Nr. 2635
Jagd auf Gadomenäa
Der Verzweifelte der Vae-Bazent-Wüste – unterwegs mit der fliegenden Landschaft
Hans Kneifel
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Seit dem dramatischen Verschwinden des Solsystems mit all seinen Bewohnern hat sich die Situation in der Milchstraße grundsätzlich verändert.
Die Region um das verschwundene Sonnensystem wurde zum Sektor Null erklärt und von Raumschiffen des Galaktikums abgeriegelt. Fieberhaft versuchen die Verantwortlichen der galaktischen Völker herauszufinden, was geschehen ist. Dass derzeit auch Perry Rhodan mitsamt der BASIS auf bislang unbekannte Weise »entführt« worden ist, verkompliziert die Sachlage zusätzlich. Um die LFT nicht kopflos zu lassen, wurde eine neue provisorische Führung gewählt, die ihren Sitz auf dem Planeten Maharani hat.
Doch wo befindet sich das Solsystem? Allem Anschein nach wurde es in ein eigenes Miniaturuniversum versetzt, eine »Anomalie«. Dort sind die Menschen aber nicht allein: Auch Spenta, Sayporaner und Fagesy bewohnen dieses Gebiet, und sie sind es, die dort den Ton angeben. Die Spenta sperren die Sonne in eine undurchdringliche Fimbul-Kruste, und die Sayporaner und Fagesy besetzen und kontrollieren die bewohnten Planeten.
Nicht zu vergessen ist die Entführung von Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen durch die Sayporaner. Einem besorgten Vater ist es gelungen, ihnen zu folgen. Er erlebt eine beispiellose JAGD AUF GADOMENÄA ...
Die Hauptpersonen des Romans
Chourtaird – Ein Ziehvater weist seinem »Sohn« den Weg.
Shamsur Routh – Ein Vater und Journalist folgt der Fährte seiner Tochter.
1113 Taomae – Eine Spiegelin auf einer fliegenden Insel.
Pahklad – Der Cocculare hasst die Vae-Vaj.
1.
Auch in dieser Nacht suchten ihn Erinnerungen heim. Schweißgebadet und zitternd erwachte er und versuchte, den Aufruhr in seinen Gedanken zu dämpfen, die dahinhuschenden Erinnerungen festzuhalten, zu gewichten und zu sortieren.
Vergeblich. Meist misslangen die Versuche völlig. Nacht? Nur scheinbare Dunkelheit in seiner Schlafblase, nichts anderes als das Fehlen von Licht.
Er hatte unruhig geschlafen: unter dem scheinbar immerwährenden abendlichen Rot; im Schein der stechend kupferfarbenen Wolkenränder; im makabren Flammen Banteiras, jener roten, verwaschen glimmenden großen Sonne über der mehr als seltsamen Stadt Whya; in einem der Daakmoy, der Geschlechtertürme, die bis in die Wolken zu reichen schienen; im Haus Nhymoth und als sogenannter Gast, genauer: als Gefangener des Ziehvaters Chourtaird; in großer Höhe, vielleicht in zweihundert – oder dreitausend – Metern, unter der auffälligen Krönung des Gebäudes, der waagrecht liegenden Mondsichel; in seinem eiförmigen weißen Schlafgemach.
Diese Begriffe und die Bilder, die sie verkörperten, lösten sich in einem wilden, wirren Ansturm aus der Tiefe des albtraumhaften Schlafes auf.
Erinnerungen, entsann er sich während eines kurzen, lichten Moments, sind der lange Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit. Wer hatte das gesagt oder geschrieben?
Wahrheit? Die Wahrheit über ihn? Welche der vielen möglichen Wahrheiten oder Gewissheiten? Über den nicht minder seltsamen Ziehvater Chourtaird? Über die Versetzung des Solsystems in diese merkwürdige Weltraumumgebung?
Er richtete sich auf. Jede Bewegung erforderte große, schweißtreibende Anstrengung. Wie eine Serie kleiner gedanklicher Tornados, die unablässig miteinander verschmolzen, wieder zerfielen, neue, unverständliche Nichtmuster bildeten, überfielen ihn schmerzende Eindrücke. Namen, bekannte und andere Gesichter, die er nicht zu erkennen vermochte, schwirrten vor seinem inneren Auge lautlos wirbelnd durcheinander.
