Uwe Tellkamp

Der Eisvogel

Roman

Suhrkamp

Der Eisvogel

Zwei Schüsse, flach und scharf, sehr schnell hintereinander schmetternde Detonationen, Echos, in einen einzigen Knall gejagt in der Lautstärke von Hammerschlägen, die mit aller Kraft gegen ein frei hängendes Blech donnern, dann widerspricht die Erinnerung, schneidet ein Stück Zeit heraus und dehnt es quälend: Mauritz senkte den Kopf, als die erste Kugel ihn in die Brust traf, die Wunde war ein pfenniggroßer Punkt neben dem Brustbein, der sich langsam ausbreitete, langsam, wie Mauritz den Kopf hob, um mich anzustarren, überrascht, grenzenlos überrascht, mit einem sonderbar freimütigen, fast erleichterten Ausdruck im Gesicht, als ich zum zweiten Mal abdrückte, der zweite Schuß traf ihn unter dem Auge und zerriß sein Gesicht, ich hatte nicht dorthin gezielt, ich erinnere mich an die Kälte des brünierten Metalls in meiner Hand, das kalte helle Klirren der ausgeworfenen Patronenhülsen auf dem Betonboden der Lagerhalle in der stillgelegten Fabrik für Eierteigwaren, sehe die Pistolenmündung in die Mitte von Mauritz’ dunklem Mantel gerichtet, ich wunderte mich, Herr Verteidiger, daß ich sowenig Gewalt über die Waffe hatte, wunderte mich im selben Moment schon über diesen Gedanken, pervers, an so etwas zu denken, jetzt, du hast einen Menschen erschossen und wunderst dich darüber, wieso die Pistole in deiner Hand macht, was sie will und nicht das, was du willst, vielleicht war das eine Reaktion, um alles in den Traum, den Albtraum zurückzuholen, in den es gehörte, gehören mußte; absurd, eine Szene aus einem Film in der Wirklichkeit zu erleben und sie wieder in einen Film verwandelt zu erinnern, ich weiß noch, daß ich nicht glaubte, was ich sah, und daß mein Gehirn nach einer Wirklichkeit suchte, die mir diese als bösen Traum auflöste: das Licht in der Halle, kühl und eigentümlich unberührt von der rapid näher lodernden Hitze, alte Sperrholzkisten, das zerkratzte, schmutzige Orange ausrangierter Palettenheber, Mauern mit gelb-schwarz gestreiften Stahlkanten, Manuela, die reglos stand und nicht schrie, und Mauritz, der wie von einer Faust getroffen nach hinten taumelte, ein Mensch, den ich zu einer stummen Puppe gemacht hatte, jetzt, in diesem Moment, in Wirklichkeit, nicht in einem bösen Traum, seine Arme schlenkerten herab, waren nicht erhoben wie sonst, wenn jemand fällt und sich abzustützen versucht, verschmierte, unter einem Leck im Hallendach naß gewordene Pizzaverpackungen, es war nicht rückgängig zu machen, das war meine erste, absurde, bestürzende, noch ganz und gar unbegriffene Empfindung, ich würde nicht aufwachen aus diesem intensiven, dennoch geträumten Brandgeruch und dem Gefühl, wie leicht es gewesen war, mechanisch zu reagieren, ohne die so oft von Menschen, die auf andere Menschen geschossen haben, geschilderten Skrupel, aber sofort danach wehrte sich etwas in mir: All das stimmte nicht, konnte gar nicht stimmen, nein, das hatte etwas von einem Spiel, einem Film eben, und Mauritz würde gleich wieder aufstehen, mit einem Lächeln im gräßlich zugerichteten Gesicht, einen zerplatzten Farbbeutel unter dem Mantel hervorziehen, und ein Regisseur würde Schnitt oder Gut gemacht, Jungs, Szene im Kasten rufen; es war so leicht gewesen zu schießen, so unwirklich, aber Mauritz stand nicht wieder auf, es war kein Traum, ich hatte einen Menschen erschossen

Rot: Die Sterbenden sehen diese Farbe zuletzt, hatte ich zu Jost gesagt, er blieb oft am längsten auf Station, um Medizin zu treiben, wie er sagte, sich nach dem Papierkrieg um die Patienten zu kümmern, – Und die Neugeborenen zuerst, hatte er ergänzt, – Typisch Arzt, dachte ich, nichts vergessen wollen und alles abwägen, – Typisch Wiggo, hätte er wohl mit einem nachsichtig-spöttischen Ausdruck in den Augen geantwortet, die von einem sehr hellen Braun waren und im Licht durchsichtig wurden wie die Kandiszucker-Prismen in den Cafés von Nizza in meiner Kindheit, nachdem man sie in den Tee getaucht hatte – Typisch Wiggo: die Welt in ein Wort zwingen müssen

– Unruhe, hatte er wiederholt, ein nachdenklicher Unfallchirurg, dachte ich, als er sich abwandte und aus dem Fenster starrte, Unruhe, aber was sollen wir tun, – Ich weiß es nicht, antwortete ich, suchte nach der angerissenen Gauloises-Packung, Rauchen verboten im kleinen Zimmer am Ende des Flurs, das sie mir gegeben haben, weil Vater es zahlen kann, Kräne drehten sich vor dem Fenster des Bettenhauses der Charité, Gerüstbauer zogen im Scheinwerferlicht Fangnetze hoch und Eimerketten für den Schutt, die aussahen wie dicke blaue Elefantenrüssel, weißt du es? Er schwieg, lehnte am Fenster, starrte nach draußen, draußen war Nacht

– Unruhe, die aus dem Aufbäumen des Spätsommers gegen die einkreisenden, mit fließenden Händen tastenden Schatten wuchs, dunkleres Land, das unnahbar und still hinter den sichtbaren Dingen begann wie das auf einmal wieder lautere und schon beklemmend nahe Geräusch der Zeit: Schritte vor der Tür der Sicherheiten und hoffnungsvollen Träume. Vielleicht waren es die Schmerzen der Verbrennungen an Armen und Beinen, im Gesicht, die mich die Dinge überdeutlich erinnern ließen, in einer Art von halluzinatorischer Wachheit, Bilder, die sich mir ins Gedächtnis brannten und jetzt wiederauftauchen. Möchten Sie etwas zu trinken, Herr Ritter? fragt mich die Krankenschwester, die nicht gern im Zimmer ist, vielleicht, weil ich kaum etwas sage, nichts preisgebe, obwohl es wahrscheinlich, mag sie denken, einiges preiszugeben und zu sagen gäbe: die vielen Bücher auf dem Nachtschränkchen, CDs, die sich daneben stapeln. Hier, hab ich dir mitgebracht, – Danke, Dorothea, wäre nicht nötig gewesen; all das mag im Widerspruch stehen zu meiner für die Schwester womöglich ostentativen Schweigsamkeit. Kein angenehmer Mensch, mag sie denken, wie sie da beinahe ängstlich, deutlich schüchtern, eigenartig für eine Krankenschwester in ihrem angestammten Bezirk, in der Nähe der Tür steht und abwartet, – Nein, vielen Dank, Schwester Silke – Sonst irgendetwas, kann ich sonst etwas für Sie tun? – Nein, danke, schönen Dienst wünsche ich Ihnen. Ihr Gesicht hellt sich etwas auf. Wenigstens ist er nicht unhöflich, mag sie denken, Unruhe, die Unruhe der Stadt, Treiben, Schwimmen, ein- und ausschießende U-Bahn-Züge, die Havel robbenschwarz, die Spree sauertöpfisch wie ein magenkranker Greis, die Studenten kehrten in die Stadt zurück, schnatternde Wiedersehensfreude, man konnte ihn förmlich hören, den dumpfen Plumps der vollgestopften, mühselig herangeschleppten Kraxen und Koffer, Seesäcke und Reisetaschen in Tausenden Wohnungen, Internats- und WG-Zimmern, doch, Schwester, wenn ich etwas gegen die Schmerzen bekommen könnte, Aspirin hilft gar nicht, habe ich das Gefühl, – Ich sag dem Doktor Bescheid; Unruhe, Begeisterungsrufe über die in multikultureller Mischung ausgeschütteten Mitbringsel aus Urlaubsfernen, Erinnerungen an Strandbläue und flaschengrüne Brandung, zu reich für die Hast der Minuten, hinweggespült in den Sogen der rastloser werdenden Stadt. So war es in jedem Jahr, wellenhaft, so hatte ich es in der Studienzeit erlebt, die breitatmende, zyklische Dünung wie der Ausschlag eines Riesenpendels: Abströmen der Studenten am Ende des Sommersemesters, Einströmen zu Beginn des neuen Studienjahres im Oktober. Erinnerungen und Souvenirs waren wie Strandgut, das liegenblieb im Sommersand; die Wellen rollten zurück. Aus der Stadt begannen die einfachen Dinge zu verschwinden. Eine Hand tippte an einen Kreisel, so daß seine Pirouetten zerbrachen: Herbst, es wurde Herbst in Berlin

