Babara Bretton, Sara Wood, Charlotte Douglas
BIANCA EXKLUSIV, BAND 186
IMPRESSUM
BIANCA EXKLUSIV erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
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Deutsche Erstausgabe 1997 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Fotos: mauritius images
© by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA EXKLUSIV, Band 186 - 2009
Veröffentlicht im ePub Format im 02/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-594-7
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Hunter bleibt keine Wahl: Will der erfolgreiche Werbemanager seinen Job nicht verlieren, muss ihm jemand die Betreuung seiner kleine Nichte Daisy abnehmen – am liebsten die bezaubernde Jeannie Ross! Wie sehr der hübschen Nanny diese Aufgabe zu Herzen geht, sieht Hunter nicht. Wohl aber, dass er diese Frau gerne mal zu einem zärtlichen Rendezvous treffen würde …
Seit Jahren haben sich die heißblütige Olivia und ihr griechischer Ehemann Dimitri nicht gesehen. Und auch jetzt an Bord seiner luxuriösen Jacht soll es eigentlich nur um ihre Scheidung gehen – aber sie erleben Traumtage der Leidenschaft! Doch so sehr sie sich begehren, so sehr misstrauen sie sich auch. Gibt es da für ihre Ehe wirklich noch eine zweite Chance?
Plötzlich hat sie ein Kind! Ein Anwalt drückt es der bekannten Journalistin Devon Clarke an der Haustür einfach in die Hand. Schließlich ist sie für ihre Ratgeberseite „Rund ums Baby“ berühmt. Für einen Talkshowauftritt passt das Baby perfekt zu ihr. Nun fehlt nur noch ein Mann. Der smarte Colin soll den geliebten Gatten spielen. Wirklich nur spielen!
Hunter Phillips hatte einen Sturzflug über der Wüste Arizonas gemacht, sich hungrigen Haien an der mexikanischen Küste gegenübergesehen und war abseits der Pisten in Klosters Ski gefahren, aber solche Angst hatte er noch nie gehabt.
Seit drei Wochen hangelte er sich mit nachbarschaftlichen Ratschlägen, Ambulanzbesuchen und entsprechenden Videobändern durch. Jetzt war er jedoch aufgeschmissen.
„Wein doch nicht“, sagte er zu dem schreienden Säugling in seinen Armen. „Es gibt keinen Grund zum Weinen.“ Die Kleine war trocken. Sie war satt. Sie war warm verpackt. So weit, so gut.
„Komm, Daisy“, sagte er und begann, mit ihr auf und ab zu gehen. „Ich habe genauso wenig Erfahrung wie du. Gib mir wenigstens irgendeinen Hinweis … einen Tipp.“
Daisy verzog ihr winziges Gesicht und schrie noch lauter.
„Ich bin beeindruckt“, sagte er und zuckte zusammen. Sie hatte unglaublich kräftige Lungen. Ihm wäre jedoch ein klarer Satz lieber gewesen. Oder ein halber. Ein Wort hätte ihm schon gereicht, wenn er dann gewusst hätte, womit er die Kleine beruhigen konnte.
Hunter war nie damit fertig geworden, wenn weibliche Wesen weinten. Wenn dieses weibliche Wesen dazu noch blond und blauäugig war und kaum über sechs Pfund wog, wurde die Angelegenheit richtig nervenaufreibend.
Als er Daisy das erste Mal im Arm gehalten hatte, war er sich plump und ungeschickt vorgekommen, wie ein Bär, der versucht, einen Schmetterling in seinen Tatzen zu halten. Seine Muskeln verspannten sich jedes Mal, wenn er sie hochnahm, aber wenigstens schaffte er es jetzt, ohne das Gefühl zu bekommen, sie könnte ihm entgleiten.
Aber dieses Schreien war etwas anderes. Es klang so, als trüge sie die Sorgen der ganzen Welt auf ihren kleinen Schultern. Gleichgültig wie sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht verstehen, was sie wollte.
„Mir gefällt das alles nicht besser als dir, Daisy“, sagte er zu dem Säugling. Er war nicht als Vater geeignet. Es hatte auch nicht so kommen sollen. Er hatte sich sein Leben eingerichtet, sich um sich gekümmert und wumms! Plötzlich war sie da, ein kleiner Mensch, ganz allein auf der Welt und vollkommen auf ihn angewiesen.
Daisy hatte etwas Besseres verdient. Sie hätte in eine richtige Familie gehört, zu Eltern, die sie liebten und umsorgen wollten. Auf jeden Fall hatte sie keinen zielstrebigen Werbefachmann verdient, der nur stehen bleiben und an Rosen riechen würde, wenn er daraus einen sechzig Sekunden langen Werbespot fürs Fernsehen entwickeln konnte.
Er legte seinen Handrücken gegen ihre Stirn. Ihre Temperatur erschien ihm normal, aber wie sollte er das beurteilen? Es war erst zwei Uhr nachmittags. Der Kinderarzt würde noch in seiner Praxis sein. Vielleicht sollte er sich ein Taxi kommen lassen und mit Daisy zum Arzt fahren.
„Na gut, Daisy“, entschied er und wickelte sie in eine Decke, um sie vor der kühlen Luft Ende September zu schützen. „Wenn du mir nicht sagen willst, was du hast, sagst du es vielleicht dem Doktor.“ Das sollte sie lieber machen und zwar schnell, denn Hunter war mit seinen Nerven wahrlich am Ende. Nichts und niemand hatten ihn jemals so hilflos gemacht wie Daisys Schreien.
Das Taxi wartete bereits unten am Straßenrand auf ihn. Eine schlanke, schwarzhaarige Frau um die fünfzig beugte sich herüber, um ihm die Tür zu öffnen.
„Vierundfünfzigste und Dritte“, sagte er und schnallte Daisy in dem Kindersitz an, den er mit heruntergeschleppt hatte. Daisys Geschrei klang in dem engen Wagen noch lauter.
„Die arme Kleine“, sagte die Fahrerin und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. „Ist sie krank?“
Hunter zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie weint schon seit zwei Stunden so. Irgendetwas muss sie haben.“
„Sie ist ein Baby“, meinte die Frau schmunzelnd. „Liegt wohl daran.“
„Niemand würde so schreien, wenn er nichts hätte.“
„Vielleicht wollte sie nur eine Runde durch die Stadt drehen.“
Hunter schnaubte. „Das wäre ja noch schöner“, brummte er.
Die Taxifahrerin lachte leise. „Sie weint nicht mehr, oder?“
Er richtete sich auf und starrte Daisy an. „Sie haben recht. Sie hat sich beruhigt.“ Nicht nur das, ihr fielen sogar die Augen zu.
