Lesley Blanch
Liebe kennt ihren Ort
Schauplätze großer Leidenschaften
Aus dem Englischen
von Peter Knecht
Insel Verlag
Titel der englischen Originalausgabe: Pavilions of the Heart.
© 1974, Lesley Blanch
eBook Insel Verlag Berlin 2011
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-76930-9
www.insel-verlag.de
Einführung
1 Woronince, Russland
2 Sestra Sefronias Kapelle, Bulgarien
3 Rue Fortunée, Frankreich
4 Paradies Merton, England
5 Kourdane, Algerien
6 Béja, Portugal
7 Sultan Murads Schlafzimmer, Türkei
8 Nohant, Frankreich
9 Blagodatsk, Sibirien
10 Tribschen, Schweiz
11 Baltschik, Rumänien
12 Bibi Chanums Medresse, Samarkand
13 Rue Chantereine, Frankreich
14 Winterpalast, Russland
Danksagung
Für N.
nach vielen Jahren
Und du –
was willst du bei den schwarzen Zelten deines Stammes,
hast doch den roten Pavillon in meinem Herzen.
Arabisches Liebeslied
Häuser, in denen bedeutende Persönlichkeiten gelebt haben, sind oft mit Gedenktafeln bezeichnet, aber diese Tafeln markieren nicht notwendigerweise zugleich die Orte, an denen jene Menschen geliebt haben – und jedenfalls gibt es, vermute ich, nirgends Gedenktafeln, die speziell dem Zweck dienen, einen Ort als Schauplatz einer tiefen Liebe oder Leidenschaft kenntlich zu machen. Und doch sind solche Stätten bemerkenswert, und man möchte annehmen, dass sie in irgendeiner Weise etwas von den großen Emotionen, denen sie einst Zuflucht boten, widerspiegeln. Ich machte mich auf die Suche nach solchen Schauplätzen nicht allein romantischer, sondern auch tragischer und dramatischer Szenen, Orten, an denen Liebende eine Weile, eine Nacht oder auch ihr ganzes Leben gemeinsam verbrachten.
Wie stark ihre Gegenwart bis heute zu spüren ist, hängt nicht von der Dauer ihres Aufenthalts ab. Selbst eine einzige Umarmung, wenn nur genügend Intensität darin lag, kann in einer Art von gespenstischem Echo, einer deutlich spürbaren Aura für immer an einem solchen Ort fortleben. Darum kann eine Höhle am Schwarzen Meer, in der sich Puschkin und die Gräfin Woronzow – das junge mittellose, verbannte Genie und die Frau des Gouverneurs – zu flüchtigen Begegnungen trafen, die ihnen unvergesslich bleiben sollten, ebenso als ein »Pavillon des Herzens« gelten wie jenes Haus am Moika-Kanal in St. Petersburg, in dem der Dichter später in ehelicher Gemeinschaft mit der oberflächlichen und koketten Schönheit wohnte, die er leidenschaftlich liebte. Um ihre Launen und ihre Eitelkeit zu befriedigen, hatte er sich hoch verschuldet und einen unbedeutenden Posten am Hof angenommen, und ihr Leichtsinn war letztlich schuld an dem Duell, in dem Puschkin tödlich verwundet wurde. Dieses Haus am Kanal war Zeuge seines qualvollen Todeskampfs, im Leben wie im Sterben war es ein pavillon d'amour. Auch die schmucke Villa in Tribschen, in der Wagner und Cosima, berauscht von Küssen und der Musik des Siegfried, lebten, ist ein solcher Herzensort, ebenso, wenn auch hier ganz andere Emotionen im Spiel waren, das feuchte Kellerloch in Glasgow, in dem Madeleine Smith den kleinen Schurken L'Angelier liebte und dann vergiftete.
Wir verweilen an den verschiedenen Schauplätzen und betrachten nachdenklich jedes der Objekte, die den Personen, die uns interessieren, gehörten oder die sie umgaben. Wo ein Schreibtisch oder ein Bett steht oder wie die Polstermöbel überzogen sind, kann uns mehr verraten als eine wissenschaftliche Studie. Das Schlafzimmer, das Tolstoi und seine Frau bis zum Schluss miteinander teilten, lässt uns die ganze Erbitterung dieser Eheleute erahnen. Oder die beiden Rosenholzflügel, die Rücken an Rücken in dem verstaubten Salon im Schloss von Chapultepec stehen. Carlota und Maximilian spielten hier, um das unheilverkündende Rauschen des feindlichen Dschungels ringsum zu übertönen, in dem sie gefangen waren. Ihr Wohnzimmer kündet von der zugleich tragischen und lächerlichen Grundstimmung, die ihr Leben in Mexiko durchzog, wo vor jeder Tür und jedem Fenster Tod und Wahnsinn lauerten und nur ihre Liebe und seine Loyalität blieben, als das starre habsburgische Hofprotokoll in Trümmer gefallen war.