– Vater bestellte mich in die Bank, wie es seine Art war: Er wußte, daß ich nicht ans Telefon ging, deshalb ließ er mir eine Nachricht zukommen, nicht per E-Mail oder Fax, auch nicht per Post, sondern per Fahrradkurier. Ich möchte dich sprechen. Ich kann morgen eine Viertelstunde erübrigen, warte in meinem Büro auf mich. Und ich wartete – nicht weil mir sein Befehl Wunsch oder ich ein besonders gut dressierter und gehorsamer Sohn gewesen wäre, mich interessierte, was er diesmal von mir wollte, und ich hatte Sehnsucht nach einem Gesicht: Willst du kein normales Leben führen, hatten Lippen zu mir gesagt, die ich bei einem früheren Besuch in Vaters Bank zum ersten Mal sah, damals, als ich im Vestibül aufgerufen wurde und der Empfangsdame folgte, deren Hintern in einem zum Zerreißen gespannten Kostüm vor mir die polierte Marmortreppe zur Chefetage hochschaukelte, dann die Unterredung mit meinem Vater: Wie sieht jetzt deine weitere Lebensplanung aus, Wiggo, hast du eine Stelle, hast du eine Freundin, dann klopfte es, herein, ja, Frau Toft … – ’t Hooft, sagten die Lippen. Die Augen glitten von meinem Vater zu mir, musterten mich spöttisch, dunkel wie Brombeeren, das Haar schwarz und glatt wie Vogelflügel. Ja, Frau ’t Hooft, entschuldigen Sie. Ihr Name ist nicht ganz unkompliziert. Bringen Sie die Dornier-Analyse? Frau ’t Hooft nickte, trat zum Tisch. Ich habe es soweit vorbereitet; aber einiges an den Beteiligungsverhältnissen ist noch unklar, könnten wir, sie sprach ohne Akzent, – In zehn Minuten, sagte Vater. Sie ging. Meine beste Assistentin, ehrgeizig, aber nicht zu sehr, kein Blaustrumpf, glaube ich, will auch Kinder, wie findest du sie? – Vater, hast du mich deswegen bestellt, um mit mir über deine Assistentinnen zu reden, – Nein, aber darüber, was du dir jetzt vorstellst, nachdem du es glücklich bis aufs Arbeitsamt gebracht hast, mein Sohn, wie alt bist du, Vater zündete sich ruhig eine seiner Cohibas an. Als ich so alt war, wie du jetzt bist, und dann kam eine seiner Aufzählungen, die ich schon kannte und die mich einerseits die Hände um die Stuhllehne krampfen und die Zähne zusammenbeißen ließen, um die aufschwappende Erregung, schließlich Wut im Zaum zu halten, andererseits aber langweilten: Ihr seid so angepaßt, meine Güte, als ich so alt war wie ihr – ich fragte mich, wen er mit ihr meinte –, haben wir Pflastersteine geschmissen, ich bin, bevor ich deine Mutter kennenlernte, mit meinen diversen Freundinnen durch die Weltgeschichte getrampt, einmal bis nach Tunis, bin mit deiner Mutter durch Brasilien getourt in einer zweifelhaften Cessna, – Ja, Vater, sagte ich, – Und du, überhaupt: Frauen, wie steht’s damit, hast du eine, – Nein, Vater, sagte ich, – Wie hast du dein Geld angelegt? Alles auf dem Girokonto, Sparbuch? So ein Blödsinn, Junge, komm, wir machen da mal was Vernünftiges draus. Wir waren keine Spießer, falls du das denkst, mein Sohn, hatten auch unseren Spaß; aber ihr, eure Generation, ihr kommt mir ehrlich gesagt vor wie ein Haufen schlaffer Säcke, könnt weder richtig einen draufmachen noch richtig malochen, jeder Puster haut euch gleich um! Dann folgte seine Karriere bei verschiedenen Banken, von ganz unten ziemlich schnell nach ziemlich weit oben. Drei Kinder, sagte er, alle wohlgeraten. Außer mir, denkst du jetzt, dachte ich. – Warum willst du nicht bei uns einsteigen, Wiggo? Statt deiner lächerlichen paar Piepen bekämst du ein vernünftiges Gehalt, du müßtest natürlich zuerst als Trainee anfangen, da würde es nicht so üppig ausfallen, aber das dauert ja nicht ewig, ich bin überzeugt, daß du es könntest. Du bist mein Sohn, und die Assistenten, die ich kennengelernt habe, schlägst du allemal, – Auch Frau ’t Hooft, preßte ich hervor, Vater blies eine Rauchwolke aus, schob mir mit zusammengekniffenen Augen die Zigarrenschachtel hin, ich lehnte ab, dachte an Frau ’t Hoofts Lippen und den spöttischen, neugierigen, lebenslustigen Blick ihrer brombeerdunklen Augen. Meine Güte, du könntest hunderttausend Anfangsgehalt haben als mein Assistent, eine ordentliche Wohnung, Auto, eine Frau, willst du denn nicht heiraten, eine Familie gründen, und glaubst du, daß Geld da keine Rolle spielt? Du bist doch jung, die jungen Leute heute starten alle durch, – Ich denke, die sind alle schlaffe Säcke –, – Sind sie auch; aber wir haben ihnen den Weg freigeschaufelt, mein Sohn, die machen Karriere und spielen vorn mit, wo die Musik wirklich spielt, ich kann mir nicht vorstellen, daß es dir gleichgültig ist, daß du langsam, aber sicher zu den Losern treibst, verschweigst du mir etwas, ich meine, wie lange schon hast du niemanden?

