Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel
La Mécanique du Cœur bei Flammarion, Paris.
1. Auflage
Copyright © 2007 bei Flammarion
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
bei carl’s books, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05665-0
Für dich, Acacita, denn nur deinetwegen konnte
dieses Buch in meinem Bauch heranwachsen.
Erstens: Rühr deine Zeiger nicht an!
Zweitens: Zügle deinen Zorn!
Drittens: Verschenke niemals dein Herz – an niemanden!
Denn sonst wird der Stundenzeiger deiner Uhr sich dir durch die Haut bohren,
deine Knochen werden bersten,
und die Mechanik deines Herzens wird für immer stillstehen.
1
m 16. April 1874 schneit es auf Edinburgh. Eine unnatürliche Kälte legt die Stadt lahm, und die Alten spekulieren, es könnte der kälteste Tag aller Zeiten sein. Es ist, als hätte sich die Sonne für immer verabschiedet. Der Wind ist schneidend, die Flocken sind leichter als Luft. WEISS! WEISS! WEISS! Eine stumme Explosion. Wohin das Auge blickt. Die Häuser erinnern an Dampflokomotiven, und der schmutzig graue Rauch, den ihre Schornsteine ausatmen, bringt den bleiernen Himmel zum Flimmern.
Edinburgh und seine steilen Straßen machen eine Metamorphose durch. Die Springbrunnen gefrieren zu Blumensträußen aus Eis. Der Fluss, der seine Rolle als Fluss sonst sehr ernst nimmt, verkleidet sich als Puderzuckersee, der sich bis zum Meer erstreckt, und das Tosen der Brandung klingt wie klirrende Glasscherben. Der Raureif zaubert glitzernde Pailletten auf das Fell der Katzen, und die Bäume erinnern an dickleibige Feen in weißen Nachthemden, die ihre Äste recken und strecken, den Mond angähnen und seelenruhig zusehen, wie die Kutschen über das vereiste Straßenpflaster schlittern. Es ist so bitterkalt, dass Vögel im Flug erfrieren und tot vom Himmel fallen. Ihr Aufprall ist unheimlich sanft für ein Geräusch des Todes.
Es ist der kälteste Tag aller Zeiten. Heute ist der Tag, an dem ich geboren werde.
Schauplatz ist ein altes Haus, das auf dem höchsten Hügel von Edinburgh balanciert. Auf dem Gipfel dieses Vulkans aus blauem Quarz soll der gute alte König Arthur begraben sein. Daher auch der Name: Arthur’s Seat. Das Dach des Hauses ist spitz und unglaublich hoch. Der Schornstein ist geformt wie ein Metzgermesser und ragt zu den Sternen empor. An ihm schärft der Mond nachts seine Sichel. Hier oben ist niemand, nur Bäume.
Das Haus ist ganz aus Holz, als wäre es aus einer gewaltigen Tanne geschnitzt: grobe Balken, wohin man sieht, Fenster vom Eisenbahnfriedhof, ein aus einem Baumstumpf geschnitzter Tisch, und überall verbreiten selbst gestrickte, mit totem Laub gefüllte Wollkissen Nestwärme. In diesem Haus finden unzählige heimliche Geburten statt.
Hier lebt die wunderliche Doktor Madeleine, eine Hebamme, die bei den Einwohnern der Stadt als verrückt gilt. Für eine Dame ihres Alters ist sie erstaunlich hübsch. In ihren Augen glimmt noch immer ein Funke, nur ihr Lächeln zuckt, als hätte es einen Wackelkontakt.
Doktor Madeleine bringt die Kinder von Huren und verlassenen Frauen zur Welt – und von Frauen, die zu jung oder zu untreu sind, um unter besseren Umständen zu gebären.
Neben den Geburten hat Doktor Madeleine noch ein weiteres Steckenpferd: Sie repariert mit Hingabe Menschen. Sie ist Expertin für mechanische Prothesen, Glasaugen und Holzbeine. In ihrer Werkstatt gibt es alles, was das Bastlerherz begehrt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bedarf es nicht mehr, um der Hexerei verdächtigt zu werden, und in der Stadt hält sich hartnäckig das Gerücht, die verrückte Alte töte die Neugeborenen, um sie zu Sklaven aus Ektoplasma zu machen. Außerdem treibe sie es mit allen möglichen Vögeln, um Monster zu gebären.
Während meine blutjunge Mutter in den Wehen liegt, sieht sie aus dem Fenster und beobachtet geistesabwesend, wie draußen Flocken und Vögel lautlos zu Boden fallen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, das bloß so tut, als sei es schwanger. Aber sie ist melancholisch, denn sie weiß, dass sie mich nicht behalten wird, und sie wagt es kaum, auf ihren prallen Bauch hinabzusehen. Als ich immer eiliger hinausdränge, schließt sie langsam die Augen, und ihre Haut verschmilzt mit dem Laken, als sauge das Bett sie auf.
