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GONÇALO M. TAVARES

Die Versehrten

Aus dem Portugiesischen von
Marianne Gareis

Deutsche Verlags-Anstalt

KAPITEL I

Ernst und Mylia

1

Ernst Spengler war allein in seinem Dachzimmer, das Fenster bereits geöffnet, und wollte sich gerade hinunterstürzen, als plötzlich das Telefon klingelte. Ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechs-, sieben-, acht-, neun-, zehn-, elf-, zwölf-, dreizehn-, vierzehnmal. Ernst nahm ab.

Mylia wohnte im ersten Stock des Hauses Nummer 77 der Rua Moltke. Sie saß auf einem unbequemen Stuhl und dachte über die zentralen Wörter in ihrem Leben nach. Schmerz, dachte sie, Schmerz ist ein zentrales Wort.

Sie war ein erstes Mal operiert worden, dann noch einmal, insgesamt vier Mal. Und jetzt das. Dieses Grummeln in ihrem Körper, mittendrin, ganz tief im Innern. Krank zu sein war eine Form des Widerstands gegen den Schmerz oder das Bedürfnis, irgendeinem Gott näher zu sein. Mylia murmelte: Die Kirche ist nachts geschlossen.

29. Mai, vier Uhr morgens. Mylia konnte nicht schlafen. Der ständige Schmerz in der Magengegend oder vielleicht auch etwas tiefer; woher genau kam dieser großflächige, keinem einzelnen Punkt zuzuordnende Schmerz? Vielleicht von unterhalb des Magens, aus dem Unterleib. Jedenfalls war es vier Uhr morgens, und sie hatte noch kein Auge zugetan. Die Augen schließen, wenn man Angst hat zu sterben?

Sie stand auf. Mylia war eine schlanke, aber kräftige Frau. Ihre Finger gaben sich nicht mit Unbedeutendem ab. (Diesen Satz wiederholte sie immer wieder: Die Finger dürfen sich nicht mit Unbedeutendem abgeben.) Sie konzentrierte sich auf das Wesentliche, denn sie wusste, sie hatte nur noch wenige Jahre zu leben. Die Krankheit ist gekommen, wir waren ein paar Jahre zusammen, jetzt bleibt sie, und ich gehe. Sie musste also die verbleibende oder die in ihrem Körper verbliebene und auf diese Tage ausgerichtete Energie bündeln – wie eine Fleischroulade – und bereit sein zu handeln. Das Unbedeutende sein lassen. Sie durfte nur das anpacken, was Substanz hatte, was zentral war; das Dringende muss dem Zentralen entsprechen, dem, was von Grund auf verändert. Wie ein heftiger Schlag: Alle Dinge des unbedeutendsten Tages sollten sein wie der Augenblick, in dem wir einen heftigen Schlag verspüren. Mylia betrachtete sich im Spiegel: Ich lebe und habe bereits einen Fehltritt gemacht. Krank zu sein heißt, einen Fehltritt gemacht zu haben, einen teuflischen Tritt, murmelte Mylia. Krankheit verändert von Grund auf.

Doch an diesem Tag, um vier Uhr morgens, beschloss sie, das Haus zu verlassen. Nachts legt sich der Schmerz anders auf den Körper. Wie ein chemisches Substrat, eine Substanz, die langsam, vom Auge kaum wahrnehmbar, eine minimale Schräge hinabgleitet. Tag und Nacht liegen nicht auf derselben Ebene. Es besteht ein leichtes Gefälle.

Mylia, deren Schmerz sich nicht auf einen Punkt, sondern auf diese große Fläche konzentrierte – irgendwo zwischen Magen und Unterleib –, suchte auf der Straße nach einer Kirche.

Der Landstreicher, auf den sie trifft, ist überrascht und kann ihr nicht weiterhelfen. »Eine Kirche?«, fragt er.