– Treibgut, Auf- und Niedersteigen in der Dünung, ohne Anfang, ohne Ende waren die Geschehnisse, Teil einer Geschichte, die einem Stab glich, prinzipiell verlängerbar nach beiden Seiten; ein Schatten, wenn auch nicht willkürlich, so doch von einem Blinden aus dem Licht ohne Ufer gebrochen, in dem die Dinge zu beginnen und zu enden nur behaupteten; nicht der Kreis, diese Figur war, so schien es mir, das Symbol vergangener Epochen, in der Gegenwart ründet sich nichts mehr. Alles ist offen

– verschweigst du mir etwas, nahm er das Gespräch wieder auf, beim nächsten Mal, in der Viertelstunde, die er laut dem vom Fahrradkurier überbrachten Schreiben erübrigen konnte, Sehnsucht nach einem Gesicht, nach Ines’ Gesicht, wie Frau ’t Hooft mit Vornamen hieß, das hatte ich inzwischen herausgefunden, sie war anwesend bei diesem Gespräch und wußte nicht, was sie tun sollte angesichts der Themen, die Vater anzuschlagen für richtig hielt, sie wollte aufstehen und hinausgehen; aber Vater hielt sie zurück: Bleiben Sie ruhig da, Frau ’t Hooft, mein Sohn ist ein interessanter Charakter, befahl es ihr mehr als daß er sie bat, ich vermute, daß das Gespräch ihr eher amüsant vorkam als peinlich und unangenehm; sie hob die Brauen, betrachtete die Fingernägel, versteckte ein Lachen in ihren Augen. Ich achtete weniger auf Vater als auf sie, manchmal warf sie mir einen forschenden Blick zu, manchmal einen belustigten, sie schlug die Beine übereinander, Manolo Blahnik-Schuhe, knielanger Rock, die Fußspitzen wippten im Takt zu meinen Antworten und Vaters Fragen: Wann gedenkst du mir den ersten Enkel zu bringen? Was sagen Sie dazu, Frau ’t Hooft, ist diese Frage nicht berechtigt einem Sohn gegenüber, der bald Dreißig ist? – Das ist die Frage, die mir mein Vater auch immer stellt, wenn ich zuhause bin, da bin ich befangen, viel mehr kann ich dazu nicht sagen, hörte ich Ines’ klare Stimme, mein Blick traf ihren, der perplex war über die Direktheit meines Vaters. Er behandelte uns schon als etwas, das Gemeinsamkeiten hatte, arrangierte das Treffen und seine Fragen so, daß wir mit Gemeinsamkeiten hinausgehen würden; Ines war nicht mehr nur seine Kollegin und Assistentin und ich nicht mehr nur sein Sohn, er behandelte uns als ein Ihr, behandelte uns wie das Paar, das wir bald darauf erst wurden. Ines’ Schuhe wippten, sie sah mich an, die Ironie kehrte in ihre Augen zurück, die Nasenflügel vibrierten leicht, sie sah beiseite. Vater wandte sich wieder an mich: Oder verschweigst du mir etwas, willst du mir etwas sagen, wie heißt der Unsinn: dich outen? – Ich glaube nicht, daß es mit der geschlechtlichen Veranlagung zu tun hat, ob man allein ist oder nicht, und auch wenn ich schwul wäre, Vater, und das ist es ja wohl, was du wissen willst, – Also bist du es nicht, stellte Vater mit sarkastischem und zugleich erleichtertem Unterton in der Stimme fest, schaute mich mißtrauisch an, – Nein, sagte ich, nicht, daß ich wüßte. Vater streifte Asche ab von seiner Cohiba und ließ Rauch an das abendlich dunkle Panoramafenster des Büros gleiten. Hören Sie, Frau ’t Hooft, mein Sohn ist gottseidank wenigstens nicht schwul, – Wenn du gestattest, werde ich jetzt gehen, ich glaube nicht, daß wir unsere Unterhaltung im richtigen Rahmen führen, sagte ich. Es klopfte. Herr Direktor, die Delegation aus dem Wirtschaftsministerium, meldete die Chefsekretärin. Wenigstens das, murmelte Vater, ohne sich darum zu kümmern, daß die Chefsekretärin irritierte Blicke zwischen ihm, Ines und mir hin- und herwarf, griff in die Innentasche seines Jacketts, zog den Schreibtisch-Organizer heran und strich darin etwas durch. Wenigstens das: nicht schwul

– willst du kein normales Leben führen, hatten ihre Lippen zu mir gesagt, im gedimmten Lichtdesignerlicht eines Hundertsechzig-Quadratmeter-Lofts, dessen bis zum Parkett reichende Atelierfenster einen Blick auf den Spreebogen und die Baustelle des Bundeskanzleramts boten; die mit Scheinwerfern wie mit grünen Saugnäpfen bestückten, in unablässiger, zeichnender Bewegung befindlichen Kranarme blendeten sich in das Norwegerkirchenskelett der mit Klarlack bestrichenen Stützbalken im Raum, Orchideenkörbe verloren sich in der Höhe, ich stand vor der Fensterfront, die wie eine gläserne Kommandobrücke vorkragte, sie spiegelte die Backsteinwand hinter Ines’ Fußbodenbett, den riesigen Baselitz, einen kopfstehenden Gekreuzigten mit Eselsphallus, ich dachte: Wenn unser aller Kanzler mal abends Sorgen hat, kann er drüben in seiner Waschmaschine ein Fernrohr zücken, von der Kunst hinab zur Natur schwenken und angesichts der nackten Ines – sie liebte es, nackt durch ihr Loft zu spazieren, mich machte es rasend eifersüchtig – endlich mal wieder eine Aufwärtsbewegung registrieren, – Was verstehst du unter normalem Leben? fragte ich