Auf ihrem Weg den Berg hinauf weinte sie. Ihre gefrorenen Tränen prallten auf den Boden wie die Perlen einer zerrissenen Kette. Bei jedem Schritt breitete sich vor ihren Füßen ein Teppich aus glitzernden Murmeln aus. Sie geriet ins Schlittern, lief aber immer weiter. Ihre Schritte wurden schneller und schneller, ihre Füße verhedderten sich, ihre Knöchel knickten ein, und schließlich fiel sie mit voller Wucht auf den Bauch. Drinnen machte ich ein schepperndes Geräusch.
Doktor Madeleine ist das Erste, was ich von der Welt sehe. Ihre Finger packen meinen kleinen Schädel, der die Form einer Olive hat, ein Rugbyball im Miniaturformat. Dann schmiegen wir uns gemütlich aneinander.
Meine Mutter wendet den Kopf ab. Ohnehin wollen ihre Lider nicht mehr richtig funktionieren.
»Mach die Augen auf! Sieh dir die winzige Flocke an, die du fabriziert hast!«
Madeleine sagt, ich sähe aus wie ein blasser Vogel mit großen Füßen. Meine Mutter antwortet, sie schaue nicht grundlos weg und könne auf die Beschreibung gut verzichten.
»Ich will ihn nicht sehen und nichts über ihn wissen!«
Plötzlich wirkt die Hebamme beunruhigt. Sie tastet meinen zarten Oberkörper ab. Ihr Lächeln erlischt.
»Sein Herz ist hart. Ich fürchte, es ist gefroren.«
»Glauben Sie etwa, meins nicht?«
»Nein, sein Herz ist wirklich gefroren!«
Doktor Madeleine schüttelt mich kräftig, was sich anhört, als wühle jemand in einer Werkzeugkiste.
Sie kramt auf ihrer Werkbank herum. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und wartet. Sie zittert, aber es liegt nicht an der Kälte. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe, die einem Spielzeugladen entflohen ist.
Draußen schneit es immer stärker. Silberner Efeu rankt bis unter die Dächer, und vor den Fenstern blühen Eisrosen. Katzen frieren mit den Pfoten an Regenrinnen fest und werden zu Wasserspeiern. Im Fluss ziehen gefrorene Fische Fratzen. Die ganze Stadt ist fest in der Hand eines Glasbläsers, der klirrende Kälte aushaucht.
Binnen Sekunden sind die wenigen Passanten, die sich todesmutig vor die Tür gewagt haben, zu Eissäulen erstarrt, als hätte ein Gott ein Foto von ihnen gemacht. Manche, die beim Gehen zu viel Schwung hatten, gleiten noch ein Stück weiter – wie Balletttänzer bei ihrem letzten Auftritt. Sie sind beinahe schön: Engel aus Eis, deren Schals in den Himmel ragen, steife Tänzerinnen einer Spieluhr, die sich immer langsamer dreht. Überall in der Stadt spießen sich Passanten – manche erfroren, manche kurz davor – an den Eisdornen der Springbrunnen auf.
Allein die Turmuhren lassen das Herz der Stadt weiterschlagen, als wäre nichts geschehen.
›Dabei haben mich alle davor gewarnt, hierherzukommen. Sie haben mir gesagt, dass die Alte verrückt ist‹, denkt meine Mutter.
Die Arme sieht aus, als würde die Kälte sie jeden Moment umbringen. Selbst wenn es Doktor Madeleine gelingt, mein gefrorenes Herz zu reparieren – das meiner Mutter ist ein hoffnungsloser Fall. Ich liege nackt auf der Werkbank, den Oberkörper in einen Schraubstock eingespannt, und warte. Mir ist bitterkalt.
Eine alte schwarze Katze sitzt nebenan auf dem Küchentisch. Doktor Madeleine hat ihr eine Brille gebastelt: sehr elegant, mit grünem Gestell, passend zur Augenfarbe. Die Katze beobachtet uns mit blasierter Miene – fehlen nur noch Zigarre und Zeitung.
Doktor Madeleine durchstöbert ein Regal mit mechanischen Uhren. Sie nimmt verschiedene Modelle zur Hand: eckige mit harten Konturen, rundliche mit Holzgehäuse und protzige aus glänzendem Metall. Mit einem Ohr lauscht sie dem schwachen Schlag meines defekten Herzens, mit dem anderen dem Ticken der Uhren. Immer wieder runzelt sie die Stirn. Sie benimmt sich wie ein altes Mütterchen, das eine halbe Ewigkeit braucht, um auf dem Markt eine Tomate auszusuchen. Plötzlich hellt sich ihre Miene auf.
»Natürlich! Diese hier!«, ruft sie und streicht zärtlich über eine alte Kuckucksuhr.
Die Uhr misst etwa vier mal acht Zentimeter, und bis auf Zahnräder, Zeiger und Zifferblatt ist sie ganz aus Holz.
»Etwas Solides«, denkt Doktor Madeleine laut.
