Drei starke Frauen
Roman
Aus dem Französischen von
Claudia Kalscheuer
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Trois femmes puissantes
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Éditions Gallimard, Paris 2009
© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2010
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eISBN 978-3-518-73870-2
Für Laurène, Silvère, Romaric
Und der, der sie empfing oder wie durch Zufall auf der Schwelle seines großen Betonhauses auftauchte, in einem schlagartig so starken Licht, daß es von seinem hellgekleideten Körper auszugehen und sich von dort zu verbreiten schien, dieser Mann, der klein und schwerfällig dastand und ein weißes Strahlen aussandte wie eine Neonleuchte, dieser plötzlich auf der Schwelle seines übertrieben großen Hauses erschienene Mann hatte, so sagte sich Norah sofort, nichts mehr von seinem Hochmut, von seiner Statur, von seiner früher auf geheimnisvolle Weise gleichbleibenden und dadurch unvergänglich wirkenden Jugendlichkeit.
Er hielt die Hände über dem Bauch gefaltet und den Kopf zur Seite geneigt, und dieser Kopf war grau, dieser Bauch wölbte sich unter dem weißen Hemd schlaff über den Gürtel der cremefarbenen Hose.
In einem kalten Lichtschein stand er da, wahrscheinlich vom Ast eines der Flammenbäume des Gartens auf die Schwelle seines protzigen Hauses gefallen, denn, so sagte sich Norah, sie hatte die Eingangstür nicht aus den Augen gelassen, während sie sich dem Gartentor näherte, und sie hatte sie nicht aufgehen und ihren Vater hinaustreten sehen – und doch war er vor ihr in der Abenddämmerung erschienen, dieser leuchtende und heruntergekommene Mann, der den Eindruck machte, als habe ein ungeheurer Schlag auf den Kopf seine harmonischen Proportionen zerstört, an die Norah sich erinnerte, und ihn in einen dicken, halslosen Mann mit schweren, kurzen Beinen verwandelt.
Regungslos beobachtete er, wie sie auf ihn zukam, und nichts in seinem zögernden, etwas verlorenen Blick verriet, daß er sie erwartete, daß er sie aufgefordert, ja inständig gebeten hatte (soweit ein solcher Mann, dachte sie, überhaupt fähig war, irgendeine Art von Hilfe zu erflehen), ihn zu besuchen.
Er stand einfach da, als habe er sich möglicherweise mit einem Flügelschlag von dem dicken Ast des Flammenbaums, der das Haus gelb überschattete, hinabgeschwungen und sei hart auf der rissigen Betonschwelle des Hauses gelandet, und allein der Zufall habe Norahs Schritte in diesem Augenblick auf das Gartentor zugelenkt.
Und dieser Mann, der jede von ihm ausgehende Bitte in ein an ihn gerichtetes Gesuch verwandeln konnte, sah zu, wie sie das Tor aufstieß und den Garten betrat wie ein Gast, der versucht, ein leises Unbehagen zu verbergen, eine Hand schützend über die Augen haltend, denn obwohl die Schwelle im Abendschatten lag, wurde sie dennoch durch seine seltsam strahlende, elektrische Erscheinung erhellt.
»Ach, du bist es«, sagte er mit seiner dumpfen, schwachen, im Französischen etwas unsicheren Stimme, obwohl er die Sprache hervorragend beherrschte, doch es hatte den Anschein, als habe die ständige eitle Angst vor bestimmten schwer zu vermeidenden Fehlern seine Stimme schließlich zittrig werden lassen.
Norah antwortete nicht.
Sie umarmte ihn kurz, ohne ihn an sich zu drücken, denn die beinahe unmerkliche Art, in der sich das schlaffe Fleisch an den Armen ihres Vaters unter ihren Fingern zusammenzog, erinnerte sie daran, daß er jede körperliche Berührung verabscheute.
Ein Modergeruch schien in der Luft zu hängen.
Ob dieser Geruch von den üppigen, erschlafften Blüten des großen gelben Flammenbaums herrührte, der seine Äste über das flache Dach des Hauses breitete und zwischen dessen Blättern dieser verschlossene, überhebliche Mann sich vielleicht eingenistet hatte, wie Norah unangenehm berührt dachte, und auf jedes kleinste Geräusch am Gartentor lauerte, um sich hinabzuschwingen und hart auf der Schwelle seines großen Hauses aus Rohbeton zu landen, oder ob er, dieser Geruch, vom Körper oder von den Kleidern ihres Vaters ausging, von seiner alten, faltigen, aschfahlen Haut, das wußte sie nicht, das hätte sie nicht sagen können.
Sicher war sie sich höchstens in dem, was er an diesem Tag, wie jetzt wahrscheinlich immer, dachte sie, trug, ein zerknittertes Hemd mit Schweißflecken, die Hose an den Knien grünlich verfärbt, abgewetzt und häßlich ausgebeult, sei es, weil er als zu plumper Vogel jedesmal hinfiel, wenn er auf dem Boden landete, sei es, so dachte Norah mit etwas müdem Mitleid, weil auch er letztlich zu einem verwahrlosten alten Mann geworden war, gleichgültig oder blind gegenüber Unreinlichkeit, obwohl er immer noch eine konventionelle Eleganz pflegte und sich in Weiß und der Farbe frischer Butter kleidete, wie er es immer getan hatte, und nie auf der Schwelle seines unfertigen Hauses erschien, ohne seine Krawatte festgezogen zu haben, egal aus welchem staubigen Salon er vor die Tür trat, egal von welchem verblühenden Flammenbaum er hinabflatterte.
Norah, die vom Flughafen kam, hatte ein Taxi genommen und war dann lange durch die Hitze gelaufen, weil sie die genaue Adresse ihres Vaters vergessen hatte und sich erst zurechtfand, als sie das Haus wiedererkannte, und sie fühlte sich klebrig und schmutzig, geschwächt.
Sie trug ein ärmelloses lindgrünes Kleid, übersät mit kleinen gelben Blumen, ähnlich jenen des Flammenbaums, welche die Schwelle des Hauses bedeckten, dazu flache Sandalen in dem gleichen zarten Grün.
Und sie bemerkte erschüttert, daß die Füße ihres Vaters in Plastikschlappen steckten – wo er doch immer seine Ehre darangesetzt hatte, wie ihr schien, sich nie anders als in blankgeputzten beigen oder eierschalenweißen Schuhen zu zeigen.