– Lippen, die sich langsam öffneten, als wir uns das erste Mal liebten, zu lieben versuchten: Wenn ich du wäre, ich würde die Situation ausnutzen, sagte Ines, wir waren allein im Kopierraum, der zur Direktionsetage gehörte, Vater hatte ein Geschäftsessen mit amerikanischen Wirtschaftsbossen, dann ein Geräusch, dessen Herkunft das Blut eher einordnet als das Ohr, sie schloß die Tür ab, ich küßte ihre Lippen und die kaum unterdrückte Lachlust darauf, Klimpern einer Gürtelschnalle, Reißverschlußreißen, ihre Nasenflügel bebend vor Heiterkeit, als ich Ines zum Kopierer drängte und sie darauf hob, meine Hände, die ich abzustützen versuchte, rutschten auf der glatten Oberfläche, der rechte Daumen landete auf dem grünen Copy-Knopf, der vorübergleißende Kopierschlitten, ihre Lippen, die ich zu erreichen versuchte und auf die sie sich nun vor Lachen biß, die Blätter, die neben ihr und dem Mann im verwilderten Businessanzug mit heruntergelassenen Schmetterlingshosenträgern, der mich in der Erinnerung noch immer überrascht, wenn er mir sein: mein hochrotes Gesicht zeigt, in die Auffangschale fielen, ich starrte auf das schwarze Rorschach-Bild auf den einsegelnden Blättern, es glich einem aufgebockten nackten Truthahn, nicht sehr schmeichelhaft, meine erste Assoziation, Ines, Ines, stammelte ich, sah die Schmetterlingshosenträger hüpfen, wollte darübersteigen und verfing mich darin, strauchelte, griff nach einem Halt wild auf der Tastatur des Kopierers herum, Ines lachte, das lebenslustige, sinnliche, befreiende Lachen, das ich vom ersten Augenblick an geliebt hatte, der Kopierschlitten sauste hin und her, zeigte mir jetzt halbierte Cellos, die sich einmal mehr, einmal weniger der Form eines weiblichen Beckens annäherten, mit einem weißumrissenen, großen, rundum bewimperten Auge in der Mitte, Frau ’t Hooft, sind Sie das, sind Sie da drin? rief die Chefsekretärin von draußen, die Klinke bewegte sich auf und ab, ich watete durch Kartons und Papierstapel, riß die Hosenträger hoch, während sich Ines in fliegender Hast zurechtmachte, mit einem Taschentuch das Auge auf dem Kopierer wegwischte. Ja, rief sie, kleinen Moment, eine wichtige Arbeit, ich komme gleich; ich prallte gegen den Blechpapierkorb neben dem zweiten Kopierer, suchte in Panik nach einem Ausweg, Ines hielt sich die Hand vor den Mund, stand leicht gekrümmt, wies pruschend auf das Türchen zum Versorgungsschacht. Ja, ich bin hier drinnen, rief Ines mühsam, geschüttelt von konvulsivischen Lachstößen, die Klinke rüttelte jetzt, kleinen Moment bitte noch, ich zwängte mich in den Versorgungsschacht, Ines schloß das Türchen, und ich klemmte zwischen Rohren, in denen es gedärmhaft brodelte und gurgelte, sie waren dick wie Kinderrutschröhren in Spaßbädern, und dachte: Wenn sie dich hier finden oder Ines es nicht schafft, für ein paar Sekunden reine Luft zu sorgen und mir ein Klopfzeichen zu geben; daß sie mich vergessen könnte, war unwahrscheinlich; spätabends, als alle gegangen waren, ließ sie mich heraus, ich hatte inzwischen Verse memoriert und gegen den Hunger Atemfrisch-Drops gelutscht, hatte den menschlichen Trieb gepriesen, der es offenbar auch Bankangestellten aufregender erscheinen läßt, Plastikbecher für Kaffee hinter solchen Türchen statt im Abfallkorb zu deponieren, ich pinkelte den Becher voll, und bevor er überlief, schüttete ich den Inhalt in die um die Rohre ausgesägte Finsternis; der Anzug, den ich mir gekauft hatte, weil ich damit Ines’ Geschmack zu treffen hoffte, war scheckig von Kalk und Spinnweben, Ines prustete wieder los, als sie mich sah

– und drehte mich nicht um zu ihr nach meiner Frage, wiederholte sie nur, in Ines’ Schweigen hinein: Was verstehst du unter normalem Leben?

– jedenfalls nicht deins als Arbeitsloser, hörte ich ihre Stimme hinter mir, sei nicht so passiv, Wiggo, mach was aus dir, das kannst du mir doch nicht erzählen, daß es für einen wie dich, mit deinen Abschlüssen, in diesem Land keine Stelle gibt, du sprichst perfekt Englisch und Französisch, dein Vater hat recht: Wenn du in unserer Bank wärst, würdest du uns hart auf die Pelle rücken, und das bißchen BWL hast du garantiert auch bald drauf, – Ich will nicht in eure Bank, sagte ich, – Du klingst wie ein kleiner Junge: Ich will nicht zur Schule gehen, – Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich meinen Beruf liebe, so wie du deinen, – Einen Beruf, der von dir nichts wissen will, sagte sie spöttisch, und zu dem du vielleicht nicht mal taugst, Philosoph –, – Ja, was ist das schon, ein Philosoph, hatte ich geantwortet und damit den leise verächtlichen Ton in ihrer Stimme zu dem Satz vervollständigt, den sie, glaubte ich, hatte sagen wollen, aber aus Takt verschwiegen hatte; und dennoch wurmte es mich, ich sah die Wohnung, sah das Geld, das sie verdiente, konnte mir denken, daß ihr Porsche und ein Renault Twingo vielleicht nicht einmal die Idee Auto gemeinsam hatten, war verrückt nach ihrer samtigen, mit Reichtum gepflegten Haut, ihren Lippen und Händen, wenn wir uns liebten, zuerst zärtlich, tief genießend, sprachverliebt in Hautbeschriftungen, dann, wenn der Meersalzduft ihrer Erregung intensiver wurde, unsere Haut Spannung gewann, kleine Stromstöße in den Kußmustern entlud, wilder, hitziger, bis wir schweißbedeckt nebeneinanderlagen und nur die Glutpunkte unserer Zigaretten unregelmäßig aufleuchteten, ich war verrückt nach ihr und dachte: Ich bin kein Verlierer, ich werde es euch zeigen, dir und Vater und mir

– was, Sie haben keine E-Mail-Adresse, schrie mich die Trainerin des Ego-Aufbau-Crashkurses für junge Fach- und Führungskräfte an, den das Arbeitsamt bezahlte, sagen Sie mal, leben Sie denn vor der Sintflut! Und da wundern Sie sich, daß Sie nichts finden, wie soll man Sie denn überhaupt erreichen, und jetzt machen wir alle mal eine SWOT-Analyse, also Strengths – linke Spalte. Weaknesses – rechte Spalte. Opportunities – linke Spalte. Threats – rechte Spalte, alles klar, hier haben Sie ein Blatt Papier, los geht’s; ich starrte auf das Weiß vor mir und schrieb nach einer Weile völliger Leere den einen Satz darauf, der sich schließlich aus der Leere löste: Ich hätte nie gedacht, daß ich mit meiner Qualifikation und meinen Leistungen im Studium arbeitslos werden würde, – Und jetzt stellen Sie sich vor diese Wand, kommandierte die Trainerin, und schreien, so laut Sie können: Ich will es packen, ich werde es packen, dreimal, keine Angst, wir sind hier schallisoliert, – Kann ich nicht lieber schaffen schreien, fragte einer der Teilnehmer, packen klingt so nach Tom Cruise in Die Firma, – Ebendrum, ereiferte sich die Trainerin, das ist Ihr Problem, Sie sind zu gefühlsgedeckelt! Sie nehmen zu viele Rücksichten, Pathos ist Ihnen zu peinlich; aber glauben Sie ernsthaft, Ihr Ego kommt wieder hoch ohne Pathos? Ego ohne Pathos ist so wabblig wie Couchkartoffeln, anämisch wie Veganer. Sie müssen Raubtiere sein, Karnivoren, verstehen Sie, blutrünstige Fleischfresser, mit undegenerierten, dschungelheißen Konquistadorengenen, los, brüllen Sie, ich will Fangzähne sehen!

