Mission Walhalla

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Field Grey» Copyright © 2010 by Philip Kerr

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Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung © Mark A. Johnson/Corbis; Gordon Wiltsie/Getty images; ullstein bild - SIPA

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ISBN 978-3-644-20771-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-20771-4

Fußnoten

woina pleni: Kriegsgefangener; dawai: weiter/na gut; bistra: schnell!; nitschewo: egal; kascha: Buchweizengrütze; klopkis: Läuse; kate: Hütte, Baracke; prawda: Wahrheit; Woronesch: Name eines russischen Verwaltungsbezirks.

saklutshonni = regulärer Häftling (in Unterscheidung zum Kriegsgefangenen).

Graham Greene:
Der stille Amerikaner

KUBA 1954

«Der Engländer da, bei Ernestina», sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung eines Pärchens, das in einer Ecke des luxuriös ausgestatteten Klubs beisammensaß. «Der erinnert mich an Sie, Señor Hausner.»

Doña Marina kannte mich nicht besser als jeder andere auf Kuba, oder vielleicht doch, weil uns mehr als bloß eine nette Bekanntschaft verband: Doña Marina besaß das größte und beste Bordell in ganz Havanna.

Der Engländer war groß, hatte hängende Schultern, blassblaue Augen und ein trauriges Gesicht. Er trug ein kurzärmeliges blaues Leinenhemd, eine graue Baumwollhose und blitzblanke schwarze Schuhe. Ich hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, in der Floridita Bar oder vielleicht in der Lobby des Hotel Nacional. Aber mehr als der Engländer interessierte mich in diesem Moment die neue, halbnackte chica auf seinem Schoß, die sich gelegentlich an seiner Zigarette bediente, während er vergnügt ihre kolossalen Brüste in den Händen wog, als versuchte er, den Reifegrad zweier Pampelmusen einzuschätzen.

«Inwiefern?», fragte ich und musterte mich in dem großen Wandspiegel, auf der Suche nach einer Gemeinsamkeit zwischen uns, abgesehen von der Hochachtung vor Ernestinas

Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, war breiter als das des Engländers, das Haar voller, aber beide waren wir um die fünfzig und vom Leben gezeichnet. Möglicherweise dachte Doña Marina, dass unsere Mienen nicht nur gelebtes Leben verrieten, sondern auch eine Spur von schlechtem Gewissen und Komplizenschaft erkennen ließen, als hätte keiner von uns beiden das getan, was er hätte tun müssen oder, schlimmer noch, als lebte jeder von uns mit einer geheimen Schuld.

«Sie beide haben die gleichen Augen», sagte Doña Marina.

«Ach, Sie meinen, sie sind blau», sagte ich, obwohl ich ahnte, dass sie das wahrscheinlich ganz und gar nicht meinte.

«Nein, das ist es nicht. Sie und Señor Greene sehen die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise an. Als würden Sie in sie hineinblicken. Wie ein Spiritist. Oder vielleicht wie ein Polizist. Sie haben beide diesen durchdringenden Blick, als würden Sie jeden Menschen sofort durchschauen. Das kann einen richtig verunsichern.»

Es war kaum vorstellbar, dass Doña Marina sich von irgendwas oder irgendwem verunsichern ließ. Sie wirkte immer so entspannt wie eine Eidechse auf einem sonnenwarmen Felsen.

«Señor Greene, also?» Es überraschte mich nicht, dass Doña Marina keinen Hehl aus seiner Identität machte. Die Casa Marina war keines der Häuser, die man lieber unter falschem Namen betrat. Im Gegenteil, man brauchte Referenzen, um überhaupt eingelassen zu werden. «Vielleicht ist er ja Polizist. Würde mich nicht wundern, bei den großen Füßen.»

«Er ist Schriftsteller.»

«Was schreibt er denn?»

«Nie von ihm gehört. Lebt er auf Kuba?»

«Nein, in London. Aber er kommt immer vorbei, wenn er in Havanna ist.»

«Ein Weltenbummler, was?»

«Ja. Anscheinend ist er gerade auf der Durchreise nach Haiti.» Sie lächelte. «Fällt Ihnen noch immer keine Gemeinsamkeit auf?»

«Nein, eigentlich nicht», erklärte ich mit Nachdruck und in der Hoffnung, dass sie das Thema wechseln würde.

«Wie lief es heute mit Omara?»

Ich nickte. «Gut.»

«Sie gefällt Ihnen, ja?»

«Sehr.»

«Sie ist aus Santiago», sagte Doña Marina, als würde das alles erklären. «Meine besten Mädchen kommen aus Santiago. Sie sehen von allen Mädchen auf Kuba am afrikanischsten aus. Darauf scheinen die Männer zu fliegen.»

«Da will ich nicht widersprechen.»

«Ich glaube, das hat damit zu tun, dass schwarze Frauen im Gegensatz zu weißen Frauen ein Becken haben, das fast so breit ist wie bei einem Mann. Ein anthropoides Becken. Und ehe Sie mich fragen, woher ich das weiß, ich war mal Krankenschwester.»

Das passte ins Bild. Doña Marina legte großen Wert auf Gesundheit und Hygiene, und zum Personal in ihrem Haus am Malecón gehörten zwei ausgebildete Krankenschwestern, die mit allem fertigwurden, vom Tripper bis zum Herzinfarkt. Es hieß, man hätte in der Casa Marina bessere Chancen, einen Herzstillstand zu überleben, als in der Universitätsklinik von Havanna.