Vielleicht, weil dieser ungepflegte Mann jede Berechtigung verloren hatte, sie kritisch, enttäuscht oder streng zu betrachten, vielleicht, weil sie sich mit ihren achtunddreißig Jahren nicht mehr so sehr um das Urteil anderer über ihr Aussehen kümmerte, jedenfalls sagte sie sich, daß sie sich fünfzehn Jahre zuvor verlegen, beschämt gefühlt hätte, wenn sie verschwitzt und müde ihrem Vater unter die Augen getreten wäre, dessen Äußeres und dessen Haltung damals nie das geringste Zeichen von Schwäche oder von Hitzeempfindlichkeit aufgewiesen hatten, während es ihr heute gleichgültig war und sie ihr nacktes, glänzendes Gesicht nicht abwendete, um ihrem Vater zu verbergen, daß sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, es im Taxi zu pudern, und sie sagte sich überrascht: Wie konnte ich all das nur für wichtig halten, und, mit einer etwas beißenden, etwas nachtragenden Heiterkeit: Soll er doch von mir denken, was er will, denn sie erinnerte sich an grausame, beleidigende, von diesem überlegenen Mann leicht dahingesagte Bemerkungen, als sie und ihre Schwester ihn als Jugendliche besuchten, Bemerkungen, die alle ihre mangelnde Eleganz oder ihre ungeschminkten Lippen betrafen.
Sie hätte jetzt gern zu ihm gesagt: Ist dir eigentlich klar, daß du damals mit uns geredet hast, als wären wir Frauen und als hätten wir die Pflicht, verführerisch zu sein, während wir in Wirklichkeit Kinder und deine Töchter waren?
Das hätte sie ihm sagen mögen, ganz locker und fast ohne Groll, als wäre das alles bloß ein Ausdruck des etwas rüden Humors ihres Vaters gewesen, und sie hätte gewünscht, daß sie gemeinsam darüber lächelten, er eine Spur zerknirscht.
Aber als sie ihn in seinen Plastikschlappen auf der mit faulenden Blüten übersäten Betonschwelle stehen sah – Blüten, die er vielleicht selbst hinabregnen ließ, wenn er sich mit einem schwerfälligen, müden Flügelschlag von dem Flammenbaum herunterschwang –, da wußte sie, daß er sich ebensowenig darum scherte, sie zu mustern und ihr Aussehen zu beurteilen, wie er auch die unverhohlenste Anspielung auf seine bösen Bemerkungen von früher bemerkt oder verstanden hätte.
Seine Augen waren eingesunken, sein Blick abwesend, etwas starr.
Da fragte sie sich, ob er sich überhaupt erinnerte, ihr geschrieben zu haben, um sie bitten herzukommen.
»Gehen wir hinein?« fragte sie und hängte die Reisetasche über die andere Schulter.
»Masseck!«
Er klatschte in die Hände.
Der eisige, fast bläuliche Schimmer, der von seinem unförmigen Körper ausging, schien noch stärker zu werden.
Ein alter Mann in einem zerrissenen Polohemd und Bermudas, barfuß, eilte aus dem Haus.
»Nimm die Tasche«, befahl Norahs Vater.
Dann, an sie gewandt: »Das ist Masseck, erkennst du ihn wieder?«
»Ich kann meine Tasche selbst tragen«, sagte sie und bedauerte diese Worte sofort, denn sie konnten den Diener, der es trotz seines Alters gewohnt war, die unbequemsten Lasten zu heben und zu transportieren, nur kränken, weshalb sie ihm die Tasche dann mit solchem Ungestüm hinstreckte, daß er vor Überraschung wankte, ehe er sich wieder fing, sich die Tasche über den Rücken warf und gebeugt ins Haus ging. »Beim letzten Besuch war es Mansour«, sagte sie. »Masseck kenne ich nicht.«
»Was für ein Mansour?« fragte ihr Vater mit diesem plötzlich verwirrten, fast bestürzten Blick, den sie früher an ihm nie bemerkt hatte.
»Ich weiß seinen Nachnamen nicht, aber dieser Mansour hat viele Jahre hier gelebt«, sagte Norah, die spürte, wie ein klebriges, erstickendes Unbehagen allmählich von ihr Besitz ergriff.
»Dann war es vielleicht Massecks Vater.«
»Oh, nein«, murmelte sie, »Masseck ist viel zu alt, um Mansours Sohn zu sein.«
Und da ihr Vater immer verstörter wirkte und anscheinend sogar nah dran war, sich zu fragen, ob sie sich nicht über ihn lustig machte, fügte sie rasch hinzu: »Aber das ist wirklich nicht wichtig.«
»Ich habe nie einen Mansour beschäftigt, du irrst dich«, sagte er mit einem arroganten, herablassenden leisen Lächeln – erstes Zeichen der früheren Persönlichkeit ihres Vaters, und so enervierend dieses verächtliche kleine Lächeln auch immer gewesen sein mochte, es wärmte Norah das Herz, als sei es wichtiger, daß dieser selbstgefällige Mann weiterhin darauf beharrte, das letzte Wort zu behalten, als daß er recht hatte.
Denn sie war sich sicher, es hatte an der Seite ihres Vaters jahrelang einen Mansour gegeben, beflissen, geduldig, tüchtig, und wenn ihre Schwester und sie seit ihrer Kindheit auch nicht öfter als drei- oder viermal in dieses Haus gekommen waren, hatten sie hier immer Mansour gesehen, und niemals diesen Masseck mit dem unbekannten Gesicht.
Sofort nach dem Eintreten spürte Norah, wie leer das Haus war.
Es war inzwischen Nacht geworden.
Im großen Salon herrschten Dunkelheit und Stille.
Ihr Vater machte eine Stehlampe an, und ihr armseliges Licht, von der Art, wie Vierzig-Watt-Birnen es ausstrahlen, ließ in der Mitte des Raums einen langen Tisch mit einer Glasplatte aufscheinen.
An den rauh verputzten Wänden erkannte Norah die gerahmten Fotos des Feriendorfs, das ihrem Vater früher gehörte und das seinen Wohlstand begründet hatte.
Es hatten immer eine Menge Leute bei diesem Mann gewohnt, dem sein Erfolg viel bedeutete und der nicht wirklich großzügig war, hatte Norah immer gedacht, sondern vielmehr stolz darauf zu zeigen, daß er in der Lage war, all diese Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten und andere Verwandten zu beherbergen und zu verköstigen, so daß Norah den großen Salon niemals menschenleer vorgefunden hatte, ganz gleich zu welcher Tageszeit.
Immer hatten sich Kinder auf den Sofas gelümmelt, den Bauch nach oben gereckt wie sattgefressene Katzen, immer hatten Männer vor dem Fernseher gesessen und dabei Tee getrunken, waren Frauen zwischen der Küche und den Zimmern hin- und hergegangen.
Doch an diesem Abend zeigte der menschenleere Raum unverhüllt die Härte seiner Materialien, glänzende Fliesen, rohe Wände, schmaler Fensterstreifen.
»Ist deine Frau nicht da?« fragte Norah.
Er zog zwei Stühle von dem großen Tisch weg, stellte sie zueinander, überlegte es sich dann anders und schob sie zurück an ihren Platz.
Er schaltete den Fernseher ein und gleich wieder aus, noch ehe ein Bild erscheinen konnte.
Er lief mit seinen Schlappen über den Fliesenboden, ohne die Füße zu heben.
