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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel L’Allieva
bei Longanesi in Mailand.

1. Auflage

Copyright © 2011 by Longanesi & Co. S. p. A.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
bei carl’s books, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-07317-6
V002

www.carlsbooks.de

Meiner Mutter und meinen Großeltern,
denen ich alles verdanke, was ich bin

Der Tatort

Die Wohltätigkeitsparty, die wie jedes Jahr von diesen Übereifrigen aus der Kindermedizin veranstaltet wird, macht mir wieder einmal klar, dass ich als Assistenzärztin der Rechtsmedizin in der Hierarchie ganz unten stehe – ohne jede Aussicht auf Verbesserung. Während alle anderen Mediziner überzeugt sind, dass sie nach ganz oben gehören.

Berauscht von einer Dauerberieselung durch Emergency Room, haben sie eine völlig verzerrte Wahrnehmung ihres Berufsalltags. Und keiner macht sich die Mühe, irgendeinem Loser aus der Kindermedizin zu erklären, dass er mit George Clooney aber auch so gar nichts gemeinsam hat. Und ich nichts mit CSI – Den Tätern auf der Spur. Denn an meinem Schreckensinstitut, wo Demütigung wie ein Hochleistungssport betrieben wird, sind wir Assistenzärzte wirklich das Allerletzte. Und dass einer von uns die großen Fälle übernehmen dürfte, ist vollkommen ausgeschlossen.

Von den Kollegen verlacht – allesamt potenzielle Anwärter auf eine Rolle in Dr. House – und vom Kreis jener ausgeschlossen, die glauben, sie wären Figuren in einem Roman von Patricia Cornwell, bleibt mir deshalb nichts anderes übrig, als mich im Institut für Rechtsmedizin als lästiges Anhängsel zu fühlen.

Diese Party, mit der Forschungsgelder für Nervenkrankheiten in der Kindermedizin gesammelt werden, ist für mich vielleicht deshalb immer eine der übelsten Veranstaltungen des ganzen Jahres.

Die Versuchung, mich krankzumelden, ist wirklich groß. Ein plötzlicher Migräneanfall, Asthma, eine Salmonellenerkrankung, gegen die nicht mal Imodium hilft. Doch wie jeder weiß, zerreißt man sich auf Partys gerne über Abwesende das Maul, und auf so was habe ich keine Lust. Daher ist es sinnlos, noch länger zu zögern: Hier braucht es viel guten Willen – und Hochprozentiges –, um den Abend zu überstehen.

Na los, Alice. Mehr als drei Stunden wird das Ganze nicht dauern. Und was sind schon drei Stunden. Immer noch besser als eine von Wallys Lektionen übers Ersticken.

Vor dem Eingang ist mir immer noch nach flüchten, aber ich widerstehe. In dem großen Saal ertönt die Samtstimme von Dusty Springfield mit The look of love. In dem engen Durcheinander sehe ich meine Institutskollegen, die wichtigtuerisch herumschreien wie Schüler auf dem Pausenhof.

Jeder berufliche Mikrokosmos hat, wie ein Bienenstock, seine Königin. Wir sind stolz, Ambra Negri della Valle in unserer Mitte zu haben, um die meine Kollegen gerade herumscharwenzeln. Alle außer Lara Nardelli, die als Einzige vermutlich noch weniger Lust auf diese Party hat als ich. Wir beide haben die Eingangsprüfung zusammen bestanden und sind im gleichen Jahr. Doch statt eines Konkurrenzkampfes, in dem ich ganz klar unterliegen würde, pflegen wir ein solidarisches Verhältnis. Sie ist vermutlich die Einzige, der ich am Institut vertraue. Lara lächelt mich freundlich an und kommt mir mit einem Teller Törtchen entgegen. Sie hat rötliche, schlecht getönte Haare, die zu einem schiefen Dutt hochgesteckt sind. Ihre gelangweilte Miene beruhigt mich. Zusammen beobachten wir, wie Ambra sich in einem ihrer Monologe ergeht, anscheinend außerstande, den Unterschied zwischen anregend und nervtötend wahrzuneh men. Und doch scheint der Ecce-Homo unseres Instituts sich zu amüsieren: Claudio Conforti. Jahrgang 1975, im Zeichen des Löwen geboren, Junggeselle. So schön wie James Franco in der Werbung für Gucci by Gucci. Ein Mistkerl – sicher der größte Mistkerl, den ich kenne, und wahrscheinlich der größte Mistkerl im ganzen Universum. Brillant, bejubeltes Institutsgenie und der beste Schüler vom Boss. Sein Lebenslauf ist legendär, und er ist das Musterbeispiel für einen jungen, aufstrebenden Absolventen, der, nachdem er genug geschleimt hat, aus dem formlosen Sumpf des Doktorandendaseins zum wissenschaftlichen Mitarbeiter aufgestiegen ist.