„Passiert immer wieder“, tröstete die Frau. „Ich habe selbst drei von der Sorte großgezogen, und ich kann Ihnen nicht sagen, was Eltern gemacht haben, ehe das Auto erfunden wurde.“ Sie hielt an. Die Ampel zeigte Rot. „Wollen Sie immer noch zur Dritten und Vierundfünfzigsten?“
„Nein“, sagte er. „Fahren Sie einfach ein bisschen herum.“ Sie lächelte ihn im Rückspiegel an. „Sie sind ein kluger Mann.“ Nein, dachte er, als sie zum Riverside Drive hinunterfuhren. Ein kluger Mann hätte sich das alles gar nicht erst aufgehalst.
„Wo ist das Kind?“, schrie der Regisseur, ein Neurotiker höchsten Grades mit vierfachem Magengeschwür. „Das Model kann ohne das Kind nicht arbeiten.“
Hunter Phillips konnte sich lebhaft vorstellen, was Custer am Little Big Horn gefühlt haben musste. „Wo ist das Kind?“, erkundigte er sich bei der Produktionsassistentin, die ihm am nächsten stand. „Das ist eine Werbung für Windeln. Die kann man nicht ohne Kind machen.“
Die Augen der Assistentin weiteten sich. Sie musterte Hunter überrascht. „Ich dachte, das wäre das Kind.“
„Das ist mein Kind“, antwortete er und hob die acht Monate alte Daisy von seiner linken Schulter auf die rechte. „Wo ist das Berufsmodel?“
Die Assistentin drückte ihr Klemmbrett an sich und holte tief Luft. „Weiß ich nicht.“
„Was ist nun, Phillips?“ Der Regisseur sah aus, als würde ihm gerade das fünfte Magengeschwür wachsen. „Zeit ist Geld.“
Das hat man denen in Yale beigebracht?, dachte Hunter. „Denise sieht mal nach. Sie wissen doch, wie das mit dem Verkehr so ist. Wahrscheinlich stecken sie irgendwo im Midtown Tunnel fest.“
Der Produzent warf einen interessierten Blick auf Daisy. „Was ist mit ihr?“
Daisy wählte genau den Moment, um Apfelsaft auf Hunters letzte gute Armani-Jacke zu spucken. Alles hatte ein Ende …
„Vergessen Sie, dass ich etwas gesagt habe“, brummte der Produzent. „Wir brauchen ein Berufsmodel.“
„Genau, verdammt!“, fluchte Hunter. Nie würde er zulassen, dass Daisy in dieses Affentheater hineingezogen würde, nur weil irgendwer irgendwo Mist gebaut hatte. Amanda Bennett, das beste Babymodel im Land, war für die Rolle engagiert worden. Bloß Amanda war nirgends zu sehen, und man konnte nun mal schlecht einen dreißig Sekunden Werbespot für umweltfreundliche Wegwerfwindeln ohne die Hauptperson, die sie tragen sollte, drehen.
Die junge Produktionsassistentin legte den Hörer des Wandtelefons auf und drehte sich zu den versammelten Angestellten von Crosse, Venner und Saldana, einer bekannten Werbeagentur, um. „Die Mutter hat ihre Meinung geändert“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Sie hat einen Exklusivvertrag mit Pampers unterschrieben. Pech für uns.“
Alle Blicke richteten sich auf Hunter und Daisy. „Vergessen Sie es!“, wandte er sofort ein. „Sie ist kamerascheu.“
„Das ist Schicksal“, erwiderte der Regisseur. „Karma. Sie müssen sie uns testen lassen. Wenn wir dem Alten bis fünf nichts liefern, rollen sämtliche Köpfe.“
Mit anderen Worten, er sollte das geringere der beiden Übel wählen. Daisy war vergangene Nacht sechsmal aufgewacht, und Hunter hatte kaum mehr als eine Stunde Schlaf gehabt. Das mochte ihm mit zweiundzwanzig gereicht haben, aber mit vierunddreißig war es nicht einmal annähernd genug. Es war erst zehn Uhr morgens, und er fühlte sich schon gerädert.
„Lasst mir ein paar Minuten Zeit“, sagte er und ging zur Tür. „Ich hole mein Adressbuch und sehe nach, was ich tun kann.“ Er war nicht bereit, ihnen seine Tochter so einfach auszuliefern.
Er stieß die Schwingtür auf, trat in den Flur hinaus und stand direkt vor einer blendend aussehenden Frau. Das Fotomodel lehnte an einer Leiter, rauchte lässig eine Zigarette und hatte den Blick wie einen Laserstrahl auf ihn gerichtet. Sie war eine jener großen, schlanken Blondinen, die davon lebten, dass sie anderen Menschen Sachen verkauften, die diese nicht wollten. Es hatte mal eine Zeit gegeben – als er noch Liebeskraft besessen hatte –, da hätte eine Frau wie sie ihn magisch angezogen.
Hunter grinste. Die Schöne erwiderte huldvoll sein Lächeln. Es war schon länger her, dass er mit irgendjemand geflirtet hatte. Frisch gebackene Väter fanden nicht viel Zeit zum Flirten.
„Hallo!“, sagte sie.
„Hallo“, antwortete er und bemühte sich um einen Ton, der leicht an Rambo erinnern sollte.
„Sie sind ganz nass.“ „Wie bitte?“ Er hatte eine Reihe verrückter Annäherungsversuche erlebt, aber das war schon einmalig.
Sie ließ ihren Blick tiefer gleiten und wandte sich dann ab.
„Ihre Hose. Sie sind ganz nass.“
Er stöhnte. Die Bilder eines romantischen Erlebnisses zerplatzten wie eine Seifenblase. Daisy sabberte glücklich und zog mit ihren patschigen Fingern an seinem Ohr. Das Fotomodel kehrte ins Studio zurück und ließ ihn mit Ei im Gesicht, Apfelsaft auf seiner Schulter und dem üblichen Nass auf der Hose stehen. Es gab nichts Besseres als eine triefende Windel, um einen Mann auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen.
„Danke, Daisy“, brummte er und sah das rosige, hellhaarige Baby mit den blauen Augen betrübt an. „Du hast wohl etwas gegen langbeinige Blondinen, was?“
„Sie war nicht Ihr Typ.“
Er blinzelte. Bisher hatte Daisy noch kein Wort gesagt. Das wäre ein schrecklicher Anfang.
„Hier oben“, meldete sich eine leise weibliche Stimme. „Auf der Leiter.“
Er schaute hoch und sah eine kleine Gestalt in schwarzen Leggings und einem knallroten Pullover. Ein weißes T-Shirt lugte aus dem V-förmigen Ausschnitt hervor, und große glänzende Goldreifen hingen an ihren Ohren. Sie hockte auf der obersten Sprosse der Leiter.