– ah, das ist also Ines’ neuer Gespiele – schon das Wort, mit dem mich der hochgewachsene, sichtlich trainierte Mittdreißiger titulierte, ließ mich zusammenzucken und den Kerl vom ersten Moment an hassen, die blondierte Frisur, das segelyachtgebräunte Gesicht, das ganze Getue, Handyaufklappen alle Augenblicke, ungeniertes Drauflosprotzen in den Apparat hinein vor möglichst vielen Zuhörern, die Angebereien: Kannst meinen SEL haben, Ines, aber Vorsicht beim Rückwärtsfahren, Einparkhilfe nicht vergessen, genau, die zwei Schneckenhörner, Vorsicht, Darling, nix ruinieren, brauch ich noch, you know, mein Bugatti ist in der Werkstatt –; neuer Gespiele: Dann warf er einen schnellen, taxierenden Blick auf mich, verengte die Augen, fragte: Zu welcher Fraktion gehörst du, ziehst du aus, um das Fürchten zu lernen oder um es zu verlernen? – Ich wüßte nicht, was Sie das angeht. Der Kerl warf sein Schlüsselbund hoch und fing es mit einer zuschnappenden, entschlossenen Bewegung: Weil du, im Fall du zur zweiten Fraktion gehörst, nicht sehr alt werden wirst mit ihr, – Woher wollen Sie das wissen, sparen Sie sich Ihre Weisheiten, sagte ich, – Ich bin ihr Ex, sagte er und stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus, das nicht genau erkennen ließ, ob es den Sachverhalt meinte oder meine Schuhe, die sein Blick flüchtig gestreift hatte, oder überhaupt den, der in diesen Schuhen steckte. Genauer, sagte er gedehnt, einer ihrer Ex, und wenn ich dich um etwas bitten dürfte: Solltest du morgens, wenn du hier bist, das Bedürfnis verspüren, dich rasieren zu wollen, bitte nicht den Philishave im Kosmetikschränkchen nehmen, das ist meiner

– du hast mir noch immer nicht geantwortet, Ines, also? Normales Leben, was verstehst du darunter? Ich wartete und fühlte, daß sie mich beobachtete, vielleicht mögliche Reaktionen auf mögliche Antworten abschätzte, – Ich glaube, du mißverstehst deinen Vater, siehst ihn zu einseitig; die Kräne rührten im Abendhimmel herum, Windböen bauschten die Gerüstplanen auf der Baustelle des Bundeskanzleramts, die Spree hatte die Oberfläche einer Feile, Ines’ Stimme bekam jetzt etwas Geschäftsmäßiges, um Ausgleich oder Ablenkung Bemühtes: Er ist einer der besten Investmentbanker, die ich kenne, und natürlich kannst du jetzt mit einem dieser billigen Geldraffer-Vorurteile kommen – ich hatte sie ihr gegenüber nie geäußert, wußte nicht, wie sie darauf kam, war überrascht über den Ton, in dem sie mit mir sprach –, diesen Quark, den altlinke Atomkraftgegner in der taz breittreten, ich weiß nicht, ob du weißt, was er für diese Stadt tut, wieviel Künstler ihm dankbar sein können, daß er mit ihren Produkten die Bank tapeziert, in wieviel Festivals junger Musik wir Geld gepumpt haben, auf seine Veranlassung, seinen Starrsinn hin, denn die meisten im Aufsichtsrat waren dagegen, – Ines –, sagte ich, – Dieses Gerede über die bösen Unternehmer, die alles zerstören, dabei möchte ich nicht wissen, wo dieses Land wäre ohne Unternehmer. Leute, die etwas wagen und sich nicht den Hintern auf Beamten- oder Angestelltensesseln wärmen. Keiner von diesen Fundamentalos oder wie die Spinner sonst heißen, wäre doch in der Lage, auch nur einen Laden mit zehn Angestellten verantwortlich zu führen. Die können immer nur kritisieren, machen können sie nichts. Ich wäre froh, wenn ich so einen Vater hätte, du weißt nicht, wie oft er über dich spricht, – Ines, ich bitte dich, – Nein, mein Lieber, du hörst mir jetzt zu, du wolltest ja wissen, was ich unter normalem Leben verstehe, also hör zu

– ja, Ines, ich mißverstehe ihn, wie ich deinen Ex-Lover und deine Freunde mißverstand mit ihren Sprüchen und Spielchen: Weißt du, woran man einen Loser in Mitteleuropa hundert Pro erkennt? – Am Auto? – Nein, an den Zähnen; mir fiel der Zahnarzt ein, bei dem ich bald einen Termin hatte, und ich schämte mich für die schief gewachsenen Schneidezähne in meinem Unterkiefer und mißverstand die Freunde, als sie grinsten und sich ihre schimmernden Gebisse zeigten, Ines lachte

– etwas bewegen, das verstehe ich unter normalem Leben, gutes Geld für gute Leistung, gar nicht so simpel, wie’s klingt, mein Lieber. Ich hab nicht deine Chancen gehabt, mein Vater ist kein Aufsichtsratsmitglied, sondern ein einfacher Lohnbuchhalter bei der BASF. Ich will durchstarten, was erreichen in meinem Leben, verstehst du? Was, bitte schön, soll falsch daran sein, dabei auch auf seinen Gehaltsschein zu achten? Ich will mal was vorweisen können, auf das ich stolz sein kann, meine Eltern, meine Freunde

– und nachts, wenn wir beieinanderlagen und ich den leisen, gleichmäßigen Atem deines Schlafs hörte, dachte ich an London, das du als Geschäftsreisende kanntest, ich dagegen als jemand, der dort aufgewachsen war, es gab den alten Gärtner in Kew Gardens noch, der uns nachts, wir waren aus einer Vorstellung von Covent Garden gekommen, das Gewächshaus mit den Bromelien und Bougainvilleen aufschloß, Hyde Park, wo die grauen Eichhörnchen so zutraulich waren, daß sie Ines Nüsse aus der Hand nahmen, dein Atem, dein Schlaf, ich lag schlaflos neben dir und versuchte deine Ruhe zu ergründen, fluppende Ventilatorenflügel über uns, die kreisenden Schatten an der Decke des Lofts, in dem die Lichter von den Baustellen draußen wie die Chemoantennen von Tiefseefischen lumineszierten, bizarre Kreaturen mit visierumrahmten Schädeln, martialisch, fremd, submarine Bronzebeile und Silberbarren in den Skizzenbüchern von Meeresforschern im Naturhistorischen Museum; wir übernachteten im Ritz, verrückt, sagte ich nur, verrückt, ich besuchte Mutter nicht in London, der Regen; schwarze Cabs, in der Nässe glänzend, schwammen wie Trilobiten die lichtbesprühte Uferstraße hinab; Victoria Embankment; Ines wartete auf mich an der Schiffsanlegestelle: Mit dir werde ich romantisch, Wiggo, das ist die Gemütskrankheit der Zahlenmenschen, du schaffst es noch soweit, daß das kleine Mädchen in mir erwacht, weiß nicht, ob das gut wäre; Piccadilly Circus, Pall Mall, Regent Street; für ihre windschiefen Maße und Gewichte muß man sie einfach lieben, diese Briten, findest du nicht, sie mied meinen Blick; wir fuhren die Themse hinab zur Tower Bridge, an der glitzernden Ufersilhouette der Stadt vorbei, rostige Dockanlagen, Royal Festival Hall, die künstlich muntere, durch das Megaphon blechern klingende Stimme des Ansagers, die gehorsam vollzogenen Kopfwendungen der Touristen, die Gischt an den Bordflanken, dann die zwillingstürmige, berühmte Brücke in den Nebelfernen des Flusses, Ines’ Haar, mit dem der Fahrtwind meine Wange kehrte, der Geschmack von Tang und Salz und Meer, waren wir glücklich, Ines, wie wir da vorn am Bug standen und, uns bei den Händen haltend, ins Dunkel starrten, ich wußte, daß du das Händchenhalten nicht mochtest, zu kitschig, was für Backfische, du sagtest nicht Teenager, benutztest das altmodische Wort; aber du warst es, die meine Hand gesucht hatte, damals in London, am Bug eines Themseboots; dein Atem neben mir, Ines, dein Schlaf, waren wir glücklich, damals in London