Seine Lippen zitterten leicht.
»Sie ist verreist«, kam es schließlich von ihm.
Oh, sagte sich Norah beunruhigt, wahrscheinlich wagt er es nicht zuzugeben, daß sie ihn verlassen hat.
»Und Sony? Wo ist Sony?«
»Ebenfalls«, sagte er kaum hörbar.
»Sony ist verreist?«
Und daß ihr Vater, der so viele Frauen und so viele Kinder gehabt hatte, daß dieser nicht besonders gutaussehende, aber brillante, raffinierte, unbarmherzige und entschlossene Mann, der, nach Überwindung der größten Not, zu Wohlstand gelangt, immer eine ergebene, dankbare kleine Gesellschaft um sich geschart hatte, daß dieser verwöhnte Mann nun allein und vielleicht verlassen dastand, besänftigte in Norah, wenn auch gegen ihren Willen, einen alten, undeutlichen Groll.
Es kam ihr vor, als würde ihrem Vater endlich die Lehre zuteil, die das Leben ihm schon viel früher hätte erteilen sollen.
Aber um welche Lehre handelte es sich?
Indem sie so dachte, fühlte sie sich schäbig und nichtswürdig.
Denn wenn ihr Vater eigennützige Menschen bei sich aufgenommen hatte, wenn ihr Vater nie echte Freunde oder aufrichtige Frauen gehabt hatte (mit Ausnahme ihrer eigenen Mutter, dachte Norah) und nicht einmal liebende Kinder, und wenn er dann im Alter, geschwächt und wahrscheinlich weniger gut bei Kasse, einsam durch sein düsteres Haus schlurfte, inwiefern sollte dadurch eine ehrenwerte, eine absolute Moral Bestätigung erhalten, und warum sollte Norah sich darüber freuen, von der Höhe ihrer Tugend als eifersüchtiger Tochter herab, die sich endlich gerächt fühlt dafür, daß sie nie zum engsten Kreis ihres Vaters gehört hatte?
Und während sie sich so schäbig und nichtswürdig vorkam, schämte sie sich jetzt auch ihrer erhitzten, feuchten Haut, ihres zerknitterten Kleides.
Wie um ihre schlechten Gedanken wettzumachen, wie um sich zu vergewissern, daß er nicht zu lange allein bleiben würde, fragte sie: »Wird Sony bald zurückkommen?«
»Das wird er dir selbst sagen«, murmelte ihr Vater.
»Wie denn, wenn er nicht da ist?«
»Masseck!« rief er und klatschte in die Hände.
Von seinen Schultern oder seinem Nacken flatterten kleine gelbe Flammenbaumblüten auf die Fliesen, und rasch zertrat er sie mit der Spitze einer seiner Schlappen.
Norah hatte das Gefühl, er zerstampfe ihr mit ähnlichen Blumen übersätes Kleid.
Masseck schob einen mit Speisen und Gedecken beladenen Wagen herein und begann, alles auf dem Glastisch auszubreiten.
»Setz dich«, sagte der Vater, »wir essen gleich.«
»Ich wasche mir vorher noch die Hände.«
Sie bemerkte in ihrem Tonfall jene scharfe Zunge, die sie ausschließlich ihrem Vater gegenüber verwandte und die zum Zweck hatte, jeden Versuch seinerseits zu verhindern, Masseck, früher Mansour, tun zu lassen, was sie selbst gerade vorhatte, denn sie wußte, es war ihm so sehr zuwider, wenn seine Gäste bei ihm auch nur den geringsten Handgriff verrichteten und damit an der Fähigkeit seiner Bediensteten zu zweifeln schienen, daß er in der Lage wäre, zu ihr zu sagen: Masseck wird sich die Hände für dich waschen, und nicht einmal auf die Idee käme, sie könnte nicht gehorchen, wie es jung und alt um ihn herum immer getan hatten.
Doch ihr Vater hatte sie kaum gehört.
Er hatte sich gesetzt und folgte Massecks Bewegungen mit abwesendem Blick.
Seine Haut kam ihr gräulich vor, weniger dunkel als vorher, stumpf.
Er gähnte wie ein Hund, lautlos, den Mund sehr weit aufgerissen.
Und da war ihr klar, daß der unangenehme süßliche Geruch, den sie auf der Schwelle bemerkt hatte, vom Flammenbaum wie vom Körper ihres Vaters stammte, denn der ganze Mann war durchtränkt von der langsamen Zersetzung der orangegelben Blüten – dieser Mann, sagte sie sich, der immer so sehr auf die Reinheit seiner Erscheinung geachtet hatte, der nur die edelsten Parfumdüfte benutzt hatte, dieser hochmütige, vorsichtige Mann, der niemals seinen eigenen Geruch hatte verströmen wollen!
Der Ärmste, wer hätte gedacht, er würde einmal ein beleibter alter Vogel werden, der ungeschickt flog und stark roch?
Sie ging in Richtung Küche, durch einen langen Betonflur, den eine von Fliegendreck getrübte Glühbirne nur schwach erhellte.
Die Küche war der kleinste und unpraktischste Raum dieses unproportionierten Hauses, und auch das, so erinnerte sich Norah, hatte sie in die endlose Liste der Vorwürfe gegen ihren Vater aufgenommen, wohl wissend, daß sie ihn weder mit den schwerwiegenden noch den leichten darunter konfrontieren würde, wohl wissend, daß sie diese Kühnheit, ihn mit Vorwürfen zu überhäufen, zu der sie aus der Ferne fähig war, niemals aufbringen könnte, wenn sie diesem unergründlichen Mann tatsächlich gegenüberstand, und deshalb unzufrieden, von sich selbst enttäuscht und noch wütender auf ihn, weil sie vor ihm in die Knie ging und ihm nichts zu sagen wagte.
Ihr Vater scherte sich nicht darum, daß seine Bediensteten an einem unbequemen, beschwerlichen Ort arbeiteten, denn weder er selbst noch seine Gäste betraten ihn jemals.
Eine solche Überlegung könnte er nicht einmal verstehen, sagte sie sich mit heftigem Groll, er würde sie auf eine Gefühlsduselei zurückführen, die er als typisch für ihr Geschlecht und für die Welt, in der sie lebte und deren Kultur nicht die seine war, betrachtete.
Wir haben nicht die gleiche Heimat, die Gesellschaften sind verschieden, würde er etwa sagen, schulmeisterlich und herablassend, und vielleicht Masseck herbeizitieren, um ihn in ihrem Beisein zu fragen, ob er mit der Küche zufrieden sei, was Masseck bejahen würde, womit ihr Vater, ohne Norah auch nur einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, denn das hieße, diesem unbedeutenden Thema zuviel Gewicht beizumessen, die Sache schlicht für erledigt halten würde.
