Familienpause
Roman
Deutsch von Ines Hein und Antje Nissen
Den Männern unseres Lebens gewidmet
Woran genau ist Ihr letzter Sklave gestorben?
«Wer eine erfolgreiche Ehe führen möchte,
muss sich immer wieder
in denselben Menschen verlieben.»
Mignon McLaughlin
(Autorin und Journalistin, 1913 – 1983)
«Dass zwei Leute in der Ehe Tag für Tag
zusammenleben, ist zweifelsfrei das eine Wunder,
das dem Vatikan entgangen ist.»
Bill Cosby (Schauspieler und Komiker)
«Los, Mum», drängelte Claire, während sie sich über den Küchentisch lehnte. «Bitte erlöse uns.»
Sarah war schon immer der Ansicht gewesen, dass man sich unangenehmen Situationen – einer Wurzelbehandlung oder einem Gebärmutterhals-Abstrich etwa – am besten mit einer gehörigen Portion Mut stellte, und so zupfte sie zögerlich an der Geschenkverpackung, die mit Bildern von Thomas der Lokomotive verziert war. Sie erkannte das Papier. Es war das Reststück einer Rolle, die sie zum Geburtstag ihres Patenkindes besorgt hatte. David hatte offenbar vergessen, selbst welches zu kaufen, und ihre Vorräte geplündert.
«Hübsche Verpackung», bemerkte Sarah spitz, und er zog ein verlegenes Gesicht.
«Tut mir leid, Liebes, aber schließlich zählt doch der Inhalt, oder nicht?» Er sah besorgt aus, und sie lachte.
«Ist das deine Entschuldigung dafür, dass du letztes Jahr mein Geburtstagsgeschenk in den Immobilienteil der Sunday Times gepackt hast?»
«Ist ja gut, fang bitte nicht wieder davon an.»
Um der Qual endlich ein Ende zu bereiten, riss Sarah die Verpackung auf. Das Geschenk fühlte sich weich und wollig an. Sie hatte bereits einen untrüglichen Verdacht, worum es sich handeln könnte. Und tatsächlich – nachdem sie das Papier aufgerissen hatte, lag ein Fleecepulli vor ihr auf dem Küchentisch, wie das Beweisstück in einem Gerichtsfall, und die Knopfaugen des daraufgestickten Eichhörnchens starrten ihr finster entgegen.
Claire lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte. «Ach, Dad.»
«Was willst du denn?», brauste David auf. «Der Pulli ist sehr praktisch für die Gartenarbeit, und ich habe ihn extra groß gekauft, weil ich weiß, wie sehr sie es hasst, enge Sachen zu tragen.»
«Hättest du ihr denn nicht wenigstens etwas Feminineres kaufen können? Sogar ein einfallsloses Spitzenhöschen wäre einen Versuch wert gewesen –»
«Claire –», hob Sarah an.
«Alles Gute zum Geburtstag, Mum», verkündete Tom, der gähnend in die Küche geschlendert kam. Seine Pyjamahose hing ihm von den schmalen Hüften. Er gab seiner Mutter einen Kuss auf den Scheitel. «Tut mir leid, dass ich nicht eher aufgestanden bin, um dir ein Ständchen zu bringen. Ich war erst spät zu Hause. Was, zum Teufel, ist das?»
«Der ist von Dad. Ein Fleecepulli für den Garten.» Sarah lächelte ihren schlaksigen Sohn an, dessen blondes Haar ihm ins Gesicht fiel und, wie immer, dringend gewaschen werden musste.
«Also, der ist ja echt kackfarben», lachte er. Dann stellte er den Wasserkocher an und legte ein kleines Päckchen vor seine Mutter auf den Tisch. Die Schachtel stammte aus Sarahs Lieblingsgeschäft und war mit einer pinkfarbenen Schleife verziert. Er war gestern erst um fünf Uhr nachmittags in die Stadt gegangen, um sich mit seinen Freunden zu treffen, also musste er es ziemlich flott besorgt haben. David schwieg und beschäftigte sich mit seinen Unterlagen. Sarah bekam ein schlechtes Gewissen.
«Der Pulli ist sehr schön, Liebling. Danke. Er wird mir sehr nützlich sein.» Als sie sich erhob, unterdrückte sie das Gefühl der Enttäuschung, das sich in ihr regte, und wich dem missbilligenden Blick ihrer Tochter aus. Mit ihren achtzehn Jahren verhielt sich Claire gegenüber jedem absolut höflich, doch innerhalb der Familie hatte sie noch nicht gelernt, dass es manchmal besser war, sich zurückzuhalten, statt die Wahrheit hinauszuposaunen.
«Ich gehe schnell nach oben und ziehe mich um.» Sarah stellte ihre Kaffeetasse in den Geschirrspüler und räumte dabei automatisch auch Davids Tasse ein, die auf dem Tisch stehen geblieben war. «Für wann hast du den Tisch reserviert?»
«Für ein Uhr. Wir holen deinen Vater unterwegs ab.» Er rieb sich nervös die Hände. Eine typische Geste von ihm. «Ich habe uns einen Tisch im ‹Old Bell› bestellt. Dort gefällt es uns allen.»
«O Gott, Dad. Der Laden hat uns gefallen, als wir zehn waren. Können wir nicht woanders hingehen?»
