Judy Nunn
Herzenssturm
Roman
Roman
Aus dem Englischen von Marion Balkenhol
FISCHER E-Books
Judy Nunn ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen Australiens und spielte Hauptrollen in zahlreichen TV-Serien. Auch als Bühnenschauspielerin machte sie sich in England und Australien einen Namen. Inzwischen ist sie als Romanautorin international erfolgreich. Nach ihrem Erfolgsbuch ›Feuerpfad‹ legt sie nun ihren zweiten Roman in Deutschland vor.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Diane Cook und Len Jenshel/Getty Images
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Pacific‹ im Verlag Random House Australia
© 2004 by Judy Nunn
Deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400923-0
Für die nächste Generation,
Brett und Nathan,
Sam und Cory.
Alles Gute für euch und eure Familien …
und für alle, die folgen werden.
Alles war friedlich. Ein wolkenloser Himmel, eine sanfte Brise, ein ruhiges Meer. Eigentlich ein perfekter Sommermorgen. Der Strand hätte verlockend sein sollen. Terrassenhäuser erhoben sich über dem breiten Sandstrand, eine hübsche Lage, die an vergangene Urlaubsfreuden erinnerte. Der heutige Tag jedoch hatte nichts mit Ferien zu tun.
Heute verdunkelte schwarzer Rauch die Sonne, Meer und Himmel verliefen zu einem schmutzigen Grau, während eine Welle deutscher Flugzeuge nach der anderen aus der Höhe herabstieß, um ihre Bomben auf die englischen Zerstörer abzuwerfen. Alles war friedlich, die Menschheit aber war auf Tod und Verderben aus.
Martin Thackeray lag an Deck und klammerte sich an das Dollbord des kleinen hölzernen Fischerboots. Das Boot war auf das offene Meer hinausgefahren und mitten in den Angriff geraten, der auf die britischen Kriegsschiffe niederging. Er dachte an Margate, wo seine Familie Jahr für Jahr ihren Urlaub verbracht hatte, als er noch klein war, und versuchte, den Rauch, die explodierenden Schiffsrümpfe und die Leichen auszublenden, die auf der von Öl geschwärzten Wasseroberfläche trieben. Er konzentrierte sich auf den Strand und die Häuser. Es hätte Margate sein können, dachte er. An diesen Gedanken klammerte er sich so fest wie an das Dollbord aus Angst, das Bewusstsein zu verlieren, denn Ohnmacht bedeutete, das Leben zu verlieren. Warum flößte ihm der Tod eine solche Angst ein? Er hatte viele Männer sterben sehen. Jetzt war er an der Reihe. Er musste sich damit abfinden. Doch das wollte ihm einfach nicht gelingen. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Hatte er seinen Glauben verloren? Warum hatte er solche Angst, seinem Schöpfer zu begegnen? Er tadelte sich, versuchte, seinen Frieden mit Gott zu machen, sein Schicksal hinzunehmen, doch selbst dabei empfand er unwillkürlich das Bedürfnis, sich zur Wehr zu setzen. Bleib am Leben, hämmerte es in seinem Kopf, bleib am Leben.
Die Niederlage des britischen Expeditionskorps war vernichtend gewesen, und die Truppen hatten sich so weit wie möglich zurückgezogen, als Befehle eintrafen, sich am Strand zu versammeln. Nur wenige glaubten den Gerüchten über eine Rettungsmission.
Martin Thackeray war mit zwanzig anderen aus seiner Einheit in den Ruinen einer Kirche in eine Falle geraten, als die feindliche Vorhut in das zerstörte Dorf eindrang. Sie hatten zu spät ihre Stellung verlassen, um noch die Flucht zu ergreifen. Sie eröffneten das Feuer. Der Feind ging in Deckung und verschanzte sich um die Kirche herum.
Kurz vor dem Morgengrauen unternahmen Martin und seine Männer ihren Ausbruchsversuch, doch sie wurden gnadenlos niedergemäht von den Truppen, die sie umzingelten und nur auf sie warteten. Martin und der junge Tom Putney waren die Einzigen, die unverletzt davonkamen und es am nächsten Tag bis zur Küste schafften.
»Allmächtiger Gott!«, hatte Tom in seinem Cockney-Dialekt gemurmelt, als sie in geduckter Haltung einen schmalen Weg entlangschlichen, der direkt auf das Meer zuführte. »Sieh dir das an!«
»Du sollst nicht fluchen«, lautete Martins lakonische Antwort. Toms Gotteslästerungen und seine eigenen Gewissensbisse waren seit Monaten ein scherzhaftes Geplänkel zwischen ihnen, doch auch Martin war beim Anblick der unzähligen Schiffe, die auf den Wellen schlingerten, sprachlos stehen geblieben. Es müssen Hunderte sein, hatte er gedacht. Unmöglich, sie zu zählen, und es waren Schiffe aller Art. Truppentransporter und Minensuchboote, Kreuzer und Yachten, Vergnügungsdampfer und Fischerboote, manche waren kaum mehr als Schlauchboote. Am Strand saßen Männer zu Tausenden und warteten geduldig, bis sie gerettet wurden. Manche warteten bereits seit Tagen.
»Ich habe nicht geflucht, Martin«, hatte Tom gesagt, »das war mein Dank für die englischen Schiffe. Es ist ein verdammtes Wunder, ein gottverdammtes … «
Mitten im Satz hielt er inne, als das Gebäude neben ihnen explodierte. Eine Granate war eingeschlagen. Sie befanden sich doch außerhalb der Kampfzone, hatte Martin noch vage denken können, bevor die Kraft des Einschlags ihn durch die Luft wirbelte.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, ob Sekunden oder Stunden später, konnte er nicht sagen, begriff er, dass die Granate nicht aus der Kampfzone abgefeuert worden war. Die Stukas über ihnen waren fest entschlossen, der Rettungsaktion Einhalt zu gebieten.
»Tom!« Martin war zu seinem Freund hinübergerobbt, stechende Schmerzen im linken Bein und in der Brust. In seinen Ohren klingelte es, und seine Sicht war verschwommen, doch er wusste, dass Tom tot war. Tom Putney war kaum zwanzig, zehn Jahre jünger als Martin. Zu jung, um zu sterben.
»Vater unser«, hatte Martin angefangen, während er Toms Hände über der Brust zusammenlegte, »der du bist … « Dann wurde er plötzlich am Handgelenk gepackt und auf die Knie gerissen; der Schmerz fuhr wie ein Messer durch seinen Körper.
»Spar dir deinen Atem, Kumpel.«
»Vater unser, der du bist im Himmel … «, hatte Martin aufbegehrt, für sich selbst ebenso wie für Tom.
»Komm schon!«, hatte Emlyn Gruffudd gedrängt. Himmel! Er war wirklich gottesfürchtig, aber was hatte es für einen Sinn, für einen Kerl zu beten, dem der halbe Kopf weggeblasen war! »Komm schon«, hatte er wiederholt und Martin auf die Beine gehievt. »Du schaffst es.«
Halb getragen, halb gezerrt, gelangte Martin zum Strand. Er hatte keine Ahnung, wer der Mann war, jedenfalls niemand aus seiner Einheit. Er hatte versucht, sich bei dem Mann zu bedanken, doch die Schmerzen hatten ihn bereits übermannt.