Der winzige Kuckuck ist nicht größer als die Kuppe meines kleinen Fingers. Er hat ein feuerrotes Federkleid und tiefschwarze Augen. Mit seinem ewig aufgesperrten Schnabel wirkt er wie tot.
»Diese Uhr wird ein gutes Herz abgeben! Außerdem passt sie zu deinem Vogelköpfchen«, sagt Madeleine zu mir.
Die Sache mit dem Vogel schmeckt mir nicht. Aber da Madeleine versucht, mir das Leben zu retten, will ich mal nicht so sein.
Sie streift eine weiße Schürze über: Jetzt geht’s ans Tranchieren. Ich fühle mich wie ein Brathähnchen, das man vergessen hat zu töten. Madeleine kramt in einer Salatschüssel, setzt eine Schweißerbrille auf und bindet sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, das ihr Lächeln verbirgt. Sie beugt sich über mich und lässt mich Äther einatmen. Meine Lider senken sich langsam, wie Rollos an einem lauen Sommerabend in einem fernen Land. Kurz bevor mich der Schlaf übermannt, werfe ich einen letzten Blick auf Doktor Madeleine. Alles an ihr ist rund, die Augen, die runzeligen Apfelbäckchen, sogar die Brüste. Eine seltsame Maschine, zusammengesetzt aus großen und kleinen Kugeln. Wenn ich nach der Operation keinen Hunger haben sollte, werde ich trotzdem so tun als ob, nur um an ihren Kugelbrüsten nuckeln zu dürfen.
Doktor Madeleine schneidet mir mit einer großen Zackenschere den Oberkörper auf. Die winzigen Zähne kitzeln ein wenig. Sie schiebt mir vorsichtig die Kuckucksuhr in den Brustkasten und beginnt damit, meine Schlagadern an das stillstehende Uhrwerk anzuschließen. Es ist eine heikle Arbeit, und Madeleine muss aufpassen, dass sie nichts beschädigt. Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. Ab und zu krampft sich mein schwaches Herz leicht zusammen, aber es pumpt nicht genug Blut durch meine Adern.
»Er ist furchtbar blass!«, murmelt Doktor Madeleine.
Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Madeleine zieht die Kuckucksuhr in meiner Brust mit einem kleinen Schlüssel auf und stellt die Zeiger auf Mitternacht. Sie wartet. Nichts geschieht. Das Uhrwerk ist nicht stark genug, um den Herzschlag auszulösen. Mein Herz steht schon gefährlich lange still. Ich bin in einem dunklen Traum gefangen, der mit jeder Sekunde dunkler wird. Doktor Madeleine spannt die Feder ein zweites Mal, um mein mechanisches Herz in Gang zu setzen.
»Ticktack«, macht die Uhr.
»Bubumm«, antwortet endlich das Herz, und die Arterien färben sich rot.
Langsam beschleunigt sich das Wechselspiel von Ticktack und Bubumm. Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm. Mein Herz schlägt jetzt fast so schnell, wie es soll. Vorsichtig zieht Doktor Madeleine ihre Finger zurück. Das Ticken verlangsamt sich wieder. Sie dreht behutsam an den Zahnrädern, um dem Uhrwerk auf die Sprünge zu helfen, aber sobald sie loslässt, wird der Herzschlag schwächer. Es ist, als entschärfe sie eine Bombe, die jeden Moment zu explodieren droht.
Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm.
Draußen fallen die ersten Sonnenstrahlen auf den Schnee und stehlen sich durch die Fensterläden herein. Doktor Madeleine ist am Ende ihrer Kräfte. Ich bin eingeschlafen. Vielleicht stand mein Herz auch einfach zu lange still, und ich bin tot.
Plötzlich erschallt ein »Kuckuck« aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen weit auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.
Dann näht sie meinen immer noch offenen Brustkorb mit dem Geschick einer Schneidermeisterin wieder zusammen. Man sieht die Nähte kaum. Über das Zifferblatt und die perfekt eingepasste Holzfront klebt sie ein großes Pflaster. Von nun an muss meine kleine Uhr jeden Morgen mithilfe eines Schlüssels aufgezogen werden, sonst hat mein letztes Stündlein geschlagen.
Meine Mutter sitzt immer noch reglos auf dem Bett. Sie meint, ich sähe aus wie eine große Schneeflocke mit Zeigern. Madeleine antwortet nur, so könne man mich im Schneegestöber wenigstens nicht aus den Augen verlieren.
Es ist Mittag, als Doktor Madeleine ihre Patientin verabschiedet, und wie immer lächelt sie im Angesicht der Katastrophe. Meine Mutter setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ihre Mundwinkel zittern. Sie bewegt sich wie eine alte Frau im Körper eines jungen Mädchens. Als meine Mutter kurz darauf mit dem Nebel verschmilzt, verwandelt sie sich in ein Porzellangespenst. Seit jenem bizarren, wunderbaren Tag habe ich sie nicht mehr wiedergesehen.