Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009
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ISBN Printausgabe 978-3-499-22444-7 (11. Auflage 2008)
ISBN E-Book 978-3-644-40681-0
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FÜR KATRIN, SUSANNE UND MICHAEL
Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch gethan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen thun werde.
G.E. Lessing (1729–1781), Hamburgische Dramaturgie, 19. Stück
Niemand ist eine Insel
John Donne (1572–1631)
Die Nacht duftete süß. Der Frühling war warm gewesen, und der Wind, der von Clifton herunterwehte, verriet, daß Jasmin und Geißblatt in voller Blüte standen. Im Llandoger Trow nahe dem Bristoler Hafen war davon allerdings nichts zu merken. In der Schenke roch es nach Bier, saurem Wein und scharfem Tabak. Zwei betrunkene Seeleute aus Liverpool ließen sich von einem Korkschneider beim Würfeln betrügen, ein Tuchmachergeselle stritt tapfer mit drei Kattundruckern, ob Leinen nicht doch der Baumwolle vorzuziehen sei, zwei Kutscher lamentierten über die rapide kürzer werdende Lebensdauer ihrer Pferde, seit die verbesserten Straßen das Reisen immer schneller machten, und in einer Ecke beim Kamin fütterten Liz und Betty ihr schwarzweißes Hündchen mit einem fettigen Fetzen Hammelfleisch und warteten auf Kundschaft.
Es war ein ganz gewöhnlicher Abend im Llandoger Trow, und Elsi, das Schankmädchen, begann sich zu langweilen. Doch dann, als die Schenke sich schon leerte, wurde es in der Ecke neben der Tür zur Küche plötzlich laut. Der Fremde, ein wirklich schöner, wenn auch ein wenig dunkler Herr aus London, hatte lange allein an einem kleinen Tisch gesessen, vom teuersten Port getrunken, und obwohl sein Blick immer wieder träge durch den spärlich beleuchteten Raum glitt, schien es, als würde er nichts von dem wahrnehmen, was in der Schenke vor sich ging. Nicht einmal Elsi, der doch sonst alle Gäste nachsahen. Sie hatte ihn schließlich nicht mehr beachtet. Der Wirt, immer neugierig auf Nachrichten, hatte sich zu dem Fremden gesetzt, sie hatten eine Weile leise miteinander gesprochen, und nun wurden sie plötzlich laut.
Der Mann widersprach dem Wirt entschieden. Es stimme einfach nicht, sagte er, und es klang bei aller Schärfe äußerst herablassend, daß Mr. Defoe jenen Matrosen, nach dessen Erlebnissen er seinen berühmten Roman «Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe» schrieb, in dieser Schenke getroffen habe. Sein Vater sei mit Mr. Defoe in London gut bekannt gewesen, weshalb er getrost sein Stadthaus am Cavendish Square darauf wetten wolle, daß Mr. Defoe die Geschichte nicht hier, sondern im Wild Indian nahe der Seefahrer-Kirche St. Mary Redcliffe gehört habe.
Schade, dachte Elsi, die auf echte Neuigkeiten gehofft hatte, nur wieder die alte Geschichte, und begann lustlos, die Dielen unter dem ewig tropfenden Bierfaß zu wischen. Aber Joe Kelly, der Wirt des Llandoger Trow, war erbost. Seine Stirnadern schwollen gefährlich an.
«Eine infame Lüge!» brüllte er. Ganz gewiß bezahle Plummer, diese Ratte von Wirt des Wild Indian, gut für diese Schurkerei. Ganz gewiß!
So ging es hin und her, obwohl Joe tatsächlich nicht ganz sicher wußte, ob die Sache mit Mr. Defoe doch nur der geschäftstüchtigen Phantasie seines Vaters entsprungen war, aber das gab er nicht einmal vor sich selbst zu. Die Legende von Mr. Defoes Besuchen im Llandoger Trow lebte nun schon seit vier Jahrzehnten, allein deshalb war sie so gut wie die Wahrheit. Auf alle Fälle war sie gut fürs Geschäft. Und die Mär, er selbst, Joe, habe als achtjähriger Knirps dem berühmten Schriftsteller Ale und Lammkeule serviert, brachte ihm viele vornehme, des Lesens und Schreibens kundige Gäste in seine ziemlich düstere Schenke. Dumm, wie reiche Leute nun mal waren, zahlten sie willig den doppelten Preis für alle Speisen und Getränke, wenn sie ihnen nur von Joe persönlich auf den klebrigen Holztisch gestellt wurden. Nie hatte jemand die Geschichte angezweifelt. Und das Bild an der Wand hinter dem Schanktisch, von Kaminruß und Schenkendunst geschwärzt, wurde ehrfürchtig als das Porträt jenes Alexander Selkirk bewundert, der viele Jahre ganz allein auf einer einsamen Insel Hunderte von Meilen vor der peruanischen Küste verschollen gewesen war. Es war schon so lange her, seit Joe das dilettantische Werk einem hungrigen Seemann gegen einen Teller Suppe und einen Becher Branntwein getauscht hatte, daß er es beinahe selbst glaubte. Und nun kam dieser feine Besserwisser und verbreitete Unsinn.
«Lügen», rief er wieder, «ganz gewiß …»
Elsi konnte nicht mehr hören und sehen, was dann geschah, denn just in dem Moment steckte Kate, Joes Frau, den Kopf aus der Küchentür.
«Steh nicht rum und gaff die Männer an, Mädchen, mach dich an die Arbeit», rief sie so dröhnend, daß selbst die beiden Streithähne für einen Moment innehielten. «Schnell, du wirst im Theater gebraucht», und schon war sie wieder in der Küche verschwunden.
Das Theater. Die silberne Haarspange, ihr einziges Stück von einigem Wert, hätte Elsi dafür gegeben, heute abend dort sein zu dürfen. Aber der Eröffnungsabend des neuen Theaters war nicht für Schankmädchen, und Kate hatte ihr nicht einmal erlaubt, auch nur für ein paar Minuten hinüberzulaufen, um wenigstens zuzuschauen, wie die Kutschen und Sänften sich vor dem Theater drängten, wie all die Herren und Damen, die Glücklichen, die ein Billett ergattert hatten, in ihren schönsten Kleidern das nagelneue Haus betraten. «Gaffen kannst du, wenn du alt bist», hatte Kate geknurrt, «jetzt wird gearbeitet.»
Nicht mehr lange, hatte Elsi trotzig gedacht, und sie konnte sich so viele Theaterbilletts kaufen, wie sie mochte. Und ein Kleid aus feinstem indischem Kattun voller Goldfäden, Schuhe aus Seide, Federn und Spitze für das Haar, gut genug für die beste Loge. Aber das wußte niemand.