Die Verwundeten sollten zuerst in die Schlange geführt werden, die sich auf das Wasser zu bewegte, und Emlyn Gruffudd dankte seinem Glücksstern, dass er den Engländer gerettet hatte. Sonst hätte er am Ende tagelang mit den anderen warten müssen. Er hob Martin noch höher an seine Hüfte, ohne auf dessen qualvolles Stöhnen zu achten.
Kurz darauf wurden sie von einem der leichteren Boote an Bord genommen, das es ins niedrige Wasser geschafft hatte.
»Zehn höchstens, noch Platz für zwei«, hatte der Schiffer des kleinen Fischerbootes gesagt und sie mit seinem Gehilfen an Bord gehievt.
Martin klammerte sich also ans Dollbord, und während das Boot in den Kanal hinaustuckerte, beobachtete er den Strand von Dünkirchen, dachte an Margate und versuchte derweil, bei Bewusstsein zu bleiben. Sobald sie jedoch draußen auf der rauen See waren, fuhr ihm durch die Bewegung des Bootes ein solcher Schmerz durch das zerschmetterte Bein und die Brust, dass er schon aufgeben wollte.
»In Portsmouth herrscht das absolute Chaos. Dasselbe in Southampton. Die großen Schiffe sind alle auf dem Weg zu den Anlegestellen dort.« Die Stimme klang entschieden, es war ein älterer Mann mit kräftigem Hampshire-Akzent. »Wir steuern Fareham an.«
Das Klingeln in seinen Ohren hatte nachgelassen, und Martin konnte die Worte deutlich verstehen. Demnach lebte er noch. Er wusste nicht, ob er dankbar sein sollte. Er wappnete sich gegen den Schmerz, der wieder einmal wie ein wütender Sturm durch ihn hindurchfuhr. Fast erleichtert spürte Martin, wie die Schwärze über ihn kam.
Er wachte von Stimmen auf. Diesmal waren es viele. Befehlston. »Und hochheben. Jetzt vorsichtig.« Andere kletterten aus dem Boot, bereitwillige Hände halfen den Verwundeten, und er hörte, wie der Waliser sagte: »Du schaffst es, Junge«, als er spürte, wie man ihn auf die Mole hob. Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Auf einer Trage brachte man ihn zu einem Fahrzeug am Kai. Landrover der Armee, Privatwagen, sogar ein paar Pferdekarren; es ging zu wie im Bienenstock.
Martin delirierte, alles drehte sich. Wo war er? Die Stimmen waren ausnahmslos englisch. Er wollte fragen: »Bin ich zu Hause?«, wagte es aber nicht zu sprechen. Dann hielt eine Hand die seine. Eine weiche Hand, deren Griff jedoch fest und tröstlich war.
»Keine Sorge, Sie sind jetzt zu Hause.« Eine Frauenstimme. Sie hatte seine Gedanken gelesen, und sie sah aus wie ein Engel. Er kämpfte gegen die Schwärze an, als er spürte, dass er wieder wegsackte. Er wollte den Anblick dieser Vision nicht verlieren. Ein Engel, mit so hellem Haar, das wie ein Schein um ihr Gesicht lag. »Sie sind in Sicherheit. Wir bringen Sie ins Royal Victoria Hospital in Netley.« Ihre Stimme war freundlich und kam von sehr weit her. Dann lächelte sie. An der Stimme und dem Gesicht hielt er fest, als sie ihn in den Landrover hoben. Angst und Unsicherheit waren von ihm gewichen. Er war gerettet, der Engel hatte es ihm gesagt. »Sie sind in Sicherheit«, hatte sie gesagt, und er glaubte ihr.
Nora – werde ich dir nie mehr als ein Fremder sein können?«
»Ach, Torvald, dann müsste das Wunderbarste geschehen.«
»Nenn es mir, dieses Wunderbarste!«
»Dann müsste mit uns beiden, mit dir und mir, eine solche Wandlung vorgehen, dass … Ach, Torvald, ich glaube an keine Wunder mehr.«
»Aber ich will daran glauben. Sprich zu Ende! Eine solche Wandlung, dass …?«
» … dass unser Zusammenleben eine Ehe werden könnte. Leb wohl!«
Sie ging, und er blieb sitzen, das Gesicht in den Händen bergend.
»Nora! Nora!« Er sah sich um. »Leer! Sie ist fort.« Hoffnung stieg in ihm auf. »Das Wunderbarste?« Dann hörte er, wie unten die Haustür ins Schloss fiel.
Die letzte Aufführung von Henrik Ibsens »Nora oder Ein Puppenheim« im Theatre Royal am Haymarket wurde mit stehenden Ovationen bedacht. Die preisgekrönte Produktion war über ein Jahr lang mit 431 Vorstellungen vor ausverkauftem Haus gelaufen, und der Erfolg gründete sich größtenteils auf die junge Schauspielerin, die Londons West End im Sturm erobert hatte. 2005 war auf jeden Fall das Jahr von Samantha Lindsay.
In der Mitte der Reihe, Hand in Hand mit ihren Kollegen vom Ensemble, kam Samantha für den letzten Vorhang auf die Bühne. Insgesamt waren es zwölf gewesen. Sie hatte den Blumenstrauß vom Inspizienten entgegengenommen, war mehrfach allein vor den Vorhang getreten, und jetzt, als das Ensemble sich verbeugte, warf sie einen kurzen Blick in die Kulisse und nickte dem Inspizienten kaum merklich zu. Er lächelte, das Licht wurde dunkler, das Ensemble verließ die Bühne, und das Publikum applaudierte noch immer begeistert, als das Bühnenlicht anging.
Hinter den Kulissen umarmten sich die Schauspieler. Alexander nahm Samantha in den Arm.
»Meine geliebte Puppenfrau«, sagte er, »du warst eine prächtige Nora, es war wunderschön.« Dann aber, nachdem er sie auf beide Wangen geküsst hatte, musste er einfach hinzufügen: »Aber warum um alles in der Welt hast du abgebrochen? Wir hätten noch mindestens sechs weitere Vorhänge haben können.«
Sam war klar, dass er sich wirklich beschwerte. »Man soll sie immer bei der Stange halten«, erwiderte sie unschuldig, »so heißt es doch, oder?«
Anscheinend hörte er ihr nicht zu. »Fünfzehn hatten wir am letzten Abend von ›Lady Windermere‹, und das war nach nur hundert Aufführungen, heute hätten wir es locker auf zwanzig ausdehnen und einen Rekord erzielen können.«
»Na, dazu ist es jetzt zu spät.« Samantha zuckte mit den Schultern. Alexanders ewige Klagen gingen ihr inzwischen zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Er war ein guter Schauspieler, und sie hatten gut zusammengearbeitet, obwohl sie seine offene Antipathie anfangs hatte überwinden müssen. Alexander Wright war es nicht gewohnt gewesen, mit einer praktisch Unbekannten zu arbeiten. Wie alle anderen auch war er schließlich, wenn auch nur widerwillig, Samanthas natürlichem Charme und unverkrampfter Offenheit erlegen.