Es hat weder Sinn noch Nutzen, einen Mann zum Vater zu haben, mit dem man sich buchstäblich nicht verständigen kann und dessen Zuneigung immer unwahrscheinlich war, dachte sie einmal mehr, nunmehr ruhig, ohne jenen Schauer von Ohnmacht, Wut und Entmutigung, der sie früher überkam, wenn die Umstände sie mit der Nase auf die unüberbrückbaren Unterschiede in Erziehung, Standpunkt, Weltwahrnehmung zwischen diesem Mann voller kalter Leidenschaften, der nur ein paar Jahre in Frankreich gelebt hatte, und ihr selbst stießen, die von jeher dort lebte und deren Herz glühend und verletzlich war.
Und dennoch war sie da, im Haus ihres Vaters, dennoch war sie gekommen, als er sie gerufen hatte.
Und diese Empfindsamkeit, die er rückhaltlos verachtete, und mit ihr die eigene Tochter und die gesamte westliche Welt in ihrer Schlaffheit und Verweiblichung, wenn sie nur etwas weniger davon gehabt hätte, hätte sie irgendeinen Vorwand gefunden, um sich eine solche Reise zu ersparen – ... und Du würdest mir eine Ehre und eine ganz besondere Freude bereiten, wenn Du Dich, sofern deine Kräfte es erlauben, für eine kürzere oder längere Zeit von deiner Familie trennen könntest, um zu mir, deinem Vater, zu kommen, denn ich habe über wichtige, schwerwiegende Dinge mit Dir zu reden ...
Oh, wie es ihr bereits leid tat, nachgegeben zu haben, wie sehr sie sich wünschte, nach Hause zurückzukehren und sich um ihr eigenes Leben zu kümmern.
In der Küche stand ein dünnes junges Mädchen, es trug ein ärmelloses T-Shirt, um die Hüften ein verwaschenes Wickeltuch und wusch in der kleinen Spüle Kochtöpfe ab.
Auf dem Tisch standen Speisen, die, soweit Norah sah, darauf warteten, für sie und ihren Vater aufgetragen zu werden.
Verblüfft entdeckte sie Brathähnchen, Couscous, Safranreis, ein dunkles Fleisch in Erdnußsauce und weitere Gerichte unter den durchsichtigen, beschlagenen Deckeln – eine Überfülle, die ihr die Knie weich werden ließ und jetzt schon schwer im Magen zu liegen begann.
Sie schob sich durch den Spalt zwischen Tisch und Spüle und wartete, bis das junge Mädchen es mühsam geschafft hatte, einen großen, schweren Topf abzuspülen.
Die Spüle war so schmal, daß der Topf unablässig gegen deren Wände oder den Wasserhahn schlug, und da sie keine Abtropffläche hatte, mußte das junge Mädchen sich hinknien, um das Geschirr zum Trocknen auf ein Tuch auf dem Boden zu stellen.
Dieser Beweis, wie wenig ihr Vater sich um die Arbeitsbedingungen seiner Bediensteten kümmerte, machte Norah einmal mehr wütend.
Sie lächelte und nickte dem jungen Mädchen zu, während sie sich rasch die Hände wusch.
Und als sie es nach seinem Namen fragte und das junge Mädchen nach einer Pause erklärte (wie um ihrer Antwort, so dachte Norah, einen Rahmen zu verschaffen, der ihr Wichtigkeit verlieh): Khady Demba, da erstaunte Norah der ruhige Stolz ihrer festen Stimme, ihres direkten Blicks, beschwichtigte sie und vertrieb den Zorn, die müde Sorge und die Verstimmung etwas aus ihrem Herzen.
Vom anderen Ende des Flurs erklang die Stimme ihres Vaters.
Er rief ungeduldig nach ihr.
Sie ging eilig zurück, und er war leicht verstimmt, wartete unruhig darauf, sich über das Taboulé mit Garnelen herzumachen, das Masseck auf den zwei einander gegenüber stehenden Tellern angerichtet hatte.
Kaum saß sie, begann er gierig zu essen, das Gesicht dicht über dem Teller, und diese wortlose, völlig unverstellte Gefräßigkeit paßte so wenig zu den früheren Manieren dieses gern gezierten Mannes, daß Norah ihn beinahe fragte, ob er länger nichts gegessen habe, denn sie dachte, wenn seine finanziellen Schwierigkeiten so beträchtlich waren, wie sie es annahm, wäre er durchaus fähig, die letzten drei Tage die Mahlzeiten auszulassen für dieses Abendessen, um ihr zu imponieren.
Masseck trug ein Gericht nach dem anderen auf, in einem Rhythmus, dem Norah nicht folgen konnte.
Sie stellte mit Erleichterung fest, daß ihr Vater überhaupt nicht darauf achtete, was sie aß.
Er hob den Kopf nur, um mit zugleich argwöhnischem und gierigem Auge zu prüfen, was Masseck gerade auf den Tisch gestellt hatte, und als er einmal verstohlen auf Norahs Teller schaute, stand ihm eine derart kindliche Angst ins Gesicht geschrieben, daß sie begriff, daß er einfach kontrollierte, ob Masseck ihr nicht mehr aufgetan hatte als ihm.
Das erschütterte sie.
Ihr Vater, dieser redefreudige, ja geschwätzige Mann, blieb stumm.
In dem trostlosen Haus waren nur das Klappern des Bestecks, das Scheuern von Massecks Füßen auf dem Fliesenboden zu hören, vielleicht auch das Rascheln der höchsten Äste des Flammenbaums auf dem Wellblechdach – rief er ihren Vater, fragte sie sich undeutlich, rief er ihn für die Nacht, dieser einsame Baum?
Auf das gebratene Lamm folgte ein Hähnchen mit Sauce, und er aß immer weiter, er stopfte sich freudlos voll, holte gerade kurz Luft zwischen zwei Bissen.
Zum Schluß reichte Masseck ihm eine aufgeschnittene Mango.
Er steckte sich ein Stück in den Mund, dann noch eins, und Norah sah, wie er mühsam kaute und versuchte zu schlucken, aber vergeblich.
Er spuckte den Mangobrei in seinen Teller.
Über seine Wangen rannen Tränen.
Norah spürte, wie ihre eigenen Wangen plötzlich heiß wurden.
Sie stand auf, hörte sich irgend etwas stammeln und stellte sich hinter ihn, wußte jedoch nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, denn sie war noch nie in der Situation gewesen, ihren Vater zu trösten oder ihm etwas anderes zu zeigen als förmliche, gezwungene, von Groll durchzogene Zeichen der Achtung.
Sie sah sich suchend nach Masseck um, doch er war mit den letzten Platten hinausgegangen.
Ihr Vater weinte noch immer, stumm, das Gesicht ausdrucksleer.
Sie setzte sich neben ihn und hielt ihre Stirn ganz nah an sein naßes, durchfurchtes Gesicht.
Sie konnte unter dem Geruch der Speisen, der würzigen Saucen, den anderen, süßlichen der faulenden Blüten des großen Baums riechen, sie konnte, da ihr Vater den Kopf leicht gesenkt hielt, seinen schmuddeligen Hemdkragen sehen.