In gewissem Sinn sind alle meine Pavillons Spukschlösser. Ob Nomadenzelt oder sibirische isba, eine Zimmerflucht in einem prächtigen Palast oder die schlichteren Räume eines Landhauses, alle waren Schauplätze außergewöhnlicher Liebesverhältnisse, alle beherbergten Liebende, die unvergessen blieben. Die meisten dieser Orte existieren heute nicht mehr, sind selbst zu Legenden geworden, die wir nur vom Hörensagen, von alten Bildern oder aus schriftlichen Quellen kennen oder von denen gar nur noch alte Baupläne oder Handwerkerrechnungen Zeugnis geben. Wenige sind noch intakt, einige bis zur Unkenntlichkeit restauriert worden, andere wurden zu Museen, in allen aber, glaube ich, wohnen Gespenster.
Legenden können ebenso überzeugend echt wirken wie dokumentierte Geschichte, und legendäre Gestalten, besonders die von Liebenden, können uns immer noch in ihren Bann schlagen, auch wenn sie schon lange tot sind. Manchmal wirkt der Zauber, der von so einem Paar ausgeht, noch nach Jahrhunderten, und obwohl von der Umgebung, in der es lebte, nichts mehr übrig ist, kommt es vor, dass, sobald wir den legendären Ort der Geschehnisse vor uns sehen (oder auch nur ein Foto davon), die intensive Atmosphäre oder Stimmung dort spürbar wird. Sie schlagen eine Saite in uns an, das ganze Leben, das dort gelebt wurde, wird heraufbeschworen.
Ein Raum, der längst zusammen mit dem Haus, in dem er sich befand, verschwunden ist, kann in besonderer Weise als ein solcher Spukort gelten. Zwei Menschen, die nicht voneinander lassen konnten, so wie ihre Geschichte uns nicht loslässt, lebten dort ihrer an Qualen reichen Liebe. Im Balkonzimmer von Chatham Place Nr. 14 trafen sich Dante Gabriel Rossetti und seine »Flamme«, Miss Elizabeth Siddal mit den fiebrigen Lippen und der etwas vorgewölbten Kehle. Sie, die matte, in sich versunkene Taube, die »La Belle Dame Sans Merci« gewesen war, er der leidenschaftliche Bilderstürmer, der Maler-Dichter, der fleischliche Lust in den Armen der weniger strengen Fanny Cornforth fand. Von der Themse, deren Wellen über den Schlamm und den bei der Blackfriars Bridge angeschwemmten Unrat spülten, stieg Gestank auf, hüllte sie ein und erfüllte das Zimmer, das ohnehin gespenstisch genug wirkte: vollgestopft mit Relikten aus längst vergangenen Epochen, mit phantastisch gemusterten Fetzen stockfleckiger italienischer Brokatstoffe, mit gesprungenem chinesischen Porzellan, angelaufenen, golden gerahmten Spiegeln, »in denen man sich lieber nicht anschaut«, wie die Vermieterin bemerkte. Dort saß die Schöne ihm Modell, schweigend und umwabert von Chlordünsten, lange Stunden voller Liebe und Missverständnis, und am Ende fuhr man mit dem Omnibus zu kleinen Restaurants, wo es Hammelfleisch gab und billigen Wein. Um sie herum das Zwielicht der Dämmerung und Dunstschwaden vom Fluss, die sich mit Abgasen und Nebel mischten, jenem dichten, stechend riechenden Nebel, der zum viktorianischen London gehörte wie die Themse und den Gustave Doré, der beste Illustrator der Stadt, so abstoßend fand. Eine sonderbar düstere und unheilverkündende Umgebung war dieses Zimmer am Fluss, und sonderbar wirkten die zwei Personen darin, Geschöpfe, die sich aus einem farbenprächtig illustrierten mittelalterlichen Gebetbuch hierher verirrt zu haben schienen.