»Es ist Nacht«, sagt der Mann, »Sie können überfallen werden. Sie sollten keine Kirche, sondern einen Polizisten suchen, der Sie beschützt. Wohin wollen Sie um diese Uhrzeit? Ich könnte Sie auch überfallen.«

Mylia lächelt und geht weiter. Der Schmerz lässt keine Konzentration auf eine Unterhaltung zu.

Ich will keinen Polizisten, ich will eine Kirche. Wissen Sie, ob sie um diese Uhrzeit geschlossen sind?

Die Füße ohne Beziehung zu den Schuhen. Offensichtlich gehorchten Mylias flache, eher männliche Schuhe den Bewegungen ihrer Füße. Knochen und Muskeln haben einen Willen, das Material, aus dem die Schuhe gemacht sind, nicht. Das Material, aus dem die Schuhe gemacht sind, ist es gewohnt zu gehorchen, daran besteht kein Zweifel. Gehorcht, Schuhe, flüsterte Mylia mit naiver Perversion. Wie die Substanzen sich doch von vornherein einteilen ließen in die mit eigenem Willen und die, die mechanisch gehorchten (und das galt auch für die Menschen)! Die Schuhe waren der reine Gehorsam, erbärmliche Sklaverei, sie widerten sie in diesem Augenblick an; Speichelleckerei des Materials gegenüber dem Menschen. Kein Hund ist so speichelleckerisch wie diese Substanzen.

Es gibt keine Möglichkeit zum Dialog zwischen Substanzen, die aus verschiedenen Lagern stammen, nicht aus feindlichen, denn das hieße, an Kampf zu denken, an eine Mobilisierung von Energien, an einen möglichen Aufstand der Menschen, die zu den Waffen greifen, um zu kämpfen; hier hingegen ging es nicht um eine Entfremdung zwischen feindlichen Substanzen oder räuberischen, sich zum Kampf um ein kleines Stück Land rüstenden Parteien; es ging um absolute Passivität auf der einen und starke, konstruktive oder destruktive, doch stets verändernde Energie auf der anderen Seite. Wir sind nichts, was wartet, murmelt Mylia, während sie festen Schrittes auf die Kirche zugeht.

»Die Kirche ist geschlossen. Wissen Sie, wie spät es ist? Es ist kurz vor fünf. Sie sollten sich hier nicht aufhalten. Nachts ist das eine schlechte Gegend, eine gefährliche Gegend.«

Mylia hätte den guten Mann am liebsten ausgelacht. Eine schlechte Gegend, weil sie gefährlich ist! Sie, die ihre Krankheit mit sich herumschleppt, eine Krankheit, die bereits in ihr ist, die sie in ein, zwei Jahren töten wird. Sie, die mit dem Tod in einem Raum eingeschlossen ist, aus dem sie nicht mehr herauskommt; sie sucht doch genau diese Gefahr, das, was sie noch reizen, was zusätzliche Energien freisetzen kann. Fast hätte sie zu dem Mann, vermutlich ein kleiner Kirchendiener, gesagt: Nur weil diese Gegend gefährlich ist, ist sie doch keine schlechte Gegend. Hier lässt sich etwas aufbauen.

Denn die Gefahr ist wie eine Frage, auf die man schnell eine Antwort geben muss. Und was ich brauche, ist eine gute, eine exakt gestellte Frage, eine Frage, die mich zwingt, eine großartige, sinnstiftende Antwort zu finden. Die Krankheit ist bereits kein Wolf mehr, den ich mit etwas Stärkerem erschrecken kann. Sie ist nicht mehr der zu erschreckende Wolf, sondern untrennbar mit mir verbunden.

»Ich habe keine Angst vor der Gefahr, ich würde nur gern in die Kirche gehen, und zwar jetzt«, sagte Mylia.