«Claire, das reicht jetzt!», zischte Sarah und warf ihrer Tochter einen mahnenden Blick zu. Dann sammelte sie ihre Geschenke vom Tisch ein. «Ich nehme eure Gaben mit und öffne sie im Restaurant, sonst kommen wir noch zu spät. Und, Tom, denk dran, dein Haar mit der Flasche Shampoo bekannt zu machen, wenn du dich in die Dusche begibst.»
Sarah lief durch den Hausflur nach oben und schob unterwegs die Tür zur Trockenkammer mit dem Fuß zu, so gut es ging. Der Riegel war schon seit Jahren kaputt und sprang immer wieder von selbst auf. Sie würde David noch einmal bitten müssen, ihn zu reparieren. Im Schlafzimmer vermied sie es, sich im Spiegel zu betrachten, und während sie Davids Jeans vom Boden aufklaubte und auf den Stuhl legte, öffnete sie den Kleiderschrank, um den grünen Fleecepulli mit dem Eichhörnchen-Motiv neben einer unförmigen, haferfarbenen Wolljacke zu verstauen … einer haferfarbenen Wolljacke, die letztes Jahr in Zeitungspapier verpackt und bis zum heutigen Tage kein einziges Mal getragen worden war. Das Ungetüm blickte strafend auf sie herab, und Sarah schob es noch tiefer in den Schrank, wo es hinter einem anderen Pulli verschwand.
«Tschüs, Liebes. Ich wünsche dir einen schönen Tag.» David hauchte einen Kuss in Richtung Sarahs Kopf, als er sich bückte, um nach seiner Aktentasche zu greifen. Er summte vor sich hin, als er das Haus verließ – irgendein Lied, das die Zwillinge im Radio gehört hatten, als er mit ihnen gestern Abend nach der Geburtstagsfeier zurück zur Uni gefahren war. Als er wieder zu Hause ankam, hatte Sarah bereits geschlafen. David hatte sie nicht wecken wollen, um die obligatorische Geburtstagsnummer zu schieben. Eigentlich schade, denn jetzt, wo ihnen die Zwillinge nicht mehr im Weg waren, hätten sie mal so richtig Gas geben können. Sollte man zumindest denken … tja, David war der Ansicht, sie könnten ruhig ein wenig spontaner sein, jetzt, wo sie das Haus ganz für sich hatten. Doch bislang war das nicht der Fall. Aber die Kinder waren ja auch noch nicht lange fort.
David beugte sich vor, um die Aktentasche im Fußraum des Beifahrersitzes abzustellen, und stöhnte, als der Hosenbund seinen Bauch schmerzhaft einschnürte. Er hatte doch nicht etwa zugenommen, oder? Unter seinen Freunden war er immer der Sportlichste gewesen und hatte Phil seit jeher wegen seines Bierbauchs aufziehen können, ohne dass er eine Gegenattacke zu erwarten gehabt hätte. Du lieber Himmel! Er verzichtete doch bereits auf sein üppiges Sonntagsfrühstück – zugegeben, auf Sarahs Drängen hin –, was kam wohl als Nächstes? Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und tätschelte sich den Bauch. Er hatte vielleicht keinen Waschbrettbauch mehr, aber von einem Waschtrommelbauch konnte ebenso wenig die Rede sein. Wahrscheinlich hatte Sarah seine Hose einfach nur wieder zu heiß gewaschen.
Auf der Fahrt zur Arbeit schaltete er sein Gehirn auf Leerlauf. Gähnend lenkte er den Wagen auf den Parkplatz. Wie oft war er diese Strecke schon gefahren? Kaum war ihm die Frage in den Sinn gekommen, konnte er nicht widerstehen und rechnete schnell nach. Nun, wenn er die Sache eher grob überschlug, mindestens fünftausendmal. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Es war doch wirklich unfassbar, wie schnell die Zeit verflog. War es wirklich schon zwanzig Jahre her, dass er hier angefangen hatte zu arbeiten? Er stellte den Motor ab, ließ sein Handy in die Aktentasche gleiten und klappte sie zu. Dann nahm er sein Jackett vom Rücksitz, streifte es über, schloss die Wagentür und ging in Richtung Büro. Das Auto verriegelte er mit der Fernsteuerung.
Das war etwas, das sich in den letzten Jahren allerdings geändert hatte – sein Auto aus der Ferne mit einem Schlüsselanhänger abzuschließen –, definitiv ein Fortschritt! Früher war das noch nicht möglich gewesen. Sie hatten einen Fiesta gehabt. In Hellblau. Und Sarah war mit dem Rad in die Schule gefahren. Er lächelte in sich hinein, als er sich daran erinnerte, wie sie damals ausgesehen hatte, mit ihrer Geige auf dem Rücken, den rosigen Wangen und ihrem Haar, das ihr in allen Richtungen vom Kopf abstand. Heute war ihr Haar immer gut frisiert, das Fahrrad war längst Vergangenheit, und sie besaßen beide einen Wagen: sie einen kleinen schwarzen Renault, er eine Firmenlimousine. Kurz bevor er das Bürogebäude betrat, warf er einen raschen Blick über die Schulter und betrachtete den Wagen mit stiller Zufriedenheit.