Welche legendenumwobenen Behausungen nimmt man in so eine Sammlung auf? Welche Jahrhunderte, welche Kontinente sollen berücksichtigt werden? Wo fängt man an, wo hört man auf? Wieso nicht auch Héloïse und Abélard, Victoria und Albert, der Wigwam von Pocahontas, die Barke der Kleopatra? An Glanz und Herrlichkeit mangelte es Letzterer nicht, sie hat die Herzen zweier mächtiger Römer schneller schlagen lassen und ist zu einer Legende geworden. Sollte der Alkoven mit den violetten Glaswänden in Zarskoje Selo nur deswegen nicht berücksichtigt werden, weil Katharina die Große sich nicht mit einem einzigen Liebhaber begnügte? Im Prinzip ja: Eine solche Vielzahl an Liebes- und Lustobjekten gehört ebenso wenig hierher wie der labyrinthische Kaninchenbau des Top Kapi Serail, der den kompliziert in zahllose Ränge untergliederten Harem des Sultans beherbergte – ein Pavillon der Sinne und nicht einer des Herzens.
Indes mache ich doch eine Ausnahme und erzähle von einem Raum des Harems von Sultan Murad III. Es ist ein Ort großer Gefühle, ja vielleicht die Apotheose aller romantischen Szenerien. In dieser reizenden Umgebung lebte der mächtige Padischah viele Jahre lang ausschließlich seiner italienischen Kadine Safie Baffo ergeben, und keine Konkubine oder Odaliske konnte ihre Eintracht stören – ein höchst bemerkenswerter Zustand dort und damals.
Im Allgemeinen habe ich mich auf Räume konzentriert, die Zweierbeziehungen vorbehalten waren, und der Versuchung widerstanden, die zahllosen Etablissements einzubeziehen, in denen vielleicht Eros herrschte, jedoch auf rein geschäftlicher Basis. In den Residenzen der großen Kurtisanen vom Schlag einer Cora Pearl oder Marguerite Ballanger, Luxusgeschöpfe, die eine entsprechende Raffgier an den Tag legten, spielte das Herz keine Rolle. Vermutlich auch nicht in den netten kleinen Villen in der Gegend von St John's Wood, wo der viktorianische Mann von Welt seine Mätresse etwas bescheidener unterbrachte, hübschen Wohnungen hinter diskreten Mauern – normalerweise waren über dem Weg zur Haustür schmiedeeiserne Ziergitter angebracht, sodass neugierige Nachbarn, die aus den Fenstern der oberen Stockwerke lugten, nicht beobachten konnten, wer da kam oder ging. Solche Häuser dienten letztlich gewerblichen Zwecken – ein interessantes Thema, gut dokumentiert, aber es gehört nicht hierher.
Man sieht es nicht jedem Haus so ohne weiteres an, ob es ein Schauplatz großer Leidenschaften ist oder war. Es gibt diese niedrigen Häuschen im ländlichen, nur noch in Überresten vorhandenen England, mit tiefgezogenen Dächern oder mit Reet gedeckt, die Fenster so klein, dass man kaum den Kopf hinausstrecken kann. In dem handtuchgroßen Garten wachsen Flieder, Geißblatt und Reseda, und es gibt ein außen angebautes Klohäuschen. An den Wänden kleben vergilbte Tapeten mit Blümchenmuster; sie bringen den Garten in die Küche und weiter die Treppe hinauf in ein Schlafzimmer mit Federbetten, die den ganzen Raum auszufüllen scheinen. Generationen von Liebespaaren haben sich dort getummelt. Auch das sind Herzensorte, Schauplätze großer Liebe.
Als ich so weit war, meine Wahl zu treffen, merkte ich, dass ich es, ausgenommen nur Tamerlans chinesische Prinzessin Bibi Chanum und die portugiesische Nonne, mit lauter Menschen und Geschichten aus dem neunzehnten Jahrhundert zu tun hatte. Vielleicht liegt das daran, dass in dieser Epoche, die auf das Zeitalter der einengenden Vernunft folgte und unserer Ära des mechanisierten Chaos vorhergeht, das Romantische solche Triumphe feierte. Und das neunzehnte Jahrhundert ist uns relativ nahe, wir haben eine innere Beziehung dazu, zu seiner Architektur, Literatur und bildenden Kunst und zu vielen anderen Dingen, nicht zuletzt dank der Familiengeschichten, die wir gehört haben.