„Vergessen Sie die Fotomodeltypen“, sagte sie vergnügt und schüttelte ihr kurzes, schwarzes glattes Haar nach hinten. „Sie wissen nie, was man im Notfall macht.“
„Ich nehme an, Sie wissen es aber?“
„Soda. Es kann Wunder wirken.“
„Ich werde daran denken.“
„An Ihrer Stelle würde ich nicht zu lange warten. Wenn die Flecken erst einmal getrocknet sind, kann man nichts mehr machen.“
„Wissen Sie, ich weiß guten Rat zu schätzen“, entgegnete er und wurde ein wenig ungeduldig. „Nur im Moment habe ich wichtigere Dinge im Kopf, als Flecken auszuwaschen.“
„Ich weiß“, erwiderte sie trocken. „Sie sah gut aus, aber sie ist nach drinnen gegangen.“
„Vergessen Sie Marcy“, meinte er. „Ich suche jemand Jüngeres.“
„Seien Sie vorsichtig“, riet sie ihm über die Schulter und stieg von der Leiter herunter. „Damit könnten Sie rasch in Schwierigkeiten geraten.“
„Ein Baby“, erklärte er ihr und hob Daisy wieder auf die andere Schulter. „Sie wissen nicht zufällig, wo ich eines finden kann, oder?“
„Also ist es doch wahr“, sagte sie und schaute ihn an. Sie hatte genauso blaue Augen wie Daisy. „Ich habe so ein Gerücht gehört, Amanda sei zur Konkurrenz übergelaufen.“
„Hat ihre Trainingshosen genommen und ist auf und davon.“ Er warf ihr einen zweiten Blick zu. „Sind Sie von Fancy Pants Windeln?“
„Ich bin die Kinderbetreuerin.“
Seine Augen weiteten sich. „Ach ja?“
„Ich entlocke den Kleinen das entzückende Lächeln vor der Kamera.“
„Sie vollbringen solch ein Wunder“, meinte er und schmunzelte. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Hatte nicht viel Sinn“, antwortete sie in ihrer leisen Art. „Ohne das Baby bin ich nichts.“
„Mir geht es genauso. Wenn ich nicht rasch für Ersatz sorge, kann ich Steine klopfen gehen.“
Sie kam näher, und er nahm den Duft nach frischen Blumen wahr, der von ihr ausging, als sie nach Daisys kleiner Hand griff. „Sie ist hübsch.“ Sie sah ihn an. „Ich glaube, sie könnte es wie von selbst.“
„Kommt nicht infrage!“, wehrte er ab. „Suchen Sie sich ein anderes Baby.“
„Hören Sie, Mr. …“ Sie hielt inne.
„Hunter.“
„Hören Sie, Mr. Hunter, ich …“
„Hunter ist mein Vorname.“
Daisy produzierte kleine Bläschen mit ihren Lippen. Hunter und die Frau lachten auf.
„Jeannie Ross.“ Sie reichte ihm die Hand. Ihr Griff war fest und ihre Hand zierlich.
„Hunter Phillips.“
„Ich habe keinen Vorteil davon, Hunter. Ich bekomme mein Geld, ob wir drehen oder nicht.“
Daisy streckte ihre kleinen Arme nach Jeannie aus.
„Was ist denn das?“, wollte Hunter wissen. „Eine Verschwörung?“
„Darf ich?“ Jeannie griff nach Daisy, und die Kleine ließ sich gern von ihr auf den Arm nehmen. „Sie ist so hübsch.“
Hunter bemerkte sofort, wie geübt Jeannie Daisy auf dem Arm hielt und den seligen Blick seiner Tochter, als sie mit ihren patschigen Händen an den glänzenden Ohrringen zupfte.
„Ich möchte mein Kind nicht ins Showgeschäft lassen.“
„Aus einem Drehtag ist noch keine Karriere geworden“, erwiderte Jeannie Ross. „Was bleibt Ihnen denn anderes übrig? Wenn Sie nicht bald jemanden finden, ist für Sie Feierabend. Sie sagten es eben selbst.“
Er zuckte zusammen. „Sind Sie immer so offen?“
Ihr Lächeln schwächte ihre Worte ab. „Ich habe gelernt. Es spart Zeit.“
„Eine Stunde“, sagte er. „Wenn sie den Streifen nicht in sechzig Minuten fertig haben, ist sie wieder draußen.“
„Einverstanden.“ Sie musterte Hunter und schüttelte den Kopf. „Jetzt beruhigen Sie sich, ja? Ich verspreche Ihnen, es wird ihr gefallen. Ich sorge dafür.“
Es war das übliche Gedränge.
Hunter hatte nie besonders darauf geachtet, aber heute kam es ihm so vor, als hätte er nie in seinem Leben eine abscheulichere Gruppe Menschen zusammen gesehen.
Der Gedanke, dass sein kleines Mädchen von ihnen begrapscht wurde, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Wenn Jeannie Ross nicht da gewesen wäre, hätte er Daisy geschnappt und wäre gleich auf Jobsuche gegangen.
Daisy weinte nur einmal, als die Assistentin mit der Regieklappe dicht vor ihr herumfuchtelte, um die nächste Szene zu markieren. Sofort war Jeannie da, beruhigte das kleine Mädchen und achtete darauf, dass ihr niemand mehr die Klappe so dicht vor das Gesicht hielt.
Hunter schaute dem ganzen Geschehen mit gemischten Gefühlen zu. Er war bestürzt und stolz zugleich, wie leicht die Kleine das Drehen hinter sich brachte. Selbst der Regisseur, so hartgesotten wie er war, konnte sich bei Daisys Charme ein Schmunzeln nicht verbeißen.
Hunter war überrascht, dass es ihn schmerzte, wie gut seine Kleine ohne ihn zurecht kam. Aber nachdem er das überwunden hatte, fiel ihm auf, wie hübsch Jeannie anzusehen war. Sie war auch ein Naturtalent, wenn man sah, wie sie mit kleinen Kindern umgehen konnte. Sie hockte am Rand, schnitt Grimassen, machte Seifenblasen und tat einfach alles, was Daisy zum Lachen brachte und glücklich machte.
Vielleicht gab es doch so etwas wie Mutterinstinkt, überlegte Hunter. Denn selbst nach acht Monaten verstand er nicht immer sofort, was Daisy wollte oder brauchte.
Das arme Kind. Fremde verstanden es besser als er. Jeannie verlangte von ihr nichts, was die Kleine nicht von sich aus ganz natürlich geben konnte.
„Sie ist die Beste im Geschäft“, flüsterte die junge Produktionsassistentin, als Jeannie Daisy ein Lachen für die Kamera entlockte.
„Daisy?“
Die Assistentin schüttelte den Kopf. „Jeannie. Ich möchte wetten, sie könnte jeden Tag mehrere Aufträge haben, wenn sie wollte.“
Hunter widersprach ihr da nicht. Babys waren zurzeit groß im Geschäft. Jeder Geschäftsmann von der Madison Avenue bis Hollywood verlangte nach Kleinkindern, um seine Waren anzupreisen. Jeannie war eine der wenigen, die es verstand, schreiende Kleinkinder in ausgereifte Berufsmodels zu verwandeln.