»Sie ist ein Schatz«, sagte er jedem, der danach fragte, wie Samantha Lindsay nun wirklich sei – und zu seinem heimlichen Verdruss fragten viele. »Die kleine Unschuld, um genau zu sein.« Es gelang ihm immer, seinen Worten einen zugleich liebevollen und beschützenden Anstrich zu geben.
Sam war nicht unschuldig. Sie war bestimmt nicht eingebildet, aber sie wusste, dass es die Sache für alle vereinfachte, wenn sie das Ego des Schauspielers streichelte.
»Ich bin mir sicher, dass du Recht hast«, fügte sie nun hinzu, als sie den vertrauten finsteren Blick bemerkte, »und ja, es war wunderbar. « Sie nahm ihn spontan in den Arm. »Ich habe gern mit dir zusammengearbeitet, Alexander, du hast mir eine Menge beigebracht.« Das meinte sie ehrlich. Außerdem konnte Alexander nun mal nicht aus seiner Haut. Wie hieß es doch gleich? Der Stolz des Löwen, das Schnattern von Gänsen und das Gejammer von Schauspielern. Nach dreißig hingebungsvollen Jahren am Theater war Alexander Wright ein Produkt seines Berufs.
Da er ihre Aufrichtigkeit spürte, antwortete er mit der einem solchen Kompliment angemessenen Würde. »Danke, meine Liebe. Ich empfinde es als meine Pflicht, junge Schauspieler zu fördern.«
Sie lächelte. »Und jetzt muss ich das Zeug loswerden.« Sie nahm den Blumenstrauß an sich, den der Inspizient geduldig für sie hielt, und ging zu ihrer Garderobe. »Wir sehen uns beim Abendessen«, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu. »Ich komme schier um vor Hunger.«
Alexander schüttelte den Kopf, aufgebracht und liebevoll zugleich. Sie war ja so lächerlich australisch.
Reginald wartete zehn Minuten, bevor er an Samanthas Garderobentür klopfte. Hätte es sich um eine andere weibliche Klientin gehandelt, dann hätte er mindestens eine halbe Stunde gewartet, doch Sam brauchte nur zehn Minuten, um »ihr Zeug loszuwerden«, wie sie es nannte. Reginald hatte Samantha von Anfang an erfrischend gefunden, obwohl es eine Weile gedauert hatte, bis er sich daran gewöhnt hatte, »Reg« genannt zu werden.
»Reg!« Sam war abgeschminkt, trug aber noch die Strumpfmütze und das Kostüm und saß vor ihrem Garderobenspiegel, als der adrette kleine Engländer hereinkam. Sie sprang auf, die Perücke in der Hand, und umarmte ihn. »Nimm Platz«, sagte sie, »bin gleich fertig.« Sie setzte sich, warf die Perücke auf den Ständer, zog die Mütze vom Kopf und bürstete sich die blonden Haare, die sonst lockig waren und ihr Gesicht rahmten, zu einem Pferdeschwanz nach hinten. Wieder sprang sie auf und begann, sich das Kostüm auszuziehen.
»Ich warte draußen.« Reg erhob sich.
»Sei nicht albern, ich bin anständig verhüllt.« Sie ließ das Kostüm zu Boden fallen. »Schau her! Rheumaunterwäsche!«
Reg lächelte, wandte aber diskret den Blick ab. Selbst in einem Winterunterhemd und langer Baumwollunterhose sah sie noch sexy, schlank und geschmeidig aus. Ihr Anblick machte ihn unsicher. Viel lieber hätte er draußen gewartet.
Sam zog sich rasch an; sie hatte ihn nicht in Verlegenheit bringen wollen. Was war bloß mit den Engländern los?, fragte sie sich. Australische Schauspieler zogen sich in Garderoben offen aus.
»Hast du nachgesehen, ob das Bier angekommen ist?«, fragte sie, während sie den Reißverschluss ihrer Cordhose hochzog und nach dem Pullover griff.
»Ja, es steht am Bühnenausgang. Der Portier hat sich köstlich darüber amüsiert, dass es Foster’s war.«
»Ich dachte mir, ich stelle mal was klar. Alles im grünen Bereich, du kannst jetzt hinsehen.« Sie nahm ihren Mantel vom Haken an der Tür. »Komm, ich sterbe vor Hunger.«
»Wir werden die Ersten sein.«
»Umso besser, wir nehmen uns den besten Tisch.«
War also nichts mit dem großen Auftritt als Letzte, dachte Reginald, und dass sie sich in Schale geworfen hätte, konnte man auch nicht gerade sagen. »Kein Grund zur Eile«, sagte er leicht ironisch. »Nigel kümmert sich um unseren Tisch.«
Zum ersten Mal holte Sam tief Luft. »Ich wusste nicht, dass Nigel auch kommt.«
»Sam«, sagte er geduldig, »ich habe dir doch vorige Woche gesagt, du musst ihm ein Interview geben, bevor du nach Sydney abreist.« Nigel war der Pressemann, den Reginald beschäftigte, um eine Reihe seiner wichtigsten Kunden zu betreuen, und er wusste, Sam konnte den Mann nicht leiden. Was verständlich war, denn die meisten mochten ihn nicht, aber Nigel war sehr gut. »Er sagt, du bist ihm in den letzten fünf Tagen aus dem Weg gegangen.«
»Ich musste aus der Wohnung ausziehen, Herrgott nochmal«, protestierte sie. » Ich habe das Ausräumen der Möbel organisiert und hatte einfach keine Zeit!«
»Dann hättest du dir Zeit nehmen sollen.« Manchmal konnte Sam einen schon rasend machen. »Du hast den Oliver Award gewonnen, um Himmels willen! Du kannst nicht einfach so aus London verschwinden. Wir müssen dich im Gespräch halten. Wir müssen die Branche darauf aufmerksam machen, dass du Star in einem Hollywoodstreifen wirst.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber es ist der letzte Abend!«
»Schön«, fuhr Reginald sie an, »dann werde ich ihm sagen, er soll nach Fareham kommen, ja?« Sie funkelte ihn wütend an, und ihre haselnussbraunen Augen hatten einen trotzigen Glanz, doch Reginald war entschlossen, keinen Millimeter zu weichen. »Er wird sich auf die Fahrt dorthin freuen, dessen bin ich mir sicher.«
»Na gut, du Mistkerl, du hast gewonnen.« Sie zuckte mit den Schultern, und er wusste, dass sie nicht richtig wütend war und dass ihre Ausdrucksweise nicht absichtlich beleidigend war. Sams Stimme klang nicht nasal und ihr Akzent war nicht sonderlich australisch, ihr Benehmen aber war es auf jeden Fall, und Reg schätzte sie inzwischen dafür. Sie warf sich den Schal um den Hals. »Komm, wir gehen.«
»Lippenstift«, ermahnte er sie. Dann, während sie den Stift über den Mund führte, fügte er hinzu: »Und die Augen auch noch ein bisschen.« Wieder funkelte sie ihn im Spiegel an. »Na ja, zumindest etwas Wimperntusche«, sagte er. »Wir sind im Ivy, Sam, und dort hängen mit Sicherheit Pressefotografen rum.«
»Ich weiß nicht, wieso wir nicht zu Zorba gehen«, beklagte sie sich, »das Essen ist viel besser.«
»Weil die anderen ins Ivy wollen, darum. Hör auf, dich wie eine Primadonna aufzuführen.«
Es war beißend kalt draußen, ungewöhnlich für Anfang September, und während sie den breiten Haymarket Richtung Piccadilly Circus entlanggingen, drehte Sam sich um und warf noch einen Blick auf das Theater, auf die eindrucksvollen korinthischen Säulen mit dem goldenen Relief, den Bögen und den Steinmetzarbeiten, alles perfekt angestrahlt. Was für ein Geschenk war es doch gewesen, dort zu arbeiten.