Als sie vor ein paar Wochen, fremd in der Stadt und ohne einen Penny in der Tasche, an die Tür klopfte, hatten Joe und Kate sie, ohne viel zu fragen, aufgenommen. Sie beherrschte kaum ihre Sprache, aber die beiden gaben ihr einen Strohsack unter dem Dach und zwei, manchmal drei Mahlzeiten täglich und ab und zu ein freundliches Wort. Dafür mußte sie vom frühen Morgen bis in die Nacht im Haus und in der Schenke arbeiten. Das störte Elsi nicht, sie war keine, die sich auf der faulen Haut wohl fühlte, und wenn die Kerle nicht gerade gar zu unverschämt waren, machte ihr die Arbeit in der Schenke Vergnügen. Doch Elsi hatte Pläne. Für die lernte sie, wann immer sich eine Gelegenheit ergab, die Sprache dieses Landes, und sie lernte schnell. Aber für ihre Pläne brauchte sie auch Geld, mehr, als sie als Schankmagd jemals bekommen konnte. Sie vertraute auf ihr Glück, und dann, vor sieben Tagen, war es ihr begegnet. Bald würde sie genug haben, um fortzugehen. Nach London. Oder doch noch wie die anderen, die mit ihr in diese Stadt gekommen und auf dem nächsten Schiff weitergereist waren, nach den amerikanischen Kolonien. Aber ganz sicher nicht zurück …
Kates laute Stimme riß sie aus ihren Gedanken. «Wo bleibst du? Vorhin wolltest du doch unbedingt zum Theater rennen. Nun darfst du sogar hinter die Bühne.»
Das hagere Gesicht der Wirtin verzog sich zu einem wohlwollenden Grinsen. Sie mochte das Mädchen, die Kleine war sauber und fleißig, ihre gute Laune steckte alle an, und sie verstand es, mit den Gästen freundlich zu sein, ohne sich ihnen, wie Liz und Betty, anzubieten. Elsi, da war Kate sicher, würde nicht wie sie selbst in einer Schenke hängenbleiben.
Sie zeigte auf einen großen, mit einem Leintuch bedeckten Korb auf dem Küchentisch. «Die Aufführung ist zu Ende, die Leute sind fort, nur einige der Damen und Herren Schauspieler und Musikanten sind noch da und haben Hunger. Hätten ja bei uns dinieren können, aber wenn sie lieber auf ihrer staubigen Bühne essen … Daß du mir ja schnell wiederkommst. Da ist viel lockeres Volk dabei, auch wenn sie alle noch so sehr wie vornehme Leute aus London tun.»
Eilig griff Elsi den Korb. Er war schwer, der Geruch von warmem Brot, gekochtem Schinken, Pudding und fetter Rindswurst stieg ihr süß in die Nase. Unterwegs würde Zeit genug sein, ein kleines Stück vom Schinken abzuzupfen.
«Geh zum hinteren Eingang», rief Kate ihr noch nach, «der Bote hat gesagt, der vordere sei schon versperrt. Und paß auf, daß du dem Nachtwächter nicht über den Weg läufst.»
Es ging schon auf Mitternacht. Der Mond verbarg sich hinter dichten Wolken, die Straße lag dunkel und verlassen. In der Tür zögerte Elsi einen Moment – sie hatte die Dunkelheit schon immer mehr gefürchtet als andere –, doch dann trat sie entschlossen auf die Straße. Furcht hatte in ihren Plänen keinen Platz, und es war ja nicht weit bis zum Theater, nur die King Street hinunter und durch den Gang bei Clarksons Lederhandlung zum Hintertor.
«Elsi.»
Der Mann, dem die leise Stimme gehörte, trat aus einer Hofeinfahrt neben der Schenke und versperrte dem Mädchen den Weg.
Vor Schreck hätte sie fast den Korb fallen lassen, aber dann erkannte sie ihn. «Joseph», flüsterte sie ärgerlich, «was machst du hier?»
Er sah sie an und schwieg. Es war klar, was er hier machte. Er wartete auf Elsi, wie schon oft in den letzten Wochen. Den ganzen Abend hatte er gewartet, gehofft, sie würde aus der Schenke treten, einen Korb mit Abendbrot unter dem Arm, auf dem Weg zu einem der nahen Etablissements, in denen reiche Herren und hübsch geputzte, stets etwas zu stark geschminkte Damen sich bei heiterer Musik und allerlei Spielen vergnügten. Aber heute hatte niemand nach einem Abendbrot geschickt. Alle waren im neuen Theater gewesen.
«Geh nach Hause», flüsterte Elsi und zog schnell die Tür hinter sich zu, «ich bin in Eile. Und sieh mich nicht so an. Ich werd meine Meinung nicht ändern.»
Er nickte bedächtig. Elsi spürte Ungeduld, wie immer, wenn sie dem jungen Glasbläser gegenüberstand. Man wurde steinalt, bevor er nur einen Satz herausbrachte.
«Geh nach Hause», flüsterte sie noch einmal, «und vergiß mich einfach.»
Wieder nickte er gehorsam. «Gleich», sagte er dann mit seiner tonlosen, stets etwas rauhen Stimme. «Das hier ist zum Abschied. Nur zum Abschied.»
Damit du mich nicht vergißt, wollte er hinzufügen, aber das tat er nicht. Er hielt ihr ein schmales, in blaues Tuch gewickeltes Päckchen entgegen. Elsi zögerte, dann nahm sie es rasch und schob es in die Tasche ihrer Schürze. Joseph war ein netter Mann, aber sie liebte ihn nicht, jedenfalls nicht genug, um für ihn ihre Pläne aufzugeben.
«Leb wohl», flüsterte sie, und weil er ihr leid tat, strich sie im Davoneilen flüchtig über seine Wange.
Bevor sie an der Lederhandlung vorbei in den Gang schlüpfte, der zum Hintertor des Theaters führte, sah sie sich noch einmal um. Sie war sicher, Josephs Schritte hinter sich gehört zu haben, aber nun war er verschwunden. Eigentlich, fand sie, hätte er ihr den schweren Korb tragen können. Aber auf solche Ideen kam er nie, er war eben ein Glasbläser und kein Gentleman.
In dem Gang war es noch dunkler als auf der Straße. Sie sah zu den Fenstern des neuen Gebäudes hinauf, auch dort entdeckte sie keinen Lichtschimmer. Was war das für eine Premierenfeier, ohne Licht, ohne Musik, ohne laute, fröhliche Stimmen? Eine nachtkühle Bö fegte vom Avon herauf und wirbelte ein paar welke Blüten in den Gang, aus dem Garten hinter dem Haus des Lederhändlers duftete es nach Flieder, irgendwo klapperte ein hölzernes Fenster gegen seinen Rahmen. Sonst nichts. Wo war nur das Hintertor? Der Korb wurde immer schwerer. Als Elsi gerade die Suche aufgeben wollte, entdeckte sie eine schmale Tür. Sie war tatsächlich nicht verschlossen, und Elsi schlüpfte trotz ihrer schweren Last flink in den dahinterliegenden Gang. An seinem Ende gab eine Öllampe mattes Licht, und das Mädchen seufzte erleichtert. Sie war nicht sicher, ob sie genug Mut gehabt hätte, in einem stockdunklen fremden Haus nach den Komödianten zu suchen.
