestellt habe. Aber es hat mir gefallen, wie sie mir wortlos und ohne mich anzusehen ihr Frühstückspäckchen gegeben hat, das sie nicht wollte. Die Wolken sind wie eine zweite Erdschicht. Es könnte auch die Oberfläche des Planeten sein, wenn ich nicht wüsste, dass sich darunter noch eine andere, die eigentliche Erdoberfläche befindet. Müdigkeit. Eine Durchsage bringt mich durcheinander und aufs Klo müsste ich auch. Diese ganz klein zusammengefalteten und einzeln verpackten Abfallsäcke sind sehr nett.
Die vielen Facetten eines Menschen. Als mich die Nachbarin beim Zurückkommen vom Klo wieder durchließ, war da ein Lächeln und ich dachte mir: „Sie ist ja doch hübsch.“ In der Halle beim Gate hatte ich gleich wieder geschaut, ob Frauen mit mir fliegen, die mir gefallen. Sie muss auch dort gewesen sein. Jetzt öffnet sie den Vorhang zur Business Class, um auf den Bildschirm vorne zu schauen. Meine Augen brennen. Die Enteisungsanlage hat mich an meine Operation vor drei Jahren erinnert. Die Flüssigkeit, welche auf die Flugzeuge gespritzt wird, kam mir schon beim letzen Mal vor wie dieses orange Mittel zum Desinfizieren, dessen Name mir nicht einfällt.
Nachdem ich hier in London den Flieger doch noch erwischt habe, bringen mich die jüdischen Leute nun genauso durcheinander wie damals auf dem Flug nach New York. Sie haben gefragt, ob das Flugzeug auf ihren Vater warten könne, weil er noch nicht herinnen sei. Mich hielt eine Security-Frau wegen meiner Wasserflasche auf und kontrollierte dann jeden einzelnen Gegenstand in meinem Rucksack und ich bekam Angst, den Anschlussflug zu verpassen. Karin kommt mich abholen, das kann ich nicht versäumen! Zugegeben, ich war davor absichtlich an den Flüssigkeitskontrollen vorbeigegangen, weil mir um die lächerlich teure Flasche Wasser leidgetan hätte. Ich konnte sie zwar behalten, aber das hatte seinen Preis. Jedenfalls bin ich jetzt hier und wir fliegen Karin entgegen. Ich hatte unser Flugzeug schon vom anderen aus da stehen gesehen und geahnt, dass es dieses sein würde. Startbahn.
Die Stimmungen der vergangenen Tage sind in mir. Ich schreibe das alles ohne Brille, lege eine Decke über meine Schenkel. Wo ist denn jetzt die Flugbegleiterin, die mich an Lea Anna erinnerte, deren Telefonnummer ich mithabe? Ich bekomme Tomatensaft und Knabbereien, aber da lenkt mich die alte Chinesin neben mir ab. Wieder ist ein Sitz frei zwischen dieser neuen Nachbarin und mir. Sie drückt am Bildschirm in der Rückenlehne des Sitzes vor ihr herum. Es riecht nach Essen und ich bin hungrig, aber welch ein Unterschied dennoch zum letzten Flug nach L.A. vor vier Jahren! Die fürchterlichen Alpträume damals und vor allem das unheimlich beklemmende Gefühl immer beim Aufwachen, als hätte ich mich umbringen müssen, um dem zu entkommen und auch immer wieder die Frage des Selbstmords. Ich verstehe die Durchsage nicht gut, aber ich kann zwischen Hühnerfleisch und Lasagna wählen. Lilly hieß die Flugbegleiterin, um die ich zu anderer Gelegenheit geweint habe und immer noch ist sie in mir, ihr tätowierter Körper, schlangenartig. „Wie soll ich mich je wieder von dieser Frau trennen?“, fragte ich mich, während wir uns beim ersten Treffen in einem Lokal unterhielten. Danach haben wir einander nie wieder gesehen. Schwarze Lederriemen hat sich der jüdische Mann um seine Arme und ein schwarzes Kästchen, eigentlich einen Würfel, an die Stirn gebunden und jetzt betet er, aber die Vorbereitungen haben sich genauso angefühlt, wie wenn SM-Leute ihre Praktiken ausüben. Irgendwie ist es befremdlich. Seine Ausstrahlung und vor allem der Blick sind warm und freundlich. Das erinnert mich allerdings an die Freundlichkeit mancher SM-Leute, die im Gegensatz zu ihrer Gier nach Lust und zu ihren schmerzhaften Praktiken zu stehen scheint. Ich würde gerne schon essen.
Nach dem Tablettabräumen denke ich an den Begriff Heimat in Verbindung mit L.A., wo ich mich immer so wohl gefühlt habe. In der Früh hatte mich der Fahrer von meinem jetzigen Wohnort im Schnee abgeholt und zuerst war sein Auto schon beim Herauffahren hängen geblieben, dann vor meinem Haus wieder. Jetzt bin ich müde. Pissen wäre auch gut – diese seltsame Tätigkeit an den Aborten.
Aufs Klo zu gehen war erleichternd. Die Chinesin neben mir dreht ihre Beine wieder nach vorne. Der Ozean ist jetzt unter uns. Wie sich meine Körperchemie und die Energie ändern, wenn ich nicht onaniere, aber es muss auch noch an etwas anderem liegen. Ob das da draußen nicht Wolken sind, sondern Eis? Grönland?
Beinahe hätte ich jetzt den Stift in die rechte Hand genommen. Die Faszination von Grönland und Alaska. Zu Hause auch diese Unmengen von Schnee und freilich sind die Gedanken schon wieder viel schneller, als ich schreiben kann. Die vielen kleinen tanzenden Lichtpunkte, wenn ich hinausschaue! Wie hieß die Deutsche, die damals das Zimmer in meiner Wohnung besichtigte und später Engelfotos bei einer Ausstellung auf dem Friedhof zeigte? Groß und aufrecht war sie mit einer interessanten großen Nase. Zur Vernissage trug sie ein rückenfreies Kleid. Ihr Vorname war Sarah und sie hatte diese gefährliche Kombination mit demselben Anfangsbuchstaben beim Nachnamen, wie Susan Sontag oder auch Susanne, die ich auf Hawaii treffen werde. Von Grönland nach Hawaii. Damals also diese Begeisterung für Sarah, obwohl sie mit ihrem Freund zusammenwohnte und sich ohnehin nicht mehr meldete. Nach Jahren schickte sie mir eine Einladung zu ihrer Ausstellung, und sie war auch bei meiner. Ob ihr die Leseprobe aus meinem Buch missfallen hatte, und sie deshalb nichts mehr von sich hören ließ? Alaska. Das Traumgefühl vorhin. Einmal sagte eine Prostituierte zu mir: „Do kaun i di scheh nemman“, und zwickte mich mit den Fingernägeln immer fester in die Brustwarzen. Danach auf der Heimfahrt war mir kotzübel. Draußen die fantastische Landschaft. Jetzt habe ich etwas verpasst.