Sie dachte an das erste Mal, als sie das »Haymarket« betreten hatte, wie die Schauspieler das Theatre Royal liebevoll nannten. Es war im Dezember 1996 gewesen, und sie war mit dem Zug aus Fareham gekommen. So viel Neues, dachte sie rückblickend. Ihre erste Reise nach England, ihre erste Fahrt nach London und ihre erste Erfahrung mit dem West End Theatre. Sie hatte sich das neue Stück von Tom Stoppard angesehen, »Arcadia«. Sie war damals achtzehn und empfand es als das zauberhafteste Erlebnis ihres Lebens. Und jetzt, neun Jahre später, hatte sie dort gearbeitet. Während der acht Vorstellungen pro Woche über ein Jahr lang hatte sie die Erfahrung nie als selbstverständlich betrachtet. Nun war es vorbei.
»Es war eine gute Spielzeit, nicht wahr?« Reginald hatte schweigend neben ihr gestanden. Er wusste, woran sie dachte.
»Stets Meister im Untertreiben, Reggie«, schmunzelte sie.
Er nahm ihre Hand und lächelte. »Vorwärts und nach oben, Sam. Vorwärts und nach oben.«
»Hoffentlich.« Die bevorstehende Filmrolle war der bisher größte Sprung in ihrer Karriere, doch Filme waren ein riskantes Geschäft, wie sie beide wussten. Und das Theater würde ihr fehlen.
»›Torpedo Junction‹. Das ist ein ziemlich altmodischer Titel, meinen Sie nicht?« Nigel saß da, den Bleistift über seinem Notizblock, den Gin Tonic unangetastet. Gnädig hatte er gewartet, bis Sam fertig gegessen hatte, ein riesiges Steak – weiß der Henker, wohin das Mädchen das steckte, sie hatte die Figur eines Windspiels –, und dann hatte er darauf bestanden, dass sie sich zu dritt in eine ungestörtere Ledernische zurückzogen.
»Inwiefern altmodisch?«, fragte sie nun ein wenig provozierend. Sie konnte nicht anders: für sie war Nigel ein eingebildeter Fatzke.
»Klingt wie ein Kriegsfilm aus den vierziger Jahren.«
»Tja, das ist es in gewisser Weise doch auch, oder? Torpedo Junction war das berüchtigte Jagdrevier der japanischen U-Boote im Zweiten Weltkrieg.«
Nigel rückte sich die Gucci-Brille zurecht und presste die Lippen zusammen. Er konnte Samantha ebenso wenig ausstehen wie sie ihn. Eine kleine Aufsteigergans. War ihr denn nicht bewusst, dass er als Journalist mit einem eigenen Pressehaus und allen Kontakten, über die er verfügte, sie restlos fertig machen konnte? Und wenn sie nicht auf Reginalds Liste stünde, würde er es mit Vergnügen tun.
»Das ist es also? Ein Kriegsfilm?«
»Nein.« Was für eine Zeitverschwendung, dachte Sam. Sie hasste diese Spielchen. Doch es gehörte zum Geschäft, sagte sie sich, während sie einmal tief durchatmete und versuchte, einen angenehmen Plauderton anzuschlagen. »Eigentlich geht es um Liebe. Die große Liebe.«
»Aha!« Er stürzte sich darauf wie ein hungriger Kater. Genau das wollte er hören. »Es ist also ähnlich wie ›Pearl Harbour‹, eine Geschichte über Krieg und Liebe.« Entzückt kritzelte Nigel in sein Notizbuch. In diesem frühen Stadium, noch vor Beginn der Dreharbeiten, ließ die Produktionsgesellschaft keine Einzelheiten über ›Torpedo Junction‹ heraus, nur den Titel, die Besetzung der Hauptrollen und die Tatsache, dass es die nächste Großproduktion von Mammoth war.
»Nein, es geht nicht um Krieg und Liebe«, sagte sie kurz angebunden. Das hatte sie ganz und gar nicht gemeint, dachte Sam und fluchte im Stillen auf den Mann. »Es ist eigentlich überhaupt nicht wie ›Pearl Harbour‹, Nigel«, sagte sie, trank ihr Glas leer und lächelte süß, wie sie hoffte.
»Worum geht es dann?«
»Warum fragen Sie mich nicht, wie es mir dabei geht, mit Brett Marsdon zu arbeiten? Das wollen doch bestimmt alle wissen.«
Natürlich hatte sie Recht, doch er könnte eine zweite abgeschlossene Geschichte über die Handlung des Films verkaufen, wenn er sie aus ihr herausbekäme. »Sie wollen also nicht über das Drehbuch reden?« Er versuchte es noch ein letztes Mal.
»Es geht um Menschen, Nigel. Eins der besten Drehbücher, die ich je gelesen habe. Und es geht nur um Menschen.«
Die blasierte Kuh, dachte er. Sie plapperte jetzt die Einzelheiten nach, die bereits herausgegeben worden waren. Es sei eine amerikanische Produktion, Mammoths teuerste in diesem Jahr, sie drehten auf hoher See, die Innenaufnahmen in den Fox Studios in Sydney und vor Ort irgendwo im Südpazifik oder hoch oben im Norden in Queensland, die speziellen Details seien noch nicht heraus. Nichts, was er nicht schon wusste. Nigel gab auf.
»Dann erzählen Sie mir was über Brett Marsdon«, sagte er. »Wie fühlen Sie sich dabei, mit Hollywoods heißestem Star zu arbeiten? Es ist doch Ihre erste Filmrolle, nicht wahr?«
Nicht wahr, dachte sie, wer sagte schon nicht wahr? Doch da sie sich bewusst war, dass er sie wieder einmal reizen wollte, lächelte sie frech, statt zurückzubeißen. »O nein, vor drei Jahren habe ich in einem billigen Thriller eine Prostituierte gespielt.«
»Tatsächlich?« Nun war es an Nigel, Reginald einen Blick zuzuwerfen. »Das stand nicht im Lebenslauf.«
»Ich landete auf dem Boden des Schneideraums, die ganze Szene. Der Film war ohnehin ein Flop.«
»Verstehe.« Na, das konnte er wohl kaum verwenden. Er fragte sie nach ihrer Haltung zu England. Wollte sie nach einem Jahr als Liebling des Londoner West End bald wieder dort arbeiten, oder würde Hollywood sie für sich in Anspruch nehmen? Erstaunlicherweise erwärmte sie sich für das Thema.