Sie steckte eine Zigarette in eine kleine bernsteingelbe Zigarettenspitze und zündete sie mit einem hübschen Tischfeuerzeug an.

«Wussten Sie zum Beispiel, dass Omara mit dem Mann verwandt ist, der sich in Santiago um Ihr Boot kümmert?»

Mir schwante allmählich, dass Doña Marina mit ihrer Plauderei auf etwas Bestimmtes hinauswollte, denn nicht nur Mr. Greene zog es nach Haiti, sondern auch mich. Allerdings hatte meine Reise eigentlich geheim bleiben sollen.

«Nein, wusste ich nicht.» Ich sah auf die Uhr, doch ehe ich verkünden konnte, dass es Zeit zu gehen sei, hatte Doña Marina mich schon in ihren privaten Salon bugsiert und bot mir einen Drink an. Und da sie von meinem Boot wusste, sollte ich mir wohl besser anhören, was sie zu sagen hatte. Also nahm ich dankend an.

Sie holte einen in der Flasche gereiften Rum und goss mir großzügig ein.

«Auch Mister Greene schätzt unseren Havanna-Rum», bemerkte sie.

«Ich finde, Sie sollten jetzt zur Sache kommen», sagte ich. «Sie nicht auch?»

Sie tat es.

 

So kam es, dass etwa eine Woche später eine junge Frau auf dem Beifahrersitz meines Chevys saß, als ich in südwestlicher Richtung auf Kubas meistbefahrenem Highway nach Santiago

Melba Marrero war Anfang zwanzig, allerdings gab sie sich gern älter. Ich vermute, sie wollte einfach ernst genommen werden, und vielleicht hatte sie ja Hauptmann Balart erschossen, weil er es nicht getan hatte. Wahrscheinlicher ist, dass sie ihn erschossen hatte, weil sie mit Castros kommunistischen Rebellen in Verbindung stand. Sie hatte kaffeebraune Haut und ein fein geschnittenes, knabenhaftes Gesicht mit einem angriffslustigen Kinn. In ihren dunklen Augen schien ständig ein Gewitter aufzuziehen. Ihr Haar war nach der italienischen Mode geschnitten – kurz und stufig mit ein paar zarten, ins Gesicht gekämmten Locken. Sie trug eine schlichte weiße Bluse, eine enge beige Hose, einen hellbraunen Ledergürtel

«Warum fahren Sie kein Cabrio?», fragte sie, als wir kurz vor Santa Clara waren, wo wir unseren ersten Zwischenstopp einlegen wollten. «Für Kuba braucht man ein Cabrio.»

«Ich mag keine Cabrios. Damit erregt man Aufmerksamkeit. Und ich bin nicht scharf drauf, Aufmerksamkeit zu erregen.»

«Aha, dann sind Sie wohl schüchtern, was? Oder haben Sie irgendwas ausgefressen?»

«Weder noch. Ich werde nur nicht gern beobachtet.»

«Haben Sie eine Zigarette?»

«Im Handschuhfach ist ein Päckchen.»

Sie öffnete mit einem kräftigen Fingerdruck die Klappe und ließ sie herunterfallen.

«Old Gold. Ich mag keine Old Gold.»

«Du magst mein Auto nicht. Du magst meine Zigaretten nicht. Was magst du eigentlich?»

«Wen interessiert das schon.»

Ich schielte zu ihr rüber. Ihr Mund schien sich permanent zu einem Fletschen verziehen zu wollen, und dieser Eindruck wurde durch die kräftigen weißen Zähne noch verstärkt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendwer sie anfassen konnte, ohne dabei einen Finger zu verlieren. Sie seufzte, verschränkte die Hände und schob sie zwischen die Knie.

«Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Señor Hausner.»

«Ich habe keine.»

Sie zuckte die Achseln. «Aber bis Santiago sind es noch über tausend Kilometer.»

«Lies doch ein Buch.» Ich wusste, dass sie eins mithatte.

Nach einer Weile gelang es mir, einen Blick auf den Titel zu werfen. Sie las Wie der Stahl gehärtet wurde von Nikolai Ostrowski. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

«Was ist denn so lustig?»

Ich deutete mit einem Nicken auf das Buch auf ihrem Schoß. «Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.»

«Das Buch handelt von jemandem, der an der Oktoberrevolution teilnimmt.»

«Dachte ich mir schon.»

«Und woran glauben Sie?»

«An nichts, eigentlich.»

«Damit ist niemandem geholfen.»

«Als ob das eine Rolle spielt.»

«Etwa nicht?»

«Meiner Meinung nach gewinnt die Partei der Ungläubigen regelmäßig die Wahl gegen die Partei der Bruderliebe. Das Volk und das Proletariat brauchen keine Hilfe. Jedenfalls nicht deine oder meine.»

«Das sehe ich anders.»

«Oh, das kann ich mir vorstellen. Aber ist doch komisch, findest du nicht? Dass wir beide nach Haiti abhauen. Du, weil du an etwas glaubst, und ich, weil ich an gar nichts glaube.»

«Sie glauben also an gar nichts. Marx und Engels hatten recht. Die Bourgeoisie produziert ihre eigenen Totengräber.»

Ich lachte.

«Eines haben wir jedenfalls geklärt», sagte sie. «Sie sind also tatsächlich auf der Flucht.»