Sarah nahm die Kartengrüße von der Fensterbank in der Küche. Sie ließ ihre Geburtstagskarten immer nur ein paar Tage dort stehen, denn oft fielen sie herunter, und es war nervig, um sie herum zu putzen. Eine war erst heute Morgen eingetroffen, von einer ihrer ältesten Freundinnen, Nathalie aus Frankreich. Die Karte war natürlich wie immer zu spät, und Nathalie hatte ihr irgendeinen dämlichen Spruch auf Französisch daraufgeschrieben. Sarah warf die Karte in den Papierkorb, in den sie bereits die von David mit den Osterglocken befördert hatte, die so gar nicht zur Jahreszeit passten. Genauso wie Claires Karte, auf der eine Bildmontage mit Törtchen zu sehen war. Claire schaffte es immer, hübsche Karten auszusuchen. Sie hatte ihr ein in Seide gebundenes Notizbuch geschenkt, das keinen bestimmten Zweck erfüllte, dafür aber sehr schön war. Tom hatte ihr gar keine Karte geschrieben, doch an der Halskette, egal, wie hektisch er sie ausgewählt haben mochte, baumelte ein niedliches Plastikherz. Sie hatte sie sich nach dem Auspacken am Sonntag im «Old Bell» gleich umgelegt.
Sarah seufzte und blickte in den Garten hinaus, der kahl und von den Novemberstürmen blank gefegt vor ihr lag. Sie hatte sich so darüber gefreut, dass die Kinder zu ihrem Geburtstag nach Hause gekommen waren, und fand es schrecklich, als die beiden wieder zurück zur Uni fahren mussten. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass die Zwillinge nun woanders wohnten. Nachdem die beiden ihr ganzes Leben lang jeden Abend mit viel Getöse von der Schule heimgekehrt waren, hinterließ ihre Abwesenheit eine ohrenbetäubende Leere.
Sarah lehnte die Geburtstagskarte ihres Vaters gegen den Kochbuchhalter, weil sie es nicht über sich brachte, sie wegzuwerfen, schaltete das Licht in der Küche aus und trat in die feuchte Kühle des Morgens hinaus.
«C, F, A», seufzte sie zweieinhalb Stunden und fünf Musikkurse später. Verstieß man nicht schon fast gegen das Gesetz, wenn man ein Mozartstück derartig verhunzte? «Gregory, wie oft hast du diese Woche geübt?» Verschämt ließ der dunkelhaarige Junge den Kopf sinken.
«Ein bisschen», flüsterte er und scharrte mit den Füßen.
«Du warst wohl zu sehr mit deinen Computerspielen beschäftigt, oder? Du musst ein bisschen mehr üben, wenn du die erste Stufe schaffen willst.» Er nickte. Als er das Hausaufgabenheft aus seiner Mappe zog, spürte Sarah plötzlich Ärger in sich aufsteigen. Ärger und eine tiefe Frustration. Was geht mich das eigentlich an? Sie wusste nicht mehr, wie oft sie den Kindern hatte zuhören müssen, wie sie die Prüfungsstücke bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten. Ich mache mir Sorgen, dass Gregory trotz seines Talents keine Fortschritte macht, stand als handgeschriebene Notiz am unteren Rand der Heftseite von letzter Woche. Er müsste doch langsam mit der dritten Stufe beginnen? Die Anmerkung war mit schnörkeligen Initialen, offensichtlich in großer Eile, unterschrieben worden. Sarah hatte Gregorys Mutter auf einem Elternabend kennengelernt. Sie war eine selbstbewusste und makellos gekleidete Frau, die, wie Gregory erzählte, «Frauensachen» verkaufte. Sarah nahm an, dass er damit Kleidung meinte, und nicht etwa Intimpflegeprodukte oder, Gott bewahre, Sex-Spielzeug. Obwohl das gut zu den Domina-Absätzen und dem kurzen schwarzen Rock der Frau passen würde. Bei den Eltern von Privatschulkindern wusste man nie so recht, woran man war. Sarah lächelte und schrieb mit dem Stift, den sie für die Notenblätter benutzte, in ihrer sorgfältigen Handschrift eine Antwort: Eins nach dem anderen. Für den Anfang würde es reichen, wenn er etwas mehr üben würde.
Sie beobachtete Gregory, wie er seine Bücher in die Schultasche stopfte, wo sie sicher bis nächste Woche unangetastet stecken bleiben würden. Murmelnd verabschiedete er sich bei ihr und schlurfte aus dem Zimmer. Sarah warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit für eine Tasse Kaffee, bevor die Proben fürs Weihnachtskonzert begannen. Sie schnappte sich die Noten und machte sich auf den Weg in die Aula. Wieder ein Jahr mit einer eingebildeten Maria, einem schadenfrohen Herbergsvater und einer Reihe von schlechtgelaunten Schafen, die keine Hauptrolle bekommen hatten. Sie lächelte in sich hinein. Offenbar wurde sie langsam alt.
Das Geräusch seines Schlüssels, wenn er ihn ins Schloss steckte, erfüllte David immer mit stiller Freude. Es läutete das Ende eines Arbeitstages ein, bevor das wirkliche Leben einen wiederhatte. Nach Hause zu kommen und Sarah herumwerkeln zu sehen, war tröstlich, wenn man sich den ganzen Tag lang Barrys Schwachsinn anhören musste. Es roch noch nicht nach Essen. Vielleicht sollte er ihr vorschlagen, dass sie sich etwas kommen ließen. Darüber würde sie sich nach einem anstrengenden Tag bestimmt freuen. Ein Hühnchen Jalfrezi und ein Naan-Brot mit Lammhack würden ihr sicher gut schmecken.