»Ich werde natürlich dahin gehen, wo ich Arbeit finde«, sagte sie, »aber ich würde gern in England leben, wenn es geht.« Sie lächelte Reg an. »Ich habe hier ein Haus gekauft.«
»Ach was?« Nigel täuschte Interesse vor. »Wo denn?«
»In Fareham.«
»Fareham!« Seine Überraschung gefiel ihr. Hatte er erwartet, sie würde Chelsea oder South Kensington sagen? »Warum um alles in der Welt in Fareham? Das liegt doch total fernab vom Schuss.«
»Dort habe ich mein erstes Weihnachtsspiel gegeben«, sagte sie. »Cinderella in Ferneham Hall, Fareham, 1996.«
Nigel zuckte zusammen. Das traditionelle, in England so fest verwurzelte Laienspiel zu Weihnachten war kaum etwas, mit dem man sich brüsten konnte, schon gar nicht eine Produktion in einem Provinznest wie Fareham. Das Mädel war wirklich unmöglich.
»Dort habe ich zum ersten Mal im Theater gearbeitet«, sagte Sam, »obwohl die Produzenten es nicht wussten. Vermutlich hätte es ihnen auch nichts ausgemacht. Ich wurde nur wegen der Seifenoper eingestellt.«
Nigel warf Reginald einen ungläubigen Blick zu. Er hatte gewusst, dass Samantha Lindsay als Teenager in einer australischen Seifenoper angefangen hatte, aber darüber wollten sie doch bestimmt kein Wort verlieren, oder?
Reginald leistete seinen einzigen Beitrag zum Interview. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass über Sams Hintergrund gesprochen wird. Das unterscheidet sie von anderen«, schlug er begütigend vor. »Ich glaube, die Leser fänden es interessant.«
Leser vielleicht, dachte Nigel, potenzielle Produzenten und Agenturen wohl kaum. Aber gut, wenn das Mädchen sich selbst ein Bein stellen wollte, und wenn er die Erlaubnis des Agenten hatte, dann wollte er nur zu gern gefällig sein.
»Wie faszinierend«, sagte er, während er seine Notizen hinkritzelte.
Samantha Lindsay kam aus Perth. »Perth, Westaustralien, nicht Perth in Schottland«, sagte sie jedes Mal, nachdem sie schon am ersten Tag, an dem sie britischen Boden betrat, erkannt hatte, wie notwendig diese Klarstellung war.
Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie Schauspielerin werden wollen, doch ihre Mutter hatte das nicht weiter beachtet. Sam hatte einmal in der Woche in einem Amateurtheater am Ort Unterricht im Singen und Tanzen nehmen dürfen, weil einige ihrer Freundinnen dorthin gingen, doch man setzte stillschweigend voraus, dass sie ihren kindlichen Phantasien entwachsen und die Universität besuchen würde. Der Unterricht stachelte Sams Ehrgeiz nur an, und sobald sie sechzehn war, wartete sie heimlich und voller Ungeduld auf den Tag, an dem sie in der Schauspielschule vorsprechen konnte. Dann stieß sie kurz nach ihrem siebzehnten Geburtstag Mitte Februar im West Australian auf die Anzeige: »ANHÖRPROBE für ›Families and Friends‹. Jungen und Mädchen, 14–15 Jahre alt.«
Sam, die jünger aussah, als sie war, flocht sich das Haar zu Zöpfen, zog für das Vorsprechen ihre alte Schuluniform an und bekam die Rolle.
»Families und Friends« war eine sehr erfolgreiche australische Seifenoper. Sie war acht Jahre lang gelaufen und in über zwanzig Länder weltweit verkauft worden. Der einzige Haken war, sie wurde in Sydney gedreht. Ihre Eltern konnten nicht viel unternehmen, Sam ging »nach Osten«, und niemand würde sie aufhalten. Ihre Mutter war entsetzt.
Die Pressemaschine lief auf Hochtouren, und Samantha Lindsay war wie so mancher Teenager vor ihr und nach ihr bald in aller Munde, nicht nur in Australien, sondern auch in Großbritannien, wo die Serie besonders beliebt war. Sie war schockiert, als der Fernsehsender ihr anderthalb Jahre später keinen neuen Vertrag anbot. Ihre Agentin wusste, warum.
»Du bist jetzt zu alt, Sam«, sagte Barbara Bradley nüchtern. »Du bist kein Kind mehr, Schätzchen, du hast dein Verfallsdatum überschritten. Nimm es nicht persönlich. Du kannst dich auf das Weihnachtsspiel in England freuen, Schätzchen.« Sie war froh, dass sie ein solches Stück für die Weihnachtspause organisiert hatte; nun hatte Sam etwas, worauf sie sich freuen konnte. »Wenn du zurückkommst, werden wir uns auf Erwachsenenrollen konzentrieren.«
Das Weihnachtsspiel war eine echte Billigproduktion und sollte in einem Haus mit dem unspektakulären Namen Ferneham Hall in der unbedeutenden Ortschaft Fareham aufgeführt werden. Immerhin hatte die Agentin schon einmal mit den Produzenten zu tun gehabt und fand sie einigermaßen ehrlich. Junge australische Schauspieler aus Seifenopern für die Weihnachtsspiele in England zu engagieren, war gerade in Mode. Und es war ein Job für Sam.
Ferneham Hall in Fareham mochte zwar für Barbara nicht aufregend sein, aber für Sam war es das. Sie ging nach England! Man schrieb das Jahr 1996, sie war achtzehn, und sie sollte am Theater arbeiten! Ebenso gut hätte man sie im Londoner Palladium engagieren können.
Ihre Hochstimmung hielt von Anfang an. Nun ja, nicht ganz. Sie war schon ein wenig ernüchtert gewesen, als der Intendant sie an einem frostigen Morgen Anfang Dezember am Flughafen Heathrow abholte und sie feststellen musste, dass sie auf direktem Weg nach Fareham fuhren. »Sehe ich denn nichts von London?«, hatte sie gefragt. Pete Harris, ein ziemlich schweigsamer Mann Mitte dreißig, hatte kurz und kräftig aufgelacht, während er auf der Autobahn nach Süden fuhr. Er hielt ihre Frage für einen Scherz, und als ihm klar wurde, dass sie es ernst meinte, fragte er sich, ob er wohl eine echte Unschuld vor sich hatte oder ob sie zu diesen untalentierten, verzogenen jungen australischen Seifenopernstars gehörte, die eine Extrawurst verlangten. In den fünf Jahren, die er jetzt für Vermont Productions arbeitete, hatte er davon eine ganze Reihe kennen gelernt. »London liegt nicht auf dem Weg«, sagte er kurz angebunden.
Auch die Autobahn enttäuschte Sam. Wo war die berühmte englische Landschaft? Vielleicht war sie zu naiv gewesen. Was hatte sie erwartet? Wind in den Weiden? Dieses nie enden wollende Betonband führte eindeutig in einen Industriedschungel, in dem sie nun zwei ganze Monate lang gefangen säße. Doch als sie von der Autobahn abbogen und durch die Hügel der South Downs fuhren, änderte sich plötzlich alles. Die englische Landschaft war genau so zauberhaft, wie sie es sich vorgestellt hatte: Buchenwäldchen, elegant in ihrer winterlichen Nacktheit, Rosenhecken, kleine Flüsse mit pittoresken Brücken, riesige Eichen und Eiben. Dann ging es bergauf nach Fareham. Ihr erster Blick auf die Kirche St. Peter’s and St. Paul’s, deren uralter Steinturm über den in einer Gartenanlage verteilten Grabsteinen wachte.