„Sie kann so gut mit Kindern umgehen“, raunte die Assistentin neben ihm. „Es ist eine Schande, dass sie keine eigenen hat.“
Er blickte auf Jeannies Ringfinger und bemerkte, dass er bloß war. Es ging ihn zwar nichts an, ob sie verheiratet war oder nicht, doch es überraschte ihn, dass sie ungebunden war.
Sie strahlte eine Wärme, eine Zärtlichkeit gemischt mit einer schlummernden Sexualität aus, die stärker war als der zur Show getragene Sexappeal so mancher Models, mit denen er sich früher getroffen hatte. Obwohl Jeannie recht klein war, besaß sie eine wohlproportionierte Figur, was nicht weniger anziehend wirkte.
Genau wie Jeannie versprochen hatte, war die Arbeit für Daisy nach knapp einer Stunde vorbei. Hunter fühlte sich fast enttäuscht.
„Die Kleine ist großartig, Phillips“, sagte der Regisseur, nachdem er die Sache für erledigt erklärt hatte. „Sie kann eine Menge Arbeit bekommen, wenn Sie wollen.“
„Vergessen Sie es“, brummte Hunter. „Das war das erste und letzte Mal.“
„Ihr Pech“, erwiderte der Regisseur. „Es gibt nicht viele Kinder in dem Alter mit so einer starken Persönlichkeit.“
Jeannie Ross kam mit Daisy auf Hunter zu. „Ihre Tochter ist ein Traumkind“, sagte sie lächelnd. Ihre blauen Augen strahlten. „Ich wünschte fast, die Dreharbeiten hätten länger gedauert.“
Hunter nahm ihr seine Tochter ab. Daisy fing sofort an zu weinen, als Jeannie sie losließ. „Zumindest versteht sie es, sich den richtigen Zeitpunkt auszusuchen“, bemerkte er über Daisys Jammern hinweg. „Sie hat gewartet, bis sie von der Bühne ist.“
Jeannie klopfte Daisy auf den Po. „Ich glaube, es gibt da ein kleines Problem.“
Hunter verzog das Gesicht. Es gab ein paar Dinge, an die er sich als Vater noch immer nicht ganz gewöhnt hatte. „Vielleicht sollte ich mir das Honorar in Windeln auszahlen lassen.“
„Kinder bleiben nicht für immer Babys“, bemerkte Jeannie. Ihre Stimme klang noch immer fröhlich, aber das Strahlen in ihren Augen verschwand. „Genießen Sie es, solange sie so klein ist.“
Er hob Daisy auf den anderen Arm. „Sie waren großartig heute Morgen. Ich bin beeindruckt.“
Sie senkte den Kopf. „Danke. Manche Frauen sind Raketenforscherinnen, andere Kinderbetreuerinnen.“
„Ich habe gehört, Sie sind eine der besten im Geschäft.“
„Kleinigkeit“, antwortete sie. „Wenig Konkurrenz.“
„Sie sollten lernen, ein Kompliment anzunehmen, Ross. Ich schmeiße damit nicht so um mich.“
„Dann geben Sie es an Ihren Boss weiter“, erwiderte sie fröhlich. „Die Arbeit kann ich immer gebrauchen.“ Jetzt strahlten ihre Augen wieder. „Aber sagen Sie ihm auch, dass ich ab heute Abend Ferien habe.“ Sie hatte noch einen Auftrag heute Nachmittag, anschließend sechs Wochen frei, und danach sollte sie für einen Auftrag nach Maui fliegen.
„Ich muss Daisy eben die Windeln wechseln. Aber dann könnten wir irgendwo etwas zusammen essen gehen. Ich bin Ihnen schließlich etwas dafür schuldig, dass sie meine Haut gerettet haben.“
Sie zögerte. Ihr Blick ruhte auf Daisy. „Es ist nicht so, als würde ich Ihr Angebot nicht schätzen, Hunter, aber ich glaube nicht, ich …“
„Schon gut“, unterbrach er sie. Offenbar war Daisy hier die ganze Anziehungskraft. „Danke, dass Sie so gut auf sie aufgepasst haben.“
Sie drückte der Kleinen sacht einen Fuß. „Gern geschehen. Sie ist süß.“
Daisy schrie erneut auf, und Hunter bekam sofort ein schlechtes Gewissen. „Ich wechsle ihr besser die Windel.“
Jeannie nickte. „Bis dann, Hunter.“
Er sah ihr nach, wie sie den Flur hinunterlief. „Das wars mit Flirten“, sagte er zu Daisy auf dem Weg zu seinem Büro, wo er einen Windelkarton aufbewahrte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sich die Frauen um ihn gerissen. Jetzt kam es ihm jedoch so vor, als wäre Daisy die einzige weibliche Person, die sich um ihn riss.
Nicht allzu viele Frauen, die er kannte, waren bereit, eine fertige Familie in Kauf zu nehmen. Selbst ein Baby zu bekommen, war eine Sache, jedoch ein fremdes Kind großzuziehen, war etwas anderes. Das wusste er aus eigener Erfahrung.
Vor fünf Monaten war er das letzte Mal verabredet gewesen, und es sah nicht so aus, als würde er in naher Zukunft noch einmal so ein Glück haben. Wahrscheinlich war das gut so, da er oft kaum morgens Zeit hatte, sich die Zähne zu putzen, geschweige denn sich um noch jemanden zu kümmern.
Sie war sowieso nicht mein Typ, sagte er sich. Ihm gefielen schlanke langbeinige Blondinen. Jeannie Ross erreichte wohl knapp einmeterfünfzig, und ihr Haar war so schwarz wie die Nacht.
Dennoch konnte er sich des merkwürdigen Gefühls nicht erwehren, als wäre das nur der Anfang ihrer Bekanntschaft …
Jeannie stand an dem Abend an einem Imbissstand Schlange. Da sah sie ihn. Zuerst war sie sich nicht ganz sicher, dass der erschöpfte Mann mit dem schlafenden Baby auf dem Arm wirklich derselbe Werbemensch war, mit dem sie sich am Vormittag so nett unterhalten hatte. Doch sein markantes Profil verriet ihn. Es gab nicht allzu viele Männer in New York, die aussahen, als wären sie geradewegs einer Marlboro-Reklame entsprungen. Er lehnte am anderen Ende der langen Theke, hatte die Augen halb geschlossen und wartete offenbar auf das, was er bestellt hatte.
„Das übliche, Jeannie?“ Thunfischbrot mit Mayonnaise, sauren Gurken und eine Diätcola.
„Und ein Brötchen. Heute war ein langer Tag.“
Al schüttelte den Kopf. „Glauben Sie mir, ich finde Ihre Arbeit gut, Jeannie, aber wann kochen Sie sich mal eine richtige Mahlzeit?“
„Ach, Sie wissen ja, wie das ist, Al“, sagte sie und warf eine verstohlenen Blick zu Hunter Phillips, der im Stehen zu schlafen schien. „Es bleibt nie genug Zeit, noch einkaufen zu gehen.“ Nicht ganz richtig, aber fast wahr.