Er stellte seine Aktentasche so lautstark ab, dass sie ihn hören konnte und von dort auftauchte, wo sie gerade steckte – vielleicht war sie oben und machte die Betten? Er streifte sich das Jackett ab und hängte es über eine Stuhllehne. Es müsste mal wieder gereinigt werden. Er würde Sarah später darum bitten. Er schob sich die Schuhe von den Füßen, indem er den jeweils anderen Fuß gegen die Ferse stemmte. Dann kickte er sie nacheinander in Richtung Stuhl. Nicht schlecht! Ein Schuh landete auf dem Stuhl, der andere darunter. «Jaaaa!» Er hieb mit der Faust in die Luft. «Er schießt, und er punktet!»
Plötzlich hörte er hinter sich ein gereiztes Aufseufzen. «Hallo, Liebes, hattest du einen schönen Tag?»
Sarah sah ihn lange an und blickte dann demonstrativ zu seinen Schuhen. «Ja, vielen Dank.»
Oha. «Alles in Ordnung mit dir?», fragte er etwas abwehrend. Sie sollte ruhig merken, wie sehr sie ihm gerade den Spaß verdarb, doch einen Streit wollte er nicht riskieren. Er schob den verirrten Schuh zu seinem Gegenstück auf den Boden und drehte sich zu ihr um. «Lust auf eine Tasse Tee?» Er wartete, dass sie anbot, einen zu kochen.
Das schien sie ein wenig zu besänftigen. «Ja, sehr gern. Danke.» Er hätte schwören können, dass in ihrem Lächeln ein wenig Siegesfreude lag.
Weihnachten kam und ging, und für Sarah war alles wie immer gewesen, samt der üblichen absurden Einkaufsorgie im Supermarkt. Sie war Freunden und Bekannten begegnet, und alle hatten sich mit theatralischen Gesten über den Stress beklagt, um dann noch mehr Nahrungsmittel in ihre Einkaufswagen zu laden, als gelte es, sich auf eine Belagerung vorzubereiten. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, sich dieses Jahr nicht vom Stress überwältigen zu lassen, war es doch wieder die gewohnte Hektik, stellte Sarah fest, als sie den Weihnachtsschmuck vom Dachboden holte. Währenddessen hatte sich David damit abgekämpft, den Baum vor dem Wohnzimmerfenster aufzustellen – eine Aufgabe, wie auch das Grillen, von der er überzeugt war, dass nur er allein sie erledigen konnte.
An Heiligabend hatte ihre Schwiegermutter Heather, elegant in pinkfarbenem Kaschmir gekleidet, ihre übliche Cocktailparty mit exquisiten Häppchen gegeben. Claire und Tom, die seit ihrer Heimkehr von der Uni die Nächte mit Freunden durchgefeiert hatten, begleiteten sie nur widerwillig und völlig übermüdet. Erst als sich alle nach dem Festtagsschmaus, völlig satt von zu viel Essen und gutem Wein, auf das Sofa gesetzt hatten und Kevin Costner als Held im Nachmittagsfilm bewunderten, entdeckte Sarah den vollkommen verzweifelten Gesichtsausdruck ihres Vaters.
Keiner hatte am Esstisch ein Wort über die offenkundige Lücke verloren, die der Tod ihrer Mutter im September gerissen hatte, obwohl David beim Essen das Glas auf ihr Wohl erhoben hatte. Sarah war zu ihrem Vater gegangen und hatte still seine Hand genommen, die er ihr dankbar drückte, ohne etwas zu sagen. Er war so einsam in seiner Trauer. Es war ein einschneidender Moment gewesen, denn Sarah hatte gemerkt, wie sehr es ihr fehlte, ihrer Mutter ein Geschenk zu kaufen und im Gegenzug eines von ihr zu bekommen – sie hatte immer etwas Besonderes und Wohlüberlegtes für Sarah ausgewählt.
«Wollen wir die Geschenke öffnen?», hatte David irgendwann fröhlich gefragt, und so hatten sich alle aufgerafft, um den Berg von Paketen, der unter dem Baum lag, zu verteilen. Sarah sah mit Freude, wie die anderen ihre Geschenke auspackten. Für die Zwillinge hatte sie ganz sicher das Richtige ausgesucht – es war keine Kunst, etwas für die beiden zu finden –, und David war von seinem elektrischen Kantenstecher genauso begeistert, wie sie es erwartet hatte.
«Du hast mir ja auch oft genug einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben», lachte sie, als er aufgeregt die Bedienungsanleitung studierte.
Sarah erhielt wie gewohnt Kochutensilien, Duftseifen und Bücher. Davids Geschenk hob sie sich bis zuletzt auf, und sie musste ihre ganze Begeisterungsfähigkeit aufbieten, um genügend Freude über das Kochbuch irgendeines Fernsehkochs – Davids übliches Geschenk – zum Ausdruck zu bringen. Doch ihre Laune verschlechterte sich. Er musste doch wissen, wie sehr sie diese Kochsendungen hasste. Nur zu oft regte sie sich darüber auf, wie geistlos sie waren. Sie hatte das Buch zur Seite gepackt und gehofft, er würde nicht bemerken, dass sie es schon geöffnet hatte.