Seine Augen – ein tiefes, mit goldenen Sprenkeln durchsetztes Moosgrün – sind in steter Unruhe. Wenn er müde ist oder erschöpft, schielt er ein wenig mit dem linken Auge, doch tut das seinem hervorragenden Aussehen keinen Abbruch. Seine Züge sind bereits von Exzessen gezeichnet, und vielleicht umgibt ihn deshalb jene Aura von Zügellosigkeit, die ihn für mich so anziehend macht. Wenn nötig, ist er entschlusskräftig, doch von seiner Veranlagung her ist er eigentlich mehr der abwägende und kontemplative Typ. Er wird von allen angehimmelt, weil er zielstrebig arbeitet und sich gut präsentieren kann. Und ich verehre ihn besonders, weil er mir in diesem Haifischbecken von Institut stets zur Seite steht – fast ein Wunder bei der unendlichen Gleichgültigkeit und Anarchie, die hier ansonsten herrschen.

Das Institut für Rechtsmedizin ist ein Ort, an dem man sich vor allem mit Sezieren und nur am Rande mit Forschung beschäftigt. Zugang zu diesem Reich erhält, wer das Medizinstudium abgeschlossen hat. Um für die Facharztausbildung zugelassen zu werden, zählen die Noten und ein zweistufiger schriftlicher Test. Wenn man den besteht, gelangt man endlich in diese schwierige, unheilvolle Welt. Nicht, was dort geschieht, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren, sondern die Menschen, die dort arbeiten. Die Hierarchie ist schnell erklärt: An der Spitze steht der Mann, den alle, mich eingeschlossen, nur den »Boss« nennen. Auch wenn ich ihn manchmal innerlich anders nenne, und zwar beim einzigen Namen, der seiner beruflichen Stellung angemessen ist: »Il Supremo« oder »der Allerhöchste«. Der Boss ist auf dem Gebiet der Rechtsmedizin mittlerweile eine Legende. Mit anderen Worten: Er ist die Rechtsmedizin, und wenn ein Fall verwickelt ist, kann man sicher sein, dass er das letzte Wort hat.

Die Ebene unter ihm besetzen folgende Gestalten: Wally, deren Persönlichkeit sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt: »Deine Gedanken sind frei, aber natürlich entscheide ich.«

Dann Professor Giorgio Anceschi: Er ist ein Mann mit vielen Gaben, aber ohne genügend Durchsetzungsvermögen in diesem Andendschungel von Institut, in dem hinter jeder Ecke bis an die Zähne bewaffnete Guerilleros lauern. Und so wird er, wie das oft der Fall ist, von der Spitze leider wenig geschätzt, obwohl er korrekt und zuvorkommend ist. Mit seinem Übergewicht erinnert Anceschi ein bisschen an den Weihnachtsmann: Er ist tolerant, gutmütig und besitzt eine seltene intellektuelle Großzügigkeit. Er verfolgt keine Karrierepläne mehr und betrachtet seine Arbeit am Institut eher als Hobby – etwas, das man tut, wenn man gerade Zeit dazu hat. Doch wenn er mal anwesend ist, wirkt er von allen Dozenten am zugänglichsten: Denn über Fehler oder sonstige Schwierigkeiten von uns sieht er einfach verständnisvoll hinweg.

Seit Kurzem hat sich Claudio zu dieser Gruppe gesellt. Das war auch bitter nötig. Er macht unsere Tage prickelnder, denn er ist ein großer Sprücheklopfer, und ihm gefällt es, den Spielführer zu mimen – eine Rolle, die ihm übrigens wie auf den Leib geschneidert scheint. Bei allen Anspielungen und Zweideutigkeiten gegenüber uns Assistenzärztinnen (wir alle verharren ihm gegenüber in einem Zustand von großer Ergebenheit) hat Claudio immer dem Grundsatz gehorcht: Anschauen ja, anfassen nein. Wahrscheinlich, weil er es für unangemessen hält, sich mit dem gemeinen Volk abzugeben. Denn ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der ein Jahr an der John Hopkins University verbracht hat und der begehrteste Junggeselle der gesamten medizinischen Fakultät ist, würde niemals eine von uns verführen. Schon allein deshalb nicht, weil es ihm nicht ge fallen würde, wenn das dem Boss oder Wally zu Ohren käme. Und so macht er einen mitunter kräftig an, ohne jemals konkret zu werden. Heute Abend bin ich dran: Er nähert sich mit einem Glas Martini Bombay Sapphire und der Sicherheit eines Raubtiers auf Beutezug in der zentralafrikanischen Savanne.