Was Jeannie betraf, so gab es wochentags keinen einsameren Ort als einen Platz in der abendlichen Warteschlange an der Kasse. Man konnte eine Menge über einen Menschen erfahren, wenn man ihm in den Einkaufswagen guckte. Die Suppendosen für eine Person ließen eindeutige Schlüsse zu.
Al war noch mit ihrer Bestellung beschäftigt. Jeannie wandte sich leicht um und schaute sich mindestens zum dritten Mal nach Hunter um. Beim Anblick des hübschen blondhaarigen Babys auf seinem Arm fiel ihr das Schlucken schwer. Wenn Männer wüssten, welche Wirkung sie so auf eine weichherzige Frau hatten, würde sich manch ein Junggeselle ein Baby mieten, umso anziehend und verletzlich zugleich auszusehen.
Ich kann ja zu ihm gehen, dachte Jeannie.
Sie zögerte jedoch. Sie war ihm erst einmal begegnet, und das war schließlich rein geschäftlich gewesen.
Das Baby mochte ich aber gleich. Wäre es nicht schön, es noch einmal auf den Arm nehmen zu können?
Sie wich einen Schritt zurück. Umso mehr ein Grund, von ihm wegzubleiben. Sie konnte es sich nicht leisten, sich auch nur für einen Augenblick an seine kleine Tochter zu gewöhnen.
Ich brauche ihn mir ja nur genau anzusehen. Er sieht richtig bemitleidenswert aus.
Gut aussehende dunkelhaarige Männer mit kräftigen Schultern konnten nicht bemitleidenswert sein, selbst wenn sie sich anstrengten. Wahrscheinlich wartete zu Hause eine ebenso gut aussehende Frau auf ihn und noch drei weitere, nette Kinder.
„Hier ist Ihr Sandwich, Jeannie.“ Al beugte sich vor und reichte ihr eine braune Papiertüte. „Bon appétit.“
„Bis morgen, Al.“ Sie nahm die Tüte und ging zur Kasse. Sie war sicher, sie würde hier wegkommen, ehe Hunter Phillips sie entdeckte.
Sie wollte ihr Wechselgeld gerade einstecken und nach draußen huschen, als es geschah.
„Jeannie? Sind Sie’s?“
Langsam drehte sie sich um. „Hunter.“ Sacht berührte sie den Fuß der schlafenden Kleinen. „Hallo, Daisy.“
Aus der Nähe sah er noch erschöpfter aus. Dunkle Ringe zeigten sich unter seinen braunen Augen. Er musste ein Gähnen unterdrücken. Seine elegante Krawatte sah aus, als wäre sie in eine Dreschmaschine geraten, und seine Hose hatte sich nicht mehr retten lassen nach dem kleinen Zwischenfall von heute Morgen.
Seltsamerweise störte sie das alles nicht. Ihr kam es eher so vor, als sähe er so müde und zerknittert noch anziehender aus als mancher Bräutigam am Tag seiner Hochzeit.
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“, fragte er und hob Daisy etwas höher.
Jeannie nickte und bemühte sich, nicht hinzusehen, wie die patschigen Hände der Kleinen auf der Wange ihres Vaters ruhten. „Der alte Bau aus der Vorkriegszeit auf der anderen Straßenseite.“
Er gab einen leisen Pfiff von sich. „Das Haus kenne ich. Hohe Decken, großartiger Ausblick … Wie haben Sie das geschafft?“
„Pures Glück. Ich kam in die Stadt, als eine alte Bekannte von mir ihre Collegeausbildung beendet hatte. Ich wohne zur Untermiete.“ Na gut, jetzt bin ich an der Reihe. „Sind wir Nachbarn?“
Er nannte eine Adresse zwei Häuserblöcke weiter. „Nicht so beeindruckend wie ihr Haus, aber es gefällt uns.“
Uns. Hunter und Daisy? Hunter und Frau und Daisy? Ich brauche ihn nur zu fragen, ich Närrin. Das ist schließlich kein Verbrechen.
„Frikadelle mit Brot, Extraportion Senf, Kohlsalat“, rief jemand hinter der Theke.
„Hier“, meldete sich Hunter. „Ich komme sofort.“
„Hören Sie, ich will Sie nicht aufhalten“, sagte Jeannie.
Er suchte nach seiner Brieftasche und versuchte, dabei seine Aktentasche, den Windelkarton sowie das schlafende Kind zu balancieren.
„Kommen Sie her, ich helfe Ihnen“, sagte Jeannie und wollte ihm Aktentasche und Windelkarton abnehmen. Er reichte ihr stattdessen die Kleine.
Daisy machte die Augen auf. Sie sah Jeannie halb verschlafen an, wie Kinder das so gut können, steckte dann den Daumen in den Mund und schlief prompt wieder ein. Im ersten Augenblick hätte Jeannie die Kleine am liebsten der Kassiererin übergeben und wäre um ihr Leben gerannt, doch dann setzte die Vernunft ein.
Ich arbeite acht Stunden am Tag mit Babys, sagte sie sich, nehme sie auf die Arme, spiele mit ihnen und trockne ihnen die Tränen. Das ist nichts anderes.
War es aber doch. Jeannie wusste nicht wie oder warum, aber vom ersten Moment an, als sie Daisy und Hunter gesehen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, ihr Leben würde nie wieder so sein wie vorher.
„Albern“, sagte sie laut und rieb ihre Nase an Daisys gut duftendem Hals. Sie war müde und hungrig und konnte nicht klar denken. Ein Baby war ein Baby. Morgen würde sie mit Amanda oder Troy arbeiten, und Daisy würde nicht mehr als irgendeines der knuddeligen kleinen Gesichter in ihrem Erinnerungsalbum sein. „Was braucht dein Vater so lange?“ Sie wandte sich zur Theke um, wo Hunter in eine Unterhaltung mit Al vertieft war. Hunter hatte eine braune Papiertüte in der Hand, nicht größer als ihre, und nahm noch eine zweite doppelt so große entgegen.
„Sie haben einen ganz schönen Appetit“, bemerkte sie, als er wieder zurückkam.
„Die ist für mich“, sagte er und hielt die kleinere der beiden Tüten hoch. „Die andere ist für uns beide.“
Sie war zu überrascht, um sofort zu antworten. „Für uns beide?“, brachte sie schließlich über die Lippen.