»Was für ein schöner Ort«, sagte sie ehrfürchtig, während Pete eine schnelle Runde durch die Stadt drehte, um ihr einen ersten Eindruck zu verschaffen. Sie ist eine Unschuld, dachte er und bog von der Osborn Road in die breite Kiesauffahrt von Chisolm House ab.
Obwohl Chisolm House inzwischen eine Pension war, strahlte es noch die Eleganz einer einstigen Privatresidenz aus. Sechs große Erkerfenster, drei im Parterre, drei im ersten Stock, gingen auf einen prächtigen und gut gepflegten Vorgarten mit gemähtem Rasen und einem Springbrunnen hinaus. Der Haupteingang auf der rechten Seite des Hauses, direkt an der Kiesauffahrt, wurde von zwei Steinlöwen und einer beeindruckenden Konifere in einem Steinguttopf bewacht.
»Hallo, Pete.« Eine große, matronenhafte Frau in den Fünfzigern stand an der Tür, als der Wagen vorfuhr. Sie hatte sie offensichtlich erwartet.
»Hallo, Mrs M.«, sagte Pete und hob den Koffer aus dem Kofferraum. »Das ist Samantha Lindsay. Samantha, Mrs M.« Er stellte den Koffer auf der Treppe ab.
»Kommen Sie in die Küche, meine Liebe, Sie wollen sicher eine Tasse Tee.« Noch ehe Samantha protestieren konnte, nahm Martha Montgomery, die alle als Mrs M. kannten, den schweren Koffer und eilte geschäftig voran durch die Diele. »So eine weite Reise, Sie müssen ja vollkommen erschöpft sein.«
Sam folgte der Frau durch die kleine Diele, die von Mantelständern mit Haken für Hüte gesäumt war. Vor ihnen lag eine breite Holztreppe, die in den ersten Stock führte, doch Mrs M. bog scharf nach rechts ab und ging ein paar Stufen hinunter in die Küche. Bevor sie ihr weiter folgte, warf Samantha einen kurzen Blick durch die geöffnete Doppeltür links von der Treppe in einen prächtigen Wohnraum. Hohe Decke, reich verzierte Möbel, ein Kristallkronleuchter, der im Licht der Fenster zum Garten hinaus funkelte.
Sam ging die Treppe hinunter in eine Küche, die so groß wie ein kleiner Ballsaal war. Mrs M. hatte den Koffer bereits neben dem massiven Holztisch in der Mitte des Raumes abgestellt und machte sich an der ebenso massiven Holzarbeitsplatte zu schaffen, von der man durch die Seitenfenster einen Blick auf die Auffahrt hatte. Überall hingen Töpfe und Pfannen und Küchengeräte an Holzhaken, und der Raum war trotz seiner Größe warm und gemütlich.
»Sie wollen sicher frühstücken«, sagte Mrs M., »Sie müssen ja halb verhungert sein.«
»Nein, danke. Ich habe im Flugzeug gegessen.«
»Jetzt setzen Sie sich mal, Samantha, und ich mache Ihnen ein paar Eier.«
»Nein, bestimmt nicht, Mrs M.« Sam hatte das verrückte Bedürfnis zu lachen. »Ich würde nichts runterkriegen. Und bitte, nennen sie mich Sam, ich denke immer, die Leute sind mir böse, wenn sie mich Samantha nennen«, plapperte sie unwillkürlich weiter, »meine Mum hat mich immer Samantha genannt, wenn sie aufgebracht war.«
Aufgebracht, wie drollig, dachte Martha Montgomery, doch das Mädchen war schließlich Australierin. Und sie wirkte so müde.
»Na gut, dann eben Sam«, sagte sie. »Hier ist Ihr Tee. Trinken Sie ihn, und dann werden wir Sie unterbringen. Sie sehen erschöpft aus, Liebes. Ist ja auch kein Wunder.«
Sam wollte nicht mehr lachen. Ihr war nach Weinen zumute. Die Freundlichkeit der Frau machte ihr plötzlich bewusst, dass sie müde und einsam und sehr weit weg von zu Hause war. Und Mrs M. war warmherzig und echt; Sam hätte sie am liebsten umarmt. Blinzelnd unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen und nahm die Tasse Tee entgegen. Zeitumstellung, das war es, wie peinlich.
Die Ärmste, dachte Martha Montgomery. Und dann auch noch so jung. »Wie alt sind Sie, meine Liebe?«, fragte sie.
»Achtzehn«, erwiderte Sam und schaute aus dem Fenster. Verdammt, sagte sie sich, jetzt brich nicht in Tränen aus. Sie kam sich lächerlich vor. »Im Februar werde ich neunzehn«, fügte sie hinzu, als hätte sie dadurch einen Sonderstatus.
»Woher kommen Sie denn nun, Sam? Aus welchem Teil Australiens?« Mrs M. holte die Teekanne an den Tisch und setzte sich.
»Aus Perth«, sagte Sam.
»Perth?« Mrs M. schaute verwirrt auf.
» Perth in Westaustralien.«
»Ach so, natürlich.« Mrs M. lachte herzlich. »Ich dachte im ersten Moment, Sie meinten Perth in Schottland. Wie dumm von mir.«
»Jetzt lebe ich allerdings in Sydney. Da wird ›Families and Friends‹ gedreht.«
Sam erholte sich rasch von ihrem Anflug Selbstmitleid, und sie plauderten zwanzig Minuten lang angeregt weiter. Sie erkundigte sich nach Chisolm House.
»Es wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebaut«, sagte Mrs M. eifrig. »Der Stadtplaner Charles Osborn war für die meisten viktorianischen Stadtbauten an dieser Straße verantwortlich. Ihm ging es natürlich ums Geld, aber er hatte ein Auge für Architektur; die Gebäude sind unterschiedlich im Stil und sehen ganz hübsch aus, jedes für sich. Die Chisolms kauften das Anwesen 1918. Sie hatten nur eine Tochter, die Chisolm House erbte. Möchten Sie noch eine Tasse?«, fragte sie.
»Ja, gern.«
»Die alte Miss Chisolm hatte vor drei Jahren einen Schlaganfall«, fuhr Mrs M. mit ihren Erläuterungen fort, während sie Tee aus der Kanne im handgestrickten Teewärmer einschenkte. »Sie hatte ewig hier allein gelebt – das heißt bis auf mich und das Zimmermädchen und den Gärtner. Sie hat nicht viel Familie, nur ein paar entfernte Verwandte, die es nicht abwarten können, sich das Haus unter den Nagel zu reißen. Die Arme, ein tragisches Leben.«
Martha Montgomery war fünf Jahre lang Phoebe Chisolms Haushälterin und Köchin gewesen, bevor die alte Dame den Schlaganfall erlitt. Dann hatte man sie als Verwalterin übernommen, als das Haus in eine Pension umgewandelt wurde.