– danach schrieb ich Bewerbungen, ich wollte nicht arbeitslos bleiben, wollte nicht zu den Losern treiben, wie Vater es ausgedrückt hatte, ich klapperte Stellenanzeigen ab tagein, tagaus, schrie mir den Frust aus dem Leib vor einer Wand in einem ebenso blödsinnigen wie nutzlosen Ego-Aufbau-Crashkurs, stylte meine Bewerbungen; aber je besser und professioneller ich sie machte, desto schneller kamen die Ablehnungen; Ablehnungen, ich weiß nicht, ob du begriffen hast, was das bedeutet, Ausgang: Hoffnung; Eingang: Griff zum Rotstift, die Hoffnung von Floskeln verbrannt, Asche, wieder eine Adresse weniger, der Selbstzweifel, der sich wie ein Parasit eingenistet hatte und alles zernagte und zerfraß, was einmal Lebensfreude und Energie gewesen war, Ines, du schliefst ruhig neben mir und träumtest vielleicht von den großen Deals, die deine hippen Freunde dir mailten, wem zu gefallen, wirklich dir, was zu erreichen, deine Mitfreude oder eine imaginäre Sprosse auf einer imaginären Ranking-Liste, die brauchten keinen Ego-Aufbau-Crashkurs, den verabreichten sie sich täglich selbst, Dollar-Cocktails, Aktien-Dope, Big Spender in den Boomtowns all over the world, kletternde Spesen, kletternde Honorare, kletternde Rendite, kletternder Bonus, Extrabonus, Spezialbonus, und du mittendrin, innerhalb einer Woche flog ich mit dir neunzigtausend Meilen, Singapur, Hongkong, San Francisco, Madrid, Big Apple, wie du zärtlich und respektvoll sagtest, Statue of Liberty, Fackel im Morgenrot, die zwei versteinerten Schatzriesen des World Trade Center, Fasolt und Fafnir, dachte ich, twentyfourseven downtown Manhattan, früh halb vier Uhr frische Bagels und Shopping am Broadway, dreieinhalb Stunden Schlaf und trotzdem nicht müde, deine Freunde tranken Red Bull zum Frühstück

– aber du, sagte Ines hinter mir, wie steht’s mit dir, was verstehst du eigentlich unter normalem Leben, komm, mein Lieber, raus damit, ich hör dir zu, – Sag mir, Ines: Meinst du das eigentlich ernst? – Was, wovon sprichst du? – Dieses: mein Lieber; ich weiß, man sagt das so, es ist eine Redensart, rutscht so raus, aber stimmt es, meinst du es ernst, bin ich dein Lieber, liebst du mich, – Oh Gott, auch das noch, ich hab’s kommen sehen

– Glück, damals in London, deine Lippen, die ich zum ersten Mal sah an einem verhangenen Tag in der Direktionsetage einer Großbank, der Vateretage, wie ich sie bei mir nannte. Willst du kein normales Leben führen. Liebst du mich. – Verführen Sie meinen Sohn, hat dein Vater zu mir gesagt. Und wenn es Ihnen gelingt, werde ich dafür sorgen, daß Sie den Job in Singapur bekommen, – Was sagst du da, was redest du da, – Verdammt, was glaubst du eigentlich, wer du bist, denkst du, du bist unwiderstehlich, – Ines, was ist hier los, – Hör zu, Wiggo, Klartext. Du hast mich gut gebumst, hat Spaß gemacht, hatte ich ’ne Weile nicht mehr; aber it’s all over now, okay, wir trennen uns, und benimm dich bitte vernünftig, mein Flug geht morgen, – Ich verlange von Ihnen nicht, daß Sie sich verlieben, Frau ’t Hooft, ich bin nicht naiv, verführen Sie ihn, damit er wieder Geschmack an den Angelegenheiten des Lebens findet, den positiven wie den negativen. Nur seine Gleichgültigkeit ist schlecht. Er fängt sich schon wieder. Er ist robust, er ist mein Sohn. Würden Sie das für mich tun? Ich weiß, was ich von Ihnen verlange

– ich höre seine Stimme aus deiner Stimme, Ines, ich drehte mich nicht um, als du zum Safe gingst, um mir den Vertrag zu zeigen; waren wir glücklich

Wieso nehmen Sie Aspirin, Herr Ritter, das hatten wir doch abgesetzt und bisher, wie ich der Kurve entnehme, nicht wieder angesetzt, Sie wissen, daß dieses Medikament auf den Magen schlägt, ich muß Sie bitten, unseren Verordnungen Folge zu leisten, Novalgin-Kurzinfusion, Schwester, – Danke, Herr Doktor, erwiderte ich gelangweilt, der Arzt ging kopfschüttelnd hinaus

– Unruhe, Rausch, Rausch, der Abzug von Torpedokörpern, hechtgrau, Lichtbuge, torkelnd von Geschwindigkeit, aufgequirlte Graffiti, U-Bahnen, die sich in die Dunkelheit bohrten und sie mit ihrem Licht durchlöcherten, niemand hindert dich, Zimmer in die Luft zu tasten, wenn du das Gefühl hast, nur so von Freiheit sprechen zu können, niemand hindert dich, der Pantomime deines Verständnisses von Freiheit zu sein, war man frei, wenn man Grenzen zog, ich sah Frauen, sah, in den Kneipen, auf den Dancefloors, die zu Lockung und Feindschaft gewölbten nackten Frauenwaden, hörte das Stöhnen in den Toiletten, wenn die DJs die Platten austrudeln ließen, hörte, wie die aufs äußerste gespannte Lust in den Stimmen der Frauen zerriß, Einladungen, die nicht mir galten, keine Leitern an den Wänden meiner Träume, was ich sehe, ist ein explodierter Versandhandel, oder ist es ein Supermarkt? Platzende Lichter, Reklamen, Unruhe, Dünung, Anspülen, Abspülen des Verkehrs; wenn ich durch die Straßen trieb, verloren im Sog, in der kreisenden Riesenschleuder, hellwach in den narkotisch glosenden Bars mit ihrer pflanzenhaft taktilen, musikumschwappten Sprache, dachte ich: damit es einen Beobachter gibt im unablässig sich fortzeugenden Geweb der Tage, ja, einen Beobachter, wiederholte ich trotzig. Patrick lachte. Du nimmst dich zu wichtig, Wiggo, du läufst die Straßen auf und ab und siehst dich dabei natürlich nicht in deinem Karstadt-Mantel, sondern in der schwarzen Kluft der Schwertkämpfer, der fernöstlichen Clint Eastwoods, gib’s zu, kannst dich mir ruhig anvertrauen. Ich hab auch manchmal solche Anwandlungen. Du zündest dir einen Zigarillo oder eine deiner Gauloises an, langsam und in Großaufnahme, oder dürfen Samurais nicht rauchen? Ich haßte Patrick in solchen Momenten, haßte seinen Spott, seine Ironie. Du bist mir zu pathetisch, Wiggo. Okay, du hast große Gefühle, aber man kann nicht immer Achterbahn fahren. Ich haßte ihn, dann fiel mir ein, daß er mit Dorothea zusammen war, Schwesterherz, was findest du an diesem Luftikus, ich schrieb noch Tintenbriefe und wartete auf Antwort, vergeblich zumeist, schrieb drei, vier Briefe, dachte damit etwas Gutes zu tun, die Empfänger wenn nicht zu beglücken, lächerlicher Begriff, so doch zu erfreuen, absurde Hoffnung, in Wahrheit sorgte ich für schlechtes Gewissen, weil sie zu faul waren zum Zurückschreiben oder Angst hatten vor ihrem Stil, den sie meinem nicht gewachsen glaubten, dann riefen sie an und bedankten sich summarisch, das war natürlich das einfachste, Problem entsorgt, der lästige Kerl, der mich aus meiner Bequemlichkeit zu reißen versucht, mir meine Grenzen zeigt, abgewimmelt, es ist ja auch so schrecklich schwer, in vier Monaten eine halbe Stunde Zeit zu finden, um seine verdammte Schuldigkeit zu tun, sich einen Antwortbrief abzuquälen und sich wenigstens zu bedanken, und dann wundern sie sich, daß ich zurückhaltend werde, komisch, wie sie andeuten, nicht mehr gern ans Telefon gehe, Wiggo ist ein schwieriger Mensch, wir lieben nur die, die uns in Ruhe lassen, nichts von uns verlangen; ich verlangte Sondermarken auf der Post, man muß die Marken sorgfältig auswählen