Das Geschenk ihrer Freundin Trish – noch ein Buch – thronte nun seit Weihnachten auf dem Stapel neben ihrem Bett, den sie sich für das neue Jahr aufgehoben hatte. Während draußen der Neujahrsmorgen grau und feucht heraufdämmerte und sie mit einem Kater von der Silvesterparty begrüßte, die sie bis in die tiefe Nacht mit Freunden gefeiert hatten, nahm Sarah den Band zur Hand. Ich fand dieses Buch einfach großartig, hatte Trish ihr als Widmung geschrieben. Werde vierzig und genieße es.
Sarah las noch einmal den Titel: Lerne dich kennen. Erkenne dich. Liebe dich. Zweifelsohne ein amerikanisches Buch. Sie blätterte es durch, entdeckte seitenweise Listen mit Tipps, um sich großartig zu fühlen, machte sich über die übertriebene Aufmachung lustig und legte es auf den Stapel zurück.
Weitere drei Wochen später putzte und schlich sie immer noch um das Buch herum, bis sie es schließlich eines Nachmittags träge zur Hand nahm, als sie dabei war, ihre Arbeitskleidung abzulegen. «Betrachten Sie sich genau und hinterfragen Sie, wer Sie sind. Beginnen Sie damit, Ihren nackten Körper zu analysieren, um Ihre innere Schönheit zu erkennen und zu vollkommener Zufriedenheit zu gelangen. Wenn Sie den Punkt erreicht haben, an dem Sie sich vorbehaltlos selbst akzeptieren und lieben, besitzen Sie die Macht, jene Veränderungen in Ihrem Leben vorzunehmen, die Ihnen wahres Glück offenbaren. Zunächst müssen Sie …» Was für ein Quatsch, stöhnte Sarah bei sich und wollte das Buch gerade wieder zuklappen, aber warum nicht? Trish hatte wirklich ungewöhnliche Ideen, und es war niemand da, nur die Bügelwäsche wartete auf sie. Sollte sie einen Versuch wagen?
Klammheimlich – ja, sie kam sich sogar ein wenig verkommen vor – sperrte sie das milchige Nachmittagslicht aus, indem sie die Vorhänge zuzog, und knöpfte dann langsam ihre Bluse auf. Sie ließ sie über die Schultern gleiten und fröstelte, als die Bluse zu ihren Füßen landete. Mit geschlossenen Augen schlüpfte sie aus den Schuhen und hakte die Daumen in den Taillenbund, um sich langsam die Hose abzustreifen. Sarah schwankte ein wenig, als sie aus der Hose stieg, öffnete kurz die Augen und schloss sie ebenso schnell wieder. Sie atmete tief ein, fasste nach hinten und öffnete den Verschluss ihres BHs. Als sie ihn auf den Boden fallen ließ, schämte sie sich ein wenig, weil er so schäbig und verwaschen war. Sie fühlte das schwere Gewicht ihrer Brüste, nachdem sie aus dem festen Halt befreit worden waren.
Sie hielt kurz inne, bevor sie die Daumen unter den Bund ihres Slips steckte, doch mit einem Mal wurde sie ungeduldig und zog ihn herunter. Sie hatte es getan. Langsam drehte sie sich um und öffnete die Augen.
Vor sich konnte sie ihr Spiegelbild im Schlafzimmerspiegel sehen, und sie zwang sich, den Blick über ihren nackten Körper wandern zu lassen. «Ach, du meine Güte!», keuchte sie, als sie feststellte, dass sich ihre schlimmsten Ängste bewahrheiteten. «Die Schwerkraft fordert ihren Tribut!»
Sie schnappte sich das Buch und schleuderte es quer durch den Raum. Lerne dich kennen. Erkenne dich. Liebe dich traf die Wand mit einem dumpfen Aufprall, und einige Seiten flatterten daraus hervor.
Die konnten sich ihre Pseudo-Psychologie sonst wohin stecken! Sich selbst akzeptieren? Das mochte ja bei Trish funktioniert haben, doch bei ihr klappte es nicht.
«Guten Morgen, David.» Doreen sah von ihrem Empfangstresen auf und strahlte ihn an. «Wie geht’s denn so?» Die gute alte Doreen. Sie war sogar schon länger hier als er – eine ebenso verlässliche Institution wie der jährliche Einkommensnachweis. Sie nahm ständig zu und ab – aber war das bei Frauen nicht immer so? Immerhin kannte er sie lange genug, um die richtige Antwort zu geben, und bedachte sie mit einem warmen Lächeln.
«Alles prima. Ist Clive schon da?»
Während sie einen großen weißen Umschlag zuklebte und ihn in den Postkorb fallen ließ, sagte sie: «Braun wie eine Kaffeebohne. So einen Teint holt man sich bestimmt nicht in Dorset!» Mit Dorset kannte sie sich bestens aus. Sie fuhr im Urlaub nie woandershin. Und Jahr für Jahr stieg sie im gleichen Hotel ab, weil es für ihren Mann, der im Rollstuhl saß, am besten geeignet war. Und trotzdem war sie kein bisschen verbittert.
David lief zur Treppe. Oben angekommen stellte er fest, dass er ein wenig außer Atem geraten war. Ts, ts, mahnte er sich selbst. Früher konntest du zwei Stufen auf einmal nehmen, alter Junge.