Meine Mutter hat mir erzählt, wie meine Urgroßmutter, nachdem sie schwarze Bänder an ihre Haube genäht hatte, zu einem Haus am Strand ging, um von einem Fenster aus den Leichenzug des Duke of Wellington anzuschauen. Sie lernte dort einen gutaussehenden Schotten kennen – meinen späteren Urgroßvater –, der ihr den Hof machte und sie dazu überredete, noch ein Stündchen zu bleiben, nachdem die Menge sich aufgelöst hatte. Ich bin oft durch diese Straße gegangen, bevor die Bomben im Zweiten Weltkrieg das Gesicht der Stadt veränderten, und habe mich gefragt, an welchem der Fenster meine Urgroßeltern wohl standen und auf den riesigen Leichenwagen und all die schwarzgewandeten Würdenträger, die ihm folgten, hinabsahen, während sie sich jedoch mehr und mehr füreinander als für den Trauerzug interessierten. Welches der Fenster war es, von dem sie sich abwandten, dessen Vorhänge sie zuzogen, welches der Zimmer wurde zum vor Spannung knisternden Raum spontaner Liebe? Von dem historischen Ereignis, dem sie beigewohnt hatte, blieb meiner Urgroßmutter kaum etwas im Gedächtnis. Wenn man sie fragte, konnte sie so gut wie nichts über den Leichenzug sagen, umso genauer erinnerte sie sich dagegen an jedes Detail des Zimmers, in dem sie meinen Urgroßvater kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt hatte. Meine Mutter, die eine Verehrerin des Iron Duke war, bestürmte sie oft mit Fragen nach Einzelheiten der Trauerfeierlichkeiten, bekam aber jedes Mal nur Antworten dieser Art: »Da lag so ein bunter Schlingenteppich, und die Vorhänge waren dunkelgrün mit Fransen …«, sagte die alte Dame verträumt, »… die Uhr tickte so laut, dass wir die Tritte auf der Straße kaum hörten, und über dem Kamin hing ein Spiegel in einem vergoldeten Rahmen, und da stand so eine Marmorbüste von einem griechischen Helden, aber der sah nicht halb so gut aus wie dein Großvater damals … ich erinnere mich an ein kleines Sofa, das mit Rosshaar ausgestopft war … Es war nicht sehr bequem, dieses Sofa«, fügte sie jedes Mal hinzu und verstummte dann, ohne Zweifel in Gedanken an jenen Tag des Jahres 1852 versunken, als es ihr vollkommen gleichgültig gewesen war, wie unbequem das Sofa war.
Ihre leise, müde alte Stimme und die meiner Mutter sind im Lärm unserer Zeit längst verhallt, aber uns Heutigen ist aller Technisierung zum Trotz das Lebensgefühl des neunzehnten Jahrhunderts nicht vollkommen fremd. Erinnerungen und Stimmen dieser Art sind noch da und stiften Verbindungen.
Es gibt gewisse Orte, die eher berüchtigt als berühmt sind, die zu Objekten allgemeiner Sensationslust wurden und wo die ordinäre Neugier der Massen den Gefühlen von Liebenden ihren ursprünglichen Glanz geraubt hat. Ich denke hier etwa an den amerikanischen Pressezaren William Randolph Hearst, der es mit all seiner Macht und all seinem Geld nicht verhindern konnte, dass seine lange und innige Beziehung zu Marion Davies zum Thema öffentlichen Interesses gemacht wurde. Vielleicht lag das daran, dass sie in Amerika lebten, dessen Bewohner den Leidenschaften oft ebenso lüstern wie prüde gegenüberstehen. Hearst versteckte die Geliebte in San Simeon, einem Gebäudekomplex im Renaissancestil an der kalifornischen Küste zwischen San Francisco und Hollywood (trotz aller sagenhaften Reichtümer wirkt es tatsächlich wie eine bloße Filmkulisse). Das Anwesen war eine Festung gegen die geballte moralische Empörung der American League of Decency, der Daughters of the Revolution und all der anderen wohlorganisierten Tugendwächter der Nation. Bei meinem einzigen Besuch in San Simeon (lange nach Marion Davies' Zeit) war ich derart überwältigt von der wild zusammengewürfelten Masse an Kostbarkeiten aller Art, dass ich kaum etwas anderes wahrnahm. Die beiden lebten dort lange Zeit in treuer Liebe zusammen. Sie besaßen auch ein Penthouse in New York über dem Hudson. Die Ausflugsboote mit Touristen, die Manhattan umrundeten, fuhren langsamer, wenn sie an dem Gebäude vorbeikamen. Eine riesige Milchglasscheibe schirmte den Swimmingpool auf dem Dach ab, sodass das verfemte Paar unbeobachtet seine luxuriösen Badefreuden genießen konnte. Der Touristenführer, der durchs Megaphon auf die bedeutenden Sehenswürdigkeiten der Stadt hinwies, »The Cloisters, Empire State