»Ciao, Allevi«, setzt er an und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Der Duft, von dem ich eingehüllt werde, ist, seit ich ihn kenne, immer der gleiche: eine Mischung aus Declaration, Pfefferminzbonbons, sauber gewaschener Haut und Haargel. »Möchtest du einen?«, fragt er mich und reicht mir seinen Drink.

»Zu stark«, antworte ich und schüttle den Kopf. Für ihn ist er das offensichtlich nicht, denn er schüttet ihn in sich hinein, als wäre es Wasser.

»Gefällt’s dir?«, fragt er und schaut sich teilnahmslos um.

»Ja, doch. Und dir?«

Er schaut mich entgeistert an. »Also wirklich. Das wird jedes Jahr schlimmer. Eigentlich müsste man diese Partys boykottieren, aber das ist politisch nicht korrekt«, sagt er und lässt sich dabei auf ein Sofa fallen. »Komm, setz dich, hier ist Platz für zwei.«

Während ich mich vorsichtig nähere (durch meine Stöckelschuhe bin ich zwar zehn Zentimeter gewachsen, kann mich aber kaum auf den Beinen halten), raffe ich mein Kleid. Und ich wäre fast auf ihn draufgefallen, hätte er nicht instinktiv mein Handgelenk gepackt. »Vorsicht, Allevi. Mir so vor aller Augen zu Füßen zu fallen, gehört sich nicht.«

»Mach dir keine Hoffnungen, selbst wenn du der letzte Mann auf Erden wärst«, antworte ich säuerlich. Aber das ist natürlich gelogen, denn ehrlich gesagt, müsste gar nicht so viel passieren, um ihm zu erliegen.

»Klar, und das soll ich dir glauben«, erwidert er mit offenem Sarkasmus und verzieht das Gesicht zu einer komischen Grimasse. »Vielleicht sollten wir in den nächsten Tagen unserer Laune mal nachgeben, Alice«, flüstert er mir ins Ohr und berührt dabei leicht meine nackte Schulter. Eine beiläufige Geste, die mich auffahren lässt. Ich schaue ihm in die Augen. So macht Claudio das immer: ein flüchtiges, hochexplosives Angebot, aber so nonchalant dahingesagt und mit einem Unterton von: »Du weißt, dass ich das nicht ernst meine, oder?« Diese Art von Bemerkungen lässt er nahezu täglich fallen, und wenn ich seinen fortlaufenden Bezeugungen, wie sehr ich ihn sexuell anziehe, wirklich Glauben schenken würde, wäre ich vermutlich schon an meinen Illusionen zugrunde gegangen.

Ich kann nichts erwidern, denn das Kampflied vom AC Mailand auf seinem Handy reißt uns aus der Unterhaltung.

»Wie peinlich.«

»Treue geht über alles.«

Treuer Wähler von Berlusconis Popolo della Libertà, Träger der jeweils neuesten Kollektionen von Ralph Lauren, Besitzer eines Mercedes der S-Klasse und eines Montblanc-Füllers in limitierter Ausgabe, den er immer wie zufällig zur Schau stellt: Claudio ist wirklich eine Figur wie aus anderen Zeiten, in seiner Existenz so bedroht wie der Pandabär. Trotzdem wirkt er wie der Prototyp des karrierebewussten Rechtsmediziners, der sich mit viel Sorgfalt selbst erschaffen hat. Und in einer Welt, in der es kaum noch Gewissheiten gibt, vermittelt Claudio den beruhigenden Eindruck, dass es gelingen kann, immer der Alte zu bleiben.

»Hallo? Ja, der bin ich. Okay. Wo genau? Via Alfieri 6. Ja genau, das ist eine Querstraße von der Merulana«, erklärt er mit lauter Stimme und macht mir Zeichen, das alles irgendwo aufzuschreiben. »Genau. Keine Sorge. Ich komme gleich.«

Er schiebt sein iPhone wieder in die Jackentasche zurück, steht auf, streicht sich das dichte kastanienbraune Haar beiläufig zurück und sieht mich aufgeregt an.