Das Implantmemo – Puc – war abgeschaltet. Die Metapher, erinnerte er sich notgedrungen selbstständig, stammte aus dem Text eines Lehrvid, das er zu Beginn seiner Ausbildung gesehen hatte. Ein uralter Text, von einem noch wirklich mit eigenen Händen und geringer mechanischer Hilfe schreibenden Kollegen namens Vladi Nabokov, aus einer Zeit, als die terranische Bevölkerung noch zwischen der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Nationalitäten hatte wählen können. Ein ... Russe? Ja. So war es wohl. Aber er schrieb, so erinnerte sich Shamsur Routh, in einer anderen Sprache. Warum gerade jetzt diese Reminiszenz an ferne Vergangenheit, die mit seiner gegenwärtigen Lage nicht das Geringste zu tun hatte?
Mit schmerzenden Gelenken, vornübergebeugt wie ein Greis, wie der Ziehvater Chourtaird, schlurfte er zur Wand und trank aus der hohlen Hand, die er in das Rinnsal hielt, einige Schlucke Wasser. Er schöpfte noch mehr Wasser, kühlte dann seine Handgelenke und benetzte sein Gesicht. Der Ansturm der Erinnerungen änderte sich nicht. Ein flüchtiger Gedanke sagte Routh, dass er vielleicht verrückt zu werden begann. Sonnenuntergangsschatten?
Aus dem Durcheinander der Eindrücke, von denen er nicht einen einzigen zu packen vermochte, tauchte wie aus gischtender Brandung, die in Wirklichkeit aus blauen Lichtfunken bestand, ein Gesicht auf. Trotz seines Zustandes traf es Routh wie der sprichwörtliche Blitzschlag.
Anicee. Seine Tochter Anicee Ybarri, nach der er ... wie lange? ... schon seit schätzungsweise einem Monat suchte. Seit dem 6. September terranischer Zeit. 1469 NGZ. Gesucht, verloren, zufällig gefunden, verfolgt, abermals aus den Augen verloren und hier auf Gadomenäa, einer Welt der Sayporaner, wiedergefunden,
Anicee, seine und Henrike Ybarris jüngere Tochter. Wieder überfluteten ihn Erinnerungen. Bilder aus fast zwei Jahrzehnten wechselten sich in schneller Folge ab. Henri, wie Anicee ihre Mutter nannte, hochschwanger, das Kind als lächelnder Säugling, später mit dem dunklen Lockenkopf und den großen Augen einer Zweijährigen und einer kaum zu stillenden Neugierde. Ein Jahr später auf seinen Armen und im Arm der zierlichen, fast mädchenhaften Mutter, lange bevor Henrike zur Ersten Terranerin gewählt werden würde. Als Vierjährige neben ihrer älteren Schwester Tuulikki, die Henrikes Verbindung mit Susanto Sakiran entstammte, auf den Sitzen eines Spielzeuggleiters zwischen zwei Robots, die Märchenfiguren darstellten.
Nie war das Verhältnis zwischen Vater und Tochter – jahrelang auch zwischen Shamsur und Henrike – besser, inniger und unbelasteter gewesen als in den folgenden Jahren, in denen sich Anicee zu einer hübschen, schlaksigen Heranwachsenden herausgemacht hatte. Sie wuchs bei Shamsur auf, ihre Schwester bei deren Vater Susanto, ebenfalls einem Journalisten. Beiden Männern hatte sich die Kommunikationsspezialistin in schleichenden Prozessen entfremdet.
Anicee hörte sogar aufmerksam zu, wenn Routh ihr manchmal seine eigenen Texte vorgelesen hatte, auch wenn sie nicht jedes Wort verstand. Im Chaos seiner fiebrigen Erinnerungen bildeten sich, wie kleine Inseln, feste, wenn auch flüchtige Augenblicke.
Wieder versuchte Routh seinen peinigenden Durst mit dem Wasser zu stillen, das unaufhörlich an der Wand herunterrann. Er war nackt, zitterte vor Kälte und schwitzte im nächsten Augenblick; er hatte das dünne Thermotuch aus der Herstellung des geisterhaft produzierenden Tabletts um die Hüften gewickelt.
Weitere Bilder und Eindrücke familiärer Harmonie folgten. Anicees Verhalten, abermals einige Jahre später, wechselte zwischen einschmeichelndem Vertrauen zu ihren Eltern und beginnender Selbstständigkeit, die sich in plötzlichem Starrsinn und Abwehr äußerte, deren Gründe sie selbst nicht zu verstehen schien. Aber sie wuchs zu einer schönen jungen Frau heran – das stellten »Henri« und »Sham«, ihre Mutter und ihr Vater, deren gutes Aussehen sie zu erben schien, zu ihrer Freude fest.