Building« etc., versäumte nie, dieses Penthouse, das er »das Liebesnest« nannte, der Aufmerksamkeit des Publikums zu empfehlen. Diese Bezeichnung enthielt etwas subtil Missbilligendes und war ohne Zweifel mit Bedacht gewählt, um die Ressentiments von in ihrem moralischen Empfinden verletzten Provinzlern anzusprechen, die gleichwohl neugierig gafften. »Liebesnest« ist ein vulgärer Ausdruck, aber davon abgesehen durchaus passend: Was sonst wären letztlich all die Orte, von denen ich hier erzähle? Und doch sind sie nicht alle gleich, es gibt feine Unterschiede und Abstufungen. Für den wahren Egoisten ist die Bezeichnung »Paradies à deux« ein Widerspruch in sich, denn er, dessen teuerstes Liebesobjekt er selbst ist, braucht keine Liebeslaube für zwei, er verwandelt jeden Rückzugsort in einen Tempel jener Gottheit, die er einzig anbetet. Selbstliebe ist eifersüchtig und duldet niemanden in der Nähe, alle äußeren Einflüsse würden nur die totale Hingabe an sich selbst stören. Ludwig II. von Bayern etwa war, sosehr er auch Wagner verehren mochte und sich von ihm verehrt glaubte, im Grunde nur in sich selbst vernarrt, und dies in einem Grad, der alle anderen Menschen ausschloss. Seine manische Bautätigkeit diente einzig dem Zweck, Räume zu schaffen, in denen er seine einsamen Tage und Nächte in leidenschaftlicher Selbsthingabe zubringen konnte. Das liebliche Schlösschen Linderhof, die pseudomittelalterliche Burg Neuschwanstein auf ihrer steil emporstrebenden Felsenklippe, ein maurischer Kiosk, in eine mitteleuropäische Moorlandschaft versetzt, die düstere Ruine Falkenstein und das überbordende Rokoko von Herrenchiemsee, Versailles nachempfunden und beim Tod des Königs unvollendet (er hat insgesamt nicht mehr als dreiundzwanzig Nächte dort verbracht – allein): alle diese Bauten sind Liebesorte, in denen Ludwig mit seinem Doppelgänger-Ich allein sein wollte.
Es gibt noch andere, nicht weniger ungewöhnliche Formen des Herzenspavillons, so etwa der mobile: Eine Kutsche wie der Fiaker von Emma Bovary, der, mit zugezogenen Vorhängen, dahinrumpelt, auf dem Bock ein Kutscher, der keine Fragen stellt und starr nach vorn blickt. Oder Züge, diese großen Züge, die ungeheure Entfernungen überwinden, während Liebende, gefangen in ihren engen Abteilen, immer enger zusammengezwungen werden; man denkt an romantische Fluchten oder Reisen, die mit einer Trennung traurig enden, oder eine dieser schwülen Geschichten wie die von Shanghai Express, die für eine Generation von Kinogängern den Namen des Zugs zum Synonym für Erotik gemacht haben. Oder Wasserfahrzeuge, Gondeln, schwarz verhüllte Kammern, die wie in einem Traum lautlos durch die Kanäle der Traumstadt Venedig gleiten; Kähne, die unter Weiden am Ufer eines englischen Flusses liegen: »Sweet Thames! run softly …« Schmale, mit Blumen reichgeschmückte schikaras schieben sich zwischen Seerosen auf dem Fluss Jhelum in Kaschmir vorwärts, treffen sich, liegen nebeneinander, sodass ein Fahrgast über die Bordwände in das andere Boot hinübersteigen kann und hinter einer herabhängenden Matte verschwindet; türkische Caiquen, voller Kissen und Polster, mehr schwimmende Betten als Barken, treiben auf den süßen Wassern von Asien. Und dann gibt es noch die Sommer- und Gartenhäuser, die Chalets, Lauben und Kioske der islamischen Welt, in denen Liebende Unterschlupf finden. Auch Brücken – ich denke an die Khaju-Brücke in Isfahan. Auf ihrem majestätischen Bogen reihen sich Alkoven, ähnlich Theaterlogen, nach vorne offen, aber von der Seite aus nicht einsehbar: Nur der Fluss konnte die Paare beobachten, die sich dort trafen. Die Shahs und die Großen des Hofs genossen dort tage- und nächtelang sinnliche Freuden und ließen den sanften Wind über dem Fluss ihre heißen Körper kühlen. In Gesellschaft geschminkter Frauen oder Knaben, auf Kissen und Teppichen hingelagert, vor sich kostbare Trinkgefäße und Wasserpfeifen, unterhalten von Musik und Poesie, vertrieben sie sich die Zeit. Und es gab noch andere raffinierte Genüsse: Manchmal, etwa im Verlauf eines ausgedehnten Festmahls, wurde ein Korb mit jungen Kätzchen hereingetragen; jeder Gast nahm sich eines und streichelte das weiche Fell, bis der nächste Gang aufgetragen wurde und die Tierchen Pilaw mit Granatäpfeln weichen mussten.