«David, wir müssen uns unterhalten.» Barry Fox tauchte von irgendwo auf. Heute trug er anstelle seines üblichen weißen Hemds ein pinkgestreiftes. Davids kleingewachsener, aber umso aufgeblasenerer Vorgesetzter hatte sich noch nie an die legeren Kleidungssitten im Büro gehalten. Das passte zu seinem Ehrgeiz, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein, als wäre mit einem förmlicheren Outfit bewiesen, dass er zielstrebiger als der Rest des Teams war. Widerwillig drehte sich David zu ihm um.
«Ja, Barry? Was kann ich für Sie tun?»
«Es geht um den Datenverarbeitungs-Workshop am Montag. Können Sie dafür sorgen, dass Malcolm auf dem neusten Stand ist? Ich möchte, dass wir unser Projekt mit dem Redaktionssystem so weit wie möglich nach vorne bringen, und deshalb muss er genau wissen, was Sache ist. Sie machen das schon.» Ohne Davids Antwort abzuwarten, klopfte er ihm auf den Rücken und eilte weiter, um eifrig Anweisungen durchs Büro zu kläffen.
Blödmann. David stellte seine Aktentasche auf dem Schreibtisch ab, loggte sich in den Computer ein und holte sich seine erste Tasse Kaffee an diesem Morgen. Dann setzte er sich zufrieden an seinen blitzblanken Arbeitsplatz und war bereit, es mit den Aufgaben des Tages aufzunehmen. Doch zuerst musste er die Liste machen. Er holte einen DIN-A4-Block aus der obersten Schreibtischschublade und zog drei Spalten: Arbeit, Zuhause, Freunde. Zuerst wollte er sich mit «Zuhause» befassen und schrieb: Hochzeitstag – Geschenk? Ideen? Abendessen? Jungs fragen.
Er rieb sich die Schläfen. O Gott, schon wieder ein Geschenk. Das war die reinste Qual. Wie konnte man eine Frau so gut kennen, so viele Jahre an ihrer Seite verbracht haben und trotzdem nicht wissen, was man ihr schenken sollte? Worüber würde sich Sarah wirklich freuen? Was würde ihre Augen zum Glänzen bringen? Wofür würde sie ihm um den Hals fallen? Vielleicht sollte er sich doch nicht auf Klischees verlegen und ihr lieber keine Dessous kaufen?
Er seufzte und nahm einen Schluck Kaffee, der so heiß war, dass er sich fast die Zunge daran verbrannte. Aber so mochte er ihn nun mal am liebsten. Das mit dem Geschenk war einfach zu schwierig. Fast erleichtert wandte er sich der Aufgabenliste für die Besprechung mit Barry und der Terminplanung mit den Fat Dads zu, jenem Fünfer-Fußballteam, in dem er seit fünfzehn Jahren spielte. Das fiel ihm deutlich leichter.
Es war Februar, und Sarah wachte wieder auf, bevor der Wecker klingelte. Irgendetwas, und sie wusste nicht, was es war, hatte sie in letzter Zeit morgens pünktlich um 6 : 18 Uhr geweckt. Sie hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihren Wecker auf 6 : 15 Uhr zu stellen, damit sie früh genug munter wurde, um zu hören, wovon sie geweckt wurde. Doch dann wurde selbst ihr bewusst, wie vollkommen absurd das war.
Sie lag im Dunkeln, lauschte Davids sanften, unbeschwerten Atemzügen und ging im Geist durch, was heute anstand. Na großartig. Sie hatte drei Schulstunden zu geben, gefolgt vom Streichorchester-Kurs in der Mittagszeit. Sie würde sich mit Notenständern abkämpfen und die kleinen Geigen für ihre Schüler stimmen, die das selbst nicht einmal dann fertigbrächten, wenn es dabei um Leben und Tod ginge. Außerdem durfte sie nicht vergessen, Davids Jackett von der Reinigung abzuholen. Sarah gähnte und wälzte sich im Bett herum. Sie drehte Davids regungslosem Körper den Rücken zu und wartete darauf, dass der Radiowecker ansprang und James Naughtie sie mit den neuesten Meldungen offiziell in diesem Tag willkommen hieß.
Draußen war es beißend kalt. Warm eingepackt marschierte sie zu ihrem Auto. Wenn sie gewusst hätte, wie lange sie brauchen würde, um mit der Kante einer CD-Hülle die Eisschicht auf ihrer Windschutzscheibe abzukratzen, hätte sie früher damit angefangen. Sie hatte nicht geahnt, dass sich der Frost so hartnäckig halten würde. Wie Zuckerglasur lag er auf Blättern, Ästen und Hecken. Langsam fuhr sie rückwärts von der Einfahrt auf die Straße. Sie war jetzt bereits viel zu spät dran. Als sie im Lehrerzimmer stand und ihren Schal abnahm, läutete prompt die Glocke zur ersten Stunde, und sie hatte gerade noch genug Zeit, sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne einzuschenken und zum Musikzimmer zu hetzen.
«Ich bin jetzt weg. Ich gehe zum Friseur, Jean», sagte Sarah, als sie eine Woche später der Schulsekretärin zuwinkte. Der Gong hatte um Viertel nach drei geläutet, die Schüler drängten lärmend auf die Flure und schoben sich an Sarah vorbei, als sie das Schulgebäude verließen. Jean Kemp, die in ihrer Empfangskabine thronte wie in einem Adlerhorst, hatte ihr langes Haar derart eigentümlich frisiert, dass es aussah, als sei es angeklebt. Sie blickte über den Kopf eines kleinen Schülers hinweg, dem sie gerade sein Handy zurückgab.