„Ja“, antwortete Hunter, als hätten sie das schon hundertmal durchgesprochen. „Ich wollte Sie für heute Nachmittag zum Essen einladen.“
„Und ich hatte abgelehnt.“ Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass Daisy das Gesichtchen an ihre Wange gelehnt hatte. „Ich trenne Arbeit und Vergnügen sorgfältig.“
„Wir haben geschäftlich nichts mehr miteinander zu tun. Daisy ist im Ruhestand.“
„Möglich“, entgegnete Jeannie. „Aber Sie nicht.“
„Keine Sorge. Die Chance, dass wir beide zusammen arbeiten müssen, steht eine Million zu eins.“ Er hatte selten etwas mit Werbeaufträgen zu tun, für die Kinder oder Tiere gebraucht wurden. Sie jedoch arbeitete nur in solchen Fällen.
„Woher wissen Sie, dass zu Hause nicht ein Ehemann auf mich wartet?“
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er seine Einladung gar nicht von der romantischen Seite betrachtet hatte. „Er kann gern mitkommen.“ Er hielt für einen Atemzug inne. „Sind Sie verheiratet?“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie?“
„Nein. Daisy und ich sind allein.“
Er hatte dieses Lächeln, das eine Frau ungewollt körperlich spürte. Nicht dass es Jeannie etwas ausmachte. Sie war nicht mehr an ihm interessiert als er an ihr.
„Na, was sagen Sie, Jeannie? Abendessen ohne irgendwelche Verpflichtungen. Bei mir sieht es zwar aus wie im Schweinestall, aber ich kann uns am Tisch etwas Platz machen.“
Sie dachte an ihre makellose, saubere Wohnung. Ruhig. Aufgeräumt. Einsam.
„Warum kommen Sie mit Daisy nicht zu mir?“ Die Worte rutschten ihr heraus, ehe sie merkte, was sie da sagte.
„Klingt prima.“ Er tauschte seine Papiertüten gegen seine Tochter aus. „Lassen Sie mich meine Sachen nach Hause bringen, etwas für Daisy einpacken, und wir sind bei Ihnen.“
„Klingeln Sie zweimal, dann lasse ich Sie rein“, sagte sie. „Der Pförtner hat Urlaub.“
„In einer halben Stunde?“, fragte Hunter.
Sie nickte. „In Ordnung.“
Es dauerte eine Weile, bis Jeannie zur Tür kam. Hunter und Daisy warteten geduldig, während sie die verschiedenen Schlösser, Ketten und Riegel öffnete, die in einer Stadtwohnung notwendig waren.
„Hallo“, sagte sie und zog die Tür weit auf. „Kommen Sie herein.“
„Woher wussten Sie, wer es ist?“, fragte er. Seine Stimme klang ungemein fürsorglich. „Sie haben nicht zuerst durch den Spion geguckt.“
Sie lachte, bat ihn herein und schloss hinter ihm die Tür. „Sie haben zweimal geklingelt, wie abgemacht.“
„Jeder andere hätte auch zweimal schellen können. Das ist nicht gerade ein Geheimcode.“
„Sie überraschen mich, Hunter“, meinte sie und streckte ihre Arme nach Daisy aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie der Typ sind, der sich Sorgen macht.“
„Was glauben Sie, was einem nach achtmonatiger plötzlicher Vaterschaft übrig bleibt“, erwiderte er und übergab ihr Daisy.
Jeannie sah ihn an, als wollte sie etwas sagen, schien es sich jedoch dann anders zu überlegen. „Die Garderobe ist links neben der Tür“, sagte sie bloß.
Er streifte seine abgetragene Lederjacke ab, eines der wenigen Kleidungsstücke, das Daisy noch nicht gekennzeichnet hatte. „Schon gut. Ich hänge sie einfach über einen Stuhl.“
„Haben Sie auch etwas für Daisy mitgebracht?“
Er deutete auf eine große Reisetasche zu seinen Füßen. „Alles, bis auf ihre Nachtlampe.“
Jeannie hantierte mit dem Baby herum wie jemand, der viel Übung darin hat. Hunter beneidete sie, wie leicht sie Daisy auf einer Hüfte balancieren konnte, während sie in der Tasche herumstöberte. Ehe es ihm richtig bewusst wurde, hatte Jeannie auf dem Boden neben dem Esstisch über einem hübschen handgeknüpften Teppich eine Decke ausgebreitet. Seltsam, aber Daisys farbenfrohes Spielzeug wirkte, als passe es genau hierher.
Genau wie Daisy. Jeannie zeigte keine Regung, als die Kleine über die Decke krabbelte, den teuren Teppich erreichte und munter vor sich hin sabberte.
„Keine Sorge“, sagte Jeannie, als Hunter sich bückte, um seine Tochter wegzuziehen. „Der Teppich gehört mir, nicht Clare. Er hat schon Schlimmeres überstanden.“
Hunter konnte an ihrer offenen, ehrlichen Art erkennen, dass sie meinte, was sie sagte. Babys wurden nun mal mit gewissen Fehlern geboren. Nassen Windeln. Sabbern. Klebrigen Fingern. Es wunderte ihn nicht, dass Freunde sich mit ihm nur an öffentlichen Plätzen trafen.
„Ich fürchte, die Wohnung ist für Babys nicht ganz sicher. Lassen Sie Daisy nicht aus den Augen“, bat sie. „Ich decke eben den Tisch.“
Fünf Minuten später saßen Jeannie und er am Tisch. Er hatte einen tragbaren Babysitz eingepackt, und Daisy thronte stolz zwischen ihnen. Mit ihren patschigen Händen hämmerte sie in ihrem eigenen Rhythmus auf dem Plastikteller herum, der vor ihr stand. Jeannie hatte noch ein rot-weiß und blau gestreiftes Lätzchen gefunden, das einer ihrer Neffen bei einem Besuch vergessen hatte, und Hunter hatte es Daisy umgebunden.
„Greifen Sie zu“, sagte Jeannie und deutete auf das Essen. „Ich möchte Daisy gern füttern.“
„Da fühle ich mich ja wie im Urlaub. Ich habe gedacht, Sie hätten bei der Arbeit genug mit Kindern zu tun.“
„Das ist etwas anderes“, antwortete Jeannie. „Daisy ist ein Sonderfall.“
Hunter lebte davon, dass er den Menschen Dinge verkaufte, die sie nicht brauchten. Er kannte sich aus mit Schmeicheleien.
Er merkte, ob sie ehrlich gemeint waren oder nicht. Doch wenn er Jeannie so zusah, wie sie Daisy fütterte, konnte er nicht anders, als ihr zu glauben, dass sie es wirklich ehrlich meinte.
Zumindest hoffte er, dass es ehrlich war, obwohl er nicht sagen konnte, warum ihm das wichtig war. Sie waren nicht einmal Freunde – verdammt, sie kannten sich kaum.
Allerdings hätte er nichts dagegen gehabt, daran etwas zu ändern. Ihr T-Shirt lag so eng an ihren Brüsten, dass er sehen konnte, wie rund und fest sie waren. Sie trug keinen BH, und sein Blick glitt mehrmals wie magisch angezogen zu den schemenhaften Umrissen ihrer Knospen.