Die Neunzehnjährige mit der langgliedrigen Figur ihrer Mutter, mit ovalem Gesicht und hohen Jochbeinen trug ihr rückenlanges Haar meist offen oder im Nacken durch eine billige Plastamspange zusammengerafft; ein Zeichen ihres Protests gegen ... ja, wogegen eigentlich? Seidiges, kastanienbraunes Haar mit schwarzen Glanzlichtern, das mit der Farbe ihrer strahlend blauen Augen kontrastierte. Später dann dunkelrot, sorgfältig aus der Stirn und hinter die Ohren gekämmt. Mit stiller Freude hatte Routh zugesehen, miterlebt, sich gewundert, wie aus der heftig pubertierenden Heranwachsenden eine schöne junge Frau geworden war.
Wieder überschwemmten ihn Wellen von Erinnerungen, die jedoch mit Anicee und seiner Besorgtheit um sie nichts zu tun hatten. Routh hörte sich murmeln, dachte an Puc, griff nach den erkalteten, seifig schmeckenden Essensresten, die er undeutlich neben seiner Liege erkannte, und verlor sich in einer völlig anderen Empfindung.
In einem Winkel seines strapazierten, fieberhaft zuckenden und taumelnden Verstandes ahnte er, dass ihn die Verarbeitung der Ereignisse seit dem Überfall auf Terrania und den Planeten überforderten. Oder halluzinierte er wirklich? Es war zu viel geschehen. Zu viele monströse Eindrücke hatten ihn getroffen; die Zerstörungen in Terrania City, Hamburg und auf ganz Terra, das mehr als eigenartige Verhalten Anicees, die vorwurfsvollen Kommentare Phaemonoe Eghoos, der berühmten Redakteurin des SIN-TC, sozusagen seiner Arbeitgeberin. Sie wartete bisher vergeblich auf seine Beiträge, aber statt zu arbeiten und sich der redaktionellen Pflicht zu widmen, verbrachte er seine gesamte Zeit damit, seine Tochter auf ihren eigensüchtigen Wegen zu verfolgen. Auf einem Weg, der auf noch undurchsichtige Weise in ihr Verderben führen würde. Davon war er überzeugt, seit Puc ihm den kaltblütigen Mord an Benat Achiary durch die Zofe Liuve gezeigt hatte.
Shamsur Routh taumelte zurück auf sein Lager, spürte stechende Schwäche in den Knien und ließ sich fallen. Die dunkle Umgebung drehte sich um ihn. Auch als er die Augen schloss, tobte der lautlose Hurrikan aus Tausenden Einzelbildern um die wenigen scheinbar festen gedanklichen Fixpunkte.
Die Schwäche nahm zu, wurde übermächtig. Er stemmte sich gegen den bevorstehenden Zusammenbruch, aber es war zu viel. Schlagartig verlor er das Bewusstsein und versackte in tiefer Schwärze.
2.
Neue Ziele:
die schwierige Unterhaltung mit dem Ziehvater
Als Shamsur Routh mit trockenen Lippen, schmerzendem Rachen und verklebtem, strähnigem Haar aufwachte, versuchte er zunächst, mit vorsichtigen Blicken aus verquollenen Augen seine Umgebung zu erkennen. Zuerst trank er viel Wasser und fühlte sich daraufhin erfrischt und belebt. Mit beiden Händen schob er die Haarsträhnen aus den Augen und von der Stirn nach hinten. Er holte mehrere Male tief Luft und stellte fest, dass sein Körper nicht mehr schmerzte; auch der Kopf war klar und schmerzfrei. Das unbestimmte Gefühl einer Angst, die er bisher nicht gespürt hatte, ergriff ihn. Er unterdrückte die fahle Stimmung; lautlos formulierte er:
Puc. Aktiv.
Du hast offensichtlich deinen mentalen Zusammenbruch überstanden und durchgestanden. Wenn es dir hilft – ich habe als heutiges Datum den siebenten Oktober vierzehnneunundsechzig ermittelt. Es ist früher Morgen. Du wirst es sehen, wenn du endlich dein Schlaf-Ei verlässt. Die Flut aus Erinnerungen und der neuen Eindrücke, der Sprung vom Transitparkett ins System der Sayporaner und zu deinem Status als gefangener Gast – all das zusammen! – waren zu viel für dich.