«Ja. Ich kenne es nicht anders. Falls dich das wirklich interessiert, es ist die alte, immer gleiche Geschichte. Der Fliegende

«Auf Kuba ist keiner sicher», sagte sie. «Nicht mehr.»

«Ich war aber sicher», sagte ich, ohne auf sie einzugehen. «Bis ich versucht habe, den Helden zu spielen. Dabei hatte ich eines vergessen: Ich hab nicht das Zeug zum Helden. Hatte ich noch nie. Außerdem will die Welt keine Helden mehr. Die sind aus der Mode gekommen, wie die Rocklänge von letztem Jahr. Jetzt sind Freiheitskämpfer und Informanten gefragt. Tja, für das eine bin ich zu alt, und für das andere hab ich zu viel Skrupel.»

«Was ist denn passiert?»

«Ein unausstehlicher Leutnant vom militärischen Geheimdienst wollte aus mir einen Spitzel machen, aber ich habe von der Idee nichts gehalten.»

«Dann tun Sie das Richtige», sagte Melba. «Es ist keine Schande, kein Polizeispitzel sein zu wollen.»

«Das klingt ja fast so, als würde ich etwas Ehrenhaftes tun. So ist es nicht.»

«Wie dann?»

«Ich will einfach nicht abhängig sein, von niemandem. Das kenne ich zur Genüge aus dem Krieg. Ich bin lieber mein eigener Herr. Aber das ist nicht alles. Spionage ist gefährlich. Und besonders gefährlich, wenn eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass man erwischt wird. Aber ich vermute mal, dass du das inzwischen selbst am besten weißt.»

«Was hat Marina Ihnen über mich erzählt?»

«Alles, was nötig war. Ich hab die Ohren auf Durchzug geschaltet, nachdem sie gesagt hatte, dass du einen Polizisten umgelegt hast. Mehr gibt es da nicht zu wissen. Jedenfalls nicht für mich.»

«Das klingt, als würden Sie es missbilligen.»

«Ich hab es für die Revolution getan», sagte sie.

«Ich hab auch nicht geglaubt, dass du es für eine Kokosnuss getan hättest.»

«Er war ein Schwein, und er hatte es verdient, und ich hab es für –»

«Ich weiß, du hast es für die Revolution getan.»

«Finden Sie nicht, dass Kuba die Revolution braucht?»

«Natürlich könnte die Lage besser sein. Aber jede Revolution verursacht erst eine Menge Rauch, und dann zerfällt sie zu Asche. Deine wird auch nicht besser sein als all die anderen davor. Das garantier ich dir.»

Melba schüttelte energisch ihren hübschen Kopf, aber ich war gerade in Fahrt gekommen: «Wenn nämlich irgendwo jemand von einer besseren Gesellschaft redet, kannst du drauf wetten, dass er vorhat, sie auf ein paar Stangen Dynamit zu erbauen.»

Danach schwieg sie und ich auch.

Rund dreihundert Kilometer östlich von Havanna legten wir eine Pause ein. Santa Clara war ein malerisches, beschauliches Städtchen. Den Park im Zentrum säumten etliche alte Wohnhäuser und Hotels. Melba machte einen Spaziergang, während ich mich auf die Terrasse des Hotel Central setzte und allein zu Mittag aß. Das war mir nur recht. Als sie zurückkam, fuhren wir weiter.

Am frühen Abend erreichten wir Camaguey. Spitzwinkelige Häuser mit großen Blumenkübeln davor prägten das Straßenbild. Parallel zum Highway rollte ein Güterzug in die entgegengesetzte Richtung. Er war mit Baumstämmen beladen, die in der waldreichen Umgebung geschlagen worden waren.

«Wir sollten lieber weiterfahren.»

«Kannst du fahren?»

«Nein.»

«Ich auch nicht. Nicht mehr. Ich bin geschafft. Bis Santiago sind es noch dreihundert Kilometer, und wenn wir nicht bald anhalten, fahre ich uns beide noch direkt in die Leichenhalle.»

In der Nähe einer Brauerei – einer der wenigen auf der Insel – passierten wir einen Polizeiwagen, und erneut dachte ich darüber nach, was Melba getan hatte.

«Wenn du einen Polizisten erschossen hast, sind die bestimmt ganz scharf drauf, dich zu schnappen», sagte ich.

«Und wie. Sie haben die casa in die Luft gejagt, in der ich gearbeitet habe. Einige der Mädchen wurden schwer verletzt, manche sogar getötet.»

«Deshalb hat Doña Marina sich also bereit erklärt, dir aus Havanna rauszuhelfen.» Ich nickte. «Ja, das leuchtet mir ein. Wenn eine casa in die Luft fliegt, ist das schlecht für alle anderen. Wir sollten uns ein Zimmer teilen, das ist sicherer. Ich sage, dass du meine Frau bist. Dann musst du keinen Ausweis vorzeigen.»

«Hören Sie, Señor Hausner, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich mit nach Haiti nehmen. Aber eines sollten Sie wissen. Ich habe die Rolle der chica nur gespielt, um an Hauptmann Balart ranzukommen.»

«Gut, dass du das sagst.»

«Ich hab es für die –»

«Revolution getan. Ich weiß. Hör mal, Melba, du brauchst dir um deine Tugend, falls davon überhaupt noch was übrig ist, keine Sorgen zu machen. Ich hab dir doch gesagt, ich bin müde. Ich würde sogar in den Flammen eines brennenden

Sie nickte. «Danke, Señor.»