Da fiel ihr etwas ein, das sie zwei oder drei Jahre zuvor von ihrem Bruder Sony erfahren hatte, eine Neuigkeit, die ihr Vater selbst nie für nötig befunden hatte, ihnen mitzuteilen, ihr und ihrer Schwester, was Norah ihm übelgenommen hatte, ehe sie sowohl die Information selbst als auch die Bitterkeit über dieses Schweigen wieder vergessen hatte, und nun durchfuhren beide sie erneut, weswegen ihre Stimme etwas schneidend klang, wo sie doch nur tröstlich sein sollte.
»Sag, wo sind denn deine Kinder?«
Sie erinnerte sich, daß es Zwillinge waren, aber nicht mehr welchen Geschlechts.
Er sah sie verstört an.
»Meine Kinder?«
»Die letzten«, sagte sie, »soweit ich weiß zumindest. Hat deine Frau sie mitgenommen?«
»Die Mädchen? Oh, die sind da, ja«, murmelte er und wandte sich ab, und er schien enttäuscht zu sein, als habe er gehofft, sie würde ihm etwas sagen, das er nicht wußte oder dessen Tragweite er nicht begriffen hatte und das ihn auf irgendeine merkwürdige, wundersame Weise retten würde.
Sie konnte einen boshaften, rachsüchtigen, triumphierenden Schauer nicht unterdrücken.
Sony war also der einzige Sohn dieses Mannes, der Mädchen weder mochte noch sonderlich schätzte.
Geschlagen, belastet mit lauter unnützen, demütigenden, nicht einmal hübschen Weibchen, sagte sich Norah ruhig und dachte dabei an sich selbst und ihre Schwester, die für ihren Vater immer mit dem grundlegenden Fehler behaftet gewesen waren, daß sie zu typische Züge hatten, das heißt ihm ähnlicher sahen als ihrer Mutter, was auf mißliche Weise von der Sinnlosigkeit seiner Ehe mit einer Französin zeugte – denn was hätte diese Geschichte ihm Gutes bringen können, wenn nicht fast weiße Kinder und wohlgestaltete Söhne?
Doch das war fehlgeschlagen.
Sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
Sie war zugleich verwirrt und verspürte ein ironisches Mitgefühl.
»Ich würde sie gern sehen«, sagte sie und fügte sofort hinzu, um ihn nicht fragen zu hören, von wem die Rede sei: »Deine beiden Töchter, die Kleinen.«
Die fette Schulter ihres Vaters schüttelte ihre Hand ab, durch eine unwillkürliche Bewegung, die bedeutete, kein Umstand erlaube eine solche Vertraulichkeit.
Er stand schwerfällig auf, wischte sich das Gesicht mit dem Hemdsärmel ab.
Am Ende des Raums stieß er eine häßliche Glastür auf, knipste eine einzelne Glühbirne an, die einen weiteren schmalen, langen Flur aus grauem Beton beleuchtete, von dem, wie Norah sich erinnerte, lauter kleine quadratische Zimmer abgingen wie Zellen, in denen früher die zahlreiche Verwandtschaft ihres Vaters gewohnt hatte.
Aufgrund der Art, wie ihre Schritte, wie der laute, unregelmäßige Atem ihres Vaters in der Stille widerhallten, war sie sich sicher, daß diese Zimmer heute leer waren.
Ihr war, sie seien schon minutenlang unterwegs, als der Flur abbog, dann noch einmal in die andere Richtung, wo er fast stockfinster wurde und so stickig, daß Norah beinahe umgekehrt wäre.
Ihr Vater blieb vor einer geschlossenen Tür stehen.
Er griff nach der Klinke und blieb einen Moment regungslos stehen, das Ohr an die Tür gelegt, und Norah wußte nicht, ob er versuchte, irgendein Geräusch von drinnen zu hören, oder ob er all seine geistigen Kräfte zusammennahm, bevor er sich zum Öffnen entschloß, doch die Haltung dieses zugleich nicht wiederzuerkennenden und ewig trügerischen Mannes (oh, dieser unverbesserliche Glaube, wenn sie ihn mehrere Jahre nicht gesehen hatte, die Zeit könnte ihn geläutert und ihr angenähert haben!) mißfiel ihr und beunruhigte sie noch mehr als früher, als man nie sicher sein konnte, ob er in seiner haltlosen Unverschämtheit, seiner arroganten, humorlosen Lustigkeit nicht irgendeine Bemerkung von unvergeßlicher Grausamkeit fallenlassen würde.
Ganz plötzlich, wie um zu überraschen und zu ertappen, öffnete er die Tür.
Dann trat er einen Schritt zurück, voller Schrecken und Abscheu, um Norah vorbeizulassen.
Der kleine Raum wurde von einer Lampe mit rosa Schirm beleuchtet, die auf einem Nachttisch zwischen zwei Betten stand, von denen das eine, schmalere dem jungen Mädchen gehörte, das Norah in der Küche gesehen und das ihr gesagt hatte, sie heiße Khady Demba, und deren rechtes Ohrläppchen, wie Norah nun bemerkte, durchtrennt war.
Sie saß im Schneidersitz auf der Matratze und nähte an einem grünen Kleidchen.
Sie blickte zu Norah auf, lächelte ihr kurz zu.
In dem anderen Bett schliefen unter einem weißen Laken und einander zugewandt zwei kleine Mädchen.
Norahs Herz zog sich leicht zusammen, und sie dachte, daß diese beiden Kindergesichter die schönsten waren, die sie je gesehen hatte.
Vielleicht von der Schwüle, die aus dem Flur in das klimatisierte Zimmer drang, oder von einer unmerklichen Veränderung der Ruhe im Raum geweckt, schlugen die Mädchen gleichzeitig die Augen auf.
Sie richteten diese auf ihren Vater, ernst, unbarmherzig, ohne jede Wärme, ohne Freude, ihn zu sehen, aber auch ohne Furcht, während er sich, wie Norah verblüfft beobachtete, unter diesem Blick aufzulösen schien und sein Schädel mit dem kurzgeschorenen Haar, sein Gesicht und sein Hals unter dem Hemdkragen plötzlich von Schweiß, der scharf und durchdringend nach zertrampelten Blüten roch, überströmt waren.
Dieser Mann, der es immer verstanden hatte, eine Atmosphäre von dumpfer Angst um sich zu verbreiten, und den niemand je eingeschüchtert hatte, wirkte starr vor Entsetzen.
Was befürchtete er, fragte sich Norah, von diesen ganz kleinen Mädchen, die er erstaunlicherweise in seinem hohen Alter noch gezeugt hatte und so wunderhübsch, daß dies ihr minderwertiges Geschlecht und die mangelnde Schönheit der ersten beiden Töchter, Norah und ihrer Schwester, vergessen machen sollte – wie konnten so entzückende Kinder ihn in Furcht und Schrecken versetzen?