«Zum Nachschneiden?», fragte sie.
Sarah strich sich mit der Hand verlegen über den zweckmäßigen Bob. «Wenn ich ehrlich bin, schwebt mir etwas ganz anderes vor.»
«Aber Ihr Haar sieht doch immer so hübsch aus», schwärmte Jean. «Ich würde nichts daran verändern nur um der Veränderung willen. Sie würden es bereuen.» Und damit wandte sie sich einem weiteren Schüler zu, der ihre Aufmerksamkeit verlangte. Sarah lächelte. Sie hatte Jean auf eine oberflächliche Art immer gemocht, doch hatte Sarah nie deren Freundschaft gesucht, weil sie sich nicht sicher war, ob sie etwas mit einer Frau gemeinsam hatte, die ihr Haar in voller Absicht so trug, wie Jean es tat. Ihr Kompliment war in der Tat die Bestätigung, dass Sarah einen neuen Haarschnitt brauchte, und zwar ganz schnell.
Die grellen Sonnenstrahlen hatten das Eis zum Schmelzen gebracht, doch es begann bereits wieder zu frieren, als Sarah in der Stadt einen Parkplatz gefunden hatte und den Friseursalon betrat, in dem die Luft dampfte. Kondenswasser lief an der Schaufensterscheibe herunter, und der starke Geruch von Haarpflegeprodukten stach ihr in die Nase, sobald sie die Tür öffnete. Die ganz in Schwarz gekleideten Hairstylisten – eine unpraktische Farbe bei so viel Haaren hier – schnippelten fleißig an ihren Kunden herum, die, in Umhänge gehüllt, vor ihnen saßen. Die Lehrlinge eilten mit Besen durch den Raum und kehrten die Berge von abgeschnittenem Haar zusammen.
Sarah empfand einen Anflug von Vorfreude. Sie hatte mit Müh und Not die wüste Attacke auf ihr Selbstbewusstsein überstanden, die die letzte Begegnung mit ihrem nackten Körper vor dem Spiegel ausgelöst hatte. Doch kein noch so exzessives Power-Walking oder Treppensteigen würde dem Zahn der Zeit etwas entgegensetzen, das war ihr klar. Ihre Frisur hingegen konnte sie verändern. Ein kleiner Schnitt hier und da, und sie würde jünger und komplett anders aussehen. Sie hielt kurz inne, als man sie zu den Waschbecken führte, und betrachtete sich in einem Spiegel, der neben ihr an der Wand hing. Vielleicht ein etwas weiblicherer Schnitt? Etwas Jüngeres möglicherweise? Claire hätte ihr den richtigen Tipp geben können, doch ihre Tochter war an der Uni zu beschäftigt, um ihr helfen zu können. Sie würde mit Andre über eine komplette Typveränderung sprechen. Er würde wissen, was zu ihr passte. Schließlich bediente er sie schon lange genug.
Nachdem man ihr die Haare gewaschen und mit Conditioner besprüht und dann auch noch den Kopf massiert hatte, wurde sie zurück zu ihrem vorgewärmten Stuhl begleitet, und Andre rollte auf seinem Friseurhocker heran. Er drückte ihr freundschaftlich die Schultern, während er sie im Spiegel betrachtete. «Hal-lo! Wie schön, Sie zu sehen, Darling! Also, was wollen wir heute machen?»
«Ich dachte an etwas, das jünger wirkt. Ein wenig modischer? Was meinen Sie?» Unsicher blickte sie ihn im Spiegel an.
Er nahm ihr das Handtuch vom Kopf und begann, die nassen Haare zu kämmen, wobei er den Kopf nachdenklich zur Seite neigte. Sarah versuchte, nicht in den Spiegel zu blicken, denn jetzt sah sie gerade am schlimmsten aus. Andre hielt inne und schnitt eine Grimasse. «Na ja, die Länge macht uns einen kleinen Strich durch die Rechnung. Das ist weder Fisch noch Fleisch. Wir können eigentlich nicht viel machen, außer es ganz kurz zu schneiden. Und das wäre vielleicht … eventuell sind Sie ein wenig zu … Wie wäre es, wenn ich Ihr Haar hier hinten ein wenig durchstufe. Damit definieren wir den Schnitt ganz neu. Wir könnten auch ein wenig in Richtung Helen Mirren gehen. Wie finden Sie das?»
Sarah verspürte einen gehörigen Dämpfer. Sie sah in den Spiegel und bemerkte, dass sie Andre noch nie direkt ins Gesicht geschaut, sondern immer nur sein Spiegelbild betrachtet hatte, wenn er sie anblickte. Hatte er sie jemals richtig wahrgenommen? Sie beobachtete ihn dabei, wie er ihr Haar anfasste – was für eine intime Geste, und doch wirkte er unbeteiligt, als er sich im Salon nach den Lehrlingen umsah, die in der Ecke ein Schwätzchen hielten.
Er hörte ihr nicht zu. Er gab sich ja nicht einmal Mühe, sich etwas einfallen zu lassen. Brauchte er eine schriftliche Einladung, um zu verstehen, dass sie auf seine Hilfe angewiesen war? Dass das Alter unbarmherzig zu Frauen war? Konnte er sich nicht wenigstens bemühen, etwas zu tun, damit sie sich anders fühlte? Und Helen Mirren? So sah er sie also. Für ihn war sie nur irgendeine Hausfrau, die sich danach sehnte, wie die dusselige Helen Mirren rüberzukommen.
