Crystal Green, Nancy Warren, Kathleen O'Reilly
Tiffany Sexy, Band 57
IMPRESSUM
TIFFANY SEXY erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax: 040/347-25991 |
Geschäftsführung: | Thomas Beckmann |
Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) |
Cheflektorat: | Ilse Bröhl |
Produktion: | Christel Borges, Bettina Schult |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
Vertrieb: | asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-27013 |
© 2008 by Crystal Green
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Johannes Heitmann
© 2008 by Nancy Warren
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Christiane Bowien-Böll
© 2008 by Kathleen Panov
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Andrea Cieslak
Fotos: jupiterimages
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEXY
Band 57 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-224-3
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Ferien von den Männern! Lucy und Carmen haben für ihren Urlaubstrip auf der Route 66 die besten Vorsätze. Aber schon beim ersten Stopp trifft Lucy einen unwiderstehlichen Cowboy, so süß und sexy, dass sie kurzerhand die Nacht mit ihm verbringt. Auch Carmen wird überraschend fündig. Und so sitzt am nächsten Tag plötzlich jemand anderes neben Lucy im Auto …
Kaum landet die Moderedakteurin Kimi in Paris, lernt sie den Fotografen Holden MacGreggor kennen. Mit einem bisschen Stilberatung verwandelt er sich unversehens in ihren persönlichen Traummann, und wenn Partys und Shows vorüber sind, gehören Kimis Nächte nur ihm! Sie ahnt nicht, dass ihr Lover mit der Kamera alles andere als ein Fotograf ist …
Trockener Martini oder fruchtige Piña Colada? Kein Problem für die hübsche Barkeeperin Tessa. Sie kennt die Rezepte für die gefragtesten Drinks! Bloß der perfekte Cocktail für ihr eigenes Leben ist noch nicht gemixt. Auch wenn klar ist: Gabe O’Sullivan, Tessas sexy Boss, ist neben Liebe, Lust und Verführung die wichtigste Zutat überhaupt!
Es waren nur noch wenige Tage bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag, als Lucy Christie eine überwältigende Erkenntnis hatte.
„Genau so verläuft auch mein Leben.“ Sie wandte sich an ihre Reisegefährtin Carmen, mit der sie gerade in einem Diner saß. Dann schaute sie wieder auf den Zeitplan für ihre Reise, die sie auf die Stunde genau geplant hatte. „Ich reise von Punkt A zu Punkt B, und dafür steht mir eine bestimmte Zeit zur Verfügung. Jeder Moment ist exakt vorherbestimmt, und es gibt keine Überraschungen.“
Als sie wieder aufblickte, legte ihre Freundin die Digitalkamera weg und musterte Lucy nachdenklich.
Gerade eben noch hatten sie sich das Poster von Marilyn Monroe an der Wand angesehen und im Takt zu einem alten Song von Petula Clark genickt, und jetzt ging es um Lucys große Sinnkrise.
„Als ich gerade unseren Plan für Reisetag Nummer fünf durchgelesen habe, kam mir die Erkenntnis, dass ich, seit ich schreiben kann, mein Leben haarklein durchgeplant habe. Ich bin einfach langweilig, Carmen, und nur deswegen hat Greg mich verlassen, genau wie alle anderen zuvor auch. Ich bin langweilig, und mit meiner Angst, von meinen Plänen abzuweichen und meine hochgesteckten Ziele nicht zu erreichen, vertreibe ich jeden Mann.“
„So ein Unsinn.“
Doch Lucy wusste, dass es stimmte. Selbst jetzt noch, nach drei Monaten, erinnerte sie sich deutlich an Gregs Abschiedsworte: „Mir kommt es vor, als wären wir schon sieben Jahre verheiratet, dabei sind wir erst seit vier Monaten zusammen“, hatte er gesagt.
Danach hatte sie ihn weggeschickt. Jedes weitere Wort hätte ihr nur wehgetan. Dabei sehnte sie sich doch nur nach einer glücklichen Familie. Küsse am Morgen, zwei Autos in der Garage und im Garten eine Schaukel. Alles sollte genauso wie bei ihren Eltern sein. Viele ihrer Partner hatten das irgendwann gemerkt und sich unter Druck gesetzt gefühlt.
Mitfühlend schaute Carmen sie an. „Du hast nur Panik, weil du dreißig wirst, das ist alles. Ich habe das auch alles durchgemacht.“ Carmen lächelte selbstgefällig und lehnte sich zurück.
An Selbstbewusstsein hat es ihr wirklich noch nie gemangelt, dachte Lucy. Carmen Ferris trug ein modisches Tanktop mit schrillem Aufdruck. Das dichte rot gefärbte Haar reichte ihr stufig bis über die Ohren, und ihre hellbraunen Augen funkelten. Sie schien niemals auch nur im Mindesten an sich selbst zu zweifeln.
Das war schon auf dem College in San Diego so gewesen, wo Lucy Wirtschaftswissenschaften studiert hatte. Sie war Carmen in einem Grundkurs begegnet. Lucy, die sich Mühe gegeben hatte, im Studium nicht groß aufzufallen, war von Carmen angehalten worden, ein bisschen mehr aus sich herauszugehen und sich zu amüsieren. Deshalb hatte Carmen sie gleich mit zu einer Uni-Party geschleppt.
Jetzt richtete Carmen sich auf, atmete den Duft von gegrilltem Fleisch und Pommes frites ein, der in der Luft hing, und blickte suchend durch das Objektiv ihrer Kamera. „Zwei Wochen Spaß in Vegas, und dann fahren wir weiter. Wir haben uns zu diesem Urlaub entschlossen, um uns vor deinem Geburtstag zu amüsieren, vom Arbeitsalltag abzuschalten und dich nach der Katastrophe mit Greg ein bisschen aufzuheitern.“
Sofort fiel Lucy wieder die Trennung ein. Keine ihrer gescheiterten Beziehungen hatte so lange gehalten wie die mit Greg. Vier Monate waren sie zusammen gewesen. Vielleicht machte ihr das Aus deshalb so schwer zu schaffen, weil sie mit dieser Beziehung einen persönlichen Rekord aufgestellt hatte, bis der Mann die Flucht vor ihr ergriffen hatte.
Auch Carmen erholte sich gerade von der Trennung von ihrem Freund, doch sie war mit ihrem Ex über Jahre hinweg zusammen gewesen – eine Ewigkeit, wie Lucy fand.
Seufzend beugte sie sich wieder über ihren Reiseplan. Sie würden die Route 66 entlangfahren und keine Sehenswürdigkeit auslassen. Sie würden in schäbigen Straßenrestaurants ungesundes Essen zu sich nehmen und sich wie in einem Roadmovie fühlen. Lucy studierte noch einmal den Plan, und auf einmal kamen ihr die einzelnen Stopps nicht mehr wie kleine Abenteuer vor – eher wie Punkte, die es abzuhaken galt.