Sie ging auf das Bett zu, kniete sich lächelnd nieder neben den zwei völlig gleichen, runden, dunklen Gesichtern, so zart wie zwei in den Sand gelegte Seehundköpfe.
In diesem Moment ertönten laut die ersten Takte von Mrs Robinson.
Alle fuhren zusammen, selbst Norah, obwohl sie den Klingelton ihres Handys erkannt hatte und mit der Hand in die Tasche ihres Kleides griff, um das Gerät abzustellen, doch dann, als sie sah, daß der Anruf von Zuhause kam, hielt sie es befangen an ihr Ohr, in der Stille des Zimmers, die einen anderen Charakter angenommen zu haben schien und statt ruhig, schwer, gleichgültig nunmehr wachsam und irgendwie feindselig war.
Als würden sie auf eindeutige, klare Worte warten, die den Ausschlag gäben, ob sie mich auf Distanz halten oder in ihre Mitte aufnehmen wollten.
»Mama, ich bin’s!« schrie Lucies Stimme.
»Hallo, mein Schatz. Du kannst leiser sprechen, ich höre dich gut«, sagte sie mit vor Verlegenheit brennender Stirn. »Was ist los?«
»Nichts! Wir machen gerade Pfannkuchen, Grete und ich. Und nachher gehen wir ins Kino. Wir haben viel Spaß.«
»Großartig«, flüsterte sie, »Küßchen, ich rufe dich zurück.«
Sie klappte das Handy abrupt zu und schob es wieder in ihre Tasche.
Die beiden Mädchen taten so, als würden sie schlafen, mit zuckenden Lidern und fest verschlossenen Lippen.
Enttäuscht strich Norah ihnen über die Wange, dann stand sie auf, nickte Khady zu und verließ das Zimmer mit ihrem Vater, der die Tür sorgfältig hinter ihnen zumachte.
In einem Anflug von schlechter Laune dachte sie, er schien es einmal mehr nicht geschafft zu haben, eine einfache, zärtliche Beziehung zu seinen Kindern aufzubauen, sie dachte, ein Mann, der von einem so unerbittlichen Blick begrüßt wurde, verdiene die wunderschönen kleinen Töchter seines Alters nicht, und sie dachte auch, nichts und niemand könne einen solchen Mann von Grund auf ändern, denn dazu hätte man ihm das Herz herausreißen müssen, nichts weniger.
Doch während sie ihm durch den finsteren Flur zurück folgte, wobei sie jetzt das leichte Gewicht des Handys gegen ihren Oberschenkel schlagen spürte, gestand sie sich mürrisch und verdrossen ein, daß dieser Ärger auf ihren Vater sich durch das steigerte, was sie an übertriebener Aufregung in Lucies Stimme vernommen hatte, und daß die scharfen Bemerkungen, die sie nicht an Jakob, den Mann, mit dem sie seit einem Jahr zusammenlebte, richten konnte oder wollte, wie lauter Messer direkt in den Rücken ihres Vaters drangen, der in dem finsteren Flur vor ihr herging, unschuldig, gebeugt und fettleibig.
Denn sie sah im Geist ihre geliebte Pariser Wohnung vor sich, vertrautes und bescheidenes Sinnbild ihrer Beharrlichkeit, ihres diskreten Erfolges, in die sie, nachdem sie einige Jahre mit Lucie allein darin gewohnt hatte, Jakob und dessen Tochter Grete aufgenommen und damit Unordnung und Störung eingelassen hatte, und das obwohl beim Kauf dieser Dreizimmerwohnung im Viertel Goutte d’Or (mit einem Kredit über dreißig Jahre) der tiefe Wunsch vorherrschend gewesen war, eben dem Durcheinander ein Ende zu setzen, dessen beängstigende Inkarnation ihr Vater ihr Leben lang gewesen war, ihr Vater mit den unter dem Hemd zusammengefalteten Flügeln, der heute alt, verbraucht, massig und sonderbar durch den finsteren Flur ging.
Oh, sie hatte es genau gespürt an Lucies Stimme: zu hoch, schnell, atemlos – die Wohnung mußte in ebendiesem Moment der Schauplatz einer jener Bekundungen von väterlicher Begeisterung sein, die sie haßte und die durch Jakobs demonstrative Weigerung gekennzeichnet war, die beiden siebenjährigen Mädchen irgendwie einzuschränken oder zu beeinflussen – so wurde etwa wortreich und betont fröhlich eine aufwendige Kochaktion gestartet, die zu Ende zu führen er oftmals weder die Fähigkeit noch die Lust oder die Geduld hatte, so daß der Teig für die Pfannkuchen oder Kekse nie gebacken wurde, weil er unterdessen eine andere Unternehmung oder einen Ausflug vorgeschlagen hatte, mit dieser plötzlich zu hohen, schnellen, atemlosen Stimme, die die Mädchen nachahmten und die sie so sehr anstachelte, daß sie am Ende oft in Tränen ausbrachen, völlig überreizt und mit dem dunklen Gefühl, dachte Norah, der Tag sei trotz allem Gelächter und Radau leer, falsch, merkwürdig gewesen.
Oh, sie hatte es genau gespürt an Lucies Stimme – und Norah machte sich bereits jetzt Sorgen, daß sie nicht dort war, oder vielmehr, sie ließ der Sorge, die sich in der Zeit vor ihrer Abreise aufgestaut hatte und die sie geknebelt hatte, nunmehr freien Lauf, nicht weil irgend etwas objektiv Gefährliches daran gewesen wäre, die Mädchen in Jakobs Obhut zu lassen, doch die Vorstellung bedrückte sie, daß Disziplin, Genügsamkeit, strikte Moral, Werte, die sie, wie ihr schien, in ihrer kleinen Wohnung etabliert hatte, die ihr Leben bestimmen und schmücken und Lucies Kindheit zugrunde liegen sollten, in ihrer Abwesenheit mit kalter, methodischer Munterkeit außer Kraft gesetzt wurden durch diesen Mann, den sie bei sich aufgenommen hatte, ohne daß irgend etwas sie dazu zwang, außer Liebe und Hoffnung.
Heute gelang es ihr nicht mehr, unter der Enttäuschung die Liebe wiederzuerkennen, sie hatte die Hoffnung auf ein geordnetes, einfaches, harmonisches Familienleben verloren.
Sie hatte ihre Tür geöffnet, und das Böse war hereingekommen, lächelnd, sanft und starrsinnig.
Nach Jahren des Mißtrauens, nachdem sie Lucies Vater verlassen und diese Wohnung gekauft hatte, nach harten Jahren des Aufbaus einer achtbaren Existenz, hatte sie der Vernichtung dieser Existenz die Tür geöffnet.
Schmach über sie.
Sie konnte es niemandem sagen.
Nichts erschien ihr mitteilbar oder verständlich an dem Irrtum, den sie begangen hatte – an diesem Fehler, diesem Verbrechen gegenüber ihren eigenen Anstrengungen.