Jeannie rutschte leicht zur Seite und griff nach einem Lappen, um Daisy den Mund abzuwischen. Ihr T-Shirt glitt hinten im Rücken etwas hoch, sodass er ihre schmale Taille sehen konnte. Er zweifelte nicht daran, dass er sie leicht mit den Händen umfassen könnte.
Ich muss mich zusammenreißen, hielt er sich vor. Eine farbige Parade erotischer Bilder zog blitzschnell an seinem geistigen Auge vorbei. Wie ihre Wangen glühen würden vor Leidenschaft … Wie weich ihre Haut sein mochte … Wie herrlich ein Kuss schmecken würde … Wie sie sich ihm hingeben würde …
„Hunter?“ Jeannie riss ihn aus dem Nebel sexueller Erregung. „Haben Sie was?“
„Nein, nein“, murmelte er und wandte sich dem Essen zu.
„Alles in Ordnung.“
Er vertilgte die Frikadellen und ein halbes Thunfischsandwich. „Greifen Sie zu, Jeannie, solange noch etwas da ist“, sagte er.
Sie lachte und wischte Daisy das Gesicht ab. „Das müssen Sie gerade sagen. Ihre Tochter hat einen ganz hübschen Appetit.“
„Das hat sie von ihrer Mutter geerbt“, antwortete Hunter und war erleichtert, dass er sich auf neutralem Boden bewegen konnte. „Callie konnte essen wie ein Holzfäller.“
Sie hatte sich schon gefragt, wann sie auf dieses Thema kommen würden. „Sind Sie Witwer?“
Er schüttelte den Kopf. „Bin nie verheiratet gewesen.“
„Ach so.“ Sie streute Pfeffer auf ihr Thunfischsandwich und rückte die Gurkenstreifen zurecht. Wir leben immerhin in den neunziger Jahren, ermahnte sie sich. Familien entstanden nicht mehr nur nach dem Mutter-Vater-Kind-Ideal. Sie hätte allerdings gern gewusst, wer die Mutter war und … wo sie war.
„Keine weiteren Fragen?“
Ihre Wangen röteten sich. „Das geht mich ja nichts an.“
„Callie war meine Schwester.“ Er holte tief Luft und wehrte sich gegen den Schmerz, den er jedes Mal wieder von neuem empfand, wenn er darauf zu sprechen kam. „Sie ist bei Daisys Geburt gestorben.“
„Oh, nein … Hunter.“ Sofort stand sie neben ihm und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. „Das tut mir leid.“
„Mir auch“, flüsterte er. Er würde nie den nächtlichen Anruf vergessen … oder die schrecklichen Worte. „Sie hat in Tokio gelebt und als Übersetzerin dort gearbeitet. Ich wollte zu ihr fliegen, sobald das Baby geboren war, aber …“ Er konnte plötzlich kaum schlucken. „Als das Telefon nachts schellte, wusste ich Bescheid. Der Arzt brauchte es mir nicht mehr zu sagen.“ Es tut mir leid, Mr. Phillips. Sehr leid.
„Und was ist mit Daisys Vater?“
Er hob die Schultern an. „Eine von Callies Freundinnen meinte, es könnte ein Engländer sein, der dort mit ihr zusammengearbeitet hat, aber wir wissen es nicht genau.“ Sein Lachen klang bitter. „Ihre biologische Uhr hat so laut getickt, sie konnte an nichts anderes mehr denken. Sie wollte unbedingt ein Baby vor ihrem vierzigsten Geburtstag, egal was kommen mochte. Der Vater war Callie unwichtig.“
Jeannie verstand seinen Schmerz besser, als er es sich jemals würde vorstellen können. „Der Wunsch nach Mutterschaft kann sehr stark sein, Hunter. Die meisten Frauen würden alles für ihre Kinder geben.“
Er schaute ihr in die Augen. „Sogar ihr Leben?“
„Wenn das Schicksal es so will.“
Hier geschah irgendetwas. Hunter merkte nicht immer gleich alles, aber er wusste, dass plötzlich etwas anders war. Nach außen hin sprachen sie von Callie, aber er spürte, dass Jeannie mit ihren Gedanken woanders weilte.
Ausgerechnet in dem Moment drehte Daisy ihren Teller mit dem restlichen Brei um.
„Das ist typisch meine Kleine“, sagte er, griff nach einer Serviette, um den Brei aufzuwischen. „Immer im Mittelpunkt.“
Jeannie verschwand in die Küche und kam mit einer Rolle
Papiertücher zurück. „Zum Glück gibt es diese hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Mutter gibt, die sie nicht zu schätzen …“ Sie brach ab und wischte den Brei von Daisys Fuß.
„Hören Sie“, sagte Hunter und hockte sich auf die Fersen. „Sie brauchen nicht erst zu überlegen, was Sie sagen. Das Leben geht weiter. Ich kenne das.“ Um ehrlich zu sein, es half ihm, über Callie zu sprechen. Bis auf die erforderlichen Behörden, was das Sorgerecht für Daisy betraf, hatte er weder mit Freunden noch mit sonst jemandem über seine Situation gesprochen und schon gar nicht über seine Gefühle.
Allerdings hatte ihn auch niemand gefragt.
„Was ist mit Ihren Eltern?“, wollte Jeannie wissen und strich mit den Fingern über die Ecke des Teppichs. „Fühlten Sie sich zu alt, um einen Säugling zu versorgen?“
Hunter spürte, wie sein Kinn sich verspannte. „Sie sind noch nicht zu alt“, fuhr er sie an.
„Entschuldigung.“ Jeannie richtete sich auf. „Es geht mich sowieso nichts an.“
„Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen.“
„Tatsächlich?“ Sie zog die Brauen hoch. „Sie hätten mich glatt täuschen können.“
„Es ist eine lange Geschichte.“
Jeannie warf die verbrauchten Papiertücher in den Abfalleimer hinter der Küchentür. „Ich gehe nirgendwohin.“
Es kam ihm so vor, als hätte er acht Monate darauf gewartet, dass das jemand zu ihm sagen würde. „Meine Eltern haben Daisy nur einmal gesehen. Sie waren auf dem Weg zu den Bahamas und haben Zwischenrast gemacht, um ihre Enkelin kennenzulernen.“ Der ganze Besuch hatte gut fünfzehn Minuten gedauert. Daisy, blondhaarig, blauäugig und fröhlich, war Callie wie aus dem Gesicht geschnitten. Es war mehr gewesen, als sie ertragen konnten. „Auf dem Rückweg sind sie nicht vorbeigekommen.“
„Haben sie das gewollt, oder lag das an Ihnen?“
„Sie haben es so gewollt.“
Jeannie hatte das Gefühl, sie bahne sich einen Weg durch ein Minenfeld. „Manche Leute haben feste Ansichten, wie man ein Kind großziehen soll.“
Ganz kurz schilderte er Jeannie, wie seltsam abweisend seine Eltern sich verhielten, nachdem er sie vom Tod ihrer Tochter verständigt hatte. Er hatte sie gebeten, ihn nach Tokio zu begleiten, doch sie hatten abgelehnt.