[PATRICK G. {…}] Wiggo, der hundertsechsundsiebzig Gedichte auswendig konnte. The lonely wolf. My heart is bleeding. Oh, this weltschmertz. Fünfzehn auf französisch, vier auf japanisch. Wiggo, der das Fenster öffnete, wenn er im Zimmer eine Biene sah. Er schob sie mit der Zeitung so lange vor sich her, bis sie den Weg nach draußen fand. Wenn es ihm schlechtging, legte er My Generation auf, Vinyl, The Who 1965, und spielte sie ab, bis die Gitarren staubig klangen. Hat er schon jemals aus vollem Herzen gelacht – lach mal, sagte Patrick zu mir, dieser Fernsehkomiker, an dem du einen Narren gefressen hast, Schwesterherz, vielleicht, weil er die Dinge nicht so bierernst nimmt wie du, wie du einmal zu mir sagtest, gereizt, wie ich dich sonst nicht kenne, doch, ich konnte lachen, auch als Patrick das macht Sinn sagte, – Das hat! Das hat Sinn! zischte ich und ballte die Fäuste, daß die Knöchel weiß wurden und er einen Schritt zurücktrat, ich konnte lachen, sogar über mich selbst, auch wenn es mich erboste; es waren die lichteren Momente, in denen ich mich von außen sah: ein arbeitsloser, nicht sonderlich gutaussehender Philosoph auf Stellen- und Partnerjagd, um den, glaubte er, alles in Bewegung geraten war, ein wohl befremdend wirkender Geselle, ich haßte Ironie, konnte sie nicht ausstehen, die Ironiker glauben an nichts, haben nichts, bezweifeln alles, tunken alles in die saure Soße ihrer scheinbar mit einem Lächeln versüßten Skepsis, geben alles der Lächerlichkeit preis, sind aber im Grund nur zynisch, Zyniker, lieber Patrick, brüllte ich, bauen keine Kathedralen, ich weiß, daß du Heine liebst, ich kann ihn nicht ausstehen, sowenig wie deinen Brecht, was ist das, Leitartikel mit Zeilenbruch, Binsenweisheiten zum Abnicken, kennst du Walcott, Ashbery, Pound, that’s lyric, das sind Kap-Hoorn-Fahrer, die sich ins Dunkle wagen, angetreten, dem Teufel ein Ohr abzusegeln, die ins Niebetretene, Ungesicherte fahren, die Welt in den Griff ihrer Sprache zu bringen versuchen, keine deiner netten Binnenschiffer, Bachpaddler und Rohrkrepierer, angepaßtes, aber ironisches Mittelmaß, Parlando, entsaftet in fünfter Auslutschung, erschütternd nie, durchdacht immer, kaum geboren und schon tot, ich kann es nicht ausstehen, und dein Heine, säuselt von Liebe und zieht am Schluß alles durch den Kakao, nichts ist ihm heilig, ja, du Blödmann, heilig, will aber eigentlich doch geliebt werden, drückt sich vor dem bloßen, blanken Gefühl, zu kopfig, unfähig zur Empfindung, wie alle diese superintellektuellen, in Dekonstruktivismus-Seminaren eisgekühlten Kaltschnauzen, die heute den Ton angeben und alles ironisch gebrochen sehen wollen, ohne Pathos vor allem, sie hassen Pathos, weil sie es fürchten, sie hassen Pathos, weil sie die Gefühle dahinter fürchten, ihre Brennkraft, die sie außerstande sind zu ertragen, sie hassen Pathos, weil sie glauben, daß alle Pathetiker Faschisten sind, mindestens aber werden, Idioten, alles muß gebrochen sein, ironisch gebrochen sein, dabei: Wo wären sie, wenn die Liebe im entscheidenden Moment ironisch gebrochen werden würde, Koitus interruptus, mein lieber Patrick, dennoch konnte ich lachen, sogar, auch wenn du es nicht glaubst, über mich selbst, manchmal überrumpelte sie mich einfach, die Selbstironie, das war das Schlimmste, denn es war wie Besiegtwerden, du und deine Prinzipien, sagtest du immer, ja, ich und meine Prinzipien, habt ihr wohl nicht in eurer Fernsehwelt, ist euch wohl unbekannt, was; das war das Zweitschlimmste: die Prinzipien zu verraten, Prinzipien sind Prinzipien, wozu hat man sie sonst, – Und was machst du, Wiggo, wenn dir die ultimativ knackige Superfrau begegnet, Frau deiner Träume und deines Schniedelwutzes, oder hast du keinen, mit der du einfach nur sofort ins Bett willst, auch wenn sie auf deine Prinzipien pfeift und dich nur groß anschaut, wenn du eine Hymne aus der Hanfszene auflegst oder ihr deine Pläne zur Welterrettung entwickelst, anstatt ihr endlich die geile Krokoledertasche zu kaufen oder mit ihr in einen der schmalzigen, ganz und gar prinzipienlosen Hollywoodschinken zu gehen, wo zum Schluß der Taschentuchverkäufer durchgeht, und auf die dieses Wesen mit den makroskopischen Brüsten und dem mikroskopischen Welterlösungswillen leider steht, was machst du, Wiggo, beißt du die Zähne zusammen in heldischem Verzicht, holst dir einen runter für die Revolution, hackst eine Extrafuhre Holz zur Triebabfuhr oder schleifst die blaue heilige Klinge, das Schwert deines Propheten, mit dem du den Knoten des Übels durchschlagen wirst?