Im Grunde genommen waren auch ihre Liebesbeziehungen nicht mehr gewesen als Pflichtübungen.
Sorgfältig steckte sie den Plan wieder in ihre Ledertasche. So.
Sie hatte den Plan zwar nicht in Fetzen gerissen, aber er war weg. Ging es bei dieser Reise nicht darum, dass sie beide sich von allem befreiten, was sie zu Hause bedrückte?
Carmen sollte ihren Arbeitsalltag in dem Großraumbüro vergessen, in dem sie meistens nichts anderes tat, als im Internet für einen Blog Texte zu verfassen. Vielleicht schaffte Lucy es durch die Reise, ihren Drang, alles regeln und vorausplanen zu wollen, eine Zeit lang zu vergessen.
Seit ein paar Jahren arbeitete sie jetzt in der Personalabteilung einer Softwarefirma und beschäftigte sich dort mit Handlungsanweisungen und Regelungen für die Belegschaft. Anscheinend hatte sie, ohne es zu merken, angefangen, auch in ihren Beziehungen nach diesen strikten Regeln zu leben.
Die Kellnerin kam an ihren Tisch und erkundigte sich lächelnd, ob sie mit ihrer Mahlzeit zufrieden waren.
„Doch, doch“, versicherte Lucy schnell. Sie hatte aufgehört, die Kalorien zu zählen, die sie hier in sich hineinstopfte. Während sie den Bratfettduft einatmete, entspannte sie sich allmählich. Ah, Reisen kann so entspannend sein, dachte sie. Der dreißigste Geburtstag ist überhaupt nicht schlimm. Und so langweilig wie zu Hause ist’s hier auch nicht.
Aber konnte sie es wirklich schaffen, sich über Regeln und feste Pläne hinwegzusetzen?
Sie schaute sich um. Dort drüben am Tisch saßen Touristen, und das Pärchen da hinten stritt sich offenbar. In der Sitzecke dahinter saß ein Cowboy, der sich den Hut tief in die Stirn gezogen hatte. Unwillkürlich blieb Lucys Blick an ihm hängen.
Genauso stellte sie sich den typischen Cowboy vor. Sein Gesicht lag im Schatten der Hutkrempe, und der Mann wirkte sehr geheimnsivoll. Lucy glaubte sehen zu können, das der Fremde blaue Augen hatte. Sein Kinn war unrasiert. Er trug ein T-Shirt, alte Jeans und Cowboystiefel. Den Teller vor sich hatte er bereits leer gegessen.
Breite Schultern, groß und muskulös … Lucy wurde warm, und sie merkte, dass sie ihn anstarrte – und dass er zurückstarrte.
War das Angst oder Erregung, was sie da gerade wie ein Blitz durchfuhr?
Lucy hielt den Atem an und konnte kaum glauben, dass ihr zwischen den Schenkeln heiß wurde.
Eigentlich hatte sie ein ganz entspanntes Verhältnis zu Sex, aber sie schlief nur mit einem Mann, wenn sie in ihn verliebt war. Normalerweise geschah das im ersten Monat ihrer Beziehung. Im Verlauf des zweiten Monats war dann meist schon Routine im Bett eingekehrt, nichts Aufregendes passierte mehr, aber es war nett.
Dass ihre Reaktion jetzt …
Hastig wandte sie sich wieder ihrem Clubsandwich zu und tat so, als habe sie den Fremden gar nicht bemerkt. Dass ihr Herz schneller schlug, lag sicher daran, dass sie es aufregend fand, so weit weg von zu Hause zu sein.
Sie rutschte etwas nach vorn, was das lustvolle Prickeln nur noch steigerte. Lucy spürte, dass sie feucht wurde.
Am besten aß sie einfach auf und achtete nicht auf ihre Empfindungen. Schließlich war sie wegen des Essens im Diner. Und bevor sie im MGM-Hotel übernachteten, wollte sie sich mit Carmen noch die Geisterstadt Calico anschauen. Ihr Zeitplan war straff und sah keinerlei Flirts vor.
Oder sollte sie sich die Zeit einfach nehmen?
Lucy trank einen Schluck von ihrem Kirschshake und versuchte, nicht zu dem Cowboy zu blicken. Sonst würde sie nur noch erregter.
Ob er immer noch zu ihr hinschaute?
Gerade als sie das herausfinden wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstür gelenkt. Sieben junge Studenten um die zwanzig polterten herein und machten es sich in einer Sitzecke in der Nähe von Lucy und Carmen bequem. Carmen ließ ihre Gabel, auf die sie gerade ein Stück Hühnchen aufgespießt hatte, sinken und musterte die Neuankömmlinge interessiert.
Einer aus der Gruppe erwiderte Carmens Blick. Der junge Mann war groß und schlank, und sein blondes Haar fiel ihm fast in die grünen Augen.
Vernehmlich räusperte sich Lucy und aß von ihren Pommes frites.
„Was denn?“ Betont unschuldig wandte Carmen sich ihrer Freundin zu. „Gucken ist doch nicht verboten.“
Lucy lachte. „Das wäre ja Kinderschändung. Der lag ja noch fast in den Windeln, als du auf die Highschool kamst.“
„Ja, mach mir nur meine Träume kaputt.“ Carmen aß weiter, aber erst, nachdem sie ihren halb leer gegessenen Teller fotografiert hatte. Dieser Urlaub bot ihr reichlich Stoff für ihren Internet-Blog. „Da stehe ich kurz vor meiner ersten Urlaubsaffäre, und du zerrst mich auf den Pfad der Tugend zurück.“
In dem Moment verspürte Lucy ein Kribbeln im Nacken, fast so, als könnte sie den Blick des Cowboys spüren.
Schau nicht hin, befahl sie sich, obwohl die Neugier sie fast umbrachte. „Irgendwer muss ja auf dich aufpassen. Deine Familie wird mir dankbar sein.“
„O je.“ Carmen seufzte. Ihr Vater war ein typischer Nordstaatler, nüchtern und sachlich, ihre Mutter dagegen, in deren Adern mexikanisches Blut floss, gab viel auf Traditionen. Carmens vier Schwestern konnten bereits Ehemänner und Kinder vorweisen, und genau das wurde auch von der letzten, noch unverheirateten Schwester erwartet. „Als ob ich jemals auf Mamas Flehen hören und zu Malcolm zurückkehren würde!“
Obwohl Carmens Ex sie vor ein paar Monaten gleich mit mehreren Frauen betrogen hatte, stand der alte Macho bei Carmens Mutter immer noch hoch im Kurs, denn Carmen hatte sich bislang noch nicht getraut, ihrer Mom zu erzählen, dass Malcolm nicht der perfekte Schwiegersohn war, als der er sich nach außen hin präsentierte.