»Kann es sein, dass die Sayporaner meinen Verstand manipuliert haben? Gestern, oder wann es war?«
Es gibt keinen Hinweis darauf. Dass du dich nicht aus dem Wohnturm entfernt hast, könnte ich dir beweisen. Das Implantmemo hob das Cocktailglas, lächelte maliziös und lehnte sich auf dem Barhocker entspannt zurück. Aber du verfolgst ja vordringlich nur ein Ziel. Was Henrike Ybarri und du eineinhalb Jahrzehnte lang versäumt haben, willst du jetzt mit aller Gewalt erzwingen. Auch du kannst die Zeit nicht zurückdrehen, großer Bruder.
»Trotz aller Zwischenfälle und unerwarteter Entwicklungen in diesen ... wie viel? ... einunddreißig Tagen ist die Lage nicht mehr so hoffnungslos«, sagte Routh. Er registrierte, dass er anscheinend klar denken und wie gewohnt deutlich formulieren konnte, trotz der Angst, die in ihm hockte und sich ausbreitete. »Anicee ist in Cherayba und somit in relativer Sicherheit. Deine Analyse meines Zustandes trifft wahrscheinlich zu. Aber das ist kein Grund, mein Vorhaben abzubrechen. Ich habe meine Wahl getroffen und trage die Konsequenzen.«
Wer sonst? Puc nippte an seinem Drink und strich über das Revers seines Smokings. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Die Vorgänge, die mit der Zunahme deiner erinnerungstechnischen Degradierung zusammenhängen, sind deutlich zu bemerken. Ebenso das Löschen deiner Engramme und das Laden deines Gedächtnisses. Du hast selbst gemutmaßt, dass deine Zeit als klar handlungsfähiges Individuum begrenzt ist.
»Und die musikalischen Zumutungen der Phenuben-Orchester in der Ikonischen Symphonie, die Oxytocin-Duschen der Auguren oder Sayporaner haben dich und mich, nachweislich, etwa nicht beeinträchtigt?«, sagte Routh, noch immer voller Misstrauen. Er dachte an die Zofen und die Junker, an den Mord an Benat Achiary, an seine eigentümlichen Erlebnisse in der Stadt Whya und an Anicees scheinbar gefühllose Reaktion auf den Tod ihres Freundes oder Geliebten. Er biss von einem der kalt gewordenen Esspilze ab und fuhr damit fort, sich zu reinigen.
Wir sind, im Gegensatz zu deiner Tochter und den vielen anderen jungen Leuten aus Terrania und von Terra nicht formatiert, großer Bruder, bestätigte Puc und hob die winzigen Schultern. Die Ellbogen im makellosen Smoking ruhten fest auf der Platte des Bartresens.
Puc lächelte unbestimmt und sprach nach einer kurzen Pause weiter. Trotzdem werden die Bewusstseinsfälschung, mit deren Hilfe ich dich über das Transitparkett geschleust habe, und die Aufhebung der Fälschung irgendwann problematisch werden. Du solltest daran denken, großer Bruder.
Routh nickte nachdenklich, hörte ein Geräusch und drehte sich halb herum. Die Tür des Schlafbehälters wurde von außen geöffnet.
Zofe Dindirri stand auf der obersten Stufe und sagte: »Dein Ziehvater Chourtaird will mit dir reden, Shamsur Routh.« Der rund 1,40 Meter kleine Roboter trat in das Schlaf-Ei. Der Ausdruck des weißen Puppengesichts war unverändert gleichgültig. Dindirri sprach Interkosmo.
»Ich treffe ihn an seinem gewohnten Platz?«, erkundigte sich Routh und benutzte Saypadhi, die Sprache der Stadt und des Planeten. »Ich komme gleich. Muss mich noch anziehen. Sag's dem Alten.«
»Bei den Becken, hier im Daakmoy Nhymoth, wo sonst? Du solltest dich beeilen«, mahnte ausdruckslosen Gesichts die Zofe, wandte sich um und verließ das Schlaf-Ei. Einige Minuten später folgte ihr Shamsur Routh mit hängenden Schultern, ging durch den leeren Raum der Etage und benutzte den Lift in der Mitte, der ihn um gefühlte einige Kilometer weiter nach oben brachte.