– neue Kassette, neues Diktiergerät. Sprechprobe. Eins, zwei, drei. Und was man des Humbugs mehr sagt, wenn man wissen will, ob ein Mikrophon funktioniert oder dieses Dings hier, das Diktaphon. Merkwürdig, seine eigene Stimme von außen zu hören, ungewohnt, unvertraut, sogar schockierend; sie klingt für andere Menschen nicht so wie für mich. Meine Stimme könnte die eines Schlächters sein, so rauh klingt sie, auch höre ich immer einen Unterton von Roheit, Verachtung, ja Fühllosigkeit heraus, etwas kurz Angebundenes; gewissermaßen wie die Geste, die Stammtischlers flache Hand vollführt, wenn er Schwachsinn! oder Kanaken! oder Alles korrupte Schweine, die da oben! grunzt; ich empfinde sie als unangenehm, meine Stimme, und wenn sie versucht, sich etwas Einschmeichelndes, Herzwarmes beizumischen, wird sie für mich am unangenehmsten. Man hat es eben nicht leicht. Nicht, daß Sie all das wirklich interessieren könnte, Herr Verteidiger; es ist, wie gesagt, eine Sprechprobe, ich wollte wissen, ob das neue Diktiergerät, das Sie mir gegeben haben, nachdem ich das alte auf den Fußboden, Sie wissen schon, waren wir gerade bei meinen Lyrik-Vorlieben beziehungsweise -Abneigungen? beim Pathos? ob es also funktioniert und für das taugt, was wir vereinbart haben, ein gutes Gerät übrigens, wahrscheinlich sogar ein Spitzenerzeugnis, wie alles, was mein Vater heraussucht, von Wühltischmentalität hat er noch nie etwas gehalten; oder irre ich mich da, hat er es gar nicht besorgen lassen von einem seiner Trainees oder Assistenten; ist es Ihr eigenes, und können Sie es von der Steuer absetzen, falls ich noch einmal auf Vorlieben und Abneigungen zu sprechen komme?

– ich ging regelmäßig zur Bank und zählte mein Geld: Das Erbe an Ängstlichkeit, das man mit sich herumschleppt, – Glaubst du wirklich? Dein Vater ist ein Schlachtenlenker, behauptete Ines; aber die meisten Schlachten werden aus Angst geschlagen, behaupte ich, Soll: Miete, Telefon, Rundfunk- und Fernsehgebühren, Strom; Haben: Arbeitslosenhilfe, Wohngeld, es reichte noch, ich sah eine Galaxie, in der alles, was nachließ, unerbittlich an den Rand der Bewegungen gespült wurde, interessiert es dich nicht, was um uns herum vorgeht, was hier passiert, mit uns, mit euch, treibt euch nichts um, Dorothea, Patrick, ist euch alles egal, interessiert ihr euch nicht für Politik, – Hör mir auf mit deiner blöden Politik! – Typisch, so denken die meisten Deutschen heutzutage: Politik ist ein Scheißgeschäft, braucht man sich nicht drum zu kümmern, tunlichst fernhalten davon, lieber Fun und Action und abends zum Italiener oder Griechen, das kotzt mich an, – Du kotzt mich an mit deinen Zwangsbeglückungsphantasien, Wiggo, entschuldige; aber das muß ich jetzt mal sagen! Es hat nicht jeder soviel Zeit wie du, sich mit Politik zu beschäftigen, wozu eigentlich, wozu gibt’s dann überhaupt Politiker, wozu braucht man sie, wenn jeder sich mit Politik beschäftigen und ihnen die Arbeit abnehmen soll, nein, ich muß überhaupt nichts, ich hab keinen Bock drauf, schon recht, ich bin Ärztin, laß mich damit in Ruhe, hörst du, Wiggo? Du bist mir immer willkommen, du bist mein Bruder; aber wenn deine Besuche nur darin bestehen … – Ja? Komm, sag’s, – Uns anzugreifen, uns zu beleidigen, dann möchte ich nicht, daß du mich besuchst, hörst du, – Schon verstanden, Dorothea, mach’s gut

– ich beobachtete, ging durch die Straßen, interessierte es jemanden, was ich sah, außer mir selbst, die Menschen wollten offenbar kein Gedächtnis mehr, News, Nachrichten von Tod, Verderben, Untergang, Zusammenbrüchen, Verzweiflungstaten, Gewalttaten, Entlassungen, Streitereien, Feuersbrünsten, Umweltverschmutzung, Waldsterben, Treibhauseffekt, schädlichen Geschmacksverstärkern, Forstschädlingen, Miniermotten, Rinderwahn, Teppichludern, Boxenludern, abgestürzten Urlauberbussen, abgestürzten Computern, steigenden Benzinpreisen, steigenden Rentenbeiträgen, Krankenkassenbeiträgen, Müllgebühren, Übergriffen von Deutschen gegen Ausländer, Ausländern gegen Deutsche, Männern gegen Frauen, Frauen gegen Schwiegermütter, Eltern gegen Kinder, Kindern gegen Alte, Kranke und Versehrte, Ölpest, schwarzen Kassen, Pleiten, Haushaltslöchern, demographischen Schrumpftannen, Cellulitis, demographischen Bienenkörben, Elend, Hungerkatastrophen, Dürrekatastrophen, Flüchtlingskinderaugen sehen dich an, die Sahelzone sieht dich an, Minenopfer sehen dich an, Abschlachtungen, Schlüsselkinder sehen dich an, Alzheimer sieht dich an, Salmonellen im Altersheim, Diebstählen, Einbrüchen, Unterschlagungen, Raubüberfällen, Mord und Totschlag, Penislängen, Busengrößen, Fettabsaugung, Analphabetismus, Russen- und Albanermafia, Rumänenbanden, polnischen Autoklauern, Drogenkartellen, Handelsdefiziten, Überschuldung, Konkursen, Schlammlawinen, Fusionen, feindlichen Übernahmen, vom Bankrott des Gesundheitswesens, danke für das Novalgin, Schwester, Flugzeugabstürzen, Massencrashs, Steuererhöhungen, Tariferhöhungen, Einzelhändlerjammer, Umsatzeinbrüchen, Pharmaskandalen, Grundwasserverseuchung, Güllepegeln, Weinpanschern, nein, Ohren zuhalten, weg mit dem ganzen Dreck, Tod Tod Tod, gellte es den Menschen unablässig entgegen, aus allen Rohren, aus allen Röhren, weg mit der Erinnerung, auslöschen die Vergangenheit, leben für den Augenblick, sie ließen los und wurden leicht, war es das, was sie immer gewollt hatten, werden wir alt werden, fragten die Zwanzigjährigen, die Welt ist jung, irgendwann nach der Wende wurde sie neu geboren, sie mag das Alter nicht, was alt wird, hat zu sterben begonnen, Zeit, Zeit, aus der Dunkelheit entstanden, in die Dunkelheit verschwindend, suddenly everything fell out of place, höre ich aus dem Discman, suddenly everything fell out of place, die Menschen wie Gefangene, die ihre Lebensboote durch die Straßen treideln, Einsamkeit und Angst, haltlos, bloßes, nacktes Existieren, manche vielleicht in der Ahnung von etwas anderem, einem Leben, wo andere Gesetze herrschen, nicht die Zeit mit ihren Uhren, unablässiges Ticktack, nicht der Tod und das, was übrigbleibt nach seinen Heimsuchungen, ein Traum von Gespenstern, Leben, einfach und wahrhaftig und hell