Weder ihre Mutter noch ihre Schwester oder ihre paar Freunde konnten sich vorstellen, wie Jakob und seine Tochter Grete, beide zuvorkommend und zärtlich, bezaubernd und wohlerzogen, auf subtile Weise daran arbeiteten, das schöne Gleichgewicht zu zerstören, das Norah und Lucie in ihrem Zusammenleben endlich gefunden hatten, bevor Norah, als hätte zuviel Argwohn sie am Ende blind gemacht, ihre Tür willfährig dem Märchenbösen geöffnet hatte.
Wie allein sie sich fühlte!
Wie dumm und gefangen!
Schmach über sie.
Aber welche Worte könnte sie finden, genau genug, um ihnen das Unbehagen, die Empörung über eine jener Szenen verständlich zu machen, bei denen sich in ihren Augen Jakobs perverse Unaufrichtigkeit ebenso wie die sich gedankliche Armseligkeit zeigte, in die sie selbst verfallen war, sie, die sich doch so sehr um Feinheit, um Einfachheit bemüht hatte, die sich so sehr gehütet hatte vor verqueren Köpfen und beim leisesten Anzeichen vor ihnen geflohen war, solange sie mit Lucie allein lebte, fest entschlossen, das kleine Mädchen nie der Absonderlichkeit, der Verderbtheit auszusetzen?
Aber sie hatte nicht geahnt, daß das Böse einen freundlichen Blick haben, in Begleitung eines entzückenden Mädchens auftreten und Liebe schenken konnte – oh, Jakobs Liebe, unpersönlich, unerschöpflich und unbestimmt, kostete ihn nichts, das wußte sie nun.
Norah war wie jeden Morgen als erste aufgestanden, sie hatte für Grete und Lucie Frühstück gemacht und die Schulsachen hergerichtet, und da war Jakob aus dem Schlafzimmer gekommen, während Norah sich im Bad kämmte, er, der gewöhnlich erst aufwachte, nachdem sie alle drei längst aus dem Haus waren.
Die Mädchen waren dabei, sich die Schuhe zu binden, als er angefangen hatte, sie zu necken, an einer Schnürsenkelschleife zu ziehen, um sie zu lösen, einen Schuh zu stibitzen und unterm Sofa zu verstecken, laut lachend wie ein schelmisches Kind und ohne auf die Uhr und die Verwirrung der Kinder zu achten, die es zuerst lustig fanden und ihm durch die Wohnung nachliefen, um ihn dann anzuflehen, mit seinen Faxen aufzuhören, den Tränen nahe, dennoch bemüht zu lächeln, denn die Situation sollte ja locker und komisch sein, und am Ende hatte Norah eingreifen und ihm befehlen müssen wie einem Hund, mit jener scheinbar sanften, vor unterdrücktem Zorn bebenden Stimme, die sie nur gegenüber Jakob benutzte, die Schuhe sofort zurückzubringen, woraufhin er sich so bereitwillig gefügt hatte, daß Norah und die Mädchen plötzlich dagestanden waren wie triste, kleinliche Frauenzimmer, die ein liebenswerter Kobold vergeblich aufzuheitern versucht hatte.
Norah wußte, daß sie sich jetzt beeilen mußte, um nicht zu spät zu ihrem ersten Termin zu kommen, weshalb sie Jakobs überraschenden Wunsch, sie zu begleiten, barsch abgelehnt hatte, aber die Mädchen hatten ihn unterstützt und ermutigt, woraufhin Norah nachgegeben hatte, auf einen Schlag müde, zermürbt, und sie hatten alle drei in ihren Mänteln, Schuhen und Schals im Eingangsflur warten müssen, bis er angezogen und fertig war, frivol und fröhlich, aber in einer Art, die auf Norah gezwungen, fast bedrohlich wirkte, und ihre Blicke waren sich in dem Moment begegnet, als sie unruhig auf ihre Uhr schaute, und sie hatte in Jakobs Augen unter dem unbeirrten Funkeln nichts als grausamen Schalk und beinahe Härte gesehen.
Was für eine Sorte Mann habe ich da aufgenommen? hatte sie sich gefragt, von Schwindel erfaßt.
Er hatte einen Arm um sie gelegt und sie an sich gedrückt, zärtlicher, als irgend jemand zuvor es je getan hatte, und sie hatte sich weiter gefragt, kläglich: Welcher Mensch, der einmal Zärtlichkeit erfahren hat, kann von sich aus darauf verzichten?
Sie waren durch matschige Schneereste über den Gehweg gestapft und hatten sich in Norahs eiskaltes, unbequemes kleines Auto gedrängt.
Jakob hatte sich mit den Mädchen nach hinten gesetzt, wie es seine mißliche Gewohnheit war, dachte Norah (war sein Platz als Erwachsener nicht vorne neben ihr?), und während sie den Motor warmlaufen ließ, hatte sie gehört, wie er den Kindern zuflüsterte, sie bräuchten sich nicht anzuschnallen.
»Und warum?« hatte Lucie erstaunt gefragt und in ihrer Bewegung innegehalten.
»Weil wir nicht weit fahren«, hatte er mit seiner überdrehten, absurden Stimme geantwortet.
Norahs Hände auf dem Lenkrad hatten angefangen zu zittern.
Sie hatte den Mädchen befohlen, sich sofort anzuschnallen, und die Wut auf Jakob hatte ihren Ton hart werden lassen und schien sich gegen sie zu richten, eine Ungerechtigkeit, die Grete und Lucie bemerkten, denn sie hatten Jakob verletzt angeschaut.
»Wir fahren wirklich nicht weit«, hatte er gesagt. »Ich schnalle mich jedenfalls nicht an.«
Norah war losgefahren.
Sie war inzwischen eindeutig zu spät dran, sie, die sich so sehr bemühte, immer pünktlich zu sein.
Sie war den Tränen nahe.
Sie war eine verlorene, bejammernswerte Frau.
Nach kurzem Zögern hatten Grete und Lucie sich schließlich nicht angeschnallt, und Norah hatte nichts gesagt, aufgebracht darüber, daß er immer versuchte, sie in die Rolle der Spaßverderberin oder der Bösen zu bringen, und zugleich wütend auf sich selbst, weil sie sich feige und unwürdig fand.
Sie hätte das Auto am liebsten gegen einen Bus gefahren, um ihm zu zeigen, daß es nicht unnütz war, sich anzuschnallen – aber das wußte er, nicht wahr?
Das war nicht die Frage – aber was war sie dann, und was wollte er von ihr, dieser Mann mit dem klaren, sanften Blick, der sich mit dem zusätzlichen Gewicht seines entzückenden Kindes an ihren Rücken klammerte, was wollte dieser Mann von ihr, der ihr seine kleinen Krallen, ohne daß sie Schmerzen gespürt hätte, in die Seiten gebohrt hatte und den sie nicht mehr abwerfen konnte, sosehr sie sich auch aufbäumte?