Es gibt so viele Formen von Pavillons, jede ein Produkt ihrer Zeit und der besonderen Gegebenheiten des Orts, aber allen gemeinsam ist irgendeine Art von Lagerstätte. In den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war ein Messingbett in der weiß emaillierten Kabine eines dahabijeh, eines Hausboots auf dem Nil, für Liebende der Inbegriff von Romantik, und wenn ich heute solche Fahrzeuge am Ufer vertäut sehe, schäbig geworden und unbeachtet, weil längst Luftkissenboote und klimatisierte Hotels ihre Rolle übernommen haben, finde ich, dass sie immer noch eine starke, wenn auch melancholische Aura haben, die Aura vergangener Liebe. Und als Pavillons, als Stätten der Liebe, wären sie wohl immer noch unschlagbar. Sie bieten alles, was zur landläufigen Vorstellung des Romantischen gehört: Einsamkeit, in Mondlicht getauchte Nächte und jenen berühmten abendlichen Zauber, der entsteht, wenn der Schimmer des Nils sanft wird, erst golden, dann silbern und endlich das Rot der sinkenden Sonne einem prächtigen Smaragdgrün Platz macht, in dem die ersten Sterne blinken.
»Ah, Ägypten!«, seufzten die Liebenden damals, wenn sie in ihren Korbstühlen dem Schauspiel des Sonnenuntergangs zusahen, wie es die Touristen noch heute tun, allerdings vom Deck eines Schnellboots aus und in weit weniger wohliger Muße. An den Ufern des großen Stroms, wo Marcus Antonius sich »auf des Ptolemäus Lager wälzte«, hüllen die Abenddünste alles ein, die Königsgräber ebenso wie die mit Palmblättern gedeckten Hütten der Fellachen, und bringen jene sonderbar gemischte Empfindung von Lust, Liebe und Tod mit sich, die untrennbar mit Ägypten verbunden ist. Jeder, der sich in dem Land aufhält, wird davon erfasst: Die weiche Sinnlichkeit, die in der Luft liegt, verwandelt alle Menschen in Liebende.
Der Lebensrhythmus der Einheimischen auf dem Land ist gemächlich wie die Schritte des Wasserbüffels vor dem Pflug. Arbeiten, lieben, schlafen, Kinder kriegen und aufziehen, arbeiten, lieben … das ist der Kreislauf des Lebens in Verhältnissen, die keinerlei Komfort – oder das, was wir im Westen darunter verstehen – bieten. Aber über den Menschen dort strahlen die Sterne, glitzern im Nil wie gefangen in einem sacht schwankenden Netz, ihr Licht und das des Mondes ergießt sich in die offenen Höfe und auf die flachen Dächer, wo eine Strohmatte und ein zerlumpter Teppich ausgebreitet sind und darauf warten, was die Nacht bringt – auch das eine Variante des Pavillons.
Wenn ich die verschiedenen Behausungen betrachte, die ich ausgewählt habe, und die, die mir sonst noch in den Sinn kommen, stelle ich fest, dass häusliche Sorgen weitgehend ausgesperrt sind. Die vielgeplagte Gräfin Tolstoi ausgenommen, die sich nicht nur um acht Kinder, einen großen Haushalt und die Güter kümmern musste, sondern obendrein auch noch das Manuskript von Krieg und Frieden siebenmal abschrieb (während ihr Mann, entschlossen, ein Leben in ursprünglicher Einfachheit zu führen, seine Stiefel selbst besohlte), scheinen die Liebenden die eintönigen Alltagsarbeiten anderen überlassen zu haben, und selbst die Gräfin hatte in der quälenden und gequälten Sphäre von Jasnaja Poljana wie auch in dem Haus in Moskau eine Menge Personal, das allen emanzipatorischen Lehren des Hausherrn zum Trotz in jenem Geist der Demut und Selbstverleugnung verharrte, den man als Dienstbote braucht.