Aber nun konnte sie sie doch hören. Schwach nur, sie mußten am anderen Ende des Hauses sein. Elsi hörte eine hohe weibliche Stimme, eine tiefere lachte, ein Cembalo wurde angeschlagen, eine Violine angestrichen, und dann begann jemand zu singen. Elsi war nicht sicher, ob sie tatsächlich erwartet wurde, vielleicht hatte sich nur jemand mit Kate einen Scherz erlaubt. Aber das war ihr egal. Sie konnte endlich das Theater betreten, mehr noch, sie würde die Schauspieler treffen, vielleicht war sogar Mr. Garrick noch da, der berühmteste im ganzen Land und extra zu diesem großen Ereignis aus London angereist. Oder Mr. Powell, einer der Direktoren, von dem Liz gesagt hatte, daß er ein charmanter Herr sei und immer auf der Suche nach jungen Talenten.
Es war nun wieder dunkel, die Gänge erschienen Elsi wie ein Labyrinth, aber sie mußte ja nur den Stimmen folgen, die jetzt immer klarer wurden. Sie stieg, so schnell sie konnte, eine steile Treppe hinauf, das Knarren der Stufen erschien ihr seltsam, als habe es ein Echo. Die blöde Liz, dachte sie ärgerlich. Hätte sie mir doch nicht dieses Märchen von den Geistern erzählt, die in jedem Theater wohnen und dafür sorgen, daß keine fremden Künstler die angestammten verdrängen.
Die Stimmen schienen nun wieder leiser zu werden, und so sehr sie sich auch dagegen wehrte, Elsi begann sich zu fürchten. «Hallo», rief sie. «Hal …»
Das Wort blieb in ihrem Hals stecken, eine feste Hand hatte sich auf Elsis Mund gelegt, sie spürte einen Körper, der sie durch eine enge Tür in die Schwärze eines dunklen Raumes drängte. Es war plötzlich ganz still, atemlos still. Das letzte, was Elsi hörte, war ein trockenes Knacken.
Schon eine halbe Stunde später wurde Elsi gefunden. Ein junger, hungriger Schauspieler hatte sich auf die Suche nach der Schankmagd mit dem Abendessen gemacht. Er kannte sich in dem neuen Gebäude gut aus, und das matte Licht einer Talgkerze genügte ihm. Es war allerdings nicht das Licht, das ihm half, Elsis toten Körper zu finden. Der gute Duft des Schinkens, der aus dem fallenden Korb auf die Dielen gerollt war, lockte ihn in die kleine Kammer.
Wer weiß, vielleicht hätten sie ihn als Mörder gehängt, irgend jemand mußte ja schuldig sein. Und obwohl sie keine Bristolerin war, hatten alle in der King Street Elsi gern gehabt. Wer also sollte ihren Tod wünschen?
Der Schauspieler hatte Glück, sie faßten den Mörder schnell. Ein kostbares blaues Glas, dessen Scherben sie, in ein blaues Tuch gehüllt, in Elsis Schürzentasche fanden, war der Beweis. Ein junger Glasbläser war es gewesen. Das Glas stammte aus der Werkstatt seines Meisters, er hatte es gestohlen, was schon Verbrechen genug war, und der Nachtwächter war ihm am Ende der King Street über den Weg gelaufen, just als der Schauspieler aus einem Fenster des Theaters nach der Wache schrie.
Joseph beteuerte noch unter dem Galgen seine Unschuld, doch niemand glaubte ihm. Nicht einmal der Pastor, der ihn 19 Jahre zuvor getauft hatte und nun auf seinem letzten Gang begleitete.
Hamburg, im Oktober 1767
Die Stadt sah wie frisch gewaschen aus, und das war sie auch. Tagelang hatte der prasselnde Regen den Sommerstaub von den Dächern gespült, hatten stürmische Böen Unrat und alles, was nicht fest gebaut oder angebunden war, von Straßen, Plätzen und Höfen in die Fleete und Flüsse geweht. Die alten Ulmen auf den Wällen und die Linden auf dem Jungfernstieg reckten ihre gerupften, nun schon fast nackten Äste in den Himmel.
Die junge Frau im nachtblauen Mieder sah stirnrunzelnd an ihrem ehemals weiß und lavendelfarben gestreiften Rock hinunter. Der braune Morast und das schlammige Wasser der Pfützen, die viele Straßen der Stadt immer noch bedeckten, hingen schwer und klebrig bis weit über den Saum in dem feinen Kattun. Natürlich war es leichtsinnig gewesen, heute morgen ihren schönsten Rock anzuziehen. Aber wie wunderbar, daß Regen und Sturm sich endlich eine andere Stadt gesucht hatten! In den letzten Tagen hatte sie sich wie ein Vogel im Käfig gefühlt, und der erste Morgen ohne diese kalten Sturzbäche war wie ein Fest. Das war einen schmutzigen Rock wert. Sie blinzelte in die Sonne und sah über die innere Alster, auf der sich das Licht glitzernd in kleinen, mutwillig hüpfenden Wellen fing. Die roten Dächer am westlichen Ufer leuchteten im klaren Morgenlicht, und die schwarzen der beiden Mühlen links und rechts der Lombardsbrücke zwischen den Bastionen Dedericus und David schimmerten wie Samt. Selbst die Schreie der hoch über dem Wasser tanzenden Möwen klangen ausgelassen der Sonne entgegen.
In der vergangenen Nacht hatte der sintflutartige Regen endlich aufgehört. Mit dem Sonnenaufgang riß die bleierne Wolkendecke, verwandelte sich in aufgeplusterte Gebilde, die, weiß und grau mit kleinen schwarzblauen Fetzen, immer weiter aufzusteigen schienen. Plötzlich war der Himmel über Hamburg nicht mehr bedrohlich, plötzlich war er hoch und hell, die Sonne, genauso geputzt wie die Dächer, überschüttete die Stadt mit diesem goldenen Herbstlicht, das die Seele weit macht und sehnsüchtig, genau wie das erste Grün des Frühlings. Die frische, klare Luft war belebend wie junger Wein. Immer noch wehte Wind, aber nun war er sanft, als habe er sich müde getobt und schlendere nur noch ein wenig herum, um der Sonne, die sich so lange verborgen hatte, Gesellschaft zu leisten.
Alles, was Beine hatte, egal ob zwei oder vier, drängte sich in den Straßen. Auf den Wäscheleinen über den Gängen flatterten Kleider, Decken, Kissen und Leinzeug. Alles, was in den letzten Tagen feucht und muffig geworden war, dehnte und glättete sich in der wärmenden Sonne. Niemand schien sich daran zu stören, daß die meisten Wege in der Stadt noch so morastig waren, Kinder, ob in Lumpen oder im Samtjäckchen, sprangen mit schrillem Geschrei über die großen Wasserlachen, und wer nicht zu Pferd, in einer Kutsche oder Sänfte den ersten sonnigen Tag begrüßen konnte, stapfte in klobigen, strohgepolsterten Holzschuhen durch die Pfützen.
Auch Rosina, die junge Frau, die ihren schmutzigen Rock nun ein wenig höher raffte, als es an normalen Tagen schicklich war, trug heute Holzschuhe. Sie gehörten ihrer außerordentlich stattlichen Wirtin und waren trotz des dicken Strohpolsters viel zu groß. Wenn sie den Winter in Hamburg mit halbwegs trockenen Füßen überstehen wollte, mußte sie unbedingt ein passendes Paar dieser unförmigen Pantinen kaufen.
Auf dem Jungfernstieg drängten sich die Menschen, bewegten sich in seltsam stockenden Schlangenlinien, hüpften von einer halbwegs trockenen Stelle zur nächsten, und wenn sie Nachbarn oder Freunde trafen, nahmen sie sich doch immer wieder genug Zeit, einander zu versichern, daß Anfang Oktober viel zu früh für so einen Sturm sei, daß man nicht wisse, wie man den Keller und den Schuppen jemals wieder trocken bekomme, oder – mit einem wohlwollenden Blick zur kupfernen Turmspitze von St. Petri – was für ein Glück es sei, daß Petrus nun doch ein Einsehen gehabt habe. Auf den Ufersteinen boten Hökerinnen schon wieder ihre Waren feil, beeilten sich, mit roten Äpfel oder Zimtkringeln, Zitronen, getrocknetem Lavendel, kleinen Puppen aus weißen und braunen Wollfäden oder Windrädern aus Gänsefedern die Verluste der vergangenen Tage wettzumachen.
Rosina besah sich die Menschen, hörte ihnen zu, lauschte auf die Möwen, die Hunde und Pferde, die knarrenden Räder der Karren, Fuhrwerke und Kutschen und fühlte sich wie auf einer großen Bühne. Einer etwas zu vollen Bühne: Gerade wich sie einem hoch mit Kattunballen beladenen Karren aus, als sie unsanft von einem «Platz da!» rufenden Sänftenträger zur Seite geschubst wurde. Die Männer schleppten offenbar einen ebenso schweren wie gut zahlenden Gast, jedenfalls waren sie sehr in Eile.
Rosina stolperte und sprang hastig zur Seite, aber ihren linken Schuh kümmerte das nicht. Der blieb einen Schritt zurück in einer schlammigen Pfütze stecken, und nun stand sie schwankend auf einem Bein, das Gesicht unter den blonden, nur noch mühsam gebändigten Locken ärgerlich gerötet, die schlammbespritzten Röcke mit beiden Händen gerafft. Und während ein vorbeieilender Wasserträger etwas von einem betrunkenen Storch rief, löste sich ihr Schultertuch, glitt langsam, aber unaufhaltsam zu Boden und versank in einer braunen Pfütze.
Ein junger Mann löste sich aus der Menge der lachenden Zuschauer, zog schnell die Pantine aus dem Morast und stülpte sie über Rosinas Fuß in einem ehemals weißen Strumpf.
«Danke», murmelte Rosina, als sie endlich wieder fest auf beiden Beiden stand, «sehr freundlich», und sie starrte auf ihre Füße. Sie war ihm wirklich dankbar, alle anderen hatten nur darauf gewartet, daß sie ganz und gar im Morast landete. Er hatte allerdings vergessen, den Holzschuh auszuleeren. Der Schlamm, kalt, klebrig und graubraun wie angebrannte Gerstengrütze, quoll langsam über ihren Knöchel.
Gerade hatte sie sich noch über die Leute geärgert, die lachend herumstanden, anstatt ihr zu helfen, doch nun mußte sie selbst lachen. Da hatte sie im Morast gestanden, auf einem Bein schwankend, windzerzaust, und tatsächlich, ganz wie es im Lustspiel üblich war, kam auch hier ein rettender – nun, vielleicht kein Prinz, aber doch einer, der ihr die Hand und ihren schlammigen Schuh reichte. Aus dem Ärgernis war eine Komödie geworden, und Rosina Hardenstein, seit drei Wochen im Ensemble des neuen Theaters am Gänsemarkt, hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Irgendwann, da war sie sicher, würde sie diese Szene auf der Bühne nutzen, um damit auch das Publikum zum Lachen zu bringen.
Sie sah dem jungen Mann im braunen Rock nach, aber er war kaum weniger in Eile als die Sänftenträger und schon in der Menge verschwunden, als ihr einfiel, warum er ihr so vertraut erschienen war: Er war der Kattundrucker, der alle Tage am Bühneneingang auf Loretta wartete. Und meistens ließ ihn Loretta, wie Rosina Komödiantin am Hamburger Theater, warten. Wie war nur sein Name? Rosina konnte sich nicht erinnern. Wenn Loretta von ihm sprach, und das tat sie selten, sprach sie nur von dem Kattundrucker. Armer Lukas. Ja, nun erinnerte sie sich doch, so hieß er. Lukas Blank. Wer sich in Loretta verliebte und nichts als ein Kattundrucker war, hatte ziemlich schlechte Karten.
Es waren nur noch wenige Schritte bis zu dem Gang, der zwischen zwei hohen Häusern mit reichen Giebeln vom Gänsemarkt zum Theater führte. Er war schmal, gerade breit genug für eine nicht zu prächtige Kutsche, und von der Art, die an ihrem Ende einen mageren Garten, ein paar Ställe oder eine dieser übelriechenden, labyrinthischen Anhäufungen uralter Häuser und Hütten versprach. In der Tat fand man nach wenigen Schritten von allem ein wenig. Ein paar dünne Bäume, einen Stall für Mietpferde und einige Reihen kleiner Häuser aus nicht mehr ganz geradem Fachwerk, die sich matt aneinanderlehnten. Mittendrin erhob sich stolz das neue Hamburger Nationaltheater. Von denen, die das Schauspiel für ein ganz und gar überflüssiges oder gar sündhaftes Vergnügen hielten, wurde das Haus allerdings als eine etwas zu groß geratene hölzerne Scheune verlacht, deren ärmlichen Eingang ein schrulliger Gutsherr mit zwei dünnen Säulen geschmückt hatte.
Rosina stapfte in den von Nässe und Schlamm schweren Holzschuhen aus dem Gang in den Hof. Das mit der Scheune war tatsächlich nicht ganz falsch. Aber kam es bei einem Theater etwa auf die äußere Pracht an? Selbst das sächsische Hoftheater in Dresden hatte nur eine bescheidene Fassade, und niemandem würde einfallen, seinen Besitzer, den sächsischen Kurfürsten, als ärmlichen Mann zu bezeichnen.
Mit seinem ebenfalls recht schlichten Innenraum allerdings unterschied sich das Hamburger Theater erheblich von der goldenen Pracht des sächsischen. Aber egal, es war doch ein richtiges Theater mit einer großen Bühne, mit raffinierten Kulissen, Flugwerken und Windmaschinen, mit Logen und Galerie. Es war prächtiger als jede Bühne, auf der Rosina zuvor gestanden hatte.
Sie sah an dem hohen, breitgiebeligen Gebäude hinauf und seufzte. Alle Fenster waren weit geöffnet, auch im Theater roch es nach der regenschweren Zeit feucht und muffig, trotzdem war keine einzige streitende Stimme zu hören. Das war zwar ungewöhnlich, geradezu beunruhigend, aber doch sehr angenehm. Vielleicht, dachte sie, war einfach noch niemand da. Aber nein, da flog der helle, etwas näselnde Klang einer Oboe herüber. Rosina war nicht sicher, ob die leichte Melodie aus einem der Theaterfenster oder mit dem sanften Wind von den Häusern bei den Kalkhöfen am Alsterufer kam. Von denen, die dort lebten, würde allerdings kaum jemand eine Oboe besitzen.
Am Bühneneingang an der Rückseite des Gebäudes schlüpfte sie aus Holzschuhen und Strümpfen, schöpfte Wasser aus der randvollen Regentonne und wusch ihre Füße. Ihr nun schlammbraunes Schultertuch, das kostbare Abschiedsgeschenk von Helena, würde bis zum Abend auf ein Bad warten müssen.
Die zwölf Männer, die das Theater vor einem halben Jahr gepachtet und unter dem stolzen Titel Hamburger Nationaltheater neu eröffnet hatten, hatten hier die besten Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem ganzen Land versammelt. Als Monsieur Seyler, der Direktor, im August auch bei der Beckerschen Komödiantengesellschaft auftauchte, um Rosina nach Hamburg zu engagieren, hatte sie der großen Ehre nicht widerstehen können. Sie verließ die Beckersche Komödiantengesellschaft, mit der sie sieben Jahre durch die deutschen Länder gezogen war. Seither war kein Tag vergangen, an dem sie diese Entscheidung nicht wenigstens für einen kleinen Moment bereut hatte.
Sie lief die Treppe hinauf, die Tür zur Garderobe der Frauen stand weit offen. In dem länglichen Raum sah es aus, als erwarte er eine Inspektion. Alle Kostüme hingen in seltener Ordnung auf den langen Stangen an der hinteren Wand, die Körbe mit Hüten, Miedern und Bändern, Schals, Schuhen und Flitter waren akkurat verschlossen, sogar die Tiegel und Dosen mit Schminke und Fett standen aufgereiht wie Zinnsoldaten auf den Tischen an der Wand zwischen den Fenstern.
Rosina sah die glänzenden bunten Stoffe, atmete den Duft von Staub, Puder und Farben, den es nur in einer Theatergarderobe gab, und wußte, daß sie es ganz bestimmt noch ein wenig aushalten wollte.
Die Garderobe hatte zwei Türen, eine – durch die Rosina gerade hereingekommen war – führte zum Flur und über eine Treppe zum hinteren Ausgang. Durch die zweite, etwas breitere am anderen Ende des Raumes gelangte man zu den Gängen hinter den Kulissen und auf die Bühne. Von dort hörte Rosina nun doch leise Stimmen. Jedenfalls waren sie am Anfang leise, und sie beachtete sie nicht. Aber gerade, als sie beschloß, ein wenig in dem Kasten mit den Textbüchern zu stöbern anstatt ihrer Pflicht nachzukommen und die Kostüme für die heutige Aufführung auf Risse und Löcher zu untersuchen, wurden die Stimmen lauter. Rosina vergaß Textbücher und Kostüme, spitzte die Ohren und öffnete, da man durch verschlossene Türen nun mal schlecht lauschen kann, behutsam die Tür.
Die helle Stimme mit dem leichten, aber eindeutigen französischen Akzent gehörte Loretta, die vollere Madame Hensel. Vorsichtig trat Rosina einen Schritt in den Flur. Die Stimmen kamen aus dem Bureau der Direktion, und nun mischte sich eine Männerstimme ein, wurde lauter, übertönte die der Frauen und sprach schließlich allein.
«Meine liebe, verehrte Madame Hensel, ich bitte Euch. Natürlich war es ein wenig übereilt von unserem guten Löwen, natürlich hätte er sich zuerst unseres Einverständnisses versichern müssen, bevor er Mademoiselle Grelot, unserer lieben Loretta, die Rolle gab. Nein, Loretta, Ihr seid jetzt still. Ein wenig übereilt, sagte ich. Aber, Madame, auch wenn man die Sache gründlich überdenkt, so ist es zwar eine Hauptrolle, aber doch keine so bedeutende. Ihr spielt an dieser Bühne alle großen Heldinnen, und zwar von Anfang an und ganz gewiß auch in Zukunft, daran wird niemand zu rühren wagen, aber diese ist, wie ich schon sagte, keineswegs so bedeutend, daß Ihr auch sie unbedingt mit Eurem Genie füllen müßt.»
Rosina, auf ihren nackten Füßen geräuschlos, hatte nun das Fenster erreicht, durch das aus dem sonnenhellen Bureau ein wenig Licht in den dämmrigen Gang fiel. Die Stimme gehörte Abel Seyler, einem der zwölf Hamburger Kaufleute, die das Theater im Frühling gepachtet und neu eröffnet hatten. Anders als die meisten von ihnen, die sich nur als stille Teilhaber verstanden, war er wie ein leibhaftiger Direktor alle Tage da. Er hatte stets Gewinn, Verlust und alles, was die Kasse berührte, im Auge. Und Madame Hensel. Das wußte jeder, auch wenn – bisher – kaum darüber gesprochen wurde.
In einem staubigen Sessel nahe einem unordentlich mit Papieren vollgestopften Regal saß Johann Friedrich Löwen, ein etwas blasser Mann mit großen grauen Augen. Er hatte einst in Göttingen die Rechte studiert und war schließlich, als ihm das Geld für die Universität ausging, zum Wandertheater gegangen und zu einigem Ruhm gelangt. Nun, in seinem 38. Jahr, war er nach Hamburg als künstlerischer Primus berufen worden. Bei allem blieb er ein Dichter mit dem Kopf voller Ideale und dem festen Glauben an eine Bühnenkunst, die die Menschen nicht nur zu amüsieren, sondern vor allem moralisch zu bessern vermöge. Er war an diesem Theater, um für die Kunst zu kämpfen. Seyler und Löwen waren deshalb selten einer Meinung.
Madame Hensel war, während Seyler sprach, unruhig auf und ab gegangen und blieb nun stehen. Sie zupfte mit zierlich gespreizten Fingern an den kleinen Löckchen, die sich über den Schläfen aus der hohen, schon um diese Tageszeit perfekt gepuderten Frisur gelöst hatten, und ihre fest aufeinandergepreßten Lippen wurden ein wenig weicher.
«Das mag alles sein», auch ihre Stimme klang nun wärmer, «aber in meinem Vertrag steht, daß ich über die Besetzung der großen Rollen mitzuentscheiden habe. Glaubt Ihr, ich hätte sonst meine Ohren vor dem Ruf aus Wien – und es war ein ehrenvoller Ruf! – verschlossen, um hierzubleiben? In dieser Stadt am Ende der zivilisierten Welt, deren Bürger man zur Kunst erst erziehen muß? Glaubt Ihr …»
Seyler, der die erste Heldin des Hauses besser, sogar sehr viel besser kannte als alle anderen, von Monsieur Hensel vielleicht einmal abgesehen, fiel ihr ins Wort, bevor sie sich wieder in heißen Zorn reden konnte.
«Aber, meine Verehrte!» Er trat vor das Fenster, und Rosina sah leider nichts mehr als seinen Rücken und die beschwichtigend erhobenen Arme. «Wir alle wissen um Eure große Bedeutung für die Kunst in unserem Land, für die Kunst in der ganzen christlichen Welt. Aber Ihr könnt nicht alle großen Rollen spielen, jaja, ich weiß, die eine oder andere spielt Mademoiselle Mercour oder die allseits verehrte Madame Löwen. Aber Ihr, nur zum Exempel, seid Voltaires Semiramis, Merope und Lindane, Destouches’ Celiante und Henriette, seid Lessings Sara und die unvergleichliche, wenn auch nicht sehr lukrative Minna, Corneilles Elisabeth und Cleopatra. Ihr seid die Heldinnen Molières und Goldonis. Welch ungeheurer Reichtum an Rollen von hoher Kunst! Doch gerade weil Ihr so unvergleichlich seid, meine liebe Verehrte, wird es Euch und Euren Ruhm nicht im geringsten beeinträchtigen, diese eine Rolle einer jüngeren Kollegin zu überlassen, die noch so viel von Euch lernen kann …»
Madames Blick traf ihn wie ein Blitzstrahl, und er fuhr eilig fort: «… nur eine unbedeutend jüngere Kollegin an Jahren, aber eine um Äonen jüngere an künstlerischer Raffinesse …» Ganz sicher hätte er nur noch ein oder zwei Minuten länger solch honigsüßen Schaum schlagen müssen, Madame Hensel wäre dahingeschmolzen wie ein Sorbet im August, und Loretta hätte ihre Hauptrolle in dem neuen Stück ohne weitere Anfechtungen spielen können. Es war ja nur eines dieser leichten Nachspiele, die am Ende jeder Aufführung das von der Kunst ermüdete Publikum erheitern sollten, wie ein Dessert nach einem etwas zu fetten Braten.
Aber leider, Loretta, wenig zartfühlend wie immer, ungeschickt wie selten, konnte sich gerade in diesem Moment nicht länger beherrschen.
«Was heißt hier wenig bedeutend und weniger künstlerische Raffinesse!?»
Rosina sah, wie sie sich, einen eifrig flatternden Fächer aus quittegelber Seide in der Hand, vor Seyler aufbaute.
«Es ist ein exzellentes Stück, und Ihr versprecht mir so eine Rolle nun schon seit Monaten. Seit ich in dieser Stadt bin, spiele ich nichts als dumme Zofen und helfe in der Garderobe oder als Souffleuse aus. Alle Rollen, die Madame Hensel spielt, und das sind in der Tat fast alle, wenn sie sich darin nur in jeder Szene auf dem Proszenium präsentieren kann, laßt Ihr mich lernen. Für die Wiederaufführungen, habt Ihr mir gesagt. Nun gut, das wäre besser als nichts. Aber tatsächlich bin ich nur die zweite Besetzung, damit die Bühne nicht leer bleibt, falls Madame einmal ein Fieber ereilt. Und ereilt Madame ein Fieber? Niemals! Sie ist gesund wie ein fetter preußischer Ochse …»
Weiter kam Loretta nicht. Ein schriller Schrei zerschnitt die Luft, und Madame Hensels Schirm, ein zartes silbergrünes Gebilde voller Rüschen, allerdings mit stählernen Speichen und einem hübsch geschnitzten Knauf aus Walknochen, sauste auf Lorettas Schulter nieder. Bevor eine der Damen zur nächsten Attacke ausholen konnte, stürzten sich Löwen und Seyler in die Schlacht und trennten die beiden. Nicht zuletzt, weil zerkratzte Gesichter und blaue Augen bei der Vorstellung, die ja schon in wenigen Stunden beginnen sollte, für das Publikum äußerst irritierend gewesen wären. Daß Monsieur Löwen, obwohl er der ganzen Debatte doch nur stumm und ergeben zugehört hatte, aus dem Getümmel ohne Perücke, dafür mit einem blutroten Kratzer auf der Stirn hervorging, war dagegen ohne Belang.
Madame Hensel sank, zur Ohnmacht ermattet, an Monsieur Seylers breite Brust, allerdings nur für einen Moment. Nun war der richtige Augenblick für einen anderen großen Auftritt. Sie richtete erst sich selbst, dann den verrutschten Turm ihrer Frisur auf, griff nach ihrem Schirm und sagte mit der Würde, die nur einer tatsächlich großen Tragödin nach einer solchen Posse gelingt: «Messieurs! Es ist Zeit für eine Entscheidung. Für mich ist hier kein Platz, keine Luft zum Atmen, wenn diese –Actrice», sie spuckte das Wort auf den Boden wie einen faulen Zahn, «an diesem Theater auch nur noch die Böden fegt.»
Rosina konnte gerade noch hinter eine alte Kulisse schlüpfen, als Madame Hensel mit hochrotem Kopf und triumphierendem Lächeln an ihr vorbei zur Bühne rauschte und in einer der Kulissengassen verschwand.
«Hübsch, wirklich sehr hübsch.» Schon zum drittenmal blätterte Claes Herrmanns durch das dicke Musterbuch, aber je mehr er blätterte, um so weniger konnte er sich entscheiden. Er rutschte unbehaglich auf dem zu weich gepolsterten Sessel herum und wünschte sich plötzlich brennend eine Tasse Kaffee mit einer Prise Kardamom. Wahrscheinlich war es sowieso eine dumme Idee, Anne mit einem neuen Stoff für die Wintersaison zu überraschen. Seine Frau hätte keine Mühe gehabt, selbst das Richtige zu wählen, aber dann wäre es schließlich keine Überraschung gewesen. Und er wollte sie unbedingt überraschen. Tatsächlich war er nicht selbst auf diese Idee gekommen. Wieder einmal war es Augusta gewesen, die ihn diskret, aber äußerst deutlich darauf hingewiesen hatte, daß auch eine amtlich bescheinigte Ehefrau ab und zu mit einer kostbaren Liebesgabe überrascht werden möchte.
Der Teufel wußte, warum er sich auf Augustas Vorschlag mit dem Kattun eingelassen hatte, eine hübsche Meißner Dose für Nadeln und Knöpfe oder einer dieser mit viel Obst und kleinem Getier garnierten Tafelaufsätze wäre sehr viel einfacher zu bestellen gewesen. Aber Augusta hatte ihn für diese Idee nur ausgelacht und seine Bitte, den Stoff für ihn auszusuchen, rigoros abgelehnt. Auch wenn er nicht begriffen hatte, was an seinem doch recht nützlichen Vorschlag so komisch gewesen war, hatte er nicht danach gefragt. Augusta war seine Tante, eine alte Dame, die allen Respekt verdiente, ungeachtet ihres bisweilen völlig unhanseatischen Verhaltens. Wahrscheinlich liebte er sie gerade wegen dieser kleinen störrischen Anflüge, die eigentlich nur sehr jungen Damen anstanden.
«Prachtvoll, nicht wahr?» Schwarzbach, Besitzer der Kattundruckerei Schwarzbach & Sohn, sah seinen Kunden prüfend an. Er machte schon seit einigen Jahren Geschäfte mit Claes Herrmanns, aber noch nie war der, immerhin einer der reichsten Kaufleute der Stadt und als Mitglied der Commerzdeputation ein einflußreicher Mann, persönlich in seinem Kontor erschienen, um Stoffe für seine junge Gattin auszusuchen. Nun ja, ganz so jung war Madame Herrmanns nicht mehr, gewiß schon Mitte der Dreißig, aber doch erst seit zwei Jahren verheiratet und von wirklich jugendlicher Gestalt. Knochig hatte Lohmeyer sie neulich genannt, das fand Schwarzbach nicht gerade. Gewiß, sie war äußerst grazil, auch ein wenig zu groß, aber doch elegant, wirklich elegant, was man von einer Engländerin nicht unbedingt erwarten konnte. Wenn er an die Garderoben der Königin dachte, da hörte man wirklich seltsame Dinge. Ihre Majestät, hieß es, trage immer noch nichts als Seide, wo doch gerade in England der Kattun so en vogue war. Andererseits war Madame Herrmanns ja auch keine richtige Engländerin, sondern von der Insel Jersey vor der Küste der Normandie, also schon fast eine Französin. Und Lohmeyers Geschmack war sowieso nicht der beste, zumindest was Damen betraf. Madame Herrmanns auf dem großen Januarball in einer Robe aus seinem, Schwarzbachs, Kattun! Das würde Mode machen. Trotzdem, er zählte verstohlen die Schläge der Turmuhr von St. Petri. Eine dreiviertel Stunde, nur um ein Muster für ein privates Vergnügen auszuwählen, erschien ihm doch als sehr großzügiger, geradezu leichtfertiger Umgang mit der Zeit.
«Eure Muster, Schwarzbach, sind in der Tat prachtvoll. Aber ich muß gestehen, es wäre mir lieber, wenn Ihr mir nur vier oder fünf zur Auswahl gezeigt hättet. Dies sind ja mehr als – was sagtet Ihr? Hundert?»
«Hundertsechsundzwanzig. Und es gibt noch ein zweites Musterbuch. Noch einmal so viele Muster. Allerdings schlichtere, viel schlichtere. Ich glaube nicht, daß sie für Madame Herrmanns geeignet sind. Doch dieses …», er beugte sich vor, blätterte in dem dicken Katalog und schlug ein Blatt im hinteren Teil auf, «… dieses Muster würde sie ganz wunderbar kleiden. Zu ihren zarten Farben und zu dem Honigton ihres Haares. Habe ich nicht recht?»
Henner Schwarzbach rieb seine trockenen Hände und lächelte triumphierend, soweit seine strengen Züge ein solches Gefühl überhaupt verraten konnten. Es gab 17 Kattundruckereien in Hamburg, doch gleichgültig, wie groß die Konkurrenz war, seine Muster waren die elegantesten. Natürlich lagerten in den Regalen der Säle seiner Manufaktur auch viele Druckstöcke mit einfachen Mustern für preiswertere Ware, für Röcke von Köchinnen oder Knopfmacherinnen, nicht für eine Madame Herrmanns. Obwohl allgemein bekannt war, daß sie hin und wieder einen geradezu exzentrisch schlichten Geschmack bewies, um es höflich auszudrücken. Das war eben doch das Englische in ihr. Aber hier ging es nicht um den Stoff für ein Gartenkleid, und außerdem, warum sollte er einem reichen Kaufmann Appetit aufs Sparen machen?
Claes Herrmanns sah eher grimmig als zweifelnd auf das Muster und versuchte sich die schweren roten und gelben Blüten zwischen goldumrandetem Blattwerk auf einem Kleid seiner Frau vorzustellen. Schwarzbach mochte ein guter Geschäftsmann sein, von Frauenkleidern im allgemeinen und Mode im besonderen verstand er offensichtlich nicht viel. Anne Herrmanns war eine hochgewachsene, schlanke Frau, ihre Farben waren tatsächlich zart, und auch wenn Claes Herrmanns kaum mehr von der Mode verstand als Schwarzbach, sah er doch auf den ersten Blick, daß diese üppigen Gebilde eher für das Kleid einer mutigen Matrone oder den Bezug einer Chaiselongue paßten als für Anne.
Es schien ihm wirklich leichter, über den Kauf von Anteilen an einem Schiff oder die stille Beteiligung an einem holländischen Lagerhaus in Ostindien zu entscheiden als über so ein vermaledeites Kattunmuster.
«Hübsch», murmelte er, «wirklich hübsch, aber wie ich schon sagte, ich glaube nicht, daß diese Muster …»
«Wenn Ihr erlaubt, Monsieur, vielleicht kann ich helfen.»
Claes sah sich nach der leisen Stimme um. Er hatte die junge Frau, die gleich nach seiner Ankunft das Musterbuch gebracht hatte, völlig vergessen. Sie war nicht groß und nicht klein, trug ein unauffälliges, grau-weiß gestreiftes Kleid, und das streng zurückgebundene, fast schwarze Haar unter ihrer offenen, leichten Haube ließ sie noch blasser erscheinen, als sie ohnedies war.
«Ja, ganz trefflich. Ein guter Vorschlag», rief Schwarzbach erleichtert. «Freda, Mademoiselle Blank, ist meine beste Musterzeichnerin und hatte im Frühjahr die Ehre», er machte eine kleine Verbeugung, «Eure Gattin bei der Wahl der Muster für die neue Ausstattung Eures Harvestehuder Gartenzimmers zu beraten. Schnell, Freda, Monsieur Herrmanns ist ein beschäftiger Mann.»
Schwarzbach gab sich große Mühe, streng und angemessen herrisch zu klingen, was ihm allerdings nicht recht gelang. Er trat zur Seite, um seiner Musterzeichnerin Platz zu machen, und die Weise, in der er sie dabei betrachtete, ließ Claes ahnen, warum Schwarzbachs Westen seit einiger Zeit so bedenklich jugendliche Farben zeigten.
Seit Claes Herrmanns nicht nur wieder verheiratet, sondern in seine Frau auch geradezu beunruhigend verliebt war, sah er Dinge, die er früher nie wahrgenommen hatte.
«Wenn Ihr erlaubt?» Freda schob das dicke Buch ein wenig näher zum Fenster und blätterte mit sicherem Griff einige Seiten zurück. «Für den Januarball, habt Ihr gesagt», murmelte sie, aber es war keine Frage. Ihr Blick war konzentriert, als sähe sie anstelle der Muster Madame Herrmanns auf dem Parkett des großen Saales im Baumhaus im Licht der hundert Kerzen, als hörte sie das Orchester, klirrende Gläser und gedämpftes Lachen.
«Dieses», sagte sie dann, «oder das nächste.»
Auch das klang nicht wie eine Frage.
Claes erwartete, daß sie nun einige höfliche Sätze über den erlesenen Geschmack ihres Herrn murmeln würde, der nur in diesem speziellen Fall vielleicht ein wenig fehlgegangen sei. Aber das tat Freda nicht. Sie sah nur schweigend auf das aufgeschlagene Blatt.
«Madame Herrmanns», erläuterte sie dann, «liebt zartere Muster, und die kleiden sie auch am besten. Das sanfte Grün dieser Ranken unterstreicht die Farbe ihrer Augen, das helle Ziegelrot der kleinen Blüten gibt dem Muster die Heiterkeit, die auch Eurer Gattin zu eigen ist. Und diese gefiederten Tulpen sind wohl üppig, aber dennoch ganz leicht.»
Claes starrte verblüfft auf das Blatt. Natürlich, warum hatte er das nicht selbst herausgefunden? Sein Blick war immer nur an den stärksten, an den leuchtendsten Farben haftengeblieben, diese sanften hatte er dabei übersehen, sie waren ihm schwach und viel zu schlicht erschienen.
Er blickte Freda an, dann Schwarzbach. Der rieb seine Hände inzwischen äußerst nervös.
«Wunderbar», sagte Claes, «Ihr habt vollkommen recht. Ich bin Euch sehr dankbar. Und ich wäre Euch noch dankbarer, wenn Ihr Euren Rat das nächste Mal gleich geben würdet.»
Er blätterte die nächste Seite auf. «Dieser, sagtet Ihr, würde meiner Frau auch stehen?»
Freda nickte lächelnd.
«Aber gewiß.» Schwarzbachs Stimme und Blick waren nun wieder ganz spröde Würde. «Wenn Ihr allerdings bedenkt – für den großen Ball wirkt dieser Kattun mit den delikaten Goldmalereien doch sehr viel kostbarer. Nicht nur modischer, auch kostbarer als Seide.»
Claes blickte nachdenklich aus dem Fenster, aber tatsächlich sah er Freda an, die wieder ihren Platz an der Tür eingenommen hatte, sah ihr kaum merkliches Kopfschütteln und spitzte scheinbar abwägend die Lippen.
«Nun, mein lieber Schwarzbach, das mag sein. Aber ich glaube, meine Frau mag diese goldbemalten Stoffe zur Zeit nicht so sehr. Vielleicht zu den Karnevalsmaskeraden im Februar. Dann kleiden wir uns ja alle gern ein wenig extravaganter.»
Endlich konnte Schwarzbach seinen Kunden hinausbegleiten. Als die beiden Männer aus der Tür traten, rumpelte ein Fuhrwerk über das Pflaster in den Hof. Es war mit dicken Kattunballen beladen. Schwarzbach seufzte.
«Auf dem Wagen», sagte er, «sind auch Eure beiden Ballen. Sie sind schon gewaschen, auch mit Vitriolöl-Wasser gekocht und immer wieder geklopft, um Flecken, Schmutz und die Schlichte der Weber herauszulösen, und mehr als drei Wochen auf der Bleichwiese gewesen. Sie sind auch mit Pottaschewasser gekocht, was den Stoff noch weißer macht. Doch das Wetter der letzten Tage hat sie beschmutzt, nun müssen wir sie noch einmal waschen. Aber dann werden sie nicht im Gehenken-Haus getrocknet, sondern in den warmen Sälen, das geht um diese Jahreszeit viel schneller, und wer weiß, ob nicht schon morgen der nächste Regensturm kommt.»
Claes kannte die großen Bleichwiesen, so lange er sich erinnern konnte. Innerhalb der Mauern hatten sie längst keinen Platz mehr, Schwarzbachs Bleiche lag weit vor der Stadt an der Isebek. Die zwanzig bis vierzig Brabanter Ellen langen Bahnen, gegen den Wind mit Schlaufen an in die Erde geschlagenen Pflöcken befestigt, lagen wochenlang auf der Wiese und wurden von den Bleichern immer wieder mit frischem Wasser besprengt. Als Junge hatte er gedacht, daß die Männer mit ihren durchlöcherten Bleichschaufeln nicht nur Wasser aus den Bächen oder den mit ihnen verbundenen hölzernen Rinnen schöpften und auf die Stoffe regnen ließen, sondern weiße Farbe. Erst später hatte er gelernt, daß Sonne und Wasser gemeinsam die Kraft haben, aus einem fleckigen, gelblichen Stoff einen rein weißen zu machen.
«So haben wir die Muster gerade zur rechten Zeit ausgesucht?»
«Unbedingt, obwohl die Alster noch zu aufgewühlt ist. Wir können die Bahnen erst in einigen Tagen spülen, wenn das Wasser wieder rein ist. Aber ich werde dafür sorgen, daß die Öfen ordentlich eingeheizt werden.»
Ein Knecht brachte Claes Herrmanns’ Pferd, und während er in den Sattel stieg, fuhr Schwarzbach eilig, als wolle er beweisen, wie zuverlässig und schnell die Arbeit nun vorangehen werde, fort: «Dann müssen die Bahnen nur noch gestärkt und wieder getrocknet werden. Und hart gemangelt, damit auch die letzten kleinsten Unebenheiten verschwinden und den Druck nicht stören können.»
Claes nickte. Er wußte, daß die Vorbereitung der Stoffe viel Zeit in Anspruch nahm. «Ich danke Euch für Eure Geduld und auch Mademoiselle Freda. Sie war mir eine große Hilfe.» Dann drückte er den Dreispitz fester auf den Kopf und lenkte sein Pferd, einen jungen, aber schon gut an das städtische Gedränge gewöhnten Fuchs, aus dem Hof der Kattundruckerei und durch den Gang in den Neuen Wall. Er war sehr zufrieden. Die Stoffe würden schön und auch rechtzeitig fertig werden. Im Winter, wenn die Flüsse zufroren, konnte nicht gedruckt werden, weil das ständige Waschen und Spülen nun einmal klares, fließendes Wasser erforderte. Aber ein paar Wochen würde der Frost schon noch warten.