Das war es, was sie ihrer Mutter, ihrer Schwester und den paar Freunden, die ihr noch blieben, weder erklären konnte noch zu erklären wagte – die Banalität dieser Situationen, die Kleinlichkeit ihrer Überlegungen, die Erbärmlichkeit eines solchen Lebens unter dem Schein der Vollkommenheit, auf den Mutter, Schwester und Freunde so leicht hereinfielen, denn die Macht des Zaubers von Jakob und seiner Tochter war fürchterlich.
Norahs Vater blieb vor einer der Zellen stehen, die den ganzen Flur entlang aufeinander folgten.
Er öffnete vorsichtig die Tür und trat dann sofort zurück.
»Hier wirst du schlafen«, sagte er.
Er zeigte mit der Hand in die Tiefen des Flurs und fügte hinzu, als habe Norah irgendeinen Vorbehalt gegen dieses bestimmte Zimmer geäußert: »In den anderen ist kein Bett mehr.«
Norah schaltete die Deckenlampe an.
An alle Wände waren Poster von Basketballspielern geheftet.
»Sonys Zimmer«, murmelte sie.
Ihr Vater nickte wortlos.
Er atmete lauter, den Mund geöffnet, den Rücken gegen die Wand des Flurs gepreßt.
»Wie heißen die Kleinen?« fragte Norah.
Er blickte zur Seite und tat, als würde er nachdenken.
Er zuckte die Schultern.
Sie lachte schockiert auf.
»Weißt du es nicht mehr?«
»Die Mutter hat sie ausgesucht, es sind komische Vornamen, ich habe sie mir nie merken können.«
Er lachte nun auch, freudlos.
Zu ihrer Überraschung entdeckte sie auf seinem Gesicht plötzlich einen verzweifelten Ausdruck.
»Was machen sie tagsüber, wenn ihre Mutter nicht da ist?«
»Sie bleiben in ihrem Zimmer«, sagte er schroff.
»Den ganzen Tag?«
»Sie haben alles, was sie brauchen. Es fehlt ihnen an nichts. Das Mädchen da kümmert sich gut um sie.«
Dann wollte Norah ihn fragen, warum er sie hatte herkommen lassen.
Doch obwohl sie ihren Vater gut genug kannte, um zu wissen, daß es nicht um der bloßen Freude willen sein konnte, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, und daß er etwas ganz Bestimmtes von ihr erwarten mußte, kam er ihr in diesem Moment so alt, so verletzlich vor, weshalb sie ihre Frage zurückhielt und sich sagte, er würde es ihr schon erklären, wenn er dazu bereit wäre.
Gegen ihren Willen sagte sie ihm: »Ich kann nur ein paar Tage bleiben.«
Sie mußte an Jakob und die beiden überdrehten Mädchen denken, und ihr Bauch verkrampfte sich.
»Oh nein«, sagte er mit einemmal erregt, »du mußt viel länger bleiben, das ist unbedingt notwendig! Also, bis morgen.«
Trippelnd verschwand er im Flur, seine Schlappen klatschten auf den Beton, und seine schweren Hüften schwangen unter dem feinen Stoff seiner Hose hin und her.
Mit ihm verflüchtigte sich der bittersüße Geruch nach faulenden Blüten, nach aufgeblühten, gleichgültig oder erbittert zertretenen Blüten, und als Norah an diesem Abend ihr Kleid auszog, breitete sie es besonders sorgfältig auf Sonys Bett aus, damit die gelben Blüten, die sich, leicht abgesetzt, über die grüne Baumwolle verteilten, ihr unversehrtes und frisches Aussehen behielten und keinerlei Ähnlichkeit mit den vergammelten Blüten des Flammenbaums bekamen, deren schuldbeladener, trauriger Geruch an ihrem Vater haftete.
Am Fuß des Betts fand sie ihre Reisetasche.
Als sie im Nachthemd auf dem Bett ihres Bruders saß, das mit einem Tuch voller Logos amerikanischer Basketballclubs bedeckt war, wanderte ihr betrübter Blick über die mit verstaubtem Krimskrams vollgestellte kleine Kommode, den niedrigen Kinderschreibtisch, die Basketbälle, die auf einem Haufen in einer Ecke lagen, die meisten nicht aufgepumpt oder kaputt.
Sie erkannte jedes Möbelstück, jeden Gegenstand, jedes Poster wieder.
Ihr Bruder war fünfunddreißig Jahre alt, er hieß Sony, und Norah hatte ihn seit vielen Jahren nicht gesehen, doch ihr Herz hing an ihm.
Sonys Zimmer hatte sich seit seiner Jugend nicht im geringsten geändert.
Wie war es möglich, so zu leben?
Sie fröstelte trotz der Hitze.
Hinter der Scheibe des quadratischen kleinen Fensters war die Nacht sehr dunkel und vollkommen still.
Weder aus dem Haus noch von draußen drang das leiseste Geräusch zu ihr, außer vielleicht, aber sie war sich nicht sicher, von Zeit zu Zeit das Schleifen der Äste des Flammenbaums über das Blechdach.
Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Wohnung.
Niemand.
Da fiel ihr ein, daß Lucie von einem Kinobesuch gesprochen hatte, was sie ärgerte, denn es war Montag und die Mädchen mußten früh aufstehen, um in die Schule zu gehen, und sie mußte die Vorahnung einer Katastrophe oder einer schrecklichen Unordnung abwehren, die sie jedesmal überfiel, wenn sie nicht da war, um selbst zu sehen, nur zu sehen, was sich abspielte, denn sie konnte nicht immer eingreifen
Sie zählte diese Ängste zu ihren Fehlern, nicht zu ihren Schwächen.
Denn es war anmaßend zu glauben, sie allein sei in der Lage, Lucies und Gretes Leben richtig zu organisieren, sie allein könne, dank der Macht ihrer Vernunft, ihrer Umsicht, verhindern, daß das Unheil über ihre Schwelle trat.
Hatte sie ihre Tür nicht bereits dem lächelnden, leutseligen Bösen geöffnet?
Die einzige Möglichkeit, die Auswirkungen dieses schweren Irrtums zu beheben, lag in ihrer beständigen, wachsamen, besorgten Anwesenheit.
Doch nun war sie dem Ruf ihres Vaters gefolgt und weggegangen.
Das warf sie sich vor, als sie auf Sonys Bett saß.
Wer war ihr Vater, dieser egoistische Alte, verglichen mit ihrer Tochter?
Was bedeutete das Leben ihres Vaters, wenn das Gleichgewicht ihres eigenen so unsicher war?
Obwohl sie wußte, daß es sinnlos war, wenn er sich in diesem Moment in einem Kinosaal befand, wählte sie die Nummer von Jakobs Handy.
Sie hinterließ eine gespielt heitere Nachricht.
Sie sah sein zuvorkommendes Gesicht vor sich, seine hellen Augen mit dem neutralen, vorsichtigen Blick, die