Die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, sagt man, wenn Kleopatra eine anders geformte Nase gehabt hätte. Die Liaison von Napoleon und Marie Walewska hatte zwar keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte, jedenfalls nicht den, den polnische Patrioten erhofft hatten, aber man kann doch getrost annehmen, dass das Glück der beiden sehr gemindert worden wäre, wenn sie gezwungen gewesen wären, ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit zu verdienen. In den preußischen Schlössern und dem polnischen Château, in dem sie so vollkommen glücklich waren, hätte die Gräfin bei aller zärtlichen Hingabe wohl kaum so ganz und gar weltvergessen die Seine sein können, wenn sie sich um Haushaltsangelegenheiten hätte kümmern müssen. Solche Dinge sind lästig und können einem die schönsten Momente verderben – man hat einfach den Kopf nicht frei.
»An was denkst du gerade?«, fragt der Mann, der sieht, wie die Geliebte plötzlich aufgeschreckt den Kopf auf dem Kissen dreht. Und das, obwohl sie weiß, dass alles in Ordnung ist: Die Suppe auf dem Herd kocht von alleine.
Mehr oder weniger Personal war früher selbstverständlich, und ohne Zweifel war dies der Liebe förderlich. Noch so raffinierte elektrische Geräte sind kein Ersatz für menschliche Dienstleistungen. Ein Glöckchen und jemand, der kommt, wenn man klingelt! Hausangestellte, Domestiken, Sklaven … Ach, vergangene Herrlichkeit! Mag sein, dass Musik der Liebe Nahrung ist, aber was die liebende Seele erst so recht zusammenhält, ist doch die Gewissheit, dass pünktlich eine warme Mahlzeit auf dem Tisch stehen wird, zubereitet von einem dienstbaren Geist, der diskret im Hintergrund bereitsteht. Die Leute, die in all den Wirtschaftsräumen in den unteren Teilen alter Häuser, in den geräumigen Küchen, den Spülküchen, den gefliesten Speisekammern beschäftigt waren und in Dachkammern schliefen, waren, so sagt man uns heute, geknechtete, ausgebeutete Wesen. Vielleicht. Aber ich sehe sie als niedere Gottheiten im Dienst himmlischer Gewalten – für mich sind sie nichts Geringeres als Cupidos Boten, Pagen der Aphrodite.
Wenn mich jemand fragen würde, ob ein bestimmter Baustil oder ein Typ von Behausung in besonderer Weise dazu berufen sei, der Liebe Raum zu geben, so würde ich vermutlich am ehesten dem traditionellen arabischen Haus den Preis zuerkennen, wobei ich allerdings die Bezeichnung »arabisch« in einem Sinn verstanden wissen will, der sehr verschiedene Bauten umfasst und über das geographische Arabien hinausreicht. Was alle diese Gebäude verbindet, ist Abgeschlossenheit, Diskretion, Privatheit, die immer mit der Liebe einhergeht. Von den nagelneuen goldglänzenden Palästen saudi-arabischer Scheichs über die Bergfestungen der Berberfürsten bis zu den wunderschönen Palästen und alten Häusern in Kairo und Damaskus, immer stoßen wir auf das Prinzip des Rückzugs, die Grundbedingung von Intimität. Schon an der Schwelle, wo ein Sichtschutz oder ein L-förmiger Zugang dem Eintretenden den Blick in den Innenhof verwehrt, wird uns klar, dass hier Wert auf Privatheit gelegt wird. Solche Behausungen sind nach innen gewandt, man sieht ihnen nicht an, wie viel Schönheit und Annehmlichkeiten das Innere birgt; kaum ein Fenster mildert die abweisende Strenge der Fassade.
Aber wenn man drinnen ist, verändert sich alles, alles ist so angelegt, dass es uns bezaubert. Der Lärm und die Hektik der Straße, die Hitze des Tages sind ausgesperrt. Das große Haus mit seinen vielen Räumen ist immer rund um einen Innenhof herum gebaut, über dem die Kuppel des Himmels schwebt und die Außenwelt einzulassen scheint: Diese tritt einem nicht als Landschaft entgegen, sondern als ein Raum aus Luft und Licht, der dafür sorgt, dass keine Gefühle von Beengtheit oder Einschränkung aufkommen. Weiter gibt es immer einen Brunnen in diesen Höfen, dessen Plätschern an kühle Bäche und Wasserfälle denken lässt. Arabien liegt unter sengender Sonne, die klimatischen Verhältnisse sind extrem. Das nach innen gewandte Haus schützt vor Sandstürmen und glühend heißen Winden, die niemals in den Innenhof eindringen können; Läden oder Gitterwerk vor den Fenstern dämpfen das grelle Licht und sperren indiskrete Blicke aus.