So endlos viel leerer Raum, sagte er sich. Dutzende, Hunderte unbewohnter Etagen, die auf Bewohner warteten. Eine unbekannt große Anzahl leerer Hochbauten, überall in der Stadt. Die kahlen Etagen warteten ... etwa auf junge Terraner? Die Stadt Whya, ebenso aseptisch und geisterhaft leer, bot Platz für Hunderttausende, wenn nicht Millionen, und Whya war nur ein Ort von vielen. Er kannte keinen davon, und jetzt gelang es ihm auch ohne Pucs Erklärungen, sich dem Grund seiner Furcht zu nähern. Er, dessen Heimat Terra war, befand sich unermesslich fern von seinen Wurzeln, von der gewohnten Umgebung, in einer völlig anderen, exotischen, unbekannten Welt, irgendwo im Universum, ganz auf sich allein gestellt und umgeben von teils unerklärlichen, teils feindlichen Wesen, Einrichtungen und Gegebenheiten. All das Fremde hatte nichts mit seinem Beruf zu tun; ihn bewegte jede andere Regung – alles andere als professionelle Neugierde. Der Zustand versetzte ihn in Furcht. Er war zurückgeworfen auf die Position eines wagemutigen Einzelgängers, der er nicht war und niemals gewesen war. Er schüttelte sich und ging langsam weiter. Niemand konnte ihm helfen.
Er betrat auf der ersten Brücke das Labyrinth und suchte mit Blicken auf dem verwirrenden System der Stege und Übergänge seinen greisenhaften, verkrümmten Ziehvater.
Das Wasser dieser ausgedehnten Anlage war an den meisten Stellen ruhig und oft von unbestimmter Farbe. Aus großer Tiefe drang ein verstreutes Leuchten herauf, in dem das Wasser, die Wasserpflanzen und die fischartigen Lebewesen eine goldfarbene Tönung annahmen.
Einige Atemzüge später entdeckte Routh den altersandrogynen Greis im Hintergrund des Brückenlabyrinths, zwischen den eisernen Gittern der Brüstung und den vielen seltsamen Figuren, die aus Stein zu sein schienen und aussahen, als wären sie aus Metall.
Der Sayporaner fütterte seine Haustiere, jene Kopffüßler mit Tentakelarmen, die er als Enccue bezeichnete.
Im Zickzack, den Übergängen und Kreuzungen folgend, suchte Shamsur Routh seinen Weg oberhalb dieses bizarren Aquariums. Chourtaird schien ihn weder zu hören noch zu sehen; jedenfalls beachtete er ihn nicht. Auftauchende und absinkende Wasserwesen und diejenigen, die sich um die Pilzstücke des Fütternden balgten, verursachten heftiges Plätschern, dessen Geräusche sich auf dem Weg zur dunklen Decke dieses Stockwerks verloren. Jeder neue Eindruck, der Routh traf, verstärkte das Gefühl der Verlorenheit, aber reizte zugleich auch seinen Trotz und löste Widerspruchsimpulse aus.
Routh erreichte die Brücke, an deren Brüstung die unverkennbare, grotesk verkrümmte Gestalt seines Ziehvaters lehnte. Neben ihm stand die etwa kniehohe Urne, in die er von Zeit zu Zeit mit einem mumienhaft dürren Arm und noch knochigeren Fingern griff und jene Brocken hervorholte, mit denen er die Enccue fütterte. Chourtaird beachtete ihn nicht, als sich Routh schweigend neben ihn stellte und zum ersten Mal die Enccue gründlich betrachtete.
An den Hörnern der Tintenschnecken-Köpfe saßen zwei Augen, die den Fressgegner ebenso neugierig und aggressiv anstarrten wie den fütternden Greis und den neuen Besucher. Ein gelbroter Ball, etwa faustgroß, und ein Kranz aus kleinen Leuchtorganen, in deren Mitte ein deutlich kleineres Sehorgan mit herzförmiger Pupille saß, beobachteten jede Bewegung der Gestalten dicht über dem Wasserspiegel.
Jeder Krümel, den Chourtaird ins schäumende Wasser fallen ließ, wurde von den zahlreichen schimmernden Zähnchen auf den langen Raspelzungen gepackt, blitzschnell eingewickelt und in den Schlund gezerrt. Die starken Muskeln arbeiteten in den weichen Körpern, die auftauchten und zurücksanken, einzeln oder in kleinen Gruppen, deren einzelne Exemplare aneinander zu kleben schienen.
