Ist ja ganz nett, mögen Sie im Rückblick denken – aber soll das jetzt die Neuerfindung des Rades sein? Die richtigen Vorbilder, eine entmystifizierte Methodik, ein professionellerer Umgang mit Emotionen im Klassenraum? Nun, die Frage ist, ob das Rad überhaupt neu erfunden werden muss. Geht es in Sachen Pädagogik nicht vielmehr darum, sich vor Augen zu führen, dass Räder vor allem eines sein müssen, wenn sie gut funktionieren sollen: nämlich rund und nicht zu schwer, und am besten leichtgängig gelagert? Insofern brauchen wir die Schule keineswegs neu zu denken, wie Hartmut von Hentig einst titelte. Erst recht wäre jede reformaktionistische »Tyrannei des Augenblicks« verhängnisvoll. Fortschritt in Bildungsdingen, das ist weniger eine Frage der großen Entwürfe, als vielmehr der liebevollen, sachgerechten und mühsamen Arbeit am Detail – und dazu zählt auch die Korrektur der modischen Verirrungen von gestern. Eigentlich ist die Sache gar nicht so kompliziert: Die Schulpädagogik gehört von antipädagogischer Patina gereinigt, von konstruktivistischer Trübung befreit – und um psychologischen Feinblick bereichert.
So weit die gute Botschaft: Der Lehrer kann vieles selbst verbessern. Gewiss hat diese Nachricht auch eine fordernde Seite: Er muss es selbst in die Hand nehmen – sonst bleiben die Dinge so mittelmäßig und ärgerlich, wie sie sind. Aber das ist eben der Vorzug des Eigensinnigen: Er wartet nicht lange auf andere; er versucht selbst, sein Glück zu schmieden. Das heißt keineswegs, der Lehrerschaft den Schwarzen Peter zuzuschieben. Natürlich gibt es auch Institutionen, an die Forderungen zu stellen wären. Die Lehreraus- und -weiterbildung gehört praxisnaher gestaltet, die individuelle Förderung an den Schulen benötigt bessere personelle Ressourcen, die vorschulische Sprachförderung muss weiter intensiviert werden. Auf diesen Feldern werden und müssen andere kämpfen. Aber will man sich davon abhängig machen?
Die Schule als Kasernenhof, das ist für die meisten nur noch eine Erinnerung aus grauer Vorzeit; das Klassenzimmer als Selbstlernarena dagegen, da sind wir selbst Zeitzeugen – wie nämlich große Euphorie allmählich in Ernüchterung umschlägt. Die Hattie-Studie hat es noch einmal unterstrichen: Wirkungsmächtig sind vor allem personale Faktoren – und nicht strukturelle Größen. Dieses Buch ist deshalb ein doppeltes Plädoyer: für die gleichzeitige Rehabilitierung wie auch Psychologisierung des Pädagogischen. Es scheint an der Zeit, den Lehrer in einem geläuterten Licht zu sehen, ganz un-verschämt, als kundigen Anführer in Sachen Lernen, als eine Art Dirigent – etwa so, wie ein Zeitgenosse das Wirken Johann Sebastian Bachs beschrieb:
»[...] wenn Du ihn sähest, wie er auf alle Stimmen zugleich achtet und von dreißig oder gar vierzig Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält, dem einen in hoher, dem andern in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angibt; wie er ganz allein mitten im lautesten Spiel der Musiker doch sofort merkt, wenn irgendwo etwas nicht stimmt; wie er alle zusammenhält und überall abhilft und, wenn es irgendwo schwankt, die Sicherheit wiederherstellt; wie er den Takt in allen Gliedern fühlt, die Harmonie aller mit scharfem Ohre prüft [...]«
Ließe sich das Prinzip »effiziente Klassenführung« packender illustrieren? Lehrer sind doch mehr als Arbeitsblattverteiler oder Lernprozessbegleiter – es sind Menschenbildner! Gleich morgen könnte man also schon aufrechter, optimistischer und beziehungshaltiger unterrichten – das wäre ins Nützliche gewendete Empörung, das wäre konstruktiver Eigensinn, das wäre Einsatz für pädagogische Artenvielfalt. »Seid selbstbewusster!« und »Werdet zugewandter, zutrauender, zumutender!«, so möchte man der Zunft ermunternd zurufen, vor allem aber: »Bleibt skeptisch!« – denn es wird noch manches Bildungsgerede zu hören geben.
Sie stimmen meinen Überlegungen zu? Oder finden sie fragwürdig? Gönnen Sie mir ein Echo!
Dort finden Sie auch Belege und Literaturverweise zu diesem Text.