Wie exquisit kultiviert uns heute diese alten Häuser erscheinen, wie kostbar und wahrhaft luxuriös die Ruhe und Ungestörtheit, die sie ihren Bewohnern bieten. Wie viele von uns, die von dem Stress und Druck des modernen Lebens zermürbt sind, würden nicht freudig den sogenannten Fortschritt und die alles andere als absolute Freiheit, die sie genießen, gegen ein weniger gehetztes Dasein tauschen!
Diese schummrigen, sinnlichen arabischen Interieurs, wo in dem durch muschrabijes gesiebten Licht Sonnenstäubchen tanzen, scheinen eigens geschaffen für ein Leben in heiter tändelnder Muße, wie F.J. Lewis es in seinen Bildern geschildert hat. Dieser heute weitgehend vergessene Künstler lebte und arbeitete in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lange in Kairo und anderen Städten des Vorderen Orients. Keiner hat besser als er die romantische Atmosphäre arabischer Häuser erfasst. Seine zahlreichen Bilder mit orientalischen Szenen zeigen uns die großen Linien und die kleinen Details des häuslichen Lebens. Die Sphäre, in die J.F. Lewis uns versetzt, ist eine, in der es Welt und Zeit genug für die Liebe gibt, ebendas, woran es im Westen mangelte, und dies bereits in den Tagen des Dichters Andrew Marvell, der einer spröden Geliebten zu bedenken gibt:
»Ach, hätten wir nur Welt genug und Zeit,
Wärst, Spröde, du von Schuld befreit.«
Allerdings ist es bei Marvell der »geflügelte Wagen der Zeit«, den der Liebende fürchtet, und nicht eine von Maschinen diktierte Beschleunigung allen Lebens, wie wir sie kennen. Und man darf nicht vergessen, dass der Orient im neunzehnten Jahrhundert ein ganz anderes Zeitgefühl hatte und heute immer noch hat als wir. »Dieser kleine tickende Sultan, der euer Leben beherrscht«, so nannte ein alter Araber einmal verächtlich die Armbanduhr.
Durch die muschrabijes dringen keine anderen Geräusche als das Gurren der Tauben und das sanfte Schwirren ihrer Flügel, wenn sie den Brunnen umkreisen. In den angenehm kühl verschatteten Räumen scheinen die glühend heißen Mittagsstunden in den Schwaden von Jasmin- und Rosenduft zu erstarren, die von den Parfümständen in Muski herwehen. In diesen Stunden, wenn alles stillsteht bis auf den träge kreisenden Propeller des Ventilators, ist es Beschäftigung genug für einen ganzen verträumten Nachmittag, einem Dunstfaden zuzusehen, der vom Kuppeldach eines benachbarten Hamam aufsteigt.
Die Frauen, die in solchen Häusern wohnten, die Ehefrauen, Konkubinen, Sklavinnen und weiblichen Verwandten des Paschas oder Beys, kannten kein anderes Leben als das, das um ihren Herrn kreiste, kamen mehr oder weniger in den Genuss seiner Gunst, wie es ihm gefiel, und konnten im Übrigen höchstens, um ihrer aufgestauten Sinnlichkeit Luft zu machen, Intrigen anzetteln oder Bosheiten aushecken. Vielleicht schlossen die muschrabijes, hinter denen sie lebten, nicht nur das geschäftige Leben draußen aus, sondern übten auch auf den Geist der Bewohnerinnen einen Zauber aus, der bewirkte, dass zuletzt alles ausgesperrt wurde, alle Gedanken oder Wünsche bis auf das Begehren selbst, die Sehnsucht nach dem Geliebten. Sind nicht die Arme des oder der Geliebten und das Bett letztlich jener Pavillon, von dem dieses Buch handelt?
Die folgenden Verse eines unbekannten Autors aus dem sechzehnten Jahrhundert sprechen die Gefühle aller Liebenden aller Zeiten aus:
»Westwind, wann wirst du wehen,
damit der feine Regen fällt?
Ach, läge doch in meinen Armen
mein Lieb, und ich in meinem Bett.«