»Ich denke oft, es würde ihr gefallen, wenn sie sähe, wie jungen Leuten das Haus gefällt«, sagte Mrs M. »Sie ist in einem Pflegeheim in Southampton, und ich besuche sie regelmäßig. Sie erkennt mich immer, und wir sitzen dann draußen bei einer Tasse Tee und halten ein Schwätzchen. Es geht ihr wohl gut, und sie ist auch gesund, aber sie ist nicht mehr ganz bei sich, die Arme, ihr Verstand gleitet ab.«
Als sie ihren Tee ausgetrunken hatten, stand Mrs M. auf und nahm den Koffer. »Am besten, wir bringen Sie jetzt unter, Sie wollen doch sicher auspacken.«
»Bitte, lassen Sie mich den Koffer tragen.«
»Ich quartiere Sie in der abgeschlossenen Wohnung ein«, sagte Mrs M., »da ist es gemütlicher.«
Sie ging Sam voran durch eine Waschküche und eine kleine, geschlossene hintere Veranda, in der Regenmäntel an Haken hingen und Gummistiefel und Strandschuhe auf dem Boden aufgereiht waren. »Der Gärtner legt seine Sachen hier ab«, erklärte sie, »und ich habe ein Zimmermädchen, das jeden Tag kommt und die Zimmer und die Wäsche macht.«
Dann traten sie aus der Hintertür in einen gepflasterten Innenhof, der von Pergolen mit Kletterrosen und einem Bogen in der Mitte gesäumt war. Wie reizvoll, dachte Sam.
Sie standen auf dem Kies hinter dem Anwesen. Zur Rechten mündete die seitliche Auffahrt in einer Doppelgarage, und direkt vor ihnen standen mehrere Wagen in markierten Parkbuchten. Links befand sich ein malerisches zweistöckiges Gebäude aus Sandstein mit Schieferdach und geteilten Fenstern. Es stand wie eine stolze kleine Schwester neben dem großen Haus und prahlte mit einer eigenen, ins Auge fallenden Besonderheit – einem riesigen Torbogen mit zwei schweren Holztüren.
»Das waren die Stallungen«, verkündete Mrs M. »Die Chisolms ließen sie in den vierziger Jahren umbauen.« Sie ging zur kleinen Tür an der linken Seite des Gebäudes und schloss auf. »Die großen Türen sind nur noch Verzierung«, erklärte sie Sam, die ihr mit dem Koffer in der Hand folgte. »Von innen sind sie mit Ziegelsteinen zugemauert. Miss Chisolm hat mir gesagt, sie habe nicht zugelassen, dass ihr Vater sie entfernte, sie habe als kleines Mädchen so gern im Stall gespielt. Kommen Sie rein, meine Liebe.«
Sam wuchtete den Koffer durch die Tür und schaute sich in dem großräumigen Wohnraum mit seinen Sandsteinwänden und schweren Deckenbalken um.
»Das war die Sattelkammer.« Mrs M. zeigte auf die Küche, die durch eine Kochinsel abgeteilt war, »und hier drüben«, sie ging zum Speise- und Aufenthaltsraum hinüber, »waren die eigentlichen Ställe, insgesamt vier, glaube ich, obwohl die Chisolms nie Pferde hielten. Kommen Sie, ich bringe Sie nach oben.«
Hintereinander gingen sie die steile Holztreppe hinauf und landeten auf einem kleinen Absatz. »Hier oben war der Heuboden«, sagte Mrs M. Durch die großen, unterteilten Fenster mit ihren kleinen Scheiben strömte das Licht; ein Schlafraum und ein Arbeitszimmer gingen auf den Innenhof hinaus. Auf der Rückseite der oberen Etage befanden sich ein großer Lagerraum und ein kleines Bad.
»Ich glaube, Sie werden es hier ganz bequem haben.«
»Das ist keine Frage. Vielen Dank, Mrs M.« Überwältigt von der Freundlichkeit der Frau fühlte Sam sich erneut den Tränen gefährlich nahe.
Mrs M. spürte es. »So, jetzt lasse ich Sie allein, damit Sie ein bisschen schlafen können«, sagte sie und tätschelte Sams Arm. »Hier sind die Schlüssel. Der eine ist für die Haustür vorn, und der andere ist für die Wohnung. Und jetzt sind Sie ein liebes Mädchen und legen sich ins Bett.«
Als sie gegangen war, setzte Sam sich in einen Sessel und weinte. Zeitverschiebung oder Selbstmitleid oder was auch immer, sie gestattete sich eine vorübergehende Schwäche. Merkwürdig, ganz allein mitten im englischen Winter in umgebauten Stallungen zu sitzen, zu einer Zeit, in der sie sich sonst eigentlich mit ihrer Clique am Strand von Bondi Beach sonnte.
Nachdem sie sich ausgeweint hatte, ging es ihr schon viel besser; sie putzte sich die Nase und schaute sich um. Du lieber Himmel, was hatte sie doch für ein Glück! Sie mochte die Stallungen, Chisolm House gefiel ihr, und sie fand Mrs M. reizend. In Fareham würde sie glücklich sein, das wusste sie, schüttelte ihre Müdigkeit ab und beschloss, sich ein wenig umzusehen.
Dick angezogen gegen die Kälte bog sie nach links in die Osborn Road und ging die Straße entlang bis zu dem Theater, das Pete Harris ihr bei der Anfahrt gezeigt hatte. Dort stand es, Ferneham Hall, ein gedrungenes rotes Backsteingebäude: ihr Arbeitsplatz für die nächsten Wochen. Sie folgte der Straße bis zur Kirche St. Peter and St. Paul und schlenderte über die vielen Pfade, betrachtete die alten Grabsteine und schreckte zwei graue Eichhörnchen auf, die am Stamm einer Eibe hinaufflitzten. Dann die breite, herrschaftliche Hauptstraße, die High Street, hinunter mit ihren schönen georgianischen Häusern, nach rechts ab in die West Street, dem Zentrum der Stadt. Es war Markttag, und in der Fußgängerzone der West Street herrschte buntes, geschäftiges Treiben, auf Karren und Ständen wurden alle nur denkbaren Gegenstände und Nahrungsmittel angeboten.
Sam streifte zwei Stunden lang durch die ganze Stadt, bis sie erschöpft und zufrieden wieder nach Chisolm House zurückkehrte. Sie hatte die Werften und die Parkanlagen neben dem Kai erkundet, Farehams kleinen, lebhaften Hafen, und war zum Bahnhof am Ende der West Street gegangen. Stündlich fuhren Züge nach London. Sie konnte sich eine Vorstellung im West End ansehen. Wenn sie dort ins Theater ging, musste sie in London übernachten. Ob sie sich das traute? Ja, verdammt, dachte sie, als sie die Tür zum Stall aufschloss.
Am nächsten Morgen wollte sie Mrs M. in ihre Pläne einweihen – die arme Frau sollte sich keine Sorgen machen, wenn sie über Nacht wegblieb. Sie betrat die Küche durch die Hintertür.
»Ich dachte, ich nehme einen Zug nach London«, sagte sie beiläufig, »und sehe mir eine Vorstellung im West End an.«
»Oh, das ist aber schön.« Mrs M. lächelte. »Möchten Sie etwas frühstücken, bevor Sie fahren?«
So einfach war das also, dachte Sam, offensichtlich machten die Menschen andauernd einen Abstecher nach London, es war keine große Sache. »Nein, danke, Mrs M., ich habe schon Müsli mit Obst gegessen.«
Eine Stunde später brach Sam mit klopfendem Herzen auf, Zahnbürste und Unterwäsche zum Wechseln im Rucksack.