Seltsame, nutzlose Rätselwesen, dachte Routh. Er sah dem Sayporaner und seinen hungrigen Schützlingen einige Minuten lang zu, dann, völlig unvermittelt, drehte sich Chourtaird zu ihm um. Aus dem grotesk gekrümmten Körper des Greises, der mitunter wie eine Greisin wirkte, am Ende des dürren, ebenso unnatürlich gebogenen Halses, pendelte sein Schädel. Als er Routh anredete, verwendete er die erste Hälfte des Satzes Interkosmo, wechselte aber dann in Saypadhi.
»Ist dir das ereignislose Warten auf irgendetwas noch nicht langweilig geworden, Ziehsohn?«, erkundigte sich der Alte, der den Kopf schief hielt, um zu Routh aufsehen zu können. Das rechte Auge musterte ihn, als wolle ihn der Blick durchbohren.
»Als Fremder in deiner Welt, Ziehvater«, antwortete Routh und bemühte sich, den Sayporaner und das Bild der bizarren Umgebung als ungefährlich zu definieren, »ist jeder neue Eindruck ein Mittel gegen Langeweile. An Überraschungen herrscht kein Mangel, sage ich.«
»Erstaunlich, dass du das sagst. Ich habe trotzdem überraschende Nachrichten.« Chourtaird griff in seinen Vorratsbehälter, zog ein Stück Pilz heraus und zerbröselte ihn über dem Wasser. Aus allen Richtungen stürzten sich schwimmende und auftauchende Molluskenwesen auf das Futter. Das golden leuchtende Wasser brodelte und schäumte, losgerissene Wasserpflanzen und griesliger Bodensatz trieben an die Oberfläche, die sich in breiten Schlieren trübte. »Ich habe erfahren, dass deine Tochter sich nicht mehr in Cherayba im Daakmoy Teb Bhanna aufhält.«
»Woher weißt du das?«, fragte Shamsur. Er zuckte erschrocken zusammen und fing sich wieder. Er dachte mit geschlossenen Lippen und ausdruckslosem Gesicht: Puc. Aktiv.
»Wo ist sie jetzt? Warum hat sie Cherayba verlassen ... müssen?«
»Ich habe es aus zuverlässiger Quelle.« Der Alte sah hinunter zu seinen Schützlingen, die Unterwasser-Ringkämpfe zu führen schienen. »Ihre Neu-Formatierung ist vermutlich erfolgreich verlaufen.«
Puc veränderte auf dem fast mikroskopisch kleinen Barhocker seine Körperhaltung, er schien mit äußerster Konzentration zuzuhören und roch, die Augen geschlossen, an seinem Getränk.
»Wie zuverlässig ist diese Information?«, sagte Routh. »Ich bin wieder einmal zu spät gekommen, wie mir scheint.«
Möglicherweise nicht. Chourtaird hat dich gerufen, um dir mitzuteilen, wo du sie finden kannst – vorausgesetzt, du gibst sie noch immer nicht verloren und willst ihr folgen. Ich glaube, sie ist eine der ersten jungen Leute aus Terrania City, deren Neuformatierung abgeschlossen oder jedenfalls sehr weit fortgeschritten ist. Rechne damit, dass sie tatsächlich die Stadt verlassen hat. Via Transitparkett selbstverständlich.
Puc schwieg und hatte keine zusätzlichen Informationen. Der Sayporaner ließ Routh eine Weile warten, widmete sich den Enccue und verschloss schließlich seine Pilzurne.
»Anicee führt ihr eigenes Leben«, dozierte Chourtaird. In seinem linken, milchigen Auge bildete sich eine Träne. An diesem Tag trug der Greis ein bodenlanges Gewand aus orangefarben schimmerndem Thermogewebe, das Ähnlichkeit mit einer Mönchskutte hatte und an dieser Stelle in Rouths Augen außerordentlich befremdlich wirkte. »Hier hat die Neu-Formatierung angefangen. Jetzt ist Anicee in die Hauptstadt Gadomenäas gebracht worden, als eine von wenigen.«
»Die Hauptstadt? Wie heißt sie? Wo liegt sie?«, wollte Shamsur wissen. »Ich muss sofort dorthin!«
Das rasselnde, hustenartige Geräusch, das Chourtaird von sich gab, konnte nur ein Lachen sein. Gleichzeitig wuchs die Träne im weißlich grauen Augenwinkel und berührte auseinanderfließend und zögernd die faltenreiche Gesichtshaut.
»Deine Tochter befindet sich in Anboleis, unserer Hauptstadt.«
»Ich habe diesen Namen nie zuvor gehört«, bekannte Routh. »Hoffentlich ist die Hauptstadt nicht auf einem Mond oder einer anderen Welt.«