«Und hör endlich auf, mich Señor zu nennen. Ich heiße Carlos. Ich bin ab jetzt dein Mann, schon vergessen?»

Wir stiegen im Gran Hotel im Stadtzentrum ab und gingen auf unser Zimmer. Ich machte es mir sofort in meinem Nachtlager gemütlich, sofern das auf dem Fußboden möglich war. Der russische Boden im Sommer 1941 hatte das bequemste Bett abgegeben, in dem ich je geschlafen hatte, im Vergleich dazu war dieser hier unbequem. Andererseits war ich auch längst nicht so erschöpft, wie ich es damals war. Gegen zwei Uhr morgens wachte ich auf. Melba kniete neben mir, in ein Laken gewickelt.

«Was ist los?» Ich setzte mich auf und ächzte vor Schmerz.

«Ich hab Angst», sagte sie.

«Wovor denn?»

«Weißt du, was die mit mir anstellen, wenn sie mich schnappen?»

«Die Polizei?»

Sie nickte und begann zu frösteln.

«Und was soll ich da machen? Eine Gutenachtgeschichte erzählen? Hör zu, Melba. Morgen früh fahr ich dich nach Santiago, wir gehen auf mein Boot, und morgen Abend bist du in Haiti und in Sicherheit, okay? Aber jetzt würde ich gern weiterschlafen. Also, wenn es dir nichts ausmacht …»

«Macht mir aber was aus», sagte sie. «Im Bett ist es viel kuscheliger als hier auf dem Boden. Und es ist breit genug für zwei.»

Damit hatte sie zweifellos recht. Das Bett war etwa so groß wie ein großes Stück Weide für einen Ziegenbock allein. Apropos Bock: Wie sie meine Hand nahm und mich rüber zum

 

Als wir am nächsten Tag Santiago erreichten, ruhte ihr Kopf schon seit guten hundertfünfzig Kilometern auf meiner Schulter, wie eine dunkle exotische Blume. Wir gingen miteinander um wie jedes junge Liebespaar, bei dem der Mann zufällig mehr als doppelt so alt ist wie die Frau, die zufällig noch dazu eine Mörderin ist. Vielleicht ist das ein bisschen unfair. Melba war schließlich nicht die Einzige, die jemanden erschossen hatte. Ich selbst hatte auch einige Erfahrung in dieser Hinsicht. Ziemlich viel Erfahrung sogar, aber das wollte ich lieber für mich behalten. Ich versuchte stattdessen, an das zu denken, was uns in Santiago erwartete. Manchmal macht uns die Zukunft Angst, aber die Vergangenheit ist noch schlimmer. Vor allem meine Vergangenheit. Der Gedanke an die Polizei

Ich kurvte ein wenig in der Gegend herum und orientierte mich dann an der Bekohlungsanlage von Cincoreales, was mir half, meinen Weg durch das Wirrwarr aus Werften, Auslegern, Kais, Schwimmkränen, Trockendocks und Slipanlagen zu finden. Hier wurde die Bootsflotte der Bucht von Santiago gewartet. Ich steuerte den Wagen einen steilen kopfsteingepflasterten Hang hinunter und eine schmale Gasse entlang. Über unseren Köpfen thronten gewaltige Überleitungen für Straßenbahnen, die nicht mehr fuhren, wie die Takelage eines Schoners, der längst ohne sie abgesegelt war. Ich hielt auf dem Bürgersteig an und spähte durch offene Flügeltüren in eine Bootswerft hinein.

Wir stiegen aus. Ich holte Melbas Gepäck aus dem Kofferraum des Chevys und brachte es in die Werft, wobei ich mir meinen Weg zwischen Farbtöpfen, Eimern, Tauen und Schläuchen suchte, vorbei an Holzstücken, alten Reifen und Ölkannen. Das Büro in einer kleinen Holzhütte ganz hinten war nicht weniger heruntergekommen als der Rest der Werft. Mendy würde in absehbarer Zukunft wohl nicht als Hausmann des Monats ausgezeichnet werden, aber er verstand etwas von Booten, und das war gut so, weil ich so gut wie nichts davon verstand.

Vor langer, langer Zeit war Mendy einmal weiß gewesen. Nun war es nur noch sein Bart. Ein ganzes Leben auf und an der See hatte seinem Gesicht die Farbe und Textur eines abgenutzten Baseballhandschuhs verliehen. Er gehörte in eine Hängematte auf einem alten Piratenschiff mit Kurs auf Hispaniola, eine Pfeife in der einen Hand und eine Flasche Rum in der anderen. Mendy fuhr ungerührt mit seiner Arbeit fort und schien mich erst zu bemerken, als der Kran aus dem Weg war, und selbst dann sagte er bloß: «Señor Hausner.»

Ich nickte ihm zu. «Mendy.»

Er klaubte eine halbgerauchte Zigarre aus der Brusttasche seines dreckigen Hemdes, steckte sie in die schmale Öffnung zwischen Kinnbart und Schnäuzer und klopfte dann minutenlang seine Taschen nach einem Feuerzeug ab, während wir uns unterhielten.

«Mendy, das ist Señorita Otero. Sie kommt mit mir aufs Boot. Ich hab ihr erzählt, dass es bloß ein schäbiger

Mendys Augen blickten hastig von mir zu Melba und wieder zurück, als würde er einem Tischtennismatch zuschauen. Dann grinste er breit und sagte: «Aber die Señorita hat vollkommen recht, Señor Hausner. Die wichtigste Seefahrtsregel lautet, immer auf alles vorbereitet zu sein.»

«Danke», sagte Melba. «Genau mein Reden.»

Mendy sah mich an und schüttelte den Kopf. «Sie verstehen offenbar nicht viel von Frauen, Señor», sagte er.

«Ungefähr so viel wie von Booten», gab ich zu.

Mendy lachte. «Ich hoffe doch für Sie, dass es etwas mehr ist.»

Er führte uns aus der Werft hinaus zu einem L-förmigen Pier, an dem eine hölzerne Barkasse vertäut lag. Wir kletterten an Bord und setzten uns. Mendy warf den Motor an und steuerte uns in die Bucht. Fünf Minuten später machten wir längsseits an einem fünfunddreißig Fuß langen Sportfischerboot fest.

La Guajaba war schmal geschnitten, hatte aber ein breites Heck, eine Brücke und drei Kabinen. Sie verfügte über zwei Chrysler-Motoren, die jeder rund neunzig PS brachten, womit das Boot eine Höchstgeschwindigkeit von neun Knoten schaffte. Und das war auch schon so ziemlich alles, was ich über sie wusste, außer, wo ich den Brandy und die Gläser aufbewahrte. Ich hatte einen Amerikaner, dem die Bimini Bar in der Calle Obispo gehörte, bei einer Partie Backgammon geschlagen und das Boot gewonnen. Mit vollem Tank hatte La Guajaba eine Reichweite von knapp fünfhundert Seemeilen, und bis Port-au-Prince war es nur halb so weit. Ich hatte das Boot in drei Jahren nur dreimal benutzt und verfügte über ein beeindruckendes nautisches Unwissen. Immerhin wusste ich,

Ich drückte Mendy ein Bündel Geldscheine und meine Autoschlüssel in die Hand und kletterte dann an Bord. Ich hatte überlegt, ob ich Omara erwähnen sollte und dass es besser für mich wäre, wenn er den Mund hielte, aber irgendwie kam mir das ziemlich sinnlos vor. Wahrscheinlich hätte ich so nur die brutale Offenheit heraufbeschworen, die man den Kubanern zu Recht nachsagt, und ganz sicher hätte er gesagt, ich wäre bloß noch so ein Gringo mit zu viel Geld, des Bootes nicht würdig, das mir gehörte, und ich hätte ihm schlecht widersprechen können: Wer sich für ein Stück Zucker ausgibt, den fressen die Ameisen.

Sobald wir in See gestochen waren, ging Melba nach unten und erschien in einem zweiteiligen Badeanzug mit Leopardenmuster wieder an Deck. In diesem Aufzug hätten ihr sogar die Fische hinterhergepfiffen, wenn sie sie gesehen hätten. Das ist das Schöne an Booten und warmem Wetter. Sie holen das Beste aus den Menschen heraus. Auf der Spitze einer sechzig Meter hohen Landzunge erhob sich die Festung El Morro. Eine lange, bröckelige, in den Felsen geschlagene Treppe führte vom Wasser hinauf. Die Hafeneinfahrt am Fuße der Festung war fast ebenso breit: sechzig Meter offene See, auf die ich bloß zuhalten musste, und trotzdem hätte ich uns um Haaresbreite in die Felsen manövriert. Solange ich Melba anstarrte, standen unsere Chancen schlecht, Haiti heil zu erreichen.

«Gefällt dir mein Bikini nicht?»

«Er gefällt mir sehr. Aber Kolumbus hatte gute Gründe dafür, dass er an Bord der Santa Maria keine Frauen haben wollte. Wenn sie einen Bikini tragen, stören sie den Kurs des Schiffes. Mit dir an Bord hätte er wahrscheinlich Tasmanien entdeckt.»

Sie zündete sich eine Zigarette an und beachtete mich gar nicht, und ich tat mein Bestes, sie nicht zu beachten. Ich überprüfte den Drehzahlmesser, den Ölstand, das Amperemeter und die Motortemperatur. Dann spähte ich aus dem Fenster des Ruderhauses. Vor uns lag Smith Key, eine kleine Insel, die einst in britischer Hand war. Viele der Fischer und Lotsen in Santiago stammten von dort, und mit den rotgedeckten Häusern und der kleinen Kapellenruine sah es dort sehr malerisch aus. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Anblick von Melbas Bikinihöschen.

Die See war ruhig, bis wir die Hafenausfahrt erreichten, wo die Dünung stärker wurde. Ich schob den Gashebel nach vorn und hielt das Boot auf einem geraden Ostsüdostkurs, bis Santiago nicht mehr zu sehen war. Hinter uns pflügte das Boot eine große weiße Narbe in den Ozean, Hunderte Meter lang. Melba saß in dem Anglersessel und quietschte vor Begeisterung, als das Boot schneller wurde.

«Ist das zu fassen?», sagte Melba. «Ich lebe auf einer Insel und bin das erste Mal auf einem Boot.»

«Ich bin froh, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben», sagte ich und nahm eine Flasche Rum aus der Kartenschublade.

Drei bis vier Stunden später wurde es dunkel, und ich konnte auf unserer Backbordseite die Lichter der US-Navy-Basis Guantánamo glitzern sehen, wie die Sterne einer nahen

Melba sah, wie sich mein Mund verzog, und schien meine Gedanken zu lesen. «Ich hasse sie», sagte sie.