„Daisy war achtundzwanzig Stunden alt, als ich im Krankenhaus ankam.“ Die bittersüße Erinnerung zerriss ihm fast das Herz. „Ich habe sie auf den ersten Blick gehasst.“
Jeannie hielt die Luft an und strich der Kleinen unwillkürlich liebevoll übers Haar.
„Ich hätte Daisy sofort eingetauscht, wenn ich dadurch meine Schwester wiederbekommen hätte.“Von Trauer benommen hatte er sich mit einem Berg auszufüllender Formulare auseinandersetzen müssen. „Es hat drei Tage gedauert, bis ich schließlich alles geklärt hatte und Callie überführen lassen konnte. Ich war schon auf dem Weg zum Flughafen, als mir einfiel, was ich vergessen hatte – Daisy.“ Callies Tod hatte alles andere aus seinem Gedächtnis verdrängt. „Daisy lag noch auf der Kinderstation des Krankenhauses.“ Die Versuchung, einfach davonzulaufen, war groß gewesen. „Ich wollte kein Kind. Ich mochte mein Leben wie es war. Bei CV & S hatte ich einige Fortschritte gemacht und gute Aussichten auf eine steile Karriere. Aber es gab nur mich, sonst niemanden.“
Jeannie kannte Hunter kaum, konnte ihn aber gut verstehen. Zorn. Schmerz. Das furchtbare Bedürfnis jedes Detail zu rekapitulieren. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit etwas Ähnliches durchgemacht.
Sie setzte sich hin und stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch. Daisy spielte mit ihren bunten Plastikschlüsseln. Hunter schien sich ganz in den Erinnerungen zu verlieren.
„Daisy hat mich irgendwo zwischen Japan und Hawaii das erste Mal nass gemacht. Da wusste ich ganz genau, wir würden uns miteinander abfinden müssen.“ Seine Eltern waren in ihrer Trauer unerreichbar. Er hatte keine anderen Geschwister. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ein nettes junges Paar zu suchen, das sie adoptieren würde. Ich habe sogar mit ein paar Anwälten gesprochen, die ich kannte, aber als es dann zum endgültigen Schritt kam, bin ich davor zurückgeschreckt.“ Daisy war die Tochter seiner Schwester. Callie lebte in dem hilflosen Säugling weiter, und in gewisser Weise auch er. Nur ein kaltherziger Mensch hätte ihr den Rücken zukehren können. Selbst wenn er manchmal glaubte, dass er nicht viel besser sei, hatte er das nicht übers Herz gebracht.
„Ich bin nicht direkt der geeignete Vater“,behauptete er ehrlich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine feste Bindung eingehen würde, viel weniger ein Kind großziehen.“
„Sie haben das Richtige getan“, sagte Jeannie leise. „Sie haben auf Ihr Herz gehört.“
Der Blick, den er ihr zuwarf, war mehr als skeptisch. „Wir haben in den ersten sechs Wochen fünf Haushälterinnen gehabt …“
„Haben Sie jetzt eine Haushälterin?“
Er schüttelte den Kopf. „Die letzte ist nach Irland gegangen, um ihrer Tochter zu helfen. Was mir fehlt ist eine Leih-Ehefrau.“
„Wie schaffen Sie das nur? Ich habe für so viele Werbeagenturen gearbeitet, ich weiß, wie wenig mitfühlend man da bei familiären Problemen ist.“ Wie oft hatte sie es miterlebt, dass Babys und Kleinkinder nachlässig behandelt wurden!
„Ich schaffe es auch nicht“, gab Hunter zu. „Wenigstens in letzter Zeit nicht mehr. Daisy teilt sich seit zwei Wochen mein Büro mit mir.“
„Die Bosse müssen ja richtig begeistert sein.“
„Es wird allmählich knifflig“, gestand Hunter. „Tragbare Autositze und Wiegen passen nicht ganz in die Vorstellungswelt der Agentur. Und jetzt wo sie mich zusätzlich unter Druck setzen, weiß ich nicht, wie lange ich es noch aushalten kann.“ Von seinem Ehrgeiz, den er hatte verdrängen müssen, ganz zu schweigen.
„Was meinen Sie mit ‚unter Druck setzen‘?“ Sie winkte ihm, ihr in die Küche zu folgen, wo sie Kaffee kochen wollte.
Hunter lehnte sich gegen den Türrahmen zwischen Küche und Esszimmer, sodass er Daisy im Auge behalten und mit Jeannie reden konnte. „Grantham schickt mich ab Donnerstag auf eine viertägige Kreuzfahrt. Ich soll die Werbekampagne für die Schiffsfirma ausarbeiten.“
„Schwere Aufgabe“, sagte Jeannie und maß das Kaffeepulver ab. „Ich fühle mit Ihnen.“
Er warf ihr einen wenig begeisterten Blick zu. „Sie können das gern für mich tun, zusammen mit einem acht Monate alten Kleinkind.“
Sie stellte den Kaffeeautomaten an und schwang sich auf die Anrichte. „Kennen Sie niemanden, der für die Zeit auf Daisy aufpassen könnte?“
„Niemanden, dem ich sie so lange anvertrauen würde.“
„Freunde? Familie?“
„Meine Familie wohnt in Kalifornien, und für meine Freunde existieren Babys nur in Werbespots. Ich sitze zwischen zwei Stühlen, genau wie Grantham das gern sieht.“
Ich könnte es tun, ging es Jeannie durch den Kopf, ich hätte am Wochenende Zeit. Doch sie bemühte sich sofort, den Gedanken zu verdrängen, und räusperte sich. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber …“ Sie ließ ihren Satz unvollendet. Gefährlicher Boden war das. Es war so lange her, dass sie sich um jemanden hatte sorgen können. Und es war das Letzte, was sie jetzt brauchte.
„Ich würde Sie auch nicht danach fragen.“ Er sagte es ganz offen und entschieden. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fühlte es sich an wie eine Ohrfeige. „Ich bin verantwortlich für Daisy. Ich werde sie keinem Fremden aufhalsen, damit ich die Kreuzfahrt machen kann.“
Eine befangene Stille senkte sich zwischen sie.
Im Nebenzimmer kaute Daisy glücklich auf ihren Plastikschlüsseln herum.
„Ich habe noch nie ein so ausgeglichenes Baby gesehen“, bemerkte Jeannie und versuchte, die Stille zu unterbrechen. „Ist sie immer so ruhig?“
„Meistens. Man hat mir erzählt, wenn die Zähne kommen, ist das zu Ende.“
Wieder stockte ihre Unterhaltung. Das Telefon schellte, und Jeannie griff nach dem Hörer. Sicher war Hunter genauso dankbar für diese Unterbrechung wie sie.