Während der Fahrt durch die Wüste wollte Carmen darüber nachdenken, wie sie ihrer Familie am besten beibrachte, dass Malcolm endgültig aus ihrem Leben gestrichen war.
„Vielleicht hättest du nicht verkünden sollen, du bräuchtest ein paar Wochen, um herauszufinden, ob du dich mit Malcolm wieder versöhnen willst“, wandte Lucy ein. „Jetzt machen deine Mutter und deine Schwestern sich Hoffnung, obwohl keinerlei Anlass dazu besteht.“
„Ich brauche nur Zeit, um all die Veränderungen zu verkraften, die der Bruch mit Malcolm mit sich bringt. Außerdem hat er mich angefleht, Mama nicht den Grund für unsere Trennung zu verraten, denn ihm ist genau wie allen anderen klar, wie enttäuscht sie dann von ihm wäre. Warum er allerdings glaubt, ich könnte ihm verzeihen und wieder zu ihm zurückkehren, ist mir ein Rätsel.“
„Aber dir ist doch wohl klar, dass deine Mutter alle Hebel in Bewegung setzen wird, um euch beide wieder zusammenzubringen, bis du ihr eine bessere Erklärung für die Trennung gibst als ein ‚Malcolm und ich haben uns auseinandergelebt‘!“
„Ja, ich weiß, ich weiß.“ „Natürlich fällt es dir schwer, sie zu enttäuschen.“ Lucy nickte mitfühlend. „Ich kenne dich schließlich.“
„Wirklich?“ Carmen zog die Augenbrauen hoch und drehte sich mit dem Fotoapparat vor dem Gesicht nach rechts zu den Studenten, die gerade alle auflachten.
Lucy sah, dass Carmens Lieblingsstudent merkte, dass er fotografiert wurde. Gut gelaunt lächelte er Carmen zu.
Als sie sich wieder zu Lucy umwandte, fuhr sie sich über die Stirn. „Ganz schön heiß hier in dem Laden.“
Verdammt, dachte Lucy, gerade habe ich angefangen, den Cowboy zu vergessen, und da redet Carmen von Hitze.
Schlagartig wurde ihr wieder heiß, als sie an den Mann dachte, der dort hinten in der Ecke saß.
Sie konnte nicht widerstehen, sie drehte sich um.
Die Sitzecke war leer.
Enttäuscht wandte sie sich wieder um. Flirten ist ohnehin nicht meine Stärke, dachte sie. Normalerweise überspringe ich immer das lustige Geplänkel und stürze mich gleich in den ernsthaften Teil der Beziehung.
Warum war sie nicht so selbstsicher wie Carmen? Vielleicht konnte sie auf dieser Reise in dieser Hinsicht etwas von ihr lernen.
Ihre Freundin fotografierte den jungen blonden Mann schon wieder, und er machte mit seiner Kamera jetzt offensichtlich ein Bild von Carmen.
Er hatte einen sehr teuren Fotoapparat, wie ihn Profis benutzten.
Lachend knipsten beide drauflos. Dann kam er zu den beiden Frauen herübergeschlendert. Seine Freunde und Freundinnen johlten und pfiffen ihm nach, doch er winkte nur ab.
„Du hast mich im Visier“,sagte er lachend, als er vor Carmen stand.
„Du mich doch auch“, stellte Carmen belustigt fest. Ihre Augen funkelten.
Lucy war immer noch warm vom Blickkontakt mit ihrem Cowboy, aber dies hier war Carmens Flirt. Lucy verkniff sich ein Lächeln. Beobachte genau und lerne, sagte sie sich und hatte auf einmal das Gefühl, die alte, ständig besorgte Lucy hinter sich zu lassen.
„Ich bin Eddie.“ Er hielt Carmen die Hand hin.
In diesem Moment rief jemand aus seiner Gruppe „Edward, komm wieder zurück, du Idiot!“ Doch Eddie ignorierte es und fixierte stattdessen Carmen.
Sie stellte erst sich und dann Lucy vor.
Auch Lucy wurde von ihm mit einem charmanten Lächeln bedacht, und die nächste Frage richtete er an sie, so als wolle er sie nicht ausschließen.
„Wollt ihr zwei nach Vegas?“
Unwillkürlich legte Lucy schützend die Hand auf ihre Ledertasche. Ein Fremder brauchte nicht zu wissen, wo sie hinfuhren. Mit ein paar alten Regeln und Gewohnheiten wollte sie brechen – aber nicht mit allen.
Offenbar teilte Carmen Lucys Ansicht nicht, denn sie antwortete: „Ja, das wollen wir. Drei Tage lang werden wir uns an den Pool legen, viel Geld verspielen, und dann fahren wir die Route 66 entlang.“
„Das haben wir auch vor.“ Eddie nickte. „Wir haben gerade Semesterferien und fahren zwar nicht nach Vegas, aber es geht die Route 66 entlang.“ Er hielt seine Kamera hoch. „Fotografieren ist mein Hobby, und auf der Route 66 gibt’s überall Motive. Aber ein paar aus der Gruppe bleiben vielleicht am Lake Havasu, während ich weiterfahre. Das ist noch nicht ganz raus.“
„Paaar-ty!“, rief eine Blondine mit rosigen Wangen vom Nebentisch, die offenbar mitgehört hatte.
Die anderen aus der Gruppe lachten und bestellten sich Bier.
Carmen griff nach ihrem Ananasdrink und spielte mit dem Strohhalm, bevor sie einen Schluck trank. „Semesterferien?
Und angesagte viele Partys?“, fragte sie mit verführerischem Unterton.
Damit wollte Carmen auf sein Alter hinaus, aber Eddie ging nicht darauf ein. Für wie alt mag er uns halten, fragte Lucy sich.
„Ja, Semesterferien“, antwortete er. „Und wenn ihr zwei es nicht so eilig hättet, würde ich euch zu der bescheidenen kleinen Party heute Abend in unserem Motelzimmer im Timberline Inn, in Needles, gleich an der Autobahn einladen.“
Carmen schaute fragend zu Lucy, die mit dem Kopf schüttelte. Sie hatten sich doch einen Reiseplan zurechtgelegt! Wenn sie von diesem Plan abwichen, dann sicher nicht wegen einer Party von Collegestudenten!
Lucy griff nach der Rechnung und gab Carmen mit einem Wink zu verstehen, dass sie zahlen gehen wollte. Anschließend würde sie sich noch im Souvenirshop umsehen, um ihrer Freundin etwas Zeit mit Eddie zu geben, bevor sie sich verabschiedeten.
Auf dem Weg nach Vegas würden ihnen noch viele Eddies begegnen. Vielleicht ist nicht nur einer für Carmen dabei, sondern auch einer für mich, überlegte Lucy.
Sie verabschiedete sich schon mal von Eddie. Kaum war sie aufgestanden, setzte er sich zu der begeisterten Carmen.
Als Lucy am Tisch vorbeikam, an dem der Cowboy gesessen hatte, fragte sie sich, was passiert wäre, wenn sie ihm einfach zugelächelt hätte, so wie Carmen es bei Eddie gemacht hatte.
Sie hätte es einfach riskieren sollen.
Joshua Gray lebte gern zurückgezogen. Mit einer guten Zigarre auf der Veranda seiner Ranch zu sitzen und in den Sternenhimmel hinaufzusehen, das machte ihn zufrieden. Romantische Dinge lagen ihm nicht sehr.
Wenn er auf einer seiner vielen Geschäftsreisen Frauen begegnete, dann genoss er mit ihnen eine gemeinsame Nacht, doch anschließend trennten sich ihre Wege wieder.
Jetzt fragte er sich, wieso er sich nach dem Bezahlen noch länger an der Kasse des Diners aufgehalten hatte. Dadurch hatte er gehört, wie der Junge die beiden Frauen heute Abend in sein Motelzimmer eingeladen hatte.
Leider hatte er, als die drei sich einander vorgestellt hatten, die Namen nicht verstanden.
Joshua hatte sich über sich selbst geärgert: Was ging ihn diese Unterhaltung von Fremden an? Andererseits wusste er genau, wieso er gelauscht hatte. Und warum er jetzt trödelte, anstatt das Diner zu verlassen: Es lag an der Frau mit dem dunklen schulterlangen Haar, diesen unglaublich blauen Augen und den vollen Lippen. Wenn sie ihre Freundin angelacht hatte, hatten sich ihre Grübchen vertieft.
Irgendetwas an dieser Frau hatte Joshua immer wieder hinschauen lassen. Vielleicht lag es an ihrem sanften Lächeln. Oder an ihrem Frühlingskleid.
Er sehnte sich danach, sich wieder als Mann zu fühlen, und dafür war sie genau die richtige Frau. Joshua konnte etwas Selbstbestätigung gut gebrauchen, nachdem er fast das gesamte Familienvermögen in Fielding, Texas, verloren hatte.
Doch er war nicht auf der Suche nach Sex unterwegs. Er wollte nur wieder etwas Klarheit gewinnen. „Die grauen Zellen abkühlen“, wie eine seiner beiden Schwestern es nannte. Die Ranch eine Zeit lang hinter sich zu lassen sollte ihm helfen, sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Einerseits wollte er wieder etwas zur Ruhe kommen. Aber andererseits wartete er hier in der Einsamkeit der Wüste auch darauf, dass irgendwann in den nächsten Tagen die Ergebnisse der geologischen Tests kamen, die er auf dem einzigen Stück Land hatte durchführen lassen, das seiner Familie geblieben war. Nur dieses eine Grundstück hatte der selbst ernannte Freund der Familie, Timothy Trent, nicht aufgekauft, als er ihnen so selbstlos angeboten hatte, die Ranch zu kaufen, für sie zu verwalten und sie ihnen zurückzuverkaufen, wenn sie das nötige Geld dafür aufbringen konnten.
Trent hatte Joshua und seine Schwestern belogen. Nachdem er die Grundstücke aufgekauft hatte, waren die laufenden Kosten für den Betrieb angeblich ins Unermessliche gestiegen, und schließlich, so hatte er mit bedauerndem Schulterzucken erklärt, sei er auch nur ein Geschäftsmann und könne das Land nicht mehr zum Ankaufpreis zurückgeben.
Wie naiv Joshua gewesen war! Aber als er nach dem Tod des Vaters das Ausmaß der Misswirtschaft erkannt hatte, hatte er sich ganz darauf konzentriert, die Pferdezucht der Familie wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen. Und da war ihm das Angebot des Nachbarn gerade recht gekommen.
Hätte er Trent doch bloß nicht vertraut!
Aber wenn Öl auf dem letzten verbliebenen Land gefunden wurde, dann …
Bei der Erinnerung an seinen Ausritt, bei dem er die Öllache entdeckt hatte, ging sein Puls schneller. An jenem Tag war Joshua zu Trent geritten und hatte, ohne den Ölfund zu erwähnen, nachgefragt, zu welchen Konditionen seine Familie und er das übrige Land wie geplant zurückkaufen konnten.
Erst da hatte Trent seine hinterlistige Seite offenbart und sich geweigert, den Grays das Land zurückzugeben.
Obwohl er nichts von dem Öl gewusst hatte.
Und Joshua hatte die Beherrschung verloren und hätte sich beinahe auf Trent gestürzt. Joshua hatte gar nicht gewusst, dass er so wütend werden und solch einen Hass empfinden konnte.
Er war über sich selbst erschrocken und wieder gegangen, bevor er gewalttätig hatte werden können.
Würde er, selbst bei einem Ölfund, jemals genug Geld aufbringen, um das Land seiner Familie von Trent zurückzukaufen?
Der Gedanke an den verlogenen Ranchnachbarn machte Joshua so wütend, dass er sich schnell ablenkte, indem er an die dunkelhaarige Frau dachte. Sofort wurde sein Zorn in andere Bahnen gelenkt.
In dem Souvenirshop gab es von alten Comicfiguren bis zu Plüschtieren alles, was die Popkultur hervorgebracht hatte. Er wollte schon weitergehen, aber dann entdeckte er eine Elvisfigur. Seine jüngere Schwester Darianne liebte Elvis Presley, und über so eine Figur würde sie sich bestimmt freuen.
Er nahm die Figur und schlenderte zwischen den Regalen entlang. Brotdosen, Mützen und Hüte, Spiele und Süßigkeiten …
Ich fahre nur deshalb nicht weiter, weil ich hoffe, die dunkelhaarige Schönheit noch einmal zu sehen, gestand er sich ein. Würde sie seinen Blick erwidern? Würde sie diesmal nicht schüchtern wieder wegsehen?
Gerade als er sich der Kasse näherte, schlug sein Herz schneller, und er wusste, auch ohne sich umzudrehen, dass sie den Shop betreten hatte.
Ja, dort stand sie und betrachtete eine Schürze, die mit Comicfiguren bedruckt war.
Er konnte sich nicht gegen die Gedanken wehren, die ihm beim Anblick der Frau durch den Kopf schossen. Joshua malte sich aus, dass sie seinen Blick erwiderte und ihm gestand, dass sie ihm gefolgt war. Dann würde er ihr den obersten Knopf des Kleids öffnen. Und den nächsten.
Willst du etwas Spaß haben, würde sie ihn mit tiefer sinnlicher Stimme fragen. Willst du vergessen, wovor du wegläufst? Ich kann dich vergessen lassen, Joshua. Durch mich wirst du dein Selbstwertgefühl zurückerlangen.
Dann sah er sie, wie sie ein Glas mit süßen Drops aus dem Regal nahm und betrachtete.
Süß, dachte er. Wahrscheinlich genau das Richtige für einen verbitterten Mann wie mich.
Aber so, wie er sich gerade fühlte, würde er sie nicht ansprechen. Er würde das Geschenk für seine Schwester kaufen und die Frau in Ruhe lassen.
Während er die Elvisfigur bezahlte, versuchte Joshua, all die Wut zu vergessen, die in ihm tobte, weil ihm Triple Oaks, das Land seiner Familie, mehr oder weniger gestohlen worden war.
Mit einem Nicken bedankte er sich bei der Kassiererin und klemmte sich die Tüte mit der Figur unter den Arm.
Er gestand sich ein, dass ihn nur Sex von seinen Sorgen ablenken konnte. Schon früher hatte er als der schweigsame Bad Boy gegolten, der alles für seine Familie tat, aber nie eine feste Freundin hatte. Die Mädchen der Gegend hatten trotzdem versucht, ihn für sich zu gewinnen. Für ihn war es schon immer leicht gewesen, Frauen kennenzulernen. Auf der Highschool, während der Jahre auf dem College und auf seinen Geschäftsreisen.
Dann war jedoch seine Mom gestorben, und als Joshua sah, wie sehr sein Dad sie vermisste, und erkannte, wie stark die Liebe zwischen seinen Eltern gewesen war, wurde ihm bewusst, dass er womöglich etwas verpasste.
Langsam näherte er sich dem Ausgang des Souvenirshops. Was hat es ihn zu kümmern, ob die Frau dort drüben heute Abend einen Wildfremden auf dessen Motelzimmer besuchte? Es ging ihn nichts an, wenn die beiden Frauen sich mit Fremden einließen.
Doch die Brünette stand jetzt vor einem Regal mit Star Wars-Figuren, das sich direkt am Ausgang befand.
Entweder er drängte sich an der Frau vorbei, oder er kehrte um und machte einen Umweg zum Ausgang. Das wäre für ihn auch eine Art Niederlage.
Nein, sagte er sich. Ich nehme den kürzesten Weg.
Sobald er sich der Frau näherte, hob sie den Kopf; fast so, als hätte sie seine Nähe gespürt. An ihrem Blick konnte er ablesen, dass sie ihn wiedererkannte. Also hatte er einen Eindruck bei ihr hinterlassen, wobei unklar war, ob einen guten oder schlechten.
Unvermittelt blieb er stehen. Er konnte nicht weitergehen. Er hörte sein Blut rauschen und merkte, wie es in seinem Unterleib pulsierte.
Nickend tippte er sich an die Hutkrempe und wünschte, er brächte es über sich, jetzt zu lächeln, damit der erschrockene Ausdruck von ihrem Gesicht verschwand.
„Ich beiße nicht, Madam.“ Seine Stimme klang rauer als gewollt.
Sie blinzelte und lachte verlegen auf.
Ja, ich habe Eindruck auf sie gemacht, dachte er. Diese Erkenntnis brachte ihm zumindest einen kleinen Teil seiner Selbstachtung zurück.
Wie würde er sich erst fühlen, wenn er eins mit ihr war?
Bevor er auch nur einen Ton sagen konnte, trat sie zur Seite. „Ich wollte Ihnen den Weg nicht versperren.“
Ihre Stimme war so voller Leben.
Ich werde dieses Land zurückbekommen, dachte er. Und ich werde mich an Timothy Trent rächen. „Keine Ursache.“ Geh, sagte er sich.
Aber stattdessen verharrte er.
Die Frau senkte den Blick wieder – genauso ruhig hatte sie den Blick abgewandt, als der junge Kerl sie und ihre Freundin ins Timberline Inn, das Motel an der Autobahn, eingeladen hatte.
Nein, dachte Joshua, ich kann das nicht einfach schweigend übergehen. „Zufällig habe ich vorhin Ihre Unterhaltung mit dem jungen Mann vom College mitbekommen.“ Er schob sich den Stetson aus der Stirn. „Es geht mich zwar nichts an, aber … Sie sollten vorsichtig sein, auch wenn die Männer Ihnen auf den ersten Blick freundlich erscheinen.“
Langsam hob sie den Blick. Ihre Augen waren so klar und blau wie der Sommerhimmel. Nach kurzem Zögern lächelte sie.
In seine Erregung mischte sich eine Art Beschützerinstinkt. „Es gibt Männer, die suchen nach jungen Frauen auf der Durchreise.“
Sie öffnete den Mund, doch dann zögerte sie. Wenn sie wüsste, dachte er. Eigentlich bin ich es, vor dem sie sich in Acht nehmen muss.
„Danke“, erwiderte sie leise. „Danke für den guten Rat. Wir werden vorsichtig sein.“
Und warum stehst du dann hier und unterhältst dich mit mir, hätte er fast gefragt.
Sie atmete tief durch und lächelte dann.
Er schluckte und hielt sich die Tüte vor den Schritt, damit man ihm die Erregung nicht ansah. „Das Timberline Inn ist kein schlechtes Motel. Ganz bestimmt nicht“, brachte er heraus. „Ich wohne auch dort.“
Schlagartig wirkte sie interessierter „Dann sollte ich mir eher Gedanken um meine Gesellschaft machen und nicht um das Motel, ja?“
„Ich übernachte dort heute, weil ich ein Bett und ein Dach über dem Kopf brauche. In Truckerkreisen heißt es, dort sei es sauber und günstig.“
Sie guckte ihn ein wenig irritiert, aber noch immer interessiert an. „Also dann: Nochmals danke. Gut zu wissen, obwohl wir die Einladung sowieso nicht annehmen wollten.“
„Kein Problem, Madam.“
„Madam.“ Sie wiederholte es flüsternd und lächelte dann ganz unvermittelt. „Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie bei einer Frau meines Alters anrichten, wenn Sie sie ‚Madam‘ nennen?“
„Dann lieber ‚Miss‘?“ Oder war sie verheiratet?
Fast ohne es zu wollen, beugte Joshua sich vor und stützte sich mit der Hand an der Wand neben sich ab. Dadurch kam er der Frau viel näher.
Bildete er sich das nur ein, oder musterte sie tatsächlich kurz seinen Arm und seine Brust, bevor sie ihm wieder in die Augen schaute? Er räusperte sich und richtete sich etwas auf.
„Tja, ich sollte jetzt …“ Sie deutete zum Ausgang.
„Natürlich.“ Er rührte sich nicht, denn es kam ihm vor, als habe sie nicht wirklich vor zu gehen.
„Wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns.“
Trotzdem machte sie keine Anstalten zu gehen.
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Zurück zur Interstate 15.“ Es klang ausweichend. „Und Sie? Ich meine, morgen?“
Nirgendwohin, dachte er. Einfach nur weg.
Die Sehnsucht nach Erfüllung und Nähe brachte ihn dazu, sich noch weiter zu ihr zu beugen. „Interstate 15? Heißt das, Sie wollen nach Vegas?“
Aus ihrem zweifelnden Blick las er dieselben widersprüchlichen Gefühle, die in letzter Zeit auch in ihm tobten. Überlegte sie gerade, ob sie ihm etwas Persönliches von sich verraten sollte, obwohl er ihrer Frage, wohin er wollte, ausgewichen war?
Die Sehnsucht nach dieser Frau und ihrer Wärme war so stark, dass es fast schmerzte.
Doch dann zog sie sich kaum merklich von ihm zurück. „Wo Sie auch hinfahren, denken Sie immer dran: Nicht mit Fremden reden.“
Sie lächelte kurz, wandte sich ab und ging. Joshua kam es ein bisschen wie eine Einladung vor, doch da war er sich nicht sicher. Joshua Gray stand da, und das Wort „Timberline“ hallte ihm durch den Kopf.
Als Lucy zu ihrem Auto ging, zitterten ihr die Hände vor Aufregung. Das Treffen mit dem Cowboy hatte sie doch stärker aufgewühlt, als sie gedacht hatte.
Ich muss mich auf den nächsten Halt auf unserer Reise konzentrieren, sonst laufe ich noch in den Souvenirshop zurück, dachte sie.
Sie stieg ins Auto und atmete erst einmal tief durch. Der Mann hatte sie erregt, und sie fühlte sich, als sei sie gerade aus einem heißen erotischen Traum erwacht. Ihr Herz raste.
Bei der unerwarteten Begegnung hatte sie wie Carmen beim Flirten gelächelt. Das Lächeln hatte dem Cowboy signalisieren sollen, dass er es riskieren konnte, die Hand auszustrecken und sie zu berühren.
Lucy strich sich über den Arm. Sie hatte eine Gänsehaut. Ihre bisherigen Freunde hatten nicht dieselbe aggressive Männlichkeit ausgestrahlt wie der Cowboy. Das unrasierte Kinn und der durchdringende Blick seiner blauen Augen verliehen ihm eine dunkle, verführerische Ausstrahlung, der sich Lucy nur schwer entziehen konnte.
Für so etwas habe ich keine Zeit, sagte sie sich. Außerdem liegt die letzte Trennung noch nicht lange genug zurück.
Und wenn sie sich einfach unüberlegt in ein Abenteuer stürzte? Würde sie sich dann frei fühlen? Würde sie das glücklich machen?
Nachdenklich lehnte sie den Kopf gegen die Nackenstütze und dachte an den Cowboy, bis ihr ganz heiß wurde. Sie stellte sich vor, er würde sie küssen. Dann würde sie die Bartstoppeln an den Wangen spüren. Er würde ihre Brüste berühren, und sie würde seine Hand tiefer führen, dahin, wo sie sich am meisten nach einer Berührung sehnte.
Die Mittagssonne schien ihr durch die Frontscheibe ins Gesicht, und Lucy verdrängte die Bilder, die vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht waren, richtete sich auf und schaltete den CD-Spieler an.
Doch so leicht ließen sich die Gedanken an den Cowboy nicht verdrängen.
Als Carmen zu ihr in den Wagen stieg, wandte sie sich ihrer Freundin zu.
„Auf jeden Fall fahren wir heute Abend in dieses Motel“, verkündete Carmen, lächelte und drehte die Musik leiser.
In diesem Motel übernachtet auch der Cowboy, schoss es Lucy sofort durch den Kopf, doch dann fielen ihr die Reservierungen im MGM-Hotel ein. „Wir können die Zimmer in Vegas jetzt nicht mehr stornieren. Jedenfalls müssten wir in jedem Fall für eine Übernachtung bezahlen, ob wir nun dort schlafen oder nicht.“
„Dann zahle ich eben, Lucy. Wir haben doch Urlaub.“
„Es geht mir nicht ums Geld.“ Lucy hoffte, vernünftig zu wirken, und wandte sich Carmen zu. „Du möchtest also lieber mit ein paar Kids feiern, anstatt dich in Vegas zu entspannen. Vegas. Dort können wir eine Weinprobe machen oder uns den Cirque du Soleil ansehen.“
„Ach bitte.“ Carmen schlug die Augen nieder und lächelte dann. „Von dort aus sind es auch nur fünf Stunden Fahrt. Vegas läuft uns nicht weg. Aber Eddie wartet sicher nicht ewig.“
„Eddie. Verdammt, Carmen, gibt’s denn keine Männer um die dreißig? Sind wir schon so verzweifelt, dass wir uns auf Jugendliche stürzen?“
Carmen runzelte die Stirn, und Lucy erkannte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Oft genug hatte ihre Freundin ihr gesagt, dass sie glaubte, etwas versäumt zu haben, weil sie noch so jung gewesen war, als sie mit Malcolm zusammengekommen war. Ihre Familie wäre sicher entsetzt, wenn sie erfuhr, dass Carmen sich mit einem jungen Kerl wie Eddie vergnügte. Alle wollten, dass sie endlich dem guten alten Malcolm das Jawort gab.
„Eddie studiert Politologie an der University of California in San Diego und ist 23 Jahre alt. Aber was heißt das schon? Dreiundzwanzig! Das ist doch nur eine Zahl.“
„Red dir das ruhig ein.“ Lucy schüttelte den Kopf. „Sobald wir im MGM-Hotel eingecheckt haben, werden deine Hormone sich beruhigen. Dann wirst du froh sein, weil ich dich vor einem schäbigen One-Night-Stand bewahrt habe.“
Lucy wollte den Wagen anlassen, aber Carmen hielt das Lenkrad fest. „Also schön, ich gestehe, dass mich gerade seine Jugend anmacht, aber was ist schon eine Nacht? Du musst zugeben, dass ich eine gute Menschenkenntnis habe, und es wird nie jemand erfahren. Das ist gerade das Tolle daran, einfach ins Blaue zu fahren. Wir sind überall Fremde und können morgen weiterfahren, ohne dass es etwas ausmacht.“
Fremde. Fast erschrocken dachte Lucy an den Cowboy. Er war so nah an sie herangekommen, dass sie sogar seinen Duft hatte riechen können. Ihr Atem ging schneller, weil ihre Gedanken schon wieder ins Erotische abschweiften.
Als ihre Hände zu zittern anfingen, konzentrierte sie sich hastig wieder auf ihren Reiseplan. Von Punkt A zu Punkt B. Richtig. Und schon hörte das Zittern wieder auf.
„Also.“ Carmen ließ das Lenkrad nicht los. „Dies ist der Moment der Entscheidung. Eine erotische Nacht kann Wunder wirken und das Selbstbewusstsein gehörig aufmöbeln. Verstehst du? Du kannst dich einfach gehen lassen, und so lange wir aufpassen, haben unsere Abenteuer keinerlei Folgen. Es sei denn, wir wollen es so.“ Carmen zog eine Augenbraue hoch. „Wie klingt das? Lässt sich so der Trennungsschmerz nicht am besten vergessen?“
Lucy dachte an den Blick des Cowboys. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er an ihr interessiert war. Beim Gedanken an den Mann wurde ihr ganz flau im Magen. Sie drehte den Zündschlüssel, und Carmen ließ das Lenkrad los.
„Seit dem College“, begann Lucy, „haben wir uns alles anvertraut, egal, wie albern oder peinlich unsere Geheimnisse waren.“
„Dann fahren wir also zum Timberline Inn?“
„Carmen, ich finde nicht, dass …“
Ein schriller Ton aus Carmens Leinenbeutel unterbrach Lucy. Ihre Freundin blickte auf die Nummer des Anrufers, dann schaltete sie das Handy aus und steckte es zurück in ihre Tasche.
„Lass mich raten, wer das war.“
„Malcolm höchstpersönlich.“ Carmen fuhr sich durch das kurze verstrubbelte Haar. „Schlimm genug, dass er unsere Trennung seit Wochen ignoriert, aber kurz vor unserer Abreise ist er bei meiner Familie zum Dinner aufgetaucht.“
„Was?“
„Ich habe nichts gesagt, weil ich nicht allen die Feier verderben wollte.“
„Das grenzt doch an Stalking.“
„Na ja, so kann man es nicht gerade bezeichnen, wenn meine Mom und meine Schwestern ihn einladen, weil sie denken, er sei noch mit mir zusammen. Sie wollen einfach nicht begreifen, dass ich mit ihm Schluss gemacht habe. Ständig versuchen sie, mich wieder mit ihm zusammenzubringen.“
„Dann solltest du ihnen schleunigst von seinen erotischen Eskapaden berichten.“
„Dazu bin ich noch nicht bereit.“
Lucy wusste, dass die Diskussion damit für Carmen beendet war. Diese Reise würde ihrer Freundin ausreichend Gelegenheit geben, sich über vieles klar zu werden, unter anderem darüber, wie sie ihrer Familie beibrachte, dass der von allen geliebte Malcolm ein Widerling war.
Das würde Carmen sicher für einiges entschädigen, was sie dank ihres Exverlobten hatte durchmachen müssen.
Lucy drückte auf einen Knopf. Das Verdeck des Autos öffnete sich automatisch und verschwand im Heck des Wagens. Lucy fuhr rückwärts aus der Parklücke, bog auf die Straße und schaltete den CD-Spieler aus.
Fahrtwind, Motor und Reifen, das war die Musik der Straße.
Sie passierten ein Straßenschild, auf dem stand, dass es nur noch vier Meilen bis zur Geisterstadt Calico waren. Doch als sie sich dem Ort näherten, wurde Lucy klar, dass sie gar nicht mehr wild darauf war, sich die Geisterstadt anzuschauen.
Immer wieder musste sie an den Cowboy in dem Diner denken, der heute im Timberline übernachtete. Wieso zwang sie sich und ihre Freundin dazu, sich einen verlassenen Ort im Nirgendwo anzusehen, nur weil sie es ursprünglich so geplant hatte?
Sie erreichten die Kreuzung, an der die Interstate 15 auf die Landstraße traf, die nach Calico führte.
Cowboys, Ablenkungen und unplanmäßige Abstecher.
Im Diner ist es mit dem Cowboy ganz vielversprechend gelaufen, dachte Lucy. Außerdem werde ich bald dreißig, verdammt.
Mit quietschenden Reifen bog Lucy ab, in Richtung der Interstate 40 und des Timberline Inn.
Carmen stieß einen Jubelruf aus, reckte die Arme in die Höhe und genoss den Fahrtwind.
Lucy musste lächeln, als habe sie eine große Aufgabe bewältigt, indem sie sich vom verabredeten Zeitplan verabschiedete.
Richtig so, dachte Carmen. Wir zwei werden unseren Spaß haben.
Allerdings würde sie dafür sorgen, dass sie beide im Timberline Inn nicht in Schwierigkeiten gerieten. Seit dem College passte sie auf ihre Freundin auf, genau wie Lucy auch sie immer im Auge behielt. Beste Freundinnen, auf Lebenszeit.
Nach einer kurzen Strecke an zahllosen rotbraunen Felsen vorbei erreichten sie die Interstate 40.
„Unser Trip nach Vegas ist damit verschoben, ja?“, rief Carmen. „Und was wir auf der Route 66 versäumen, holen wir auf dem Rückweg nach, okay?“
Lucy nickte zustimmend und lächelte. Sie schien anzufangen, alles etwas leichter zu nehmen. Carmen gefiel die neue Einstellung ihrer Freundin. Mit jeder Sekunde wurde dieser Urlaub aufregender.
„Wir gucken uns alles an, was uns interessiert, und den Rest lassen wir eben links liegen!“, rief Lucy zurück. Ihr dunkles Haar flatterte im Wind, während sie einem Abenteuer entgegenfuhren, das Carmen kaum erwarten konnte.
Sie lehnte den Kopf zurück, und es war ihr egal, dass sie sicher wie ein Idiot grinste. Sie freute sich schließlich wie verrückt auf einen Kerl namens Eddie Kilpatrick, der Leonardo di Caprio ähnelte und dessen grüne Augen Aufregendes verhießen.
Normalerweise schwärmte Carmen nicht für jüngere Männer. Da sie mit Malcolm seit Jahren zusammen gewesen war, hatte es für sie noch nie einen One-Night-Stand gegeben. Und dieser Kerl, dem sie während der ganzen Zeit treu gewesen war, hatte sie hintergangen und betrogen.
Ein erotisches Abenteuer! Sie konnte es nicht erwarten.
Gleichzeitig fragte sie sich, was ihre Mutter und ihre Schwestern davon halten würden, aber sie würden es ja nie erfahren, denn Lucy konnte ein Geheimnis bewahren.
Und wenn ich ihnen erzähle, dass Malcolm mich betrogen hat, überlegte sie. Ihr Dad hatte Malcolm schon von Anfang an nur in der Familie geduldet, weil er Carmens Freund war.
Aber Mama ist ganz vernarrt in Malcolm, dachte Carmen, die würde doch lieber heute als morgen die Hochzeitstorte aussuchen. Mach dir darüber keine Gedanken, ermahnte sie sich, Eddie wartet, und Malcolm kann mir gestohlen bleiben.
Das Timberline Inn war nicht schwer zu finden. Es lag direkt neben der Interstate 40. Auf dem Parkplatz davor hatte man Kakteen und hohe Pinien gepflanzt – in Anlehnung an die Flora des nahen Nationalparks.
Im Motelzimmer stand ein winziger Fernseher, die Möbel waren zwar abgenutzt, aber sauber.
„Fünf Sterne“, stellte Lucy zynisch mit einem Blick aufs Bett fest.
„Du wolltest den Charme der Route 66 erleben. Hier hast du ihn.“
Seufzend legte Lucy den Koffer aufs Bett. „Billige Hotels und noch billigeres Essen, ganz wie echte Abenteurer.“
„Auf unser großes Abenteuer.“
Carmen tat so, als proste sie Lucy zu, die lächelnd nickte. Was mochte die bevorstehende Nacht ihnen bringen?
„Na, was meinst du? Wollen wir zum Pool?“ Carmen suchte in ihrer Tasche nach dem Bikini. „Dann essen wir noch einen Happen im Coffeeshop, und anschließend bereiten wir uns auf die Festlichkeiten vor.“
Lucy nickte und lachte dann auf. „Wir sind im Urlaub, Carmen.“
Carmen wusste genau, was ihre Freundin meinte. Losgelöst vom Alltag, keine Gedanken mehr an den Job, frei von allen Erwartungen. Ja!
Lucy rief im MGM-Hotel an, um das Zimmer zu stornieren. Anschließend telefonierte sie kurz mit ihrem älteren Bruder Jonathan, sagte ihm, wo sie beide steckten und was sie heute vorhatten. Jonathan, in dem Lucy eher ihren besten Freund als ihren Bruder sah, lachte nur und riet ihnen, gut auf sich aufzupassen. Lucy versprach, dass sie das tun würden.
Anschließend entspannten sie sich am Pool, genossen die Frühlingssonne und lasen. Nach einem Salat im Coffeeshop duschten sie und machten sich für den Abend fertig.
Als Lucy fragte, was sie denn tun sollten, falls Eddie mit seinen Freunden gar nicht auftauchte, erwiderte Carmen nur, er werde sie anrufen, sobald er eincheckte. Das habe er versprochen, und sie sehe einem Mann an, ob er die Wahrheit sage. Genauso habe sie auch bemerkt, dass Malcolm sie belog, weil er dabei ihrem Blick ausgewichen war.
Vielleicht war es genau das, was sie zu Eddie hinzog. Er war so offen, voller Energie und so charmant. Ihr war schon warm geworden, als sie nur mit ihm geredet hatte. So eine Anziehungskraft hatte schon seit Jahren kein Mann mehr auf sie ausgeübt, und dieses Gefühl hatte Carmen vermisst.
Als um sieben Uhr abends Carmens Telefon aber immer noch nicht geklingelt hatte, kam Carmen ins Grübeln. „Er ruft nicht an“, stellte sie enttäuscht fest.
„Sag mal, hattest du dein Telefon im Auto nicht vorhin abgeschaltet?“, erinnerte sie Lucy.
„Ach ja!“ Erleichtert holte sie ihr Handy und stellte es an. Sie fand eine SMS, dass ihr jemand auf die Mailbox gesprochen hatte.
Es war eine Nachricht von Eddie. „Hoffentlich kommst du“, sagte er und teilte ihr die Zimmernummer und die Uhrzeit mit, zu der die Party anfangen sollte.
Vielleicht komme ich tatsächlich heute Nacht, dachte Carmen lächelnd und beschloss, es zu genießen, weit weg von Malcolm und ihrer Familie zu sein.
War das nur Aufregung, die sie empfand, oder auch so etwas wie Angst, weil sie gerade dabei war, Neuland zu betreten?
Carmen entschied sich für große Ohrringe, steckte sie sich an die Ohren und trat zu Lucy, die sich gerade die Wimpern tuschte. „Noch fünf Minuten. Der Countdown läuft.“
Carmen starrte Lucy fasziniert an. Das beigefarbene Schlauchkleid, das die Freundin trug, war mit rotbraunen Blumen bedruckt und mit Spitze verziert. Gerade diese gedeckten Farbtöne brachten Lucys natürliche Frische zur Geltung.
Sie weiß gar nicht, wie umwerfend sie aussieht, dachte Carmen. Und weil sie nicht ahnt, was für eine tolle Frau sie ist, bedrängt sie in jeder Beziehung den Mann, als habe sie Angst, er könnte noch vor der Verlobung bemerken, dass sie eigentlich gar nicht so toll war.
Seit der Highschool folgten Lucys Beziehungen diesem Schema, und jedes Mal, wenn ein Partner sich hastig von ihr trennte, weil sie ihn enger an sich zu binden versuchte, verstärkte das nur Lucys Gewissheit, dass sie im Grunde nicht liebenswert war.
Lucy wandte sich Carmen zu, die sich in ihre bewährte Partykluft geworfen hatte: hohe Stiefel mit kurzem weißem Rock und einem knappen Oberteil. Das kurze rote Haar hatte sie zu einem coolen Fransenlook gestylt.
„Die berühmten Partystiefel?“ Lucy lachte auf. „Dann hat der arme Eddie keine Chance zu entkommen.“
„Das soll er ja auch gar nicht.“ Carmen hakte sich bei ihrer Freundin ein, und gemeinsam verließen sie das Zimmer, um nach Motelzimmer 176 zu suchen.
Die Party war nicht schwer zu finden. Laute Musik von AC/ DC drang aus dem Motelzimmer, das etwas abseits in einem anderen Gebäude des Motels lag. Die Zimmertür stand auf.
Carmen und Lucy traten ein.
Ein rothaariger Junge tanzte mit dem blonden Mädchen, das schon im Diner „Paaar-ty“ gerufen hatte, auf dem Bett.
Die übrigen Mitglieder der Gruppe saßen an einem Tisch und schnippten Münzen in einen Plastikbecher.
Carmens Vorfreude bekam einen kurzen Dämpfer. Wo war Eddie?
Eine der Frauen am Tisch sah aus wie Lindsay Lohan. Jetzt winkte sie Lucy und Carmen zu. „Hey, da seid ihr ja! Eddie holt gerade Eiswürfel.“
Wie auf Kommando erklang eine vertraute männliche Stimme dicht hinter Carmen. „Willkommen in unserer bescheidenen Hütte.“
Carmen war wie benommen. Sie bekam kaum mit, dass Lucy sich zeitgleich mit ihr umdrehte. Ihr Puls ging schneller, und dann erkannte sie dieses Glühen wieder: Genauso hatte sie sich damals gefühlt, als sie noch an die ewige Liebe geglaubt hatte.
Nur eine Nacht mit Eddie, und mir wird wieder einfallen, wie ich mich damals gefühlt habe, als ich noch jünger und nicht so abgeklärt war. Und niemand wird davon erfahren.
Kaum hatte Eddie das Zimmer betreten, war Carmen beschäftigt, und Lucy wusste, dass sie sich einen neuen Gesprächspartner suchen musste.