«Wen? Die yanquis

«Wen sonst? Unsere lieben Nachbarn haben schon immer versucht, aus Kuba einen ihrer Vereinigten Staaten zu machen. Und ohne sie wäre Batista niemals an der Macht geblieben.»

Ich wollte mich nicht auf eine Diskussion einlassen. Weil wir die Nacht gemeinsam verbracht hatten und vor allem, weil ich vorhatte, dort weiterzumachen, wo wir aufgehört hatten, sobald wir ein nettes Hotel gefunden hatten. Ich hatte gehört, das Le Refuge in Kenscoff, zehn Kilometer außerhalb von Port-au-Prince, wäre da genau das Richtige. Der Ferienort liegt tausendvierhundert Meter über dem Meeresspiegel und hat das ganze Jahr hindurch ein angenehmes Klima. Ungefähr so lange hatte ich auch vor dortzubleiben. Natürlich hatte auch Haiti seine Probleme, genau wie Kuba, aber das waren nicht meine Probleme. Also was kümmerten sie mich? Ich hatte

Doch plötzlich sah ich etwas, das mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitete. Ein anderes Schiff näherte sich rasch von Norden her. Für ein Fischerboot war es zu schnell, und die großen, hellen Suchscheinwerfer, die die Dunkelheit zerrissen, ließen keinen Zweifel daran, dass ein Patrouillenboot der US Navy auf uns zusteuerte.

«Was ist das für ein Schiff?», fragte Melba.

«Sieht nach der amerikanischen Marine aus.»

Selbst über die beiden Chrysler-Motoren hinweg hörte ich Melba schlucken. Sie sah noch immer schön aus, aber auch sehr ängstlich. Sie fuhr herum und starrte mich aus weit aufgerissenen braunen Augen an.

«Scheiße, was machen wir denn jetzt?»

«Nichts», sagte ich. «Das Boot da ist vermutlich sehr viel schneller als unseres, und die Leute darauf sind ganz sicher sehr viel besser bewaffnet als wir. Am besten, du gehst nach unten, legst dich ins Bett und bleibst da. Ich regele das schon.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich lass mich nicht verhaften», sagte sie. «Die übergeben mich der Polizei, und –»

«Niemand wird dich verhaften», sagte ich und berührte ihre Wange, um sie zu beruhigen. «Ich schätze, die wollen

Ich nahm Gas weg, legte den Leerlauf ein und trat aus dem Ruderhaus. Als mir der grelle Scheinwerfer direkt ins Gesicht leuchtete und das Patrouillenboot mich immer wieder mit einigem Abstand umkreiste, kam ich mir vor wie King Kong auf dem Wolkenkratzer. Ich ging zum sanft schaukelnden Heck, trank noch was und wartete so gelassen wie möglich darauf, dass sie sich die Ehre gaben.

Nach etwa einer Minute kam ein Offizier in weißer Uniform mit einem Megaphon in der Hand an die Steuerbordseite des Kanonenbootes.

«Wir suchen nach ein paar Matrosen», sagte er auf Spanisch zu mir. «Sie haben im Hafen vom Caimanera ein Boot gestohlen. Ein Boot wie dieses.»

Ich warf die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. «Hier sind keine amerikanischen Matrosen.»

«Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir an Bord kommen und uns ein wenig umsehen?»

Obwohl ich sehr viel dagegen hatte, versicherte ich dem amerikanischen Offizier, dass ich überhaupt nichts dagegen hatte. Widerspruch wäre ohnehin zwecklos gewesen. Auf dem Vordeck des amerikanischen Bootes stand ein Matrose an einem Maschinengewehr Kaliber .50, ein gutes Argument, den Mund zu halten. Also warf ich ihnen ein Tau zu, hängte ein paar Fender raus und ließ sie längsseits an der La Guajaba festmachen. Der Offizier kam mit einem seiner Unteroffiziere an Bord. Über keinen von beiden ließ sich viel mehr sagen, als dass sie schwarze Schuhe trugen und aussahen, wie alle Männer aussehen, wenn man sie eines Großteils ihrer Haare und der Fähigkeit beraubt, eigenständig zu denken. Sie trugen Seitenwaffen und Taschenlampen und rochen schwach nach

«Sonst noch jemand an Bord?»

«Eine Freundin ist in der vorderen Kabine», sagte ich. «Sie schläft. Allein. Der letzte amerikanische Seemann, den wir gesehen haben, war Popeye.»

Der Offizier lächelte gequält und wippte ein wenig auf den Fußballen. «Haben Sie was dagegen, wenn wir uns selbst ein Bild machen?»

«Ganz und gar nicht. Aber lassen Sie mich erst nachschauen, ob die Dame bekleidet genug ist, um Besucher zu empfangen.»

Er nickte, und ich ging nach vorne und unter Deck. Die Kajüte roch nach Feuchtigkeit. Es gab ein Klosett, eine kleine Kabine und eine Doppelkoje, in der Melba lag, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Darunter trug sie immer noch ihren Bikini, und ich war fest entschlossen, ihr dabei zu helfen, ihn auszuziehen, sobald die Amis weg waren und wir den Anker werfen konnten. Nichts hat eine anregendere Wirkung als Seeluft.

«Was ist los?», fragte sie ängstlich. «Was wollen die?»

«Ein paar amerikanische Matrosen haben in Caimanera ein Boot geklaut», erklärte ich. «Die suchen nach ihnen. Ich glaube nicht, dass wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen.»

Sie verdrehte die Augen. «Caimanera. Ja, ich kann mir vorstellen, was sie da gemacht haben, die Schweine. So ziemlich jedes Hotel in Caimanera ist ein Bordell. Die casas haben sogar patriotische amerikanische Namen, wie Roosevelt Hotel. Diese Drecksäue.»

Ich hätte mich vielleicht fragen sollen, woher sie das so genau wusste, aber in diesem Moment schien es mir wichtiger, die Amerikaner schnellstmöglich wieder loszuwerden, statt

«Das scheint mir kaum der Fall zu sein.» Sie zuckte die Schultern. «Lass sie trotzdem reinkommen.»

Ich ging zurück an Deck und bedeutete den Männern mit einem auffordernden Nicken, hinunterzusteigen.

Sie schlurften durch die Kajütentür und liefen vor Verlegenheit rosa an, als sie Melba im Bett sahen, und wenn ich sie dabei nicht amüsiert beobachtet hätte, dann wäre mir vielleicht entgangen, dass der Unteroffizier sie kurz anstarrte und gleich darauf noch einmal fixierte, aber diesmal nicht aus dem Grund, dass er sich ein Foto von ihr neben seiner Hängematte wünschte. Die beiden waren sich schon mal begegnet. Da war ich mir sicher, und er war sich auch sicher, und als die Amis zurück ins Ruderhaus gingen, zog der Unteroffizier seinen Vorgesetzten beiseite und flüsterte ihm etwas zu.

Als ihr Gespräch hitziger wurde, überlegte ich, ob ich mich einmischen sollte, doch dann öffnete der Offizier die Knöpfe am Holster seiner Seitenwaffe, was mich veranlasste, ans Heck zu gehen und mich in den Anglersessel zu setzen. Ich glaube, ich lächelte sogar dem Mann an dem 50-Kaliber-Teil zu, aber plötzlich fand ich, dass der Anglersessel wie ein elektrischer Stuhl aussah und sich auch so anfühlte, deshalb stand ich wieder auf und setzte mich auf die Eiskiste, die zweitausend Pfund Eis fasste. Cool bleiben. Wenn Fische oder Eis in der Kiste

Als der Offizier zurück zum Heck kam, glänzte in seiner Hand ein .45er Colt. Entsichert. Die Waffe war nicht auf mich gerichtet, noch nicht. Aber sie sollte verdeutlichen, dass es keinen Raum für Verhandlungen geben würde.

«Sir, ich fürchte, ich muss Sie beide leider bitten, mich zurück nach Guantánamo zu begleiten», sagte er höflich, fast so, als hätte er keine Schusswaffe in der Hand. Wie ein echter Amerikaner eben.

Ich nickte bedächtig. «Darf ich fragen, warum?»

«Das werden Sie erfahren, wenn wir in Gitmo sind», entgegnete er.

«Wie Sie meinen, Sir.»

Er winkte zwei Matrosen heran und bedeutete ihnen, an Bord zu kommen, was mir nur recht war, denn die beiden platzierten sich zwischen mich und Maschinengewehr. Da hörten wir einen lauten Knall: ein Pistolenschuss, der aus der vorderen Kabine kam. Ich sprang auf und erkannte im selben Moment, dass das keine gute Idee war.

«Lasst ihn nicht aus den Augen», brüllte der Offizier und ging unter Deck, um nachzusehen, was los war, während ich zurückblieb – mit zwei Colts, die auf meinen Bauch gerichtet waren, und einem .50er Maschinengewehr, das auf mein Ohrläppchen zielte. Ich setzte mich wieder in den Anglersessel, der kreischte wie eine Kettensäge, als ich mich darin zurücklehnte, um in die Sterne zu blicken. Man musste nicht Madame

Wie sich herausstellte, verhießen die Sterne auch für den amerikanischen Unteroffizier nichts Gutes. Als er an Deck getaumelt kam, glich er dem Karoass oder vielleicht auch dem Herzass: Genau in der Mitte seines weißen Hemds prangte ein kleiner roter Fleck, der vor unseren Augen größer zu werden begann. Einen Moment lang schwankte er benommen, dann fiel er plump auf den Hintern. Eigentlich sah er genauso aus, wie ich mich gerade fühlte.

«Ich bin angeschossen», sagte er überflüssigerweise.

KUBA 1954

Etliche Stunden später. Der angeschossene Unteroffizier war ins Krankenhaus von Guantánamo gebracht worden, Melba lief sich ihre Stilettos in einer Gefängniszelle ab, und ich hatte meine Version der Geschichte erzählt, zweimal. Ich hatte Kopfschmerzen, aber das war mein geringstes Problem. Wir saßen zu viert in einem feuchten, stickigen Büro im Quartier der US-Navy-Polizei. Polizisten in Matrosenanzügen. Die drei, die sich angehört hatten, was ich zu sagen hatte, schienen meine Geschichte auch beim zweiten Mal nicht besonders glaubwürdig zu finden. Sie rutschten mit ihren fetten Hinterteilen auf überforderten Stühlen herum, zupften gelangweilt winzige Fädchen und Fusseln von den makellosen weißen Uniformen und glotzten auf die Spitzen ihrer glänzenden schwarzen Schuhe, in denen sich ihre Gesichter spiegelten. Es war wie ein Verhör durch ein Gewerkschaftsgremium der Krankenpfleger.

Es war still im Raum, bis auf das Summen der Neonleuchten an der Decke und das Klackern einer Schreibmaschine von der Größe der USS Missouri. Jedes Mal, wenn ich eine Frage beantwortete und der Navy-Bulle in die riesigen Tasten haute, hörte es sich an, als würden irgendwem die Haare mit einer sehr großen und sehr scharfen Schere geschnitten. Vermutlich mir.

Der hellblaue Resopaltisch, auf dem Zigaretten zahllose kaffeebraune Brandflecken hinterlassen hatten, war mit Akten übersät. Dazwischen lagen zwei Schusswaffen mit kleinen Schildchen am Abzugbügel, als würden sie zum Verkauf angeboten. Eine davon war die kleine Beretta-Taschenpistole, mit der Melba auf den Unteroffizier geschossen hatte; die andere war eine Colt-Automatikpistole, die man ihm einige Monate zuvor gestohlen hatte und mit der Hauptmann Balart vor dem Hotel Ambos Mundos in Havanna erschossen worden war. Neben den Akten und Pistolen lag mein blau-goldener argentinischer Pass, und von Zeit zu Zeit nahm Captain Mackay, der Navy-Bulle, der die Vernehmung leitete, ihn zur Hand und blätterte erstaunt darin herum, als wäre es für ihn schier unfassbar, dass jemand durchs Leben gehen konnte, ohne ein Bürger der USA zu sein. Schwer zu sagen, was an Captain Mackay unerträglicher war: seine Fragen oder sein Mundgeruch. Jedes Mal, wenn sich sein rundes, bebrilltes Gesicht dem meinen näherte, nahmen mir die säuerlichen Ausdünstungen seiner Zahnfäule den Atem, und nach einer Weile fühlte ich mich, als steckte ich zerkaut, aber nur halb verdaut tief in seinen Yankee-Därmen.

Mackay sagte mit unverhohlener Verachtung: «Was Sie uns da erzählen, dass Sie sie erst vor zwei Tagen kennengelernt

«Das ist richtig.»

«Und dennoch behaupten Sie, praktisch nichts über die Frau zu wissen.»

«In meinem Alter ist es besser, nicht zu viele Fragen zu stellen, wenn eine hübsche junge Frau bereit ist, mit einem wegzufahren.»

Mackay lächelte dünn. Er war um die dreißig, zu jung, um das Interesse eines älteren Mannes an jungen Frauen nachvollziehen zu können. An seinem Wurstfinger trug er einen Ehering, und ich stellte mir irgendein patentes Mädchen mit Dauerwelle und einer Rührschüssel unter dem molligen Arm vor, die zu Hause, in einem Stabilbaukastenhäuschen auf einer trübseligen Navy-Basis, auf ihn wartete.

«Soll ich Ihnen sagen, wie ich die Sache sehe? Ich glaube, Sie waren auf dem Weg in die Dominikanische Republik, um Waffen für die Rebellen zu kaufen. Das Boot, das Geld, das Mädchen, das passt alles.»

«Da reimen Sie sich was zusammen, Captain. Ich bin ein geachteter Geschäftsmann. Ich bin recht wohlhabend und habe eine schöne Wohnung in Havanna. Ich arbeite in einem Hotelkasino. Ich bin wohl kaum der Typ, der die Kommunisten unterstützt. Und die Frau? Sie ist bloß eine chica

«Mag sein. Aber sie hat einen kubanischen Polizisten ermordet. Und um ein Haar einen meiner Männer.»

«Und wennschon. Haben Sie vielleicht gesehen, dass ich auf irgendwen geschossen habe? Ich bin nicht mal laut geworden. In meiner Branche sind Mädchen, Mädchen wie Melba,

«Oh doch, wenn sie auf Ihrem Boot auf einen Amerikaner schießt.»

«Aber ich wusste ja nicht mal, dass sie eine Waffe dabeihatte. Hätte ich es gewusst, hätte ich die Pistole sofort über Bord geworfen. Und das Mädchen gleich mit. Und wenn ich auch nur geahnt hätte, dass sie unter dem Verdacht steht, einen Polizisten ermordet zu haben, hätte ich Señorita Marrero nie und nimmer eingeladen, mich zu begleiten.»

«Ich will Ihnen mal was über Ihre kleine Freundin verraten, Mister Hausner.» Mackay musste aufstoßen, was er längst nicht so erfolgreich unterdrückte, wie mir lieb gewesen wäre. Er nahm seine Brille ab und hauchte die Gläser an, die erstaunlicherweise nicht zersprangen. «Ihr richtiger Name ist Maria Antonia Tapanes, und sie war eine Prostituierte in einer casa in Caimanera, wo sich ihr die Gelegenheit bot, eine Pistole zu entwenden, die Officer Marcus gehörte. Daher erkannte er sie wieder, als er sie auf Ihrem Boot sah. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie von den Rebellen darauf angesetzt wurde, Hauptmann Balart zu ermorden. Das heißt, eigentlich sind wir uns dessen sicher.»

«Es fällt mir sehr schwer, das zu glauben. Mir gegenüber hat sie Politik nie erwähnt. Sie schien eher daran interessiert, sich zu amüsieren, als eine Revolution anzuzetteln.»

Der Captain schlug eine der Akten vor ihm auf und schob sie mir hin.

«Es ist so gut wie erwiesen, dass Ihre Gespielin schon seit geraumer Zeit als Kommunistin und Rebellin aktiv ist. Wie Sie in den Unterlagen sehen, hat Maria Antonia Tapanes