»Es ist fünf Uhr morgens. Alles schläft. Diese Gegend ist gefährlich. Sie sollten nach Hause gehen. Am Vormittag sind wir alle ausgeruht; dann finden Sie, was Sie suchen. Um diese Uhrzeit gibt es keine guten Ratschläge. Die Leute sind müde.«

Mylia schwieg eine Weile; dann krümmte sie sich, weil sie einen ungewohnten seitlichen Schmerz verspürte, der anders war als der große ständige Bauchschmerz. Dieser andere Schmerz kam von weiter oben.

»Verzeihen Sie, ich hatte gerade Schmerzen.«

»Sie sollten nach Hause gehen; es ist sehr spät.«

Mylia fing sich wieder. Sie fragte:

»Gibt es hier eine Kirche, die noch geöffnet ist?«

2

Der Mann verabschiedete sich, oder vielleicht ging auch Mylia einfach weiter. Das kleine Seitenportal wurde wieder geschlossen; alles zu, sogar das kleine Seitenportal. Ein Gefängnisbau. Mylia begann ihn zu umrunden.

Man hatte in der Höhe arbeiten müssen, die Männer hatten sich auf Leitern gestellt, um die Kirche zu bauen. Auf Zehenspitzen, um mit Ziegelsteinen zu hantieren, dachte Mylia amüsiert. Sich recken, um einen Ziegelstein ein paar Zentimeter höher zu platzieren, was für eine schöne Aufgabe für einen Mann.

Mylia kam ein Gedanke, der sie noch mehr lächeln und gleich darauf erröten ließ. Sie verspürte einen Druck auf der Blase.

Es war fünf Uhr vorbei. Die Türen waren verschlossen, dieser überaus sympathische (oder überaus hellhörige?) Mann hatte mit ihr gesprochen, ein kleiner Kirchendiener, der sich dafür entschuldigte, dass die Kirche geschlossen war.

Mylia kannte die Welt: Ein Mann, der sich um fünf Uhr morgens bei einer Unbekannten entschuldigt, ist ein unbedeutender Mensch. Er ist bestimmt der Kloputzer, dachte sie, bereute jedoch sogleich den Gedanken.

Aber es war nicht dieser Gedanke, der sie erröten ließ. Mylia hatte eine volle Blase, und dort, an der Kirche, war niemand. Daher hatte sie Folgendes gedacht: Ein stolzer, seine Umwelt wenig respektierender Mann würde sich, wenn er eine volle Blase hätte, einfach an die Mauer stellen, seinen Penis herausholen und pinkeln. Und genau das wollte Mylia in diesem Augenblick auch tun: an die Kirchenmauer pinkeln.

Es war weniger das Bedürfnis, an einem Ort, zu dem man ihr den Zutritt verweigert hatte, ihren Duft zu hinterlassen wie die Hunde; es war auch keine instinktive Provokation oder Auflehnung gegen die Öffnungszeiten, die an diesem Tag leider nicht ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprachen, es war nichts dergleichen: Mylia war fast vierzig, sie handelte nicht mehr aus reiner Provokation. Und sie war krank. Sie hatte beschlossen, die ihr verbleibende Energie zu bündeln. Jede Handlung war einzig und allein auf sie selbst ausgerichtet. Ich handle für mich, ich agiere, als lebte ich vor einem Spiegel. Egoismus oder einfach nur ein sparsamer Umgang mit Reizen?

Das Bedürfnis, an die Kirchenmauer zu pinkeln, darf also nicht als Exhibitionismus verstanden werden. Es war vielmehr das vertikale, im rein biologischen Sinne menschliche Bild eines Mannes, der seinen Penis festhält und um fünf Uhr morgens an die Kirchenmauer pinkelt, dieses Bild war es, das Mylia gerade verfolgte und das sie irgendwie neidisch machte. Sie hatte es niemals bereut, Frau zu sein (und sie hatte nie versucht, etwas »Männliches« zu tun), doch nun verspürte sie einen merkwürdigen, unnötigen – fast irrationalen – Ekel, weil sie kein Mann war. Als sei sie von Grund auf gescheitert.

Ihr war klar, dass sie sich lächerlich machen würde, wenn sie um diese nächtliche Stunde tatsächlich an die Kirchenmauer pinkelte. In welcher Stellung sollte sie dies tun? Mit dem Gesicht oder den Pobacken zur Mauer? In beiden Fällen würde sie leicht in die Hocke gehen müssen, und genau dieses »leicht« ärgerte sie. Ein vitaler Mensch ging entweder ganz in die Hocke, warf sich notfalls sogar zu Boden, wenn er seine Feigheit eingestand, oder aber er blieb aufrecht und ohne zu schwanken stehen. Aber das ging bei ihr nicht. Bei jeder dieser starken Körperhaltungen würde sie ihre Hose beschmutzen. Und so empfand sie den kleinen Schritt, den sie gleich darauf von der Mauer zurücktrat, als Demütigung, als Ausdruck eines: Ich schaffe es nicht.

Danach kam ihr ein anderes Bild in den Sinn. Wenn jemand sähe, wie sie an die Kirchenmauer pinkelte, würde er denken, eine Verrückte vor sich zu haben. Mylia hatte kleine Ängste, häusliche Ängste: Wie so viele Leute aus ihrem Bekanntenkreis hatte sie Angst vor Mäusen, und wenn ihr eines dieser grauen Tierchen über den Weg lief, bekam sie fast einen hysterischen Anfall; außerdem fürchtete sie sich vor körperlicher Gewalt. Das war eine große Angst: die Furcht vor gewaltsamem Körperkontakt mit anderen Menschen. Davor hatte sie sich von klein auf geschützt. Sie können mich zerbrechen, hatte sie damals gedacht. Sie ging nur dann auf andere zu, wenn sie sich sicher war, dass man sie gut behandeln würde. Wenn sie von guter Hand berührt würde. Also betrachtete Mylia Menschen, die körperliche Konfrontation, handgreifliche Aggressivität, den Konflikt liebten, mit großem Befremden.

Mylias andere große Angst war, dass irgendjemand sie wieder ansehen und flüstern könnte: Die ist doch verrückt!

Sie wollte nie wieder verrückt erscheinen. Natürlich würden die Leute nach dieser falschen Behauptung (Die ist doch verrückt!) sofort erkennen, dass sie gar nicht verrückt war, dass sie letztlich nichts anderes tat als normale Leute, doch ein einziger sie als geistesgestört einstufender Blick, allein der Gedanke daran, machte ihr schreckliche Angst. Niemand wird je wieder sagen, dass ich verrückt bin, murmelte Mylia.

3

Mylia hatte sich kurz von der Kirche entfernt. Sie würde sich nicht zum Gespött der Leute machen und sich als jemand darbieten, der den eigenen Körper nicht beherrschte, nur um an eine Kirchenmauer zu pinkeln. Sie ging in den nahe gelegenen kleinen Park, stellte sich hinter einen Baum, brachte ihre Pobacken in Position und pinkelte.

Es war niemand in der Nähe, und ihr Bauch schmerzte noch immer. Sie hatte kein Papier dabei, also rupfte sie ein paar Kräuter aus und putzte sich damit ab. Sie warf sie weg, zog Schlüpfer und Hose hoch und richtete sich wieder auf.

Vor ihren Augen erhob sich noch immer die Kirche, schweigend. In knapp drei Stunden würde der Tag anbrechen, und die Helligkeit war für Mylia eine eindeutige Bedrohung, eine materielle Bedrohung. Die Kirche war nicht geöffnet, weil es Nacht war, doch nun würde sie nicht den Fehler begehen, morgens hier gesehen zu werden; alle würden merken, dass sie etwas gesucht und nicht gefunden hatte. Sie hasste es, sich schwach zu zeigen, und nach der kurzen Demütigung durch den kleinen Kirchendiener, der wegen ihr das Seitenportal der Kirche geöffnet hatte, nach dieser Schwäche, etwas zu suchen, das geschlossen war, fand Mylia langsam wieder zu dem tierischen Instinkt zurück, sich nur dann blicken zu lassen, wenn sie stark war. Und diesen Instinkt kannte sie gut, man könnte sagen, bis ins letzte Detail, schließlich zwang ihre Krankheit sie ständig, Begegnungen zu verschieben: An Tagen mit starken Schmerzen würde sie sich niemals mit jemandem treffen. Das hieße aufhören, Mensch zu sein; das hatte sie inzwischen begriffen. Und obwohl Mylia wusste, dass sie nur noch ein paar Monate zu leben hatte, dass sie vielleicht in ein paar Wochen schon sterben würde, wollte sie nicht aufhören, Mensch zu sein. Der Stolz, wiederholte sie mehrmals. Verliere nie den Stolz.

Doch da spürte Mylia unvermutet ihren Bauch. Anfangs verwirrte sie dieses neue Warnsignal: Das war nicht ihr Schmerz, das war ein anderer, aber genauso stark, sogar noch stärker.

So ein Witz, dachte sie und hätte am liebsten gelacht. Ich habe Hunger, murmelte sie, weil ich seit Stunden nichts mehr gegessen habe. Ich bin hier allein in der Nacht, aber mein Magen ist mitgekommen; ich habe Gesellschaft.

Was ihr erst lustig erschienen war, führte gleich darauf zu einer Überlegung und einer schwer erklärbaren Furcht. Dieser Magenschmerz, der Esslust ausdrückte, war nun stärker als der andere, konstante Krankheitsschmerz, jener Schmerz, der ihr bald schon das bringen würde, wovor alle großen und kleinen Ängste flüchteten. Wie kann es sein, fragte Mylia sich, dass der durch das Bedürfnis, Brot zu essen, hervorgerufene Schmerz stärker ist? Die Ärzte hatten ihr doch prophezeit: Ich werde an dem Schmerz sterben, den ich gerade nicht verspüre.

Sie erkannte deutlich, dass hier, neben der Kirche, zwei große Schmerzen miteinander konkurrierten: der Schmerz, der sie umbringen würde, der schlimme Schmerz, wie sie ihn nannte, und der andere, der gute Schmerz, der Schmerz des Appetits, der Schmerz des Essenwollens, ein Schmerz, der ihr sagte, dass sie lebendig war, gewissermaßen der Schmerz des Lebens, als wäre der Magen in diesem Augenblick, noch mitten in der Nacht, Sinnbild der Menschlichkeit, aber auch ihrer ambivalenten Beziehung zu den Geheimnissen, über die man nichts weiß. Sie war lebendig, und dieser Umstand schmerzte gerade auf objektive, materielle Art mehr als der nunmehr sekundäre Schmerz, an dem sie sterben würde. Als wäre es in diesem Augenblick wichtiger, ein Stück Brot zu essen, als unsterblich zu sein.

Mylia blickte in alle Richtungen: Wo bekomme ich um diese Uhrzeit etwas zu essen her? Kein Licht, kein Mensch.

4

Mylia umrundete erneut die Kirche. Nirgendwo ein Licht, und das bedeutete, dass die Welt entweder gestorben oder noch nicht geboren war.

Die geleerte Blase verschaffte ihr unverhoffte Erleichterung. Einen Schmerz hatte Mylia also besiegt, und es war, als wäre sie in dieser Nacht, ohne es zu merken, in ein Spiel hineingeraten; in ein Spiel, das ihr stets neue Probleme vorsetzte – oder besser: in sie hineinsetzte –, die nichts anderes waren als körperliche, materielle Schmerzen, konkrete Dinge des eigenen Körpers. Ein Problem hatte sie bereits gelöst: Sie hatte hinter einem Baum ihre Blase entleert, und ihre Blase hatte sich beruhigt; ein Schmerz weniger. Der Urin war draußen. Zu viel Urin im Körper schmerzt.

Doch sie musste auch noch für andere Schmerzen in ihrem Körper eine Lösung finden, und bei einem zumindest wusste sie, dass er unheilbar war. Ein Wort war hierbei übrigens wichtig; die Ärzte, mehrere, hatten es ihr gegenüber gebraucht: Das lässt sich nicht heilen. Höchstens durch ein Wunder.

Der erste Schock: Sie stellte ein Problem für die Ärzte dar. Ein Schmerz, sie war krank; das war ein Problem, ein biologisches Rätsel. Und die Ärzte antworteten ihr achselzuckend, mit mehr oder minder professioneller Betroffenheit, doch ohne zu handeln, ohne ihr etwas vorzuschlagen: Das ist unheilbar. Ihre Krankheit kann man nicht behandeln. Sie war ein Problem für die Ärzte geworden, und das gaben sie nun an sie zurück, unverändert, ohne etwas zu tun: das unangetastete Problem. Warum muss ich sterben?

Mylia ist nun hinter der Kirche, steckt die Hand in die Hosentasche und holt einen kleinen staubigen Gegenstand hervor. Eine weiße Kreide. Kreide, um auf die Tafel zu schreiben. Sie hatte sie in der Hosentasche vergessen. Am Vormittag hatte sie ein Haus auf die Schiefertafel in ihrem Wohnzimmer gemalt. Sie hatte das Haus gemalt, in dem sie wohnen würde, wenn sie nicht bald schon sterben müsste. Nicht in den nächsten Monaten zu sterben bedeutete für Mylia dasselbe, wie ihre Unsterblichkeit zu erlangen. Wenn ich nicht sterbe, sagte sie, werde ich zu einem unsterblichen Wesen. Zwei Jahre.

Doch nun hielt sie die Kreide in der Hand: Sie liebte es, damit zu malen. Grobzeichnungen nannte sie es.

Die Kreide in der rechten Hand, trat sie an die Rückwand der Kirche. Nachts wirkte die Wand gelb, doch Mylia war sich nicht sicher. Die Nacht verfälschte die Farben oder löschte sie ganz aus. Aber die Kreide war zum Glück weiß, obszön weiß, dachte sie und lächelte.

Plötzlich, ohne zu überlegen, was sie tat, schrieb sie in winzigen, kaum erkennbaren Buchstaben ein Wort an die Wand: Hunger.

5

Mylia betrachtete die restliche Wand und dachte: Was kann ich um fünf Uhr morgens noch an die Rückwand einer Kirche schreiben?

Sie versuchte, sich an Bücher zu erinnern, die sie gelesen hatte, an Sätze, die für diesen Augenblick und diese Wand geeignet waren.

Da verspürte sie wiederum eine starke Regung ihres Magens, des zweiten Schmerzes. Sie ließ den Arm sinken, die Kreide fallen und ging langsam auf eine andere Straße zu. Sie hatte Hunger, und der Schmerz wurde langsam unerträglich.

Während Mylia immer schneller ging, dachte sie beinahe amüsiert, ich habe solchen Hunger, ich werde nicht sterben! Mit einem solchen Hunger kann man unmöglich sterben!

Mylia fühlte sich in der Tat merkwürdig sicher: Dieser Hungerschmerz war eine Garantie, eine Garantie für Unsterblichkeit, zumindest eine momentane. Ich kann nicht einfach so an dem anderen Schmerz sterben, wenn dieser hier so stark ist! Und in dieser Gewissheit versuchte sie, das Essbedürfnis zu vergessen. Wenn ich esse, vergeht dieser Schmerz, und dann kommt wieder der andere, und an dem sterbe ich sehr wohl.

Dort hinten ein Licht, vielleicht ein bereits geöffnetes Café, und rechts davon eine Telefonzelle. Sie blieb stehen und ging dann zur Telefonzelle. Der Bauchschmerz hörte nicht auf; ich muss ganz schnell was essen, sonst sterbe ich, murmelte Mylia und lachte. Sie nahm ein paar Münzen, warf eine davon in den Schlitz, wählte eine Nummer, es tutete. Niemand nahm ab. Vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn: Jemand nahm ab. »Ernst«, sagte Mylia, »ich bin an der Kirche. Bist du’s?«

Dann fiel Mylia in Ohnmacht.

KAPITEL II

Theodor

1

Theodor hatte die Zeitschrift gerade an den entscheidenden Stellen aufgeschlagen, wo eine nackte Frau, aus deren Nase Blut lief, mit gespreizten Beinen ihre Scheide offen zur Schau stellte. Auf einem anderen Foto sah man das Gesicht der Frau und das Blut, das aus ihrer Nase strömte. Auf einem dritten Foto riss die Frau, nunmehr bekleidet, den Mund vor der Kamera auf. Ganz hinten sah man ein paar schwarze Zähne.

Theodor blätterte zwei Seiten zurück. Er sah sich erneut das Foto an, auf dem die auf dem Bett liegende Frau ihre Scheide präsentierte. Die krausen Schamhaare bildeten einen schwarzen, fast beängstigenden Fleck, ein gefährlicher Fleck, murmelte Theodor mit einem leisen Lachen.

Theodor stand auf und trat ans Fenster. Das nächtliche Dunkel wurde lediglich durch Straßenlaternen erhellt, die ihr Licht in geordnetem Maß auf die Natur warfen, ein Licht in erprobter Menge, wirksam gegen Verbrechen und Ängste, ein quasi wissenschaftliches Licht, wie Theodor erkannte.

Er war in dieser Nacht erregt und nostalgisch zugleich. Eine seltsame Gefühlsmischung, dachte Theodor mit leisem Behagen.

Das Fenster wurde in diesem Augenblick zur Mittlerin des Widerspruchs. Eine starke Energie zog Theodor einerseits zum Fenster hinaus und erteilte ihm den Befehl, die Treppe hinabzusteigen und sich schnell in Gesellschaft zu begeben. Such dir Schamhaare, Theodor, eine Entschädigung in Form von Schamhaaren, flüsterte er mit perversem Lächeln. Die Welt muss mich für die schlechten Tage entschädigen.

Andererseits verspürte Theodor, nachdem er die Bilder dieser Frau, die ihr Geschlecht zur Schau stellte, betrachtet hatte, auf einmal eine merkwürdige Nostalgie. In bestimmten Augenblicken zeigte das Fenster nicht mehr das Dunkel über der Stadt, sondern nur noch das Gesicht Theodor Busbecks, des Arztes und Forschers mit zunehmend schlechtem Ruf, des Exmannes von Mylia Busbeck.

2

Die Totengräber schienen Nebenjobs auszuüben, und von Weitem war nicht zu erkennen, was sie taten: Sie konnten gerade ein Verbrechen begehen oder einfach nur Überstunden machen. Und um drei Uhr morgens mussten das wirklich ganz besondere Überstunden sein, dachte Theodor und trat, verwundert über so viel berufliches Engagement, näher.

»Was tun Sie hier? Essen Sie Leichen?«

Es waren zwei Männer in gleicher Uniform, was unwillkürlich Ordnung und nicht Verbrechen suggerierte. Schaufeln in der Hand, Handschuhe an. Die Männer hoben den Kopf und sahen Theodor an.

»Ich bin Arzt«, stellte er sich vor. »Theodor Busbeck, Arzt.«

Einer der Männer hob die Hand zum Gruß und stellte sich vor, doch die einzelnen Silben waren nicht zu verstehen. Der andere stellte sich ebenfalls vor:

»Kruch, wir arbeiten hier«, sagte er.

»Das sehe ich«, antwortete Theodor. »Zwei Männer mit Schaufeln in der Hand tun unweigerlich was.«

»Wir kümmern uns um die nächtlichen Toten, Herr Doktor«, sagte grinsend der Mann, der sich als Kruch vorgestellt hatte.

»Eine neue Erfindung, scheint mir.«

»Lieber Herr Doktor«, sagte Kruch mit verändertem Tonfall, »es tut mir leid, aber Sie können hier nicht bleiben.«

Theodor Busbeck verstummte. Er blickte auf den Mann, der sich ihm als Kruch vorgestellt hatte, und anschließend auf den anderen, der ihn gleichgültig ansah. Sie hatten die Schaufeln keine Minute aus der Hand gelegt, doch es war unmöglich zu erkennen, was sie machten.

»Wenn Sie mich mal brauchen …«, sagte Theodor zum Abschied, »ich bin Arzt.«

»Ja, wenn wir mal sterben«, antwortete trocken der Mann, der sich als Kruch vorgestellt hatte.

Theodor Busbeck ging weiter.

Seine Kniegelenke schmerzten. Die Nachttemperatur weitet die Knochen, dachte Theodor, medizinische und mystische Tendenzen vermischend. Zweihundert Meter weiter, bereits in einiger Entfernung zum Friedhofstor, blieb er stehen und beugte das rechte und dann das linke Knie. Der Schmerz in den Gelenken blieb bestehen.

Er wiederholte den Vorgang: beugte ein Bein und dann das andere. Anschließend ging er weiter in Richtung Zentrum.

Nach einer kurzen Unterhaltung mit zwei makabren Totengräbern gehen wir nun in ein Bordell. Die Behandlung der Nostalgie erfolgte auf dem Friedhof, kümmern wir uns also nun um den Schwanz, dachte Theodor, wobei er das letzte Wort deutlich flüsterte, als sagte er es zu jemand anderem oder müsste es laut aufsagen, um den letzten Rest Scham zu verlieren, der ihm noch geblieben war.

KAPITEL III

Hanna, Theodor, Mylia

1

Seit einigen Minuten betrachtete Hanna aufmerksam ihre Lider. Da der Spiegel zu hoch angebracht war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, ihre Lippen zu sehen. Im Moment legte sie jedoch gerade lila Lidschatten auf.

Hannas Finger beherrschten dieses kleine wissenschaftliche Instrument, falls man es so nennen darf, ein wissenschaftliches Instrument für die Schönheit, ein Gebrauchsgegenstand, der sich über all die Jahrhunderte gehalten hat. Mit dem lilafarbenen Stift zwischen den Fingern wirkte Hanna konzentriert wie ein Chirurg im entscheidenden Augenblick einer heiklen Operation. Die Spannung in der rechten Hand wurde geleitet von einer Klarsicht, die ihr Ziel nie aus den Augen verlor. Dieser fast mikroskopische Akt der farblichen Verschönerung zielte jedoch nicht auf einen Zustand natürlicher Schönheit ab. Die Farbe wollte keine schlichte Würdigung, sie wollte Begeisterung. Eine Schönheit mit Wirkung, keine Schönheit zum Bestaunen. Und unter Schönheit mit Wirkung war der Zustand zu verstehen, der die Frau zum Handeln trieb. Zu kreativem, männlichem Handeln. Hanna bemalte sich ihre Lider nicht lila, um geliebt zu werden, sondern um auf fulminante Weise die Einsamkeit eines Mannes zu durchbrechen. Mehr noch als auf ihren superkurzen Rock und die weit ausgeschnittene Bluse vertraute Hanna auf das Lila ihrer Lider, welches, kombiniert mit einem tiefgründigen Blick, eine weitere Nacht lang, dessen war sie sich sicher, die Männer verwirren würde, die sie brauchte. Und der Begriff tiefgründiger Blick

»Ich geh raus«, sagte sie. »Es ist drei Uhr morgens, wenn ich bis sechs nicht wieder hier bin, hat mich jemand umgebracht.« Und mit einem Lachen schlug sie die Tür zu.