Seufzend gab Sarah sich geschlagen. «Tja, dann also das Übliche.» Und damit vertiefte sie sich in eine alte Ausgabe von Heat.
Im Haus roch es nach Essen. Er schnupperte. Vielleicht gab es Fischauflauf? Sarahs Vorsatz, auf seine Gesundheit zu achten, war prima – solange es ausreichend Kartoffelpüree für ihn gab. Er warf sein Jackett über eine Stuhllehne und trat die Schuhe von den Füßen. Dann suchte er nach seinen Hausschuhen, die Sarah, wie immer, ordentlich unter einen Stuhl gestellt hatte. Er schüttelte den Kopf – warum tat sie das? – und schob die Pantoffeln mit einem Fuß heran. Er rief nach ihr und warf einen kurzen Blick in die Küche.
Friseur. Er durfte nicht vergessen, dass sie beim Friseur gewesen war.
Hier unten war sie nicht. «Ich bin zu Hause, Liebes! Heimgekehrt von der Front!» Er lächelte, als er ihr die vertraute Begrüßung zurief. «Hallooo! Sitzt du auf der Toilette?»
Die Schlafzimmertür öffnete sich knarrend – er musste wirklich etwas mit den Türangeln unternehmen –, und Sarah erschien mit einem Berg Schmutzwäsche im Arm. «Hey», rief sie nach unten. «Willst du, dass ich dieses Sweatshirt wasche?»
Er spähte zu ihr nach oben. «Ja, das brauche ich zum Fußballspielen.»
«Gut, legst du es das nächste Mal dann bitte in den Wäschekorb? Ich kann keine Gedanken lesen, weißt du?»
Autsch. David überlegte kurz. Hatte bei ihr heute irgendetwas angestanden, das ihr die Laune verdorben hatte? Die Frisur. Er musste etwas zu ihrer neuen Frisur sagen.
«Dein Haar sieht hübsch aus, Liebes. Wirklich … so geschmeidig.»
Sie schien ein wenig aufzutauen und kam nach unten. «Hattest du einen schönen Tag?»
Das war schon besser. Er lehnte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. Ihr Haar roch ungewohnt nach Kokosnuss. David berichtete ihr von den neuesten Entwicklungen. Weil Sarah alle Leute, von denen er sprach, und die Gepflogenheiten im Büro kannte, musste er ihr nicht alles erklären. Sie verstand sicher genau, weshalb es so ärgerlich war, dass Barry ihm sämtliche Vorbereitungen für den Workshop-Termin untergemogelt hatte, obwohl er genau wusste, dass David von Anfang an gegen das Projekt gewesen war. Er sprach weiter und folgte ihr dabei in die Küche.
Sarah bereitete das Abendessen zu und blickte konzentriert auf ihre Hände. Während er immer noch redete, schob sie ihn gezielt beiseite, wenn er ihr vor der Besteckschublade oder dem Spülbecken im Weg stand. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um und unterbrach ihn mitten in seiner Erzählung.
«Rachel hat angerufen. Sie will Mums Sachen durchgehen.»
Er atmete langsam ein. «Das tut mir leid, Liebes. Das wird sicher schwer werden.»
Er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten, und hoffte, dass es nicht noch schlimmer werden würde. Doch da hatte sie sie bereits weggeblinzelt. Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter hatte sie eigentlich nicht mehr geweint, aber Sarah neigte auch nicht zu großen Gefühlsausbrüchen. Dem Himmel sei Dank.
«Hör zu», in Gedanken ging er seinen Terminkalender durch, «soll ich mir einen Tag freinehmen und dir helfen?»
Sie lächelte matt. «Wie, damit du dich um deinen Termin drücken kannst? Nein, keine Sorge. Ich schaffe das schon. Außerdem reicht es, wenn Rachel einen von uns in den Wahnsinn treibt. Du weißt ja, wie sie sein kann.»
«Hmm. Heraustreten zum Stubenappell!»
Er warf einen verstohlenen Blick auf das Abendessen, das im Ofen warm gehalten wurde. Es gab keinen Fischauflauf. Da war nur eine rosafarbene Scheibe Fisch – Lachs vielleicht? – mit irgendeinem Gemüse obendrauf und ein paar Karotten. Und eine Schüssel mit gemischtem Salat, doch von Kartoffeln keine Spur. Er seufzte. Es war zu spät, jetzt noch welche auf den Herd zu stellen. Vielleicht kriegte er ja noch einen Nachtisch? Deprimiert presste er den Inhalt des überfüllten Abfalleimers zusammen, wobei ihm die Überreste des Müslis vom Morgen an den Händen kleben blieben, dann band er den Müllsack zusammen. Warum musste sie den Müllbeutel bloß immer so vollstopfen?
«Tröste dich, Liebes.» Er öffnete die hintere Tür, um zu den Mülltonnen zu laufen. «Das wird sicher schwer werden, aber je eher du ihre Sachen loswirst, desto besser. Du wirst sehen, bald ist alles wieder beim Alten.»
«Ja.» Sarah wandte sich ab, um das Besteck aus der Schublade zu holen, und murmelte leise: «Genau das befürchte ich.»
Einen Moment lang blickte David sie erstaunt an, doch dann zuckte er mit den Achseln. Er hatte sich wohl verhört.