Als sie schließlich aus der U-Bahn auftauchte und am Piccadilly Circus stand, war sie aufgeregt wie noch nie. Sie war im Herzen von London, stand auf den Stufen der Erossäule, mitten auf dem Piccadilly Circus, und nahm das heillose Durcheinander von Doppeldeckerbussen, Taxis und Touristen in sich auf.
Nach dem ersten Umherstreifen mietete sie sich ein winziges Zimmer auf der dritten Etage im Regent Palace Hotel, »Bad auf dem Flur«, und fragte dann schüchtern den Portier um Rat. Er erwies sich als Theaterfan und war außerordentlich hilfsbereit.
»Der neue Tom Stoppard im Haymarket«, sagte er. »›Arcadia‹. Wunderschönes Stück, aber das sind die von ihm ja alle. Wenn Sie wollen, reserviere ich eine Karte für Sie, aber es wird billiger, wenn Sie an die Kasse gehen.«
Das war der Abend, der ihr Leben veränderte. Nach der Vorstellung stand sie im kalten Wind, der über den Haymarket fegte, und betrachtete die eindrucksvollen Säulen des Theatre Royal, ohne auf die Menschenmenge zu achten, die an ihr vorbeiströmte. Eines Tages werde ich hier arbeiten, sagte sie sich. Eigentlich glaubte sie selbst überhaupt nicht daran, aber erstrebenswert war es allemal.
Die Spielzeit von ›Cinderella‹ in der Ferneham Hall erwies sich als die härteste Arbeit, die Sam je erlebt hatte. Zehn Tage Probe, dann zwei Vorstellungen am Tag, sieben Tage in der Woche und das Ganze fünf Wochen lang. Es gab nur zwei freie Tage, den ersten Weihnachtsfeiertag und Neujahr.
Von Anfang an überraschte sie alle. »Mann!«, kommentierte Pete offen heraus. »Ein Seifenopernstar aus Australien, die auch noch singen und tanzen kann, du bist ein Geschenk Gottes, Sam.«
Seine Reaktion überraschte sie wiederum. »Was wäre, wenn ich es nicht könnte?«, fragte sie.
»Wir hätten die gesamte Choreographie geändert und dich nur stumm singen lassen. Glaub mir, Schätzchen, das haben wir schon gemacht.«
Pete wurde ihr treuester Verbündeter, und Sam mochte ihn. Gewiss, er wirkte einschüchternd, wenn er lautstark seine Anweisungen gab und alle sich krampfhaft bemühten, ihm zu folgen. Im Durcheinander der Proben ließ er keine Entschuldigungen gelten. Sam bewunderte seine Professionalität.
Die Truppe hielt trotz des aufreibenden Zeitplans gut zusammen, oder vielleicht gerade deshalb; sie aßen zwischen den Vorstellungen gemeinsam und feierten regelmäßig Partys. Für gewöhnlich freitags und samstags abends, und dann stets im Red Lion in der West Street. Es war eine der beliebtesten Kneipen in Fareham, stimmungsvoll und laut, und Sam gefiel sie. So wie ihr jede einzelne Vorstellung in Ferneham Hall gefiel. Das Theater wurde ihr Zuhause, und das Ensemble ihre Familie; sie hatte nur wenig Zeit, einsam zu sein.
Aber dann näherte sich der erste Weihnachtstag. Zum ersten Mal würde sie Weihnachten nicht bei ihrer Familie verbringen, und sie hoffte nur, nicht als heulendes Elend da zu hocken. Was sollte sie nur mit dem Tag anfangen?
»Was machst du denn über Weihnachten, Sam?«, fragte Flora am Tag vor Heiligabend, als sie ihr Make-up für die Abendvorstellung auftrugen.
Flora Robbie spielte die gute Fee. Sie war nett, Mitte vierzig noch immer hübsch mit einem reizvollen schottischen Akzent, und sie teilte sich ohne Probleme eine Garderobe mit Sam.
»Ich esse mit ein paar Freunden zu Mittag«, log Sam. Sie wusste nicht warum, doch sie wollte kein Mitleid von den anderen.
»Ach, wirklich? Wo denn?« Flora war nicht neugierig. Das Mädchen hatte ihr Leid getan, da es zu Weihnachten so fern von der Familie war.
»Irgendwo in Brighton«, sagte Sam vage, um dann hastig hinzuzufügen: »Sie holen mich ab«, falls Flora fragen sollte, wie sie dorthin käme. Sam hatte tatsächlich überlegt, einen Zug nach Brighton zu nehmen, bis sie feststellte, dass am ersten Weihnachtstag keine öffentlichen Verkehrsmittel aus Fareham hinausfuhren.
»Ach, das ist ja toll. Ich wusste gar nicht, dass du Freunde in Brighton hast.«
»Eigentlich sind es Freunde meiner Familie, ich kenne sie nicht so gut.«
»Es wird dir gut gehen«, sagte Flora, zufrieden und erleichtert, dass sich jemand um Sam kümmerte. »Brighton ist heutzutage total in.«
»Das denke ich.«
»Ich wollte dich schon mit Dougie und mir und den Kindern irgendwohin einladen.«
»Das ist ganz lieb von dir, Flora«, sagte Sam, froh über ihre Lüge, »aber ich habe es versprochen.« Die Frau hatte ihren Mann und die beiden Söhne, die gerade aus Schottland eingetroffen waren, seit drei Wochen nicht gesehen. Das Letzte, was sie brauchten, wäre eine kleine Aussie im Schlepptau.
Nach der Nachmittagsvorstellung hatten es alle eilig, fortzukommen, und Sam ließ sich in der Garderobe Zeit.
»Viel Spaß in Brighton und fröhliche Weihnachten.« Flora umarmte sie, bevor sie sich losriss, um ihren Mann und die Kinder zu treffen. Sam lauschte, wie die anderen sich »fröhliche Weihnachten« zuriefen und dann aufbrachen.
Als sie glaubte, die Luft sei rein, zog sie sich Mantel und Schal an und ging, nur um festzustellen, dass Pete vor dem Bühnenausgang in der Eiseskälte wartete.
»Pete!« Sie war überrascht. »Ich dachte, du wärst nach London gefahren.« Sie wusste, dass er während der Spielzeit bei seiner Schwester im nahe gelegenen Portchester wohnte, doch Flora hatte ihr erzählt, er lebe mit seiner Frau in London. Sam hatte angenommen, er würde über Weihnachten nach Hause fahren.
»Dieses Jahr nicht«, sagte er, und sein trauriger Tonfall sagte ihr, dass die Frage nach dem Grund nicht ratsam war. »Susan hat mich gebeten, dich zum Abendessen einzuladen.« Sam hatte Petes Schwester und ihre junge Familie kennen gelernt; sie waren zur ersten Matinee der Spielzeit gekommen. »Ich könnte dich mitnehmen, wenn du willst.«
»Oh, das ist sehr nett von ihr.« Samantha wiederholte ihre Standardantwort und fügte die Lüge an. »Aber ich fahre mit Freunden nach Brighton.«