»Obwohl du so ätzend bist wie selten, was wahrscheinlich daran liegt, dass du seit Jahren wie eine Nonne lebst, nehme ich dich an einen Tatort mit. Jetzt bist du mir was schuldig.«

Trotz seiner gemeinen Anspielung darauf, dass ich seit ungefähr drei Jahren keinen Freund mehr habe, bin ich begeistert. Super! Ein Tatort!

»Wohin geht ihr?«, fragt Ambra und verfolgt missmutig, wie wir uns in Richtung Ausgang bewegen. Alles, was ihrer Kontrolle entgeht, beunruhigt sie.

»An einen Tatort«, erklärt Claudio eilig.

»Ich komm auch mit«, ruft die Bienenkönigin und stellt ihren Drink auf einem Tischchen ab.

»Gut, aber beeil dich. Und führ dich um Gottes willen nicht wie eine alberne Gans auf«, betont er herablassend.

Ambra braucht nur eine Sekunde, um den Kollegen einen letzten betörenden Blick zuzuwerfen und uns ein kieksiges »Wartet auf mich!« zuzurufen, dann haben wir sie am Hals – diese aufdringliche Spaßbremse.

Zufall ist nicht gleich Zufall

Das Haus gehört zu den für Rom typischen malerischen Bauten des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts: Es ist imposant, mit rötlichem Anstrich, steckt voller Geschichte und wird ganz offensichtlich von Angehörigen der römischen Oberschicht bewohnt. Der Eingang führt in einen Innenhof, in dem es von Journalisten, Kameramännern und Polizisten nur so wimmelt. Es herrscht eine fieberhafte Aufregung, die sofort vermittelt, dass etwas völlig aus der Ordnung geraten ist. Ambra kuschelt sich fröstelnd in ihren roten Mantel, und einen Augenblick lang habe ich den Eindruck, dass auch sie sich fehl am Platz fühlt.

Claudio ist dagegen ganz in seinem Element: Er hat die Fähigkeit, seine Auftritte so zu gestalten, als sei er immer und überall ein VIP. Seine Selbstsicherheit hilft ihm in jeder Lage – jetzt, während er die Treppe hinaufgeht, ganz besonders. Die Blicke der Hausbewohner, die sich mit gespitzten Ohren auf den Treppenabsätzen versammelt haben, lassen ihn kalt. Ambra und ich folgen ihm wie zwei Pudel an der Leine und versuchen, keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Aber das ist mit unseren High Heels nicht leicht. Die von Ambra sind vielleicht noch zwei Zentimeter höher als meine.

»Na, Dottore, haben Sie Ihre Mädels im Schlepptau?«, kommentiert Polizeioberkommissar Visone leise, der glaubt, dass nur Claudio ihn hört. Visone ist um die fünfzig und stammt aus Salerno, ein unverbesserliches Schlitzohr, das an jedem Tatort zum Inventar gehört. Eigentlich ist er ganz sympathisch, aber ich habe den leisen Verdacht, dass er frauenfeindlich ist. »Dottore, was wollen diese zwei Schnepfen bei der Rechtsmedizin? Die passen doch eher ins Fernsehen«, hat er mal zu Claudio gesagt, der das dann am Institut in perfekter Nachahmung des Originaltons zum Besten gegeben hat.

»Guten Abend«, begrüße ich ihn mit einem Lächeln.

»Guten Abend, Dottoressa«, antwortet er, vermeintlich respektvoll.

»Um wen handelt es sich?«, frage ich ihn leise.

»Um ein junges Mädchen. Was für ein Unglück!«

Claudio macht mir ein Zeichen, meinen Mund zu halten, und Ambra schaut mich empört an.

Schweigend hefte ich mich wieder an Claudios Fersen, der damit beginnt, methodisch jeden Winkel der Wohnung zu fotografieren. Das Apartment ist minimalistisch und geschmackvoll eingerichtet. Die Küche in dunkler Eiche, an den Wänden Originalfotos in Schwarz-Weiß, neben einem schwarzen Ledersofa ein kümmerlicher Bonsai. Das könnte eines dieser Apartments in Manhattan sein, wie man sie in Filmen sieht. Doch dann erfahre ich zu meinem Erstaunen, dass hier zwei Studentinnen wohnen: Giulia Valenti und Sofia Morandi de Clés, beide studieren Jura und kommen aus sehr wohlhabenden Familien. Giulia ist das Opfer, und Sofia – ein gepflegtes Mädchen mit blonden Locken, das ich in dem allgemeinen Durcheinander nur flüchtig zu Gesicht bekomme – hat die Tote gefunden.

