Sharon Kendrick, Annie West, Miranda Lee, Jennie Lucas
Julia Extra, Band 297
IMPRESSUM
JULIA EXTRA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax: 040/347-25991 |
Geschäftsführung: | Thomas Beckmann |
Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) |
Cheflektorat: | Ilse Bröhl |
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Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
Vertrieb: | asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-27013 |
© 2008 by Sharon Kendrick
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Kara Wiendieck
© 2008 by Annie West
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Anike Pahl
© 1998 by Miranda Lee
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Alexa Christ
© 2008 by Jennie Lucas
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Elke Schuller-Wannagat
Fotos: RJB Photo Library / Corbis
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 297 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-498-8
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Bislang wollte Kyros vor allem eins: frei sein. Aber kaum trifft er Alice wieder, verdreht sie ihm den Kopf, und er will sie heiraten. Ob sie allerdings noch Ja sagt, wenn sie alles über ihn weiß?
Ihre Küsse entzünden ein Feuerwerk in seinem Herz. Doch obwohl Maggie ein Kind von ihm erwartet, denkt Scheich Khalid Bin Shareef zuerst nur an eine Zweckehe. Warum steht er nicht zu seinen Gefühlen??
James Marsden, Earl of Winterborne, ist so charmant, dass ihr Herz bebt. Dabei hat Marina gerade schon Aufregung genug, denn die Nichte des Earls ringt um ihr Leben, und nur Marina kann es retten ...
Bebend blickt Isabelle in die Augen ihres Ex-Geliebten Paolo. Bisher glaubte sie, er wolle Rache, weil sie ihn zurückwies. Aber jetzt sieht er sie an, als sehne er sich nach etwas ganz anderem ...
Komm her und
küss mich
Das Geräusch einer zufallenden Wagentür, dann Schritte die kiesbedeckte Einfahrt entlang. Alice zuckte zusammen, als die Klingel unnatürlich laut durch das große Haus schallte.
Er war da.
Sie atmete tief ein, zog ein letztes Mal den roten Lippenstift nach und trat dann zurück, um ihr Werk im Spiegel zu bewundern. Eine völlig fremde Alice starrte ihr entgegen.
War das ihr Schutzschild, den sie für ein Wiedersehen mit Kyros brauchte?
Normalerweise hätte sie nie schwarzen Satin angezogen – das Kleid umschmiegte ihren Körper so eng, als sei es ihr auf den Leib geschneidert worden. Auch die Seidenstrümpfe und die High Heels mit den roten Absätzen gehörten nicht zu ihrer üblichen Garderobe. Die glitzernden Ohrringe waren natürlich nicht echt, aber zumindest würden sie ihren Zweck erfüllen. Das Funkeln würde ihren Exfreund davon ablenken, ihr zu tief in die Augen zu schauen, um dort ihre Gefühle lesen zu können.
Vielmehr sollte er denken: Alice sieht fantastisch aus. Was war ich nur für ein Idiot, sie gehen zu lassen.
Wünschte sich das nicht jede Frau in ihrer Situation? Dass der Mann, der ihre Beziehung nur deshalb so leichtfertig beendet hatte, weil seine Partnerin keine Griechin war, heftiges Bedauern empfand?
Es klingelte ein zweites Mal.
„Ich bin gerade aus der Wanne gestiegen“, schrie ihre Freundin Kirsty von der anderen Seite des Flurs.
Erneut atmete Alice tief ein, dann machte sie sich auf den Weg zur Tür. „Schon gut“, rief sie. „Ich komme ja.“
Nur langsam bewältigte sie die Treppe auf den hohen Absätzen. Dafür klopfte ihr Herz umso schneller, als sie endlich die Haustür öffnete. Im Gegenlicht der tief stehenden Sommersonne ließ sich nur die Silhouette eines Mannes ausmachen. Plötzlich war ihr Mund wie ausgetrocknet.
Seit seinem Anruf wirbelten ihre Gedanken in einem wirren Chaos durcheinander. Sie hatte versucht, sich vorzustellen, wie er jetzt aussehen mochte. Aber nichts hatte sie auf die Realität vorbereiten können, Kyros nach zehn Jahren zum ersten Mal wiederzusehen.
Seine imposante Gestalt schien fast den gesamten Türrahmen auszufüllen. Schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt betonten seinen schlanken männlichen Körper und die langen muskulösen Beine.
Mit der Sonne im Rücken erkannte sie zunächst sein Gesicht überhaupt nicht. Erst allmählich, während sich ihre Augen an das Licht gewöhnten, enthüllten sich ihr seine Gesichtszüge. Die hohen Wangenknochen, die schmale Nase und der ausdrucksstarke Mund, auf dem sich nur selten ein Lächeln abzeichnete.
Alice klammerte sich an die schwere Eichentür, da sie befürchtete, ihre Knie könnten weich werden. Da stand der Mann, der sie zutiefst verletzt hatte. Er hatte aus ihr eine Zynikerin gemacht, die nicht mehr an die Liebe glaubte. Vergiss das nicht, befahl sie sich.
„Hallo, Kyros“, begrüßte sie ihn betont ruhig.
Im ersten Moment reagierte Kyros gar nicht, zum einen, weil Wut und ungläubiges Staunen ihn sprachlos machten, zum anderen, weil sexuelles Verlangen durch seine Adern strömte. Er nahm eine hastige Begutachtung vor. Kein Ehering. Kein Mann, der sich neugierig im Hintergrund hielt und den mysteriösen Anrufer überprüfte. Und sie trug die Kleider einer Hure!
Verächtliche Anerkennung zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er seinen Blick über das schwarze Satinkleid wandern ließ, das viel zu viel von ihren wunderschönen langen Beinen entblößte, die sich so spektakulär um seinen Körper legen konnten. Er betrachtete die Rundungen ihrer Brüste und dann den perfekten kleinen Po. Wie konnte sie nur darüber nachdenken, in diesem Fetzen auszugehen, der den Puls eines jeden Mannes zum Rasen brachte und ihm dieselben Gedanken einflößen musste, die ihm gerade durch den Kopf schossen?
„Kalispera, Alice“, erwiderte er sanft, während die Sehnsucht tief in seinem Inneren weiter wuchs. „Hast du vergessen, dein Kleid anzuziehen … oder arbeitest du nebenbei als Prostituierte?“
Trotz der gemeinen Worte bedeutete seine samtige Stimme fast ihren Untergang. Dieser Akzent, dachte sie ohnmächtig. Dieser sexy unvergleichliche griechische Akzent entführte sie zurück in eine Zeit, die eigentlich nicht betreten werden durfte.
„Ich habe dir doch gesagt, ich gehe auf eine Party“, entgegnete sie. Wieso, fragte sie sich, rechtfertige ich ihm gegenüber mein Verhalten?
„In Schuhen, die niemals außerhalb des Schlafzimmers getragen werden sollten“, stellte er fest und musterte die extrem hohen Absätze.
Alice umklammerte die Tür noch fester. „Jemanden zu beleidigen, den man seit zehn Jahren nicht gesehen hat, entspricht nicht der traditionellen Begrüßung in England. Oder weißt du nicht mehr, was sich gehört?“
Aber Kyros beachtete sie kaum. Stattdessen fuhr er fort, sie eindringlich zu mustern, als würde seine Sicht sich plötzlich klären und die Frau, die er eigentlich erwartet hatte, erscheinen. Die Alice, die er gekannt hatte, war rein und unschuldig gewesen. Blonde Haare fielen offen bis zur Taille und waren nicht zu einer aberwitzigen Kreation aus Schleifen und Locken aufgetürmt. Sie hätte ein hübsches Sommerkleid aus Baumwolle oder einen adretten kurzen Rock und ein schlichtes T-Shirt getragen. Auf keinen Fall hätte sie etwas so Offenherziges angezogen. Das hätte er niemals erlaubt.
Seine Augen blitzten auf, als ihre Blicke sich trafen. „Okay, Alice, wenn du auf Konventionen Wert legst, dann sollst du sie bekommen.“ Noch einmal betrachtete er sie eingehend, verlor sich fast in dem Anblick ihrer zarten hellen Haut. „Lange nicht gesehen“, murmelte er spöttisch. „Sagt man das nicht nach so vielen Jahren?“
„Ich war mir nicht sicher, dass du wirklich kommst“, meinte sie.
„Aber ich habe dir doch gesagt, ich bin auf der Durchreise.“
„Ja, ich weiß.“ Er könne auf einen Sprung vorbeischauen, hatte er gesagt, als sei ihm die Idee erst eben gekommen. Betonte er absichtlich die Tatsache, dass er nicht extra ihretwegen herkam? Nur für den Fall, dass sie die falschen Schlüsse zog? Er hatte ihr nicht einmal gesagt, ob er alleine oder in Begleitung kommen würde. Sie spähte über seine Schulter, als erwarte sie, eine exotische griechische Schönheit zu sehen, die ihm gehorsam folgte. Zu ihrer Erleichterung stand dort niemand.
Es war nicht gerade die herzlichste Begrüßung, die Kyros je erfahren hatte. Theoretisch hatte er natürlich gewusst, dass sie ihn nicht mit offenen Armen empfangen würde. Dennoch wunderte er sich über ihre Kühlheit. Sorgte sie sich vielleicht um ihre Eltern und ihre Reaktion auf seinen Besuch? „Deine Mutter und dein Vater … Sind sie zu Hause?“
„Nein. Dad hat sich für eine frühe Pensionierung entschieden. Jetzt genießen meine Eltern das Leben in vollen Zügen und machen Ferien auf den Malediven!“ Warum erzählte sie ihm das eigentlich?
Kyros’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Es überraschte ihn, dass ein so gesunder Mann wie ihr Vater vorzeitig in Rente ging. „Und nun wohnst du hier?“, fragte er. „Bei deinen Eltern?“
Vielleicht reagierte sie ja überempfindlich … aber seine Worte klangen, als sei sie eine alte Jungfer, die zu ihren Eltern nach Hause gerannt war, weil ihre romantischen Träume nicht wahr geworden waren. Alice lachte. „Nein, natürlich lebe ich nicht hier. Ich besitze ein Apartment in London. Ich bin nur für diese Party zurückgekommen.“
„Und du hast immer noch vor, dort hinzugehen?“
„Dachtest du, ich würde absagen, weil du dich angekündigt hast?“
Er lächelte langsam. „Warum nicht?“
Seine Arroganz hätte sie wütend machen müssen, doch ein winziger Teil von ihr hatte genau darüber nachgedacht. Hatte sie nicht das überwältigende Bedürfnis verspürt, Kirsty zu bitten, sich in ihrem eigenen Haus aufzubrezeln? Damit sie ein wenig Zeit mit dem dunkeläugigen Griechen verbringen konnte, den sie nie so ganz vergessen hatte?
Sie hatte sich eingeredet, dass es normal sei, alles über das vergangene Leben des anderen erfahren zu wollen. Vielleicht half es ihr sogar dabei, einen würdigen Abschluss für ihre Beziehung zu finden. Diesmal für immer. Allerdings gingen alle Überlegungen an der Realität vorbei. Es gab nur einen Grund, warum sie Kyros wiedersehen wollte … und der hatte nichts mit Reden zu tun, sondern vielmehr mit seinem allzu verführerischen Sex-Appeal. „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen“, brachte sie hervor.
„Ah, aber du hast mich nie enttäuscht, Alice“, sagte er sanft. „Damals nicht und ganz bestimmt nicht heute … trotz deines liederlichen Outfits.“
Wieder ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern. Unbehaglich fragte Alice sich, warum sie keinen Morgenmantel übergezogen hatte. Die Tür in diesem Aufzug zu öffnen entsprang einer rebellischen Geste. Sieh her, schien sie zu besagen, ich bin zwar fast dreißig und unverheiratet, meine Figur ist aber immer noch schlank, und die Beine sind so anmutig wie zu Universitätszeiten.
Dabei fühlte sie sich in Wahrheit gerade sehr verletzlich. Doch ihn nun fortzuschicken war einfach unmöglich. Damit würde sie Kyros nur überdeutlich zu verstehen geben, dass er immer noch eine gewisse Macht über sie besaß. Und das war ja nicht der Fall, oder? Jedenfalls nicht mehr!
Außerdem war Alice neugierig. Sie hatte nicht Jahre damit zugebracht, sich zu fragen, was aus dem einzigen Mann geworden war, den sie je geliebt hatte, um ihm dann die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
War das nicht die Gelegenheit, die Dinge ein für alle Mal zu ändern? Die schlechten Erinnerungen zu löschen und durch neue zu ersetzen? Zu erkennen, dass Kyros nur ein x-beliebiger Mann war, mit dem sie überhaupt nichts mehr verband? Wäre es nicht wundervoll, wenn ihr das gelang?
Sie machte einen Schritt zurück. „Du kommst wohl besser herein“, meinte sie.
„Endlich“, sagte Kyros. Die Schwelle zu übertreten, empfand er als kleinen Sieg.
Unvermittelt musste er an seinen ersten Besuch in dem gemütlich eingerichteten Haus denken. Die vielen Bücherregale waren ihm aufgefallen, die weichen Kissen auf den Sofas, die unzähligen Gemälde und Fotos an den Wänden. Damals war ihm alles fremd vorgekommen.
Ihre Mutter hatte einen Kuchen gebacken. Die Tassen, in denen der zart duftende Tee gereicht wurde, waren aus so erlesenem Porzellan, dass sie fast durchsichtig wirkten. Zu seinen Füßen kauerte der Hund, der ihn mit feuchten braunen Augen um einem Leckerbissen anbettelte.
„Aber du darfst ihm nichts geben“, kicherte Alice. „Er ist ein richtiger Gierschlund.“
Natürlich fütterte er den Hund, woraufhin alle lachten. War das, ging es ihm damals durch den Kopf, ein geheimer Test, den er gerade bestanden hatte? Denn danach hatte Alice ihm mit einem Lächeln tief in die Augen gesehen. In diesem Moment hatte er …
Was eigentlich?
Ein Gefühl der Gefahr verspürt?
Oh, ja. Zusammen mit der Gewissheit, sich zu sehr in etwas zu verstricken. Er war noch viel zu jung, um sich für immer fest zu binden. Und wenn es einmal so weit war, dann nicht mit jemandem wie Alice.
Jetzt, zehn Jahre später, starrte er in ihr hübsches Gesicht. Hinter der viel zu dick aufgetragenen Schminke verbargen sich die faszinierendsten Augen, die er je bei einer Frau gesehen hatte. Grün und tief wie eine Lichtung mitten im Wald. Und wie ihre Haare wie ein Wasserfall aus Mondlicht über ihren nackten Rücken fielen. Es war, als höre er den Ruf längst vergessener Poesie. In seinen Lenden empfand er ein süßes Ziehen. Hastig ließ er sich auf eines der Sofas fallen, bevor Alice etwas davon mitbekam.
„Also, was genau tust du in England“, fragte sie und flüchtete mit großen Schritten auf die andere Seite des Raumes.
Kyros streckte die Beine aus und beobachtete amüsiert, wie Alice auf dem Sessel Platz nahm, der am weitesten von ihm entfernt stand. Der Anblick des Streifens Haut zwischen Strumpf und Kleid raubte ihm fast den Verstand. „Ich habe eine Hochzeit besucht“, erwiderte er gedehnt.
Das war nun wirklich das Letzte, womit sie gerechnet hatte. Alice bohrte die Fingernägel in die weiche Sessellehne. Kyros und Hochzeiten harmonierten in etwa so gut wie Wasser und Strom. Dabei klang allein das Wort in ihren Ohren unbehaglich vertraut, hatte sie doch einst gehofft, er würde sie heiraten! Was für eine Närrin war sie doch gewesen! „Wessen Hochzeit?“
„Die meines Zwillingsbruders Xandros.“
„Xandros?“
„Du klingst überrascht.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Überrascht trifft es nicht einmal annähernd. Ich dachte, dein Bruder leide unter einer Treue-Phobie … zumindest legt die Anzahl seiner Liebschaften das nahe.“
„Anscheinend kann selbst der wildeste Liebhaber der Welt gezähmt werden. Denn nun hat er eine Frau namens Rebecca geheiratet …“
Alice verspürte einen schmerzhaften Stich. „Sie ist keine Griechin?“, unterbrach sie ihn rasch.
„Nein, Engländerin.“ Ihre Blicke trafen sich. „Genau wie du.“
Nein, ganz und gar nicht wie ich, dachte Alice und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Damals hatte Kyros ihr erklärt, ihre Herkunft sei zu verschieden, als dass eine Beziehung wirklich funktionieren könnte. Die kulturellen Unterschiede würden einer gemeinsamen Zukunft den Todesstoß versetzen. Vielleicht jedoch hatte er diese Gründe nur vorgeschoben, als perfekte Entschuldigung, um eine jugendliche Romanze zu beenden. „Hast du dich nicht mit deinem Bruder zerstritten? Ich dachte, ihr sprecht kein Wort mehr miteinander?“
Kyros fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar. Es stimmte. Er und Xandros hatten ihr ganzes Leben lang gegeneinander gekämpft und sich schließlich in einem dramatischen Finale endgültig entzweit. Sein Zwillingsbruder war nach Amerika gegangen und hatte seither ihre Heimatinsel nicht mehr betreten. Beide Brüder redeten sich ein, so wäre es am Besten. Wie schwarz-weiß die Dinge erscheinen konnten, wenn man achtzehn war!
„Das ist lange her“, entgegnete Kyros nun leichthin. „Die Zeit heilt alle Wunden. Weder er noch ich können uns an den ursprünglichen Auslöser unseres Streites erinnern. Also dachte ich, warum soll ich nicht zu seiner Hochzeit kommen?“ Xandros hatte es sehr viel bedeutet. Zumindest hatte er ihm das unmittelbar vor der Zeremonie anvertraut, als er Kyros fest in die Arme schloss. Das Gesicht von den anderen Gästen abgewandt, ließ Kyros diese unerhörte Zurschaustellung von Gefühlen über sich ergehen.
„Und ist er … glücklich?“, fragte Alice.
„Glücklich?“ Kyros’ Miene verhärtete sich. Wie töricht und vorhersehbar Frauen doch sein konnten. Immer diese naive Annahme, Glück sei etwas Dauerhaftes! Etwas, das fertig und unzerstörbar mit der Heiratsurkunde mitgeliefert wurde. Glück war wie eine Seifenblase: perfekt, bis sie zerplatzte. Zurück blieb nur eine vage Erinnerung.
Trotzdem beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl, wenn er sah, wie sein Zwillingsbruder der Welt – und einer Frau – völlig ungeniert zeigte, wie sehr er Rebecca vergötterte. Das Glück würde nicht andauern, denn das tat Liebe nur äußerst selten. Und dann würde seine Schwäche auf ihn zurückfallen und ihm übelste Seelenqualen bereiten. Und natürlich würde er einen beachtlichen Teil seines Vermögens verlieren, wenn die beiden sich scheiden ließen.
„Oh, jeder kann für eine Weile glücklich sein“, sagte er. „Wer weiß schon, ob es halten wird. Ich allerdings bezweifle es.“
„Was bist du nur für ein Zyniker.“
„Oder ein Realist?“
Einen langen schweigenden Moment trafen sich ihre Blicke. Kyros schaute zuerst fort, weil der schwelende Funke des Verlangens Feuer zu fangen drohte. Sie trug keinen Ring am Finger. Dennoch musste er sich überzeugen. Weigerten die modernen Frauen der westlichen Gesellschaft sich nicht häufig, die äußeren Symbole einer verheirateten Frau zu tragen?
„Du bist nicht verheiratet, Alice, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Vielleicht einen Freund?“
„Auch nicht.“
Er lächelte. „Mit mir kann doch keiner mithalten, ist es nicht so?“
Konnte er Gedanken lesen? Wusste er, dass kein Mann je von ihrem Herz und ihrem Körper auf eine Weise Besitz ergriffen hatte wie Kyros? „Ganz sicher nicht, was dein ausgeprägtes Ego angeht“, entgegnete sie trocken.
Kyros lachte und veränderte unauffällig seine Sitzposition. „Auch nicht in anderen Bereichen, könnte ich mir vorstellen.“
„Um die Wahrheit zu sagen, habe ich darüber nicht viel nachgedacht“, sagte sie, die sexuelle Anspielung ignorierend. Insgeheim sandte sie ein Stoßgebet gen Himmel, dass er ihre Lüge nicht durchschaute und ihre Miene nichts von den vielen Nächten verriet, in denen sie nach seiner Abreise wach gelegen und sich nach ihm verzehrt hatte. Es hatte sie viel Zeit und Mühe gekostet, einen Zustand zu erreichen, in dem ein Gedanke an Kyros ihr nicht die Kehle zuschnürte. Auf keinen Fall würde sie diese Fortschritte einfach so wegwerfen. „Oder genauer gesagt, habe ich über dich nicht viel nachgedacht!“
„Ach, wirklich?“, fragte er spöttisch.
„Ich befasse mich nicht sehr oft mit der Vergangenheit, Kyros. Ich bin der Meinung, man sollte sie am besten ruhen lassen“, fuhr sie fort. Wie hatte sie nur seine Arroganz vergessen können? „Wie hatten eine Affäre, als wir beide sehr jung waren. Und dann war sie vorbei. Was soll’s?“ Sie zuckte die Schultern. „Das passiert doch jedem.“
Ein ungläubiger Ausdruck trat in Kyros’ Augen, der rasch Verärgerung wich. War es möglich, dass sie die Wahrheit sagte? Dass sie ihre „Affäre“ mit ihm abtun konnte, als sei er irgendein Exfreund unter vielen?
Nun, entweder sie meinte es ernst, oder sie wollte ihm nachdrücklich zu verstehen geben, dass er ihr nicht länger wichtig war. Noch heute Abend wird sie ihre Worte zurücknehmen, schwor er sich.
Es war ein spontaner Entschluss gewesen, sie heute Abend zu besuchen, ein halbgeformter Wunsch, wissen zu wollen, wie es ihr seit damals ergangen war. Doch ihre wegwerfende Bemerkung hatte dieselbe Wirkung auf ihn wie ein Eimer Benzin auf schwelende Kohlen.
Er begehrte sie.
Begehrte sie noch immer.
Und heute Abend würde er sie dann bekommen. Er würde ihr das billig aussehende Kleid abstreifen, ihre Brüste entblößen und sanft an den dann hart aufgerichteten Knospen saugen. Bald würde er entdecken, wie die Zeit die Kurven ihres Körpers und die geheimen weiblichen Stellen verändert und verfeinert hatte.
Er würde sie dazu bringen, die Schuhe anzulassen. Er würde mit Alice schlafen und sein Verlangen nach ihr stillen. Nur wenn er sie diesmal verließ, würde er endgültig von ihr befreit sein. Keine Spur mehr würde sich dann noch von ihr in seinen Gedanken finden. Nach einer langen leidenschaftlichen Nacht voller Sex würde er sie endlich ganz vergessen können.
„Ja, das passiert in der Tat jedem. Keine Erfahrung ist einzigartig“, stimmte er also zu. Unablässig glitt sein Blick zu ihrem blutrot geschminkten Mund. Schließlich stand er auf und schlenderte zu Alice hinüber. „Erzähl mir mehr über diese Party, zu der du gehst.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“
Kyros dachte an die Aufregung, die sie mit ihrem ungeheuerlichen Outfit verursachen würde. Ihm fielen die unzähligen Male ein, bei denen sie sich für ihn zurechtgemacht und sich anschließend für ihn ausgezogen hatte. Plötzlich verspürte er Eifersucht in sich aufsteigen, die wie heißes Gift durch seine Adern strömte. „Wer ist der Gastgeber?“
Alice bemerkte die aufflammende Feindseligkeit in Kyros’ Körpersprache sofort. „Kyros! Du kannst nicht nach zehn Jahren wie eine Dampfwalze in mein Leben zurückkehren und mir intime Fragen über meine Freunde stellen!“
„Kann ich nicht?“ Er trat einen Schritt näher.
Jetzt stand er nah genug vor ihr, sodass sie die glühende männliche Hitze wahrnahm, die von ihm ausging, die flackernde Aura stürmischer Erotik, die sein verführerischer Körper stets zu verströmen schien. Zum ersten Mal fielen ihr die winzigen Fältchen auf, die sich um seine Augen abzeichneten. Die einzelnen silbernen Strähnen im ansonsten schwarzen Haar. Die allmählich tiefer werdenden Linien um den sinnlichen Mund. „Ich brauche deine Frage nicht zu beantworten.“
„Wer ist der Gastgeber?“, beharrte er. In diesem Moment war das Klacken von Absätzen auf der Treppe zu hören. Eine Frau in einem silberfarbenen hautengen Catsuit spazierte ins Zimmer.
„In dem Ding kann man kaum atmen“, beschwerte sie sich grinsend. In einer Hand hielt sie ein halb geleertes Weinglas. Ihr Lächeln verschwand, als sie Kyros erblickte.
Kyros starrte sie fassungslos an. „Wer, zum Teufel, ist das denn?“
Alice beobachtete, wie Kirsty einige Male blinzelte, als glaube sie, ihren Augen einfach nicht trauen zu können. Von Kyros’ unhöflicher Begrüßung schien sie überhaupt nichts mitbekommen zu haben. Eigentlich eine amüsante Situation, trotzdem tat es weh zu sehen, wie ihre beste Freundin Kyros mit offenem Mund bestaunte, als habe sich eine Art Gott aus dem Nichts materialisiert.
„Ja, hal…lo“, säuselte sie. „Du bist bestimmt …“
„Das ist Kyros. Kyros, Kirsty“, stellte Alice sie einander schnell vor. „Erinnerst du dich? Ich habe dir von ihm erzählt. Kyros und ich kannten uns während der Unizeit.“
„Ach ja, richtig“, erwiderte Kirsty und begann unbewusst mit einer roten Haarsträhne zu spielen. „Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass …“
Dass er so atemberaubend attraktiv ist? Oder dass er nun im Wohnzimmer meiner Eltern steht, breitbeinig und die Hände auf die schmalen Hüften gestützt, als gehöre ihm das Haus, und uns anstarrt, als seien wir Außerirdische, die soeben in ihrem Ufo gelandet sind?
„Ziehst du dich immer so an, wenn du ausgehst?“, fragte er.
Kirsty kicherte. „Natürlich nicht. Aber das Motto der Party lautet ‚Göttliche Dekadenz‘. Hat Alice dir das verschwiegen?“
Kyros sah zu Alice hinüber. Seine funkelnden schwarzen Augen sandten widersprüchliche Botschaften aus. „Nein“, sagte er sanft. „Diese Tatsache hat sie wohl vergessen zu erwähnen. Bestimmt hat es ihr gefallen, mich in dem Glauben zu lassen, sie kleide sich für jede Party wie die Königin der Nacht, nicht wahr, Alice?“
„Stimmt“, gab sie unumwunden zu. „Kyros kommt gerade von einer Hochzeit und hat nur kurz Hallo gesagt. Außerdem wollte er gerade wieder aufbrechen.“
„Oh!“, schmollte Kirsty. „Wie schade.“
Kyros’ Miene entspannte sich, als er der Rothaarigen ein langsames Lächeln schenkte. „Das ist es wirklich … vor allem weil ich so selten in diesem wunderschönen Land bin.“
Alice wusste genau, was jetzt folgen würde. Verhindern konnte sie es nicht mehr. Kirsty sprach die Einladung bereits aus.
„Warum kommst du dann nicht mit?“
„Er kann nicht. Es ist doch eine Mottoparty“, fuhr Alice die Freundin an. „Und Kyros trägt kein Kostüm.“
„Oh, ich weiß nicht … in meinen Augen sieht er absolut göttlich und dekadent aus“, flötete Kirsty.
„Meinst du?“ Wieder umspielte ein sinnliches Lächeln Kyros’ Mundwinkel. „Nun, ich würde gerne mitkommen. Bist du dir sicher, dass der Gastgeber nichts dagegen hat, ne?“
Jetzt mischt er auch noch absichtlich griechische Brocken in seine Antwort, dachte Alice wütend. Schließlich wusste sie nur allzu genau, welche Wirkung das auf Frauen ausübte … hatte sie nicht damals den Effekt am eigenen Leib zu spüren bekommen? Ebenso verhielt es sich mit diesem sexy Lächeln, mit dem er Kirsty nun bedachte. Und so schüttelte ihre Freundin auch schon den Kopf, als sei seine Befürchtung das Absonderlichste der Welt.
„Etwas dagegen … gegen dich?“ Kirsty warf ihm ein verschwörerisches Grinsen zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemals Probleme hattest, auf eine Party zu gelangen, Kyros! Je mehr Leute, desto lustiger, nicht? Und Single-Männer sind immer willkommen!“
Vor allem Männer wie du, schien der Ausdruck in ihren Augen zu signalisieren. Allmählich wurde Alice richtig wütend. Kirsty ließ sie so klingen, als seien sie ein kleiner Haufen Männer verschlingender Frauen! Die Sorte, die sich der dreißig näherten und verzweifelt darauf lauerten, irgendetwas mit Testosteron im Leib zwischen die Finger zu bekommen! Wie konnte sie nur?
Es stimmte, dass sie ihrer Freundin recht überzeugend erzählt hatte, schon seit Jahren über Kyros hinweg zu sein. Allerdings war das eher eine Übung für den Zeitpunkt gewesen, wenn sie ihm tatsächlich einmal gegenüberstand. Nur so weit war sie noch nicht.
Zumindest fand die Party in der Nähe statt, nur wenige Straßen entfernt. So würde es ihr immerhin leicht gelingen, sich nach kurzer Zeit unbemerkt aus dem Staub zu machen. Denn zweifellos würden die anwesenden Frauen sich sofort auf Kyros stürzen. Wahrscheinlich bemerkte er gar nicht, dass sie fehlte.
„Ja, du kannst uns gerne begleiten“, stimmte Alice betont gleichgültig zu – nur das Pochen ihres Herzens erzählte eine andere Geschichte.
Kyros verspürte eine Mischung aus Verlangen und Neugier, als Alice sich so abrupt von ihm abwandte. War sie wirklich so immun gegen ihn, wie es den Anschein hatte? Würde er sich sehr anstrengen müssen, sie ins Bett zu bekommen?
Aber die erotische Herausforderung reizte ihn durchaus. Es war lange her, dass ihn die Aussicht auf ein Abenteuer mit so großer Vorfreude erfüllt hatte.
Die Party war bereits in vollem Gange, als sie ankamen. Die Gastgeber schienen keine Kosten und Mühen gescheut zu haben. Leicht bekleidete Kellnerinnen versorgten die Anwesenden mit exotisch aussehenden Cocktails. Die Bäume im bis zu einem Fluss reichenden Garten waren mit Lichterketten geschmückt, Fackeln beleuchteten einen extra angelegten Pfad, der zu einem großen Zelt führte, aus dem laute Musik drang.
„Wie seltsam, dass die Nachbarn sich noch nicht über den Lärm beschwert haben“, sagte Alice, als sie das Zelt erreichten. Am Rand einer in Schwarz und Weiß gehaltenen Tanzfläche blieben sie stehen und beobachteten die ausgelassen tanzenden Menschen.
„Das liegt daran, dass alle Nachbarn ebenfalls eingeladen sind“, kicherte Kirsty. „Oh, schau mal! Da vorne ist Giles! Ich bin gleich wieder da.“
Alice hätte schreien mögen, als Kirsty in ihrem silbern glänzenden Anzug von der Menge verschluckt wurde. Auch wenn sie nicht gerade begeistert war, wie ihre Freundin sich auf dem Weg hierher an Kyros herangemacht hatte, von ihr mit ihm alleine gelassen werden gefiel ihr nun auch wieder nicht.
Allerdings bin ich ja gar nicht wirklich mit ihm allein, rief sie sich ins Gedächtnis. Es mussten an die hundert Leute hier sein, und jede Minute trafen weitere Gäste ein. Was sollte schon vor den Augen so vieler Menschen passieren?
„Ziemlich große Party“, stellte Kyros fest.
„Allerdings.“ Alice entdeckte einen ehemaligen Klassenkameraden und winkte ihm zu. „Die Gastgeber arbeiten beide in der Bankbranche. Sie haben dieses Haus gerade erst gekauft. Das hier ist ihre Einweihungsparty. Gehen wir zu ihnen und begrüßen sie.“
Kyros wandte sich zu ihr um. In der tiefen Schwärze seiner Augen flackerte Verärgerung auf. „Aber ich möchte jetzt mit niemandem reden.“
„Hältst du das nicht für ein bisschen unhöflich?“
„Nicht wirklich.“ Auf seinen Lippen erschien jenes schmale Lächeln, mit dem er normalerweise Menschen warnte, noch länger mit ihm zu diskutieren, weil es reine Zeitverschwendung wäre. „Sieh dich doch um. Die Leute legen es doch geradezu darauf an, um Mitternacht völlig betrunken zu sein. Die Abenteuerlustigen tanzen bereits. Jeder kümmert sich um seinen eigenen Spaß. Niemand hier kennt mich … warum sollte man mich auch kennenlernen wollen?“
Alice schnappte sich einen unmoralisch aussehenden lila Cocktail und trank einen ordentlichen Schluck. „Oh, ich bitte dich, Kyros. Abgesehen von der Tatsache, dass du im Vergleich zu allen anderen kläglich underdressed bist, hat dich schon beim Hereinkommen jede Frau begutachtet. Alle Männer beobachten dich, um zu sehen, was du als Nächstes tun wirst.“
„Dann sollte ich sie wohl beruhigen“, sagte er sanft und umfasste ihren Ellenbogen. „Ich bin an keiner der anwesenden Frauen hier interessiert … mit Ausnahme derjenigen, deren Parfüm meine Sinne verwirrt. Ist das Rose?“
„Jasmin“, erwiderte sie automatisch.
„Ah, Jasmin. Süß und berauschend.“ Genau wie sie. Mit dem Daumen streichelte er langsam die zarte Haut an ihrem Arm. Seine Berührung verursachte ihr eine Gänsehaut. „Was ich möchte, sind ein paar ungestörte Augenblicke mit dir … ein bisschen über die Vergangenheit plaudern, wie ehemalige Liebespaare es zu tun pflegen. Erzählen, was in den Jahren danach passiert ist.“
„Ich denke nicht …“
„Dann denk nicht“, sagte er. „Du bist neugierig. Ich bin neugierig.“ Sein Daumen folgte einem federleichten Pfad bis zum Handgelenk. Er spürte ihren gleichmäßigen Puls. „Sehr neugierig.“
Hatte er seine Worte absichtlich so gewählt, dass sie wie eine erotische Einladung klangen? Möglicherweise. Sie wollte ihm sagen, er solle aufhören, sie zu berühren – aufhören, seine Stimme so verführerisch klingen zu lassen, dass sie Alice an warme dunkle Schokolade erinnerte. Aber kein Laut drang über ihre Lippen. Alles, was sie empfand, war eine schmerzhafte Leere tief in ihrem Inneren.
Doch vielleicht hatte er auf gewisse Weise auch recht. Vielleicht sollte sie die Lücken in ihrer überbordenden Fantasie mit ein paar Fakten füllen. Schließlich musste es in seinem Leben Dutzende Frauen mit gebrochenem Herzen geben. Frauen wie sie. Würde es ihr nicht guttun, davon zu erfahren? Zu verstehen, dass alles, was sie mit ihm geteilt hatte, nichts Besonderes oder Einzigartiges gewesen war? Bestimmt würde es wehtun, aber wenn es ihr gelang, ihre damalige Beziehung als das zu begreifen, was sie wirklich war, würde es ihr dann nicht helfen, Kyros von seinem Podest zu stürzen, auf dem er in ihren Tagträumen seltsamerweise immer noch stand?
„Okay. Warum nicht?“, erwiderte sie leichthin, entzog sich jedoch zugleich eilig seiner Berührung.
Der Garten war riesig. An einem ruhigen Flecken ganz in der Nähe des Flussufers blieben sie stehen. Hier störten sie weder die Musik noch andere umherschlendernde Gäste. Der herrliche Duft von Blumen erfüllte die Luft.
Kyros deutete auf eine Bank, die sich um den Stamm eines alten Baumes zog. „Setzen wir uns dorthin.“
Obwohl man auf der Bank recht hart saß, empfand Alice den Platz als merkwürdig intim. Dabei war sie sich der unangenehmen Tatsache bewusst, wie nahe sie einander nun waren. Unablässig zupfte sie am Saum ihres Kleides, damit der spitzenverzierte Rand ihrer Strümpfe nicht hervorblitzte.
„Mach dir deswegen keine Gedanken“, meinte er. „Ich habe nichts dagegen, deine Beine zu sehen.“
„Ich schon“, entgegnete sie, als er ihr das Cocktailglas aus den plötzlich kraftlosen Händen nahm und im Gras abstellte.
„Das brauchst du doch gar nicht“, murmelte er.
„Sagt wer?“
Auf seinen Lippen erschien ein spöttisches Lächeln. „Ich.“
Das Wort wirkte selbstherrlich und aufregend zugleich. Und es entsetzte Alice, dass sie überhaupt so dachte.
„Rücksichtslos wie immer“, stellte sie fest.
„Ja, aber Frauen mögen es, wenn Männer die Dinge in die Hand nehmen. Dir hat es immer gefallen“, fügte er hinzu.
Vor allem im Bett. In der Dämmerung fanden die unausgesprochenen Worte ihren Weg ganz allein zu Alice. Plötzlich war es, als befände sie sich wieder in der Vergangenheit. Damals, als sie unter Kyros’ zärtlichen Liebkosungen ihr erotisches Erwachen erlebt hatte.
Sie war noch Jungfrau, als sie einander begegnet waren. Das hatte ihm gefallen. Ihre Unschuld war das kostbarste Geschenk, das eine Frau einem Mann machen kann, hatte er ihr versichert und ihr die Unterwäsche mit der Geschicklichkeit eines Mannes vom Leib gestreift, der dies schon mehr als einmal getan hatte.
Voller Leidenschaft hatte er ihr alles beigebracht, was er wusste. Und sein Wissen in diesem Bereich schien grenzenlos zu sein. In der Kunst des Liebesspiels war Kyros ein begnadeter Meister. „Weil es Kunst ist, agape mou“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, erinnerte sie sich. Wie eifersüchtig war sie auf all die Frauen vor ihr gewesen, die Frauen, bei denen er seine Kunstfertigkeit ausgebildet hatte. Und was war mit denen, die nach ihr kamen?
Darüber würde sie jetzt nicht nachdenken. Entschlossen zog sie den Saum des Kleides nach unten.
„Ich dachte, wir hätten bereits entschieden, dass es ein bisschen spät ist, falschen Anstand an den Tag zu legen!“
„Ich werde sofort unanständig sein, sobald du mit deinen Höhlenmann-Kommentaren aufhörst“, entgegnete sie, woraufhin Kyros lachte. „Also, erzähl mir, wie du die letzten zehn Jahre verbracht hast. Was arbeitest du? Wo lebst du?“
„Auf Kalfera. Wo sonst?“
Bislang hatte Alice nur Fotos von der griechischen Insel gesehen, auf der er und sein Zwillingsbruder aufgewachsen waren. Ein atemberaubendes fernes Paradies, so war ihr Kalfera immer erschienen. Saphirblaues Meer, weiße Sandstrände. Kyros hatte immer davon gesprochen, eines Tages dorthin zurückzukehren. Doch sie hatte immer angenommen, nach seiner Zeit in London sei ihm die Insel zu klein. Auch hatte sie geglaubt, er wolle die schlimmen Erinnerungen, die mit seinem Zuhause verknüpft waren, hinter sich lassen. Hatte er ihr nicht erzählt – während der einzigen Gelegenheit, als sie ihn ein wenig betrunken erlebt hatte –, dass seine Mutter ihn und seinen Zwillingsbruder einfach im Stich gelassen hatte, als sie kaum vier Jahre alt waren?
Alice fiel ein, wie sie das Thema ein anderes Mal zu Sprache gebracht und er sie wütend angefahren hatte, nie wieder davon anzufangen.
„Ist dir das Leben auf einer Insel nicht zu beengt?“
„Ich sitze dort ja nicht fest. Ich kann mich zwischen dem Festland und dem restlichen Europa bewegen, wie es mir passt.“
„Wie oft ist das?“
„Kommt darauf an. Meine Geschäfte wachsen ständig. Allerdings halte ich mich immer noch am liebsten auf Kalfera auf. Dort ist das Leben einfach. Und nur dort finde ich Frieden“, schloss er. Dann verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, um jede weitere Nachfrage zu verbieten. An ihrer wissbegierigen Art hatte sich also nichts geändert. Dabei hatte er sie ja nicht an diesen abgelegenen Ort geführt, um sich von ihr ausfragen zu lassen!
„Doch genug von meinem unaufregenden Leben auf einer kleinen griechischen Insel“, murmelte Kyros und lehnte sich auf der Bank zurück, damit er die sanften Rundungen ihrer Brüste besser in Augenschein nehmen konnte. „Nun möchte ich alles über dich erfahren.“
Es schien Alice, als habe er in Wirklichkeit nur sehr wenig von sich preisgegeben. Außer wo er wohnte, hatte sie nichts über ihn erfahren. Sie fragte sich, ob er das Familienunter-nehmen mittlerweile zum Erfolg geführt hatte. Vor zehn Jahren hatte die Firma nämlich in einer ernsten Krise gesteckt. Er trug Jeans und T-Shirt. Nicht gerade die Kleidung eines reichen Mannes. Waren die Probleme immer noch nicht behoben? Wollte er deshalb nicht darüber reden?
„Oh, mir ist es ganz gut ergangen“, sagte sie ruhig. Sie wollte nicht angeben – vor allem dann nicht, wenn Kyros der erwartete Weg an die Spitze bislang verwehrt geblieben war. Herunterspielen wollte sie ihre Leistungen allerdings auch nicht. Auch wenn ihr Liebesleben schon länger brachlag, konnte sie doch auf ihre Erfolge im Job stolz sein. „Gut genug, um mir ein kleines Apartment zu leisten.“
Wie lange, überlegte er rasch, würde es wohl dauern, dorthin zu fahren? „Und womit verdienst du dein Geld?“
„Ich arbeite im Marketing.“ Sie glaubte, ein Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen, und setzte hastig zu einer Erklärung an. „Das mag ein bisschen langweilig klingen, aber es ist alles andere als eintönig. Die Firma, in der ich arbeite, verkauft Gesundheitsprodukte und Präparate für alternative Therapien. Als ich dort angefangen habe, waren die Zahlen rückläufig. Also mussten die Verkaufsstrategien überdacht werden. Glücklicherweise fiel dieser Zeitpunkt mit einem allgemeinen Umdenken zusammen, was das körperliche Wohlbefinden angeht, und …“ Sie zuckte die Schultern, weil ihr erst jetzt das Funkeln in seinen dunklen Augen auffiel. „… und nun befinden wir uns auf dem aufsteigenden Ast.“
„Ach Alice, wie leidenschaftlich du über das Geschäft sprichst. Dann bist du wohl eine Karrierefrau geworden?“
„Bei dir klingt es, als sei das falsch.“
„Wirklich? So meinte ich es nicht. Aber wenn eine Frau ihr Herz an die Karriere hängt, bleibt ihr nur wenig Spielraum für andere Dinge“, sinnierte er und blickte auf ihre ringlosen Hände. „Vor allem für eine Familie.“
Nimm es ja nicht persönlich, flehte sie sich an. Dennoch verspürte sie einen Stich des Bedauerns und biss sich auf die Unterlippe. Nur weil du keine Familie gegründet und Kinder bekommen hast, bedeutet das nicht, dass du einen Fehler gemacht hast. „Dafür ist später noch genug Zeit“, antwortete sie. Warum nur hatte sie ihm gegenüber stets das Gefühl, sich verteidigen zu müssen?
„Du glaubst, Frauen könnten alles haben?“
„Ich denke, die Männer würden ihnen gerne einreden, dass es nicht geht … aber wir Frauen schulden es uns, es wenigstens zu versuchen.“
„Dann bist du also eine Feministin in Seidenstrümpfen und Strapsen?“, stellte er trocken fest, wobei er sich seinem unvermittelt auflodernden Verlangen nur allzu deutlich bewusst war.
Sein Blick wanderte über ihren Körper, und ein Prickeln überfiel ihre Haut. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du so abscheulich altmodisch warst“, entgegnete Alice. „Hast du die Uhren auf Kalfera zurück auf Mittelalter gestellt?“
Kyros streckte seine langen Beine aus. Seine momentane Sitzposition war ihm unangenehm. Was vielleicht auch daran lag, dass seine erregte Männlichkeit schmerzhaft gegen den Hosenbund drängte. Ob sie es schon bemerkt hat?, überlegte er. Wie würde sie wohl reagieren, wenn er ihre Hand dorthin legte? Ihn streicheln und den Reißverschluss öffnen und ihn mit dem Mund verwöhnen, wie sie es in der Vergangenheit so oft getan hatte?
„Hast du mich denn vermisst, agape mou?“, fragte er und verfluchte sich selbst, weil er sein Verlangen einfach nicht zügeln konnte.
Es war lange her, dass sie diese Koseworte vernommen hatte. Die Worte bedeuteten „mein Schatz“ und gehörten zu den wenigen griechischen Ausdrücken, die sie gelernt hatte. Sie jetzt zu hören überrumpelte sie. Und – ungleich grausamer – versetzten sie sie wieder in eine Zeit und an einen Ort, an die sie sich sonst sorgfältig weigerte zu denken.
Kennengelernt hatten sie sich während Alices Anfangsmonaten auf dem College, bei einer Begrüßungsparty für die Erstsemester. Sie war achtzehn, intelligent und begierig auf alles, was das Leben für sie bereithalten mochte. Kyros, der atemberaubend attraktive Grieche Kyros, hingegen war exotischer als alle Menschen, denen sie in ihrem kleinen Heimatstädtchen begegnet war.
Der schimmernde bronzefarbene Teint, die schwarzen Haare und der durchtrainierte schlanke Körper waren einfach ein Traum. Dazu gesellten sich seine Arroganz und die unverhohlenen Attitüden eines Machos. Zu einer Zeit, in der britische Männer versuchten, ihren Gefühlen unablässig Ausdruck zu verleihen, stellte Kyros ihre Antithese her … und wurde von Frauen umschwärmt.
Immer noch entsetzt, erinnerte Alice sich daran, wie offensichtlich einige dieser Frauen sich an ihn herangemacht hatten.
Gerüchte kursierten, dass er mit mindestens dreien von ihnen geschlafen hatte. Sie hingegen hatte ihm kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht weil sie damit einen besonders ausgeklügelten Verführungsplan verfolgte, sondern weil sie keinerlei Erfahrung in diesem Bereich besaß. Nein, nach einem Blick auf ihn wusste sie, dass er weit außerhalb ihrer Liga spielte.
Jahre später erst erkannte sie, dass Männer wie Kyros geborene Jäger waren. Sie mochten die Jagd, und sie reizte das Unbekannte. Ihre natürliche Frische, ihre Unschuld und ihr mangelndes Interesse hatten ihn zu ihr geführt.
Körperliche Anziehung war eine Sache, doch Alice verliebte sich in ihn, weil … nun ja, weil er Kyros war und sie sich einfach in ihn verlieben musste. Und eine Zeitlang erwiderte er ihre Liebe – zumindest behauptete er das. Aber die Liebe hinderte ihn nicht daran, sie mit einem bedauernden Schulterzucken zu verlassen.
Du musst doch gewusst haben, dass ich nach Hause zurückkehre und die Firma meiner Familie übernehme, agape mou. Bald werde ich ein hübsches griechisches Mädchen heiraten, das mir mindestens fünf Kinder schenkt … die meisten natürlich Söhne! Und die werden dann eines Tages ebenfalls das Familienunternehmen von mir erben. Das ist nun mal der Lauf der Dinge!
Nein, sie hatte es nicht gewusst. Als ihr klar wurde, dass sein Entschluss unwiderruflich feststand, erlaubte sie sich einen kurzen Blick auf ihre eigene Zukunft. Und trotz des fürchterlichen Liebeskummers erspähte sie einen winzigen Funken Hoffnung. Bald würde sie ihren Abschluss machen, und danach konnte sie sich auf ihre berufliche Karriere konzentrieren. Auch wenn Kyros nicht mehr an ihrer Seite weilte, lag ein Leben voller Reisen, Erfahrungen und Abenteuern vor ihr.
Niemand trug die Schuld daran, dass ihr Leben nicht wie in ihren Träumen verlaufen war – auch Kyros nicht.
Aus dem Partyzelt drang leise Musik an ihr Ohr, und Alice kehrte in die Gegenwart zurück. Welche Frage hatte er ihr noch mal gestellt? Mit der Feinfühligkeit einer Dampfwalze hatte er sich erkundigt, ob sie ihn vermisst hatte! Wie konnte ein Mann nur so unsensibel sein? Am Anfang hatte sie ihn vermisst, als sei ihr ein Körperteil amputiert worden!
Aber schlimmer, als ihn zu vermissen, war die Erkenntnis, dass sie nie wieder einen Mann treffen würde, der Kyros Pavlidis das Wasser reichen konnte. Sie erinnerte sich an die schmerzhafte Klarheit, mit der sie dies begriffen hatte.
Allerdings würde sie ihm das natürlich niemals verraten. Sein Ego brauchte keinen weiteren Schub. Nur leugnen, ihn vermisst zu haben, konnte sie auch schlecht. Eine Lüge dieser Größenordnung würde er auf jeden Fall durchschauen.
„Es war unvermeidbar, dich in gewissem Maße zu vermissen“, erwiderte sie diplomatisch. „Wir waren fast ein Jahr lang ein Paar.“ Dank des Cocktails gelang ihr sogar ein halbwegs überzeugendes Lächeln. „Seltsam fand ich nur die Abruptheit, mit der du die Beziehung beendet hast. Du hast nie geschrieben oder angerufen. Stattdessen bist du einfach aus meinem Leben verschwunden, und ich habe nie wieder von dir gehört.“
„Es war besser so“, sagte er. „Wenn wir Freunde geblieben wären …“ Ja, was dann? Hätte er der Versuchung nicht widerstehen können? Wäre er zurückgekommen und wieder mit ihr ins Bett getaumelt? Hätte wieder und wieder das Vergnügen ihres Körpers genossen? Er wollte – nein, musste – einen klaren Bruch vollziehen, um seine blonde Geliebte zu vergessen … ihre langen Beinen und die smaragdgrünen Augen.
Dabei hatte er sie nie wirklich vergessen können. Hatte nur seinen Hunger nach ihr tief in seinem Inneren vergraben. Und jetzt? Ihr Anblick, wie sie, einer Göttin gleich, im Mondlicht neben ihm auf der Bank saß, weckte die lange verschüttete Sehnsucht.
„Wir hätten niemals Freunde bleiben können, Alice“, sagte er fast barsch.
„Nein“, stimmte sie zu, ein gezwungenes Lächeln spielte um ihren Mund. „Da hast du vermutlich recht.“
In dem dämmrigen Licht konnte er den Ausdruck in ihren Augen nicht lesen. Dabei hatte er erwartet … ja, was eigentlich? Dass sie wie jede andere Frau auf ihn reagierte? Dass sie mit süßem Schmollen kokettierte und Signale aussandte, die ihm zu verstehen geben sollten, dass sie zu haben war? Dergleichen hatte Alice nie getan.
Gekleidet war sie wie eine verführerische Sirene, aber Zweideutigkeiten oder gar Anspielungen hatte es keine gegeben.
War das nicht immer der Wesenszug gewesen, der ihn zu Alice hingezogen hatte? Dass die blonde Schönheit das erotisch lodernde Feuer hinter einer kühlen Fassade verbarg?
Was sollte er also unternehmen? Nun, das, was er immer tat: sich nehmen, was er wollte und anschließend fortgehen.
Kyros streckte die Hand aus und berührte die zarte Haut ihres Dekolletés unterhalb der Kette mit dem falschen Edelstein. Er spürte ihren Puls, sah, wie sie die Lippen instinktiv ein wenig öffnete. In dem schwächer werdenden Abendlicht verdunkelten sich seine Augen.
„Kyros …“