Will Gott unseren Tod?

Arend Remmers



Der erwachsene Christ

Gedanken über geistliches Wachstum





Christliche Schriftenverbreitung

Postfach 10 01 53, 42490 Hückeswagen

CSV%20Logo.tif

1. Auflage 2011

© by Christliche Schriftenverbreitung, Hückeswagen

Satz und Layout: Christliche Schriftenverbreitung

ePub Konvertierung: eWort, Nürnberg (www.ewort.de)

ISBN: 978-3-89287-503-1

www.csv-verlag.de

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

Wer ist ein „erwachsener“ oder „vollkommener“ Christ? Ist es jemand, der eine große Kenntnis der Bibel, des Wortes Gottes, besitzt? Oder ein Christ, zu dem andere emporblicken, weil er eine hervorragende geistliche Gabe besitzt, packende und zu Herzen gehende Predigten hält oder außergewöhnliche Glaubenswerke tut? Oder vielleicht jemand, der – vermeintlich – eine Stufe in seinem Leben erreicht hat, wo er nicht mehr sündigt?

Nichts davon trifft zu! Dennoch meinen viele – besonders neu bekehrte – Kinder Gottes, ein „erwachsener“ Christ sei durch Bibelkenntnis, aktiven Dienst für seinen Erlöser und besondere Glaubenstaten gekennzeichnet. Sie strengen sich deshalb anfänglich sehr an, in dieser Richtung zu „wachsen“, aber nach einiger Zeit müssen sie feststellen, dass sie sich ein Ziel gesteckt haben, das sie nicht erreichen können. Die Folge ist häufig, dass sie niedergeschlagen werden und zu verzagen beginnen.

Wenn Kinder gläubiger Eltern sich bekehren, ist manchmal das Gegenteil der Fall. Sie sagen sich: „Hauptsache: bekehrt!“ und geben sich damit zufrieden. Sie gehen zwar regelmäßig in die Zusammenkünfte der Gläubigen, denken aber, das reiche aus, jetzt „dazuzugehören“. Sie erwerben sich im Lauf der Zeit auch gewisse Kenntnisse des Wortes Gottes und des christlichen Lebens, aber das ist noch kein geistliches Wachstum.

In beiden Fällen zeigt sich eine oberflächliche Betrachtungsweise dessen, was wahres Wachstum im Glauben ist. Das Erste und Wichtigste im Glaubensleben ist und bleibt, nahe bei dem Herrn Jesus zu leben und Ihn und Sein Werk mehr und mehr kennenzulernen. Das Verständnis Seines Erlösungswerkes gibt wahren und tiefen Frieden für Gewissen und Herz, und die Erkenntnis Seiner wunderbaren Person als des jetzt verherrlichten Menschen im Himmel, der einst auf der Erde war, führt zu dem Wunsch, Ihm im praktischen Leben ähnlicher zu werden, und lässt uns Ruhe für die Seele finden. Zwei wesentliche Schritte des Glaubens finden wir in Matthäus 11,28-30:

„Kommt her zu mir alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“

Der Herr Jesus möchte uns als Seine Erlösten in erster Linie nahe bei sich haben, damit wir in Ihm Frieden und Freude finden. Wenn wir geschmeckt haben, wie gütig unser Herr ist, können wir bei Ihm lernen und wirklich wachsen. Dadurch bekommen wir auch die geistliche Kraft, etwas für Ihn zu tun. Alles andere läuft in der Praxis leicht auf Aktionismus oder aber auf eine gewisse Gesetzlichkeit hin-aus, wobei man meint, dies oder jenes tun zu müssen, um ein guter Christ zu sein. Der Apostel Paulus betete jedoch dafür, dass die Gläubigen „Frucht bringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes“ sein sollten (Kol 1,10). Echtes geistliches Wachstum bringt Frucht für Gott hervor; aber das Wachstum hört dadurch nie auf, sondern geht immer weiter, solange wir auf der Erde leben.

Das Wesentliche ist jedoch, den Herrn Jesus als verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes in der Herrlichkeit kennenzulernen und zu wissen, was es bedeutet, „in Christus“ zu sein, das heißt, begnadigt oder angenehm gemacht zu sein in dem Geliebten des Vaters (siehe Eph 1,6). Im Neuen Testament werden von neuem geborene Menschen im Blick auf ihre geistliche Entwicklung als „erwachsen“ oder „vollkommen“ (griech. teleios) bezeichnet, wenn sie in Christus zur Ruhe gekommen sind und an Ihm allein genug haben. Sie haben im Glauben erfasst, dass sie durch Sein Erlösungswerk aus der Welt herausgenommen und in Ihm, dem verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes, schon jetzt in eine neue, wunderbare, himmlische Stellung versetzt sind. Das ist die höchste Stufe, die wir in unserem praktischen Christenleben erreichen können, ganz abgesehen von allem, was wir für Ihn tun.

Viele Kinder Gottes sind jedoch noch mehr oder weniger weit davon entfernt, geistlich „erwachsen“ zu sein. Für sie sind diese Zeilen in erster Linie bestimmt. Wer sie aufmerksam liest, wird feststellen, dass wir als Christen allesamt noch wachsen müssen. Genau das wünscht der Apostel Petrus seinen Lesern am Anfang seines ersten und am Ende seines letzten Briefes: „Seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch diese wachst zur Errettung, wenn ihr wirklich geschmeckt habt, dass der Herr gütig ist“ (1. Pet 2,2.3). – „Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Ihm sei die Herrlichkeit sowohl jetzt als auch auf den Tag der Ewigkeit! Amen“ (2. Pet 3,18).

Wachstum im Glauben

Als Christen müssen wir wohl alle zugeben, dass wir nicht die ganze Heilswahrheit mit allen ihren herrlichen „Facetten“ auf einmal verstanden haben – ja, sie vielleicht bis jetzt noch nicht verstehen. Unser mangelhaftes Verständnis, unser schwacher Glaube und unser Versagen ändern zwar nichts an unserer vollkommenen Annahme bei Gott. Als wir an den Herrn Jesus und Sein vollbrachtes Erlösungswerk geglaubt haben, empfingen wir die Errettung der Seele. Diese Errettung tragen wir schon jetzt als gegenwärtigen, ewig unverlierbaren Besitz davon (1. Pet 1,9; vgl. Eph 2,5.8). Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob wir uns damit zufriedengeben, die Vergebung unserer Sünden zu besitzen, oder ob wir die Vollkommenheit des Erlösungswerkes des Herrn Jesus und Seine Größe und Herrlichkeit wirklich kennen und darin die nie versiegende Quelle unserer Freude und Kraft finden.

Zweierlei Vollkommenheit

Das Neue Testament spricht von zwei verschiedenen Arten geistlicher Vollkommenheit bei denen, die an den Herrn Jesus glauben.

Einer der ersten wichtigen Schritte im Glaubensleben ist das Erkennen und Unterscheiden dieser beiden Arten von Vollkommenheit. Die durch die Vollgültigkeit des Werkes Christi bewirkte Vollkommenheit der Stellung der Gläubigen ist Gottes Werk an einem ehemals verlorenen Sünder. Wir empfangen sie von Gott durch den Glauben an den Herrn Jesus als Erlöser. Die wachstümliche Vollkommenheit, das geistliche „Erwachsensein“, ist dagegen das Ergebnis einer Entwicklung. Diese Vollkommenheit erreichen wir jedoch nicht durch die bloße Kenntnis der Wahrheit über die Erlösung. Es gilt, diese Wahrheit auch im Glauben zu erfassen und darin zu leben, damit wir zu dem Zustand innerer Ruhe und Erfüllung gelangen, in dem wir nicht mehr beständig mit der Welt, mit irdischen Sorgen und mit uns selbst beschäftigt sind, sondern mit Christus, unserem Herrn, in der Herrlichkeit. Wir dürfen uns als eins mit Ihm betrachten, der zur Rechten Gottes verherrlicht ist, und dürfen vollkommene Befriedigung und Freude in Ihm genießen, der die ewige Wonne des Vaters ist.

Einen solchen Zustand geistlicher Vollkommenheit in Christus haben die „Väter“ erreicht, denen Johannes schr-eiben kann: „Ich schreibe euch, Väter, weil ihr den erkannt habt, der von Anfang ist“. Sie haben genug an Christus, der Gott und Seine Gnade auf der Erde vollkommen offenbart hat, und sie sind in Ihm und Seinem Werk völlig zur Ruhe gekommen. Mehr als Ihn und die innige Gemeinschaft mit Ihm brauchen die Väter nicht! Im Vergleich zu Ihm ist für sie alles andere unwichtig geworden. Sie sind nicht mit sich selbst und mit ihren Schwachheiten, Erfahrungen oder auch ihren „Leistungen“ beschäftigt, sondern mit Ihm. Er ist ihr Ein und Alles geworden. Sie sind im Glauben keine „Kinder“, die in Gefahr stehen, von falschen Lehren beeinflusst zu werden, aber auch keine „Jünglinge“ mehr, die vor den Gefahren der Welt gewarnt werden müssen, sondern sie sind geistlich erwachsene und gereifte „Väter“ in Christus geworden (siehe 1. Joh 2,13-27). Auch Paulus meinte in etwa dasselbe, wenn er von sich sagte: „Das Leben ist für mich Christus und das Sterben Gewinn“ (Phil 1,21). Christus war Mittelpunkt und Inhalt seines Glaubenslebens, und deshalb freute er sich dar-auf, bald für immer bei Ihm zu sein. Zugleich war er jedoch ständig bemüht, auch andere Christen in ihrem geistlichen Wachstum zu fördern und „jeden Menschen zu ermahnen und jeden Menschen zu lehren in aller Weisheit, damit wir jeden Menschen vollkommen [griech. teleios] in Christus darstellen“ (Kol 1,28). Diese Vollkommenheit hängt von unserem Verständnis und Genuss des vollbrachten Werkes Christi und seiner segensreichen Folgen ab.

Aber besitzt jeder, der an den Herrn Jesus und Sein Werk glaubt, diese Kenntnis und freut sich darüber? Die Antwort lautet leider: nein. Wohl kaum ein Gläubiger hat gleich nach seiner Bekehrung alle gesegneten Folgen des Erlösungswerkes verstanden. Wie viele geben sich mit der Vergebung ihrer Sünden zufrieden und kommen daher in der Erkenntnis ihrer vollkommenen Errettung und Befreiung nicht weiter. Anderen fehlt es einfach an biblischer Belehrung. Dadurch bleiben sie in ihrem Verständnis zurück, wenn auch der Heilige Geist solchen Gläubigen einen wunderbaren Frieden schenken kann, „der allen Verstand übersteigt“ (Phil 4,7).

Es ist nämlich nicht nur eine Frage der Kenntnis der Heilswahrheit und aller ihrer Einzelheiten. Im Grunde genommen geht es darum, ob wir im Herrn Jesus und in Seinem Werk zur Ruhe gekommen sind und an Ihm genug haben. Jemand, der so mit dem Herrn Jesus sein Leben führt, hat alles! Er kann vielleicht nicht alles genau erklären, aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wichtigste ist, durch den Glauben im Besitz und Genuss des vollen Heils in Christus zu stehen. Und doch ist es gut, auch die göttlichen Grundlagen von allem zu kennen. Die Kenntnis der Wahrheit schenkt uns nämlich Trost und Kraft in unserem Glaubensleben.

Geistliches Wachstum

Das Ziel der Belehrung der Heiligen Schrift, der Bemühungen des Heiligen Geistes und des Dienstes der von dem Herrn Jesus gegebenen Gaben ist die „Vollendung der Heiligen …, bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen [griech. teleios] Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,12.13). Auch der Weg, auf dem dieser Zustand des geistlichen Erwachsenseins erreicht wird, wird uns gezeigt: „Die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus“ (Eph 4,15). Geistliches Wachstum besteht also darin, dass wir im Glauben Christus näherkommen, in Ihm vollkommen zur Ruhe gelangen und Ihm ähnlicher werden. Dazu brauchen wir Wahrheit und Liebe, wie Er sie in Seinem Erdenleben allezeit vollkommen offenbart hat.

Dass dies Wachstum nicht ohne die Beschäftigung mit dem inspirierten Wort Gottes erfolgen kann, zeigt uns Petrus, der alle Gläubigen auffordert: „Wie neugeborene Kinder seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch diese wachst zur Errettung“ (1. Pet 2,2). Diese an alle Christen gerichtete Ermunterung dürfen wir nicht mit den scheinbar ähnlichen Stellen in 1. Korinther 3,1.2 und Hebräer 5,11-14 verwechseln. Dort ist Milch nämlich die geistliche Nahrung für Unmündige in Christus, also sozusagen geistliche Kleinkinder, während im Glauben gewachsene Christen schon anspruchsvollere „feste Speise“ vertragen können (1. Kor 3,1.2; vgl. Heb 5,11-14). Auch Johannes unterscheidet ja zwischen kleinen Kindern, Jünglingen und Vätern im Glauben, wie wir gesehen haben (siehe 1. Joh 2,13ff.). Aber Petrus vergleicht alle Gläubigen mit neugeborenen Kindern, die nach der vernünftigen, unverfälschten Milch des Wortes Gottes verlangen sollen, damit sie geistlich wachsen. Wenn er als Ziel des Wachstums die Errettung nennt, darf uns das nicht erstaunen, denn es geht hierbei nicht um die Seelen-Errettung, die wir ja bereits durch den Glauben an das Erlösungswerk Christi besitzen, sondern um die Errettung von Leib, Seele und Geist am Ende unseres Erdenweges (vgl. 1. Pet 1,5). Durch die Beschäftigung mit den himmlischen Dingen, in deren Mittelpunkt unser geliebter Herr steht, werden wir nicht erst bei Seinem Kommen, sondern schon während unseres Erdenlebens zu Ihm hingezogen und innerlich und äußerlich mehr und mehr von allem getrennt, was nicht mit Ihm und Seinem Wesen übereinstimmt.

Die zum geistlichen Wachstum notwendigen Grundlagen finden wir besonders in den Briefen des Neuen Testaments. Daher sind die Lektüre dieser Briefe und die Beschäftigung mit ihnen so wichtig und notwendig. Die Betrachtung der Vorbilder des Alten Testaments – und zwar speziell der Wanderung Israels von Ägypten nach Kanaan – kann dabei jedoch eine gute Hilfe sein. Wenn uns dadurch der Herr Jesus und Sein Werk immer größer werden und wir dahin geführt werden, vollkommene Ruhe in Seinem Werk und in Seiner Liebe zu finden, ist das ein gesegnetes Ergebnis dieser Beschäftigung! Gerade das Wachstum im Glauben und im Verständnis der Wahrheit der Erlösung wird uns in den Vorbildern (Typen) deutlich gemacht, mit denen wir uns beschäftigen wollen.

Eine dritte Art der Vollkommenheit, die vollständige, ewige Befreiung von Schwachheit und Sünde, erreichen wir, wenn der Herr Jesus uns heimholen wird ins Vaterhaus (1. Kor 13,10). Dann werden alle Gläubigen umgestaltet werden zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leib der Herrlichkeit und nach Leib, Seele und Geist vollkommen gemacht werden (Phil 3,12.21).

Wenn in den Briefen des Neuen Testaments der Titel „der Christus“ (mit Artikel) auftaucht, ist der Herr Jesus als der Erfüller des ganzen Ratschlusses Gottes gemeint, der jetzt verherrlicht zur Rechten Gottes sitzt.

Hilfreiche Vorbilder

Bevor wir uns mit diesen Vorbildern oder „Typen“ im Alten Testament beschäftigen, müssen wir wissen, was mit diesem Begriff gemeint ist. Personen, Sachen oder Begebenheiten des Alten Testaments können neben der konkreten Bedeutung, die sie haben, vorbildhaft oder „typologisch“, das heißt in bildlicher Weise, auf etwas Zukünftiges hinweisen, das erst im Neuen Testament offenbart wird.

Das Neue Testament enthält zahlreiche Hinweise auf die Tatsache, dass vieles im Alten Testament eine vorbildhafte (typologische) Bedeutung hat. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Die Berichte des Alten Testaments enthalten also nicht nur historische und moralische Belehrungen, sondern haben auch eine vorbildhafte (typologische) Bedeutung für uns. Mit Recht kann das Alte Testament daher das „Bilderbuch des Neuen Testaments“ genannt werden. Die typologische Deutung ist der vom Heiligen Geist gegebene eigentliche Schlüssel zum tieferen Verständnis der Berichte über die Geschichte der Menschheit, insbesondere des Volkes Israel. Die zahlreichen Vorbilder (Typen), die wir darin finden, sind bildliche Vorausdarstellungen der verschiedenen Teile der im Neuen Testament offenbarten christlichen Wahrheit. Aus diesem Grund waren sie für die Gläubigen in der Zeit des Alten Testaments auch noch nicht verständlich. Sie können ja nur mit der Kenntnis der neutestamentlichen Wahrheit richtig gedeutet werden.

Praktische Belehrungen

In der Beschreibung der ungefähr vierzig Jahre dauernden Wüstenwanderung, der Anfangszeit der Geschichte des irdischen Volkes Gottes, finden wir eine Fülle von Vorbildern, die auf das Erlösungswerk des Herrn Jesus hinweisen. Jedes von ihnen zeigt uns eine neue Seite und damit eine weitere Schönheit des Werkes und der Person unseres Erlösers. Viele dieser Vorbilder haben jedoch einen ganz besonderen Zweck. Sie stellen die neutestamentliche Wahrheit nicht einfach im Voraus dar, sondern unter einem praktischen Gesichtspunkt. Das heißt: Sie sind nicht nur bildliche Entsprechungen der christlichen Wahrheit, sondern zeigen, wie diese von uns verwirklicht wird oder verwirklicht werden soll. Gerade in diesem Bezug zur Praxis unseres Glaubenslebens liegt ihr großer Wert.

Wir müssen nämlich zwei verschiedene Arten von Vorbildern unterscheiden. Wir wollen sie „Grundsatz-Vorbilder“ und „Praxis-Vorbilder“ nennen. Zwischen diesen beiden besteht ein wesentlicher Unterschied, der leicht übersehen wird. Wenn dieser Unterschied nicht beachtet wird, geht vieles von der eigentlichen Belehrung der Vorbilder verloren.

Beispiele für „Grundsatz-Vorbilder“ finden wir hauptsächlich in den Belehrungen des Gesetzes. Denken wir nur an die Vorschriften bezüglich verschiedener Opfer und der Feste des Herrn! Bei dieser Art von Vorbildern sind die Angehörigen des Volkes Israel, die ja ein Bild der Gläubigen der jetzigen Zeit sind, nicht aktiv beteiligt. Gott gibt darin grundsätzliche Belehrungen. Im Licht des Neuen Testaments sehen wir darin das Werk des Herrn Jesus von Gottes Seite aus – man könnte auch sagen: objektiv – betrachtet. Das beständige Brandopfer ist zum Beispiel ein Bild davon, dass Gott aufgrund Seiner Verherrlichung durch das Opfer des Herrn Jesus in der Mitte der Seinen wohnt (2. Mo 29,38-46). Oder nehmen wir den großen Versöhnungstag in 3. Mose 16, der uns in dem ersten der beiden Böcke (V. 5.15-19) zeigt, dass das Blut Christi Sühnung getan und dadurch Gottes heilige und gerechte Ansprüche vollkommen erfüllt hat, im Bild des zweiten Bocks namens Asasel (V. 20-22) dagegen, dass Er stellvertretend die Sünden aller derer auf sich genommen hat, die an Ihn glauben, und dass drittens durch Sein Blut einmal alle Dinge mit Gott versöhnt werden. Hierher gehört auch das Vorbild des hebräischen Knechtes, der seinen Herrn, seine Frau und seine Kinder liebt und deshalb für immer dienen wird – ein wunderbares Bild der Liebe unseres Herrn, des wahren Knechtes Gottes, zu Seinem Vater, Seiner Braut und Seinen Erlösten (2. Mo 21,1-6).

Zur zweiten Gruppe gehören vor allem die Vorbilder, bei denen die Angehörigen des Volkes Israel selbst aktiv werden mussten. Im Unterschied zur ersten Gruppe ist in diesen „Praxis-Vorbildern“ nicht nur Gott der Handelnde, sondern auch das Volk. Denken wir beispielsweise an die Opfer, die von den Angehörigen des Volkes Israel dargebracht werden mussten (insbesondere diejenigen in 3. Mose 1-7). Sie zeigen uns nicht das Werk Christi als solches, sondern das Verständnis und den Ausdruck der Wertschätzung dieses kostbaren Werkes durch die Gläubigen, das heißt: subjektiv betrachtet. Dieser Unterschied ist auch im Neuen Testament zu erkennen. Wir lesen in Hebräer 9,14, dass Christus sich durch den ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hat (vgl. Kap. 10,10.12.14). Aber in Kapitel 13,15 sind die Gläubigen diejenigen, die „Opfer [eig. Schlachtopfer] des Lobes darbringen, indem wir Gott als Priester die Anbetung darbringen, deren Gegenstand das Werk und die Person unseres Herrn ist (vgl. 1. Pet 2,5).

Am Anfang seiner Geschichte wurde das Volk Israel aus Ägypten geführt und musste in Gehorsam und Glauben die Weisungen Gottes ausführen, um von den Feinden befreit, in der Wüste bewahrt und schließlich in das Land Kanaan eingeführt zu werden. Mit diesen Vorbildern wollen wir uns beschäftigen. Die wichtigsten Stationen sind dabei das Passah, das Schilfmeer, die eherne Schlange und der Jordan. Bei jedem dieser Schritte tat Gott etwas, das uns eine bestimmte Seite des Erlösungswerkes Christi vorstellt. Aber auch das Volk Israel musste jeweils etwas tun, um in den Genuss der damit verbundenen Folgen zu kommen. Das entspricht unserem Glauben und den Fortschritten, die wir darin machen, das heißt geistlich wachsen.

Dass es hier wirklich im Wesentlichen um Glaubens-fortschritte und –wachstum geht, wird auch daran deutlich, dass in diesen Vorbildern keine Andeutung der neuen Geburt und der Gabe des Heiligen Geistes zu finden ist. Beides geht nämlich nur von Gott aus und ist nicht von unserem geistlichen Wachstum abhängig. Die neue Geburt ist das erste Werk des Heiligen Geistes an einem Menschen überhaupt, und die Versiegelung, die Salbung und das Unterpfand des Heiligen Geistes empfängt der Gläubige, wenn er das Evangelium geglaubt und Sündenvergebung empfangen hat (Joh 3,3.5; Eph 1,13). Eine typologische Andeutung der neuen Geburt kann man in der Tatsache sehen, dass Gott Israel bereits vor dem Passah „mein Volk“ und „meinen Sohn“ nennt (2. Mo 3,7; 4,23). Gott hatte bereits eine Beziehung zu Israel, bevor das Passahlamm geschlachtet wurde, das die Erlösung von dem Gericht brachte.

Da in der Heiligen Schrift jede Einzelheit wichtig ist, haben wir nicht nur zu fragen, was die einzelnen Bilder bedeuten, sondern auch, was ihre Reihenfolge uns zu sagen hat. Allen gemeinsam ist zwar, dass sie uns zeigen, was der Herr Jesus in Seiner Hingabe am Kreuz für uns getan hat. Aber es geht dabei nicht nur um verschiedene Seiten des Erlösungswerkes an sich, sondern um das schrittweise Erfassen dieses Werkes im Glauben. Nicht nur Gott ist der Handelnde, sondern bei jeder „Station“ musste das Volk Israel Seinem Willen in Glauben und Gehorsam Folge leisten. Dieser Gesichtspunkt, der leicht übersehen wird, ist äußerst wichtig für das Verständnis dieser Vorbilder. Mit jedem Schritt kam Israel dem verheißenen Land näher. In der Anwendung auf uns heißt dies: Wir erfassen die ganze Tragweite des Werkes des Herrn Jesus am Kreuz normalerweise nicht auf einmal, sondern schrittweise. Wie Petrus schreibt, wachsen wir in unserem Glaubensleben zur Errettung hin (1. Pet 2,2). Durch das glaubensmäßige Erfassen der einzelnen Heilstatsachen, die diesen Vorbildern entsprechen, schreiten wir in unserem geistlichen Wachstum einzeln und gemeinsam voran zum „erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,13).

Nun könnte jemand fragen: Erfolgt denn die Errettung in verschiedenen „Etappen“? Bin ich denn nicht seit dem Augenblick errettet, als ich an den Herrn Jesus geglaubt habe? Muss ich denn verschiedene Glaubensschritte tun, um wirklich errettet zu werden? Heißt es denn nicht: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden“ (Apg 16,31)? Alle diese Fragen finden in der Heiligen Schrift eindeutige Antworten. Selbstverständlich wird jeder, der sich vor Gott als verlorener Sünder sieht und seine Sünden aufrichtig vor Ihm bekennt, in dem Augenblick, wo er an den Herrn Jesus als seinen Erlöser glaubt, vollkommen und für ewig errettet. „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16; vgl. Eph 2,8; 1. Pet 1,9). Die Errettung der Seele erfolgt nicht in Etappen, sondern ist für jeden, der an den Herrn Jesus und Sein Werk am Kreuz glaubt, von diesem Moment an eine vollendete Tatsache. Gott sei ewig Dank dafür!

Das bedeutet konkret: Jeder, der Buße über seine Sünden getan hat und an den Herrn Jesus glaubt, steht – objektiv betrachtet – von diesem Augenblick an nicht nur unter dem Schutz Seines Blutes, wie das Passah uns zeigt, sondern besitzt auch alle weiteren Segnungen, die aus dem Erlösungswerk unseres Herrn hervorkommen. Aus Gottes Sicht sind alle, die an den Herrn Jesus und Sein Blut glauben, nicht nur mit Ihm versöhnt, sondern auch getrennt von der Welt, befreit von Satans Macht und mit Christus gestorben. Alle sind auch mit Christus lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt und sitzen in Ihm in den himmlischen Örtern. Diese unveränderlichen Tatsachen beruhen also keineswegs auf unserer Kenntnis oder unserem Verständnis davon, sondern einzig und allein auf der Weisheit und Liebe Gottes sowie auf dem Werk Christi, an das wir glauben. An allen Stellen, die uns die beschriebenen Segnungen als Folge des Werkes Christi am Kreuz vorstellen, stehen die Tätigkeitswörter in einer Vergangenheitsform. Das heißt: Es handelt sich um vollendete Tatsachen (Röm 5,9; Kol 3,13; Gal 2,19; Eph 2,5.6).

Etwas ganz anderes ist es jedoch, ob wir – subjektiv betrachtet – diese großen und herrlichen Resultate des Erlösungswerkes Christi auch kennen und genießen. Im Blick auf die Kenntnis, das Verständnis und den Genuss der Errettung in Christus gibt es daher durchaus Fortschritte und Wachstum. Und gerade dies wird uns in den genannten Vorbildern sehr anschaulich vorgestellt. Wir sehen darin nicht nur, was Gott in Christus für und an uns getan hat, sondern vor allem das schrittweise Erfassen dieses Werkes in der Praxis unseres Glaubenslebens. Das ist die eigentliche Belehrung, die diese Vorbilder uns vermitteln. Im Unterschied zu den nicht immer einfachen Darstellungen in den Briefen des Neuen Testaments finden wir darin leichter verständliche Vorausdarstellungen der christlichen Wahrheit und ihrer praktischen Verwirklichung durch uns. Dabei ist jedoch zu beachten, dass wir aus den Vorbildern nur solche lehrmäßigen Schlussfolgerungen ziehen dürfen, die eine klare und deutliche Entsprechung im Neuen Testament finden. Die christliche Lehre ist nicht im Alten, sondern nur im Neuen Testament enthalten.

Schritte im Glauben

Wie wir gesehen haben, geht der vorbildhafte (typologische) Charakter der Geschichte der Wüstenwanderung Israels aus 1. Korinther 10,1-11 deutlich hervor. Zudem werden zwei der Vorbilder im Neuen Testament ausdrücklich auf den Herrn Jesus und Sein Werk am Kreuz bezogen: das Passah und die eherne Schlange. Die übrigen Vorbilder, das heißt der Durchzug durch das Schilfmeer und den Jordan, vervollständigen die Belehrungen, die wir im Neuen Testament über die verschiedenen Seiten und Folgen des Werkes am Kreuz finden.

Am Anfang steht das in 2. Mose 12 beschriebene Passah in Ägypten, das ein Bild der Verschonung vom ewigen Gericht durch das Blut Christi ist. Es wird im Neuen Testament in 1. Korinther 5,7 erwähnt: „Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet worden“ (vgl. 1. Pet 1,18.19).

Danach zeigt der Durchzug durch das Schilfmeer den Tod und die Auferstehung Christi als Mittel und Weg zu unserer vollständigen Befreiung. Durch Seinen Tod sind wir von der Welt getrennt, aus dem Machtbereich Satans und des Todes befreit und aus der Stellung von Sündern in die Stellung von Gerechten gebracht worden. Das ist jedoch nur möglich, weil wir mit Ihm gestorben sind. Das Ende unseres „alten Menschen“ ist im Bild der Taufe enthalten, in der wir mit Christus begraben sind, und zwar auf Seinen Tod. Dies wird besonders in Römer 5,12–6,11 dargelegt (vgl. 2. Mo 14; Gal 1,4; Heb 2,14).

Jetzt beginnt die Reise durch die Wüste zum verheißenen Land Kanaan. Die Wüste ist ein Bild unserer irdischen Umstände in der Welt, in denen wir von Gott geleitet und bewahrt, aber auch geprüft werden (s. 1. Kor 10,1-11). Besonders die neutestamentlichen Briefe an die Römer, Korinther, Galater, Philipper und Hebräer sowie die Briefe des Petrus betrachten den Gläubigen unter diesem Gesichtspunkt.

In die Zeit der Wüstenwanderung fällt die Begebenheit mit der ehernen Schlange (4. Mo 21,4-9), die der Herr Jesus in Johannes 3,14-16 auf sich bezieht. Hier lernen wir in der Praxis, dass der Herr Jesus am Kreuz auch das Gericht Gottes über die Sünde im Fleisch getragen und uns dadurch befähigt hat, das ewige Leben, das wir empfangen haben, auch wirklich zu genießen.

Das Land Kanaan als Ziel der Reise schließlich stellt die „himmlischen Örter“ mit den uns geschenkten gegenwärtigen geistlichen Segnungen dar (nicht die zukünftige Herrlichkeit des Vaterhauses als Ziel der christlichen Hoffnung; vgl. Eph 1,3; 6,12). Dazu musste das Volk noch den Jordan durchqueren. Hier haben wir erneut ein Bild des Todes und der Auferweckung Christi vor uns, nun aber nicht nur unseres Todes mit Ihm, woran zwar die zwölf Steine im Jordan erinnern, sondern auch unserer Auferweckung mit Ihm, was in den zwölf Steinen am anderen Ufer zum Ausdruck kommt. Hinzu kommt jetzt die Einführung des „neuen Menschen“ (Jos 3 und 4; Eph 2,1-12). Diese Stellung wird im Brief an die Epheser und teilweise in dem an die Kolosser gezeigt.

Erst jetzt ist das Ziel erreicht, das Gott sich für Sein Volk vorgesetzt und Seinem Knecht Mose beim brennenden Dornbusch genannt hatte: „Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Schreien wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu erretten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt“ (2. Mo 3,7.8). Die himmlischen Örter sind die neutestamentliche Entsprechung dieses guten Landes. Dort befinden sich alle unsere geistlichen Segnungen, weil unser geliebter Herr dort zur Rechten Gottes in der Herrlichkeit ist. Aber wenn wir diese Segnungen genießen wollen, gibt es auch Kampf gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern, denn Satan ruht nicht. Doch in der Kraft des Herrn und in der Macht Seiner Stärke vermögen wir zu widerstehen und zu siegen (Eph 6,10-18).

Der Zusammenhang, ja die Einheit dieser Vorbilder wird durch folgende Einzelheiten eindrucksvoll unterstrichen.

Er will nicht, dass wir in unserem Glaubensleben auf halbem Weg stehen bleiben. Geben wir uns bildlich gesehen mit dem Passah zufrieden, dann bleiben wir in der Welt, von der Ägypten ein Bild ist. Ist das nicht das Problem vieler Christen? Sie glauben an den Herrn Jesus, können oder wollen sich aber nicht von der Welt trennen. Kann man denn so ein glückliches Kind Gottes sein?

Auch wenn wir bildlich gesehen das Schilfmeer durchschritten und dadurch die Trennung von der Welt im Glauben vollzogen haben, kann es passieren, dass wir uns danach trotzdem wie die Israeliten in der Wüste nach Ägypten zurücksehnen. An ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen, und sie wurden „in der Wüste niedergestreckt“ (1. Kor 10,5). Das heißt, wenn wir uns als Gläubige der Welt zuwenden, werden wir in unserem Glaubensleben die Segnungen Kanaans nicht kennenlernen und das von Gott gesteckte Ziel nicht erreichen. Aber wenn wir wie Josua und Kaleb von dem „guten Land“ erfüllt sind, wird uns die Wüstenwanderung versüßt, und wir werden dahin wachsen, die geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern genießen zu können. Doch wie oft fehlen uns wie damals den Israeliten Glauben und Verständnis!

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den alttestamentlichen Vorbildern und der christlichen Lehre des Neuen Testaments muss noch erwähnt werden. Er besteht darin, dass Israel sich nacheinander in Ägypten, in der Wüste und im Land Kanaan befand, der Christ dagegen gleichzeitig in allen drei Bereichen gesehen wird:

So werden wir nach der Lehre des Neuen Testaments betrachtet. Ob wir es verstehen oder nicht, ändert nichts an diesen göttlichen Tatsachen. Aber wir sehen schon: Je mehr wir uns damit beschäftigen, desto mehr werden wir davon verstehen und dadurch in unserem Glaubensleben wachsen. Doch hiervon mehr in den folgenden Abschnitten.

In 3. Mo 16 wird dies jedoch nur im Blick auf die himmlische Seite (das Heiligtum) vorgebildet (vgl. Heb 9,23). – Vollständigkeitshalber sei angemerkt, dass die Versöhnung „aller Dinge“ (Kol 1,20) sich nicht auf Menschen, sondern tatsächlich nur auf „alle Dinge“ bezieht.

Jeder, der an das sühnende Blut Christi (Passahlamm) glaubt, ist für ewig vollkommen mit Gott versöhnt (Röm 3,25; Eph 1,7; Heb 9,14). Die weiteren Vorbilder wie das Schilfmeer und der Jordan haben nichts mit der Seelen-Errettung an sich zu tun, sondern beziehen sich auf das gläubige Erfassen der Resultate des Werkes Christi, ohne dass dadurch die Errettung sicherer wird. Wohl aber werden Heilsgewissheit und Genuss aller Segnungen dadurch gefördert. Sogar das Vorbild des Passahs zeigt uns nicht alle unsere Segnungen, sondern nur die Seite der Sicherheit vor dem ewigen Gericht.