Wir nähern uns dem Zimmer von Giulia Valenti, und sofort läuft es mir kalt über den Rücken: Ich erkenne sie eindeutig wieder.

Als diese furchtbare Wohltätigkeitsparty immer näher heranrückte, wollte ich dem Abend wenigstens einen Sinn geben, indem ich ihn als Vorwand zum Kauf eines schönen, neuen Kleids in einem superschicken Laden an der Via del Corso nutzte. Ich schwankte zwischen einem roten Seidenkleid, dessen Preis weit über meinen Verhältnissen lag, einem fliederfarbenen Kleid, das möglicherweise der Jahreszeit nicht ganz angemessen war, und einem schwarzen mit einem tiefen Ausschnitt und hübschen Spitzen. Ich hatte das schwarze gerade verworfen, als eine zarte, doch melodiöse Stimme mich aus meinen Gedanken riss.

»Möchtest du einen Rat?«

Ich wandte mich um und sah eine außerordentlich schöne junge Frau. Doch nicht nur ihre Schönheit fesselte mich, sondern ihre ganze Art war faszinierend. Sie schien wie ein Wesen von einem anderen Stern, ihre Haut war makelloser als die der Models in der Topexan-Werbung. Sie hatte volles glattes schwarzes Haar, das ihr fast bis zu den Hüften reichte, und ihre Bewegungen waren von einer Anmut, die mich sofort für sie einnahm. Sie war dünn bis an die Grenzen der Magersucht, und ihre rot lackierten Fingernägel standen in scharfem Kontrast zu ihrer Blässe. Sie war nicht geschminkt, und doch wirkte sie fast übernatürlich perfekt. Sie war keine Verkäuferin, sondern probierte genau wie ich Unmengen von Kleidern an, die sich auf dem Hocker in ihrer Kabine auftürmten.

»Gerne«, forderte ich sie auf, weil sie mir sofort sympathisch war.

»Du solltest das schwarze nehmen. Das ist wahnsinnig schick, und an dir sieht es wirklich irre aus. Eine Perlenkette dazu, und du bist perfekt angezogen. Glaub mir.«

Ich betrachtete mich im Spiegel, als würde ich mich zum ersten Mal sehen.

»Meinst du?«

»Vertrau mir, für Klamotten habe ich ein Händchen. Auf jeden Fall, wenn es nicht um meine eigenen geht«, antwortete sie mit einem freundlichen Lächeln. »Du siehst wirklich gut darin aus.«

Der Gedanke, dass ich ihr gefiel, gab am Ende den Ausschlag. Ich fühlte mich perfekt, denn ich sah mich mit ihren Augen.

Während ich mich in meiner Kabine wieder umzog, hörte ich sie aufgeregt telefonieren.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, bist du verrückt geworden? Nein? Na, dann hast du einfach ein bisschen zu viel Fantasie. Ich habe keine Lust mehr, darüber zu reden, und falls du nach Antworten suchst – ich bin bestimmt nicht die richtige Adresse.«

Wir kamen gleichzeitig aus unseren Umkleidekabinen heraus und wären fast ineinandergerannt. Wir lächelten uns an, aber ihre Züge hatten sich verschattet.

»Ich hoffe, dass dir dieses Kleid Glück bringt«, sagte sie zu mir, aber ohne die Begeisterung von zuvor.

Heute Abend trage ich das Kleid, das Giulia Valenti für mich ausgesucht hat. Ich trage dieses Kleid, das mir Glück bringen sollte, und blicke schreckensstarr auf Giulias Leichnam.

Die Tote liegt am Zimmereingang merkwürdig verrenkt auf dem Boden. Ihre Augen sind geschlossen. Sie sieht aus wie ein Blatt im Herbst, vertrocknet und leblos.

Unter ihrem Körper ist Blut auf dem Fußboden, viel Blut, rot wie das Leben. Ihre Fingernägel sind immer noch perfekt lackiert. Claudio beugt sich zu ihr hinunter, zieht ihre Augenlider hoch und berührt sie, um ihre Körpertemperatur zu erfühlen. »Sie ist noch warm. Ambra, sieh nach, ob Livores zu finden sind.«

Ambra lässt sich das nicht zweimal sagen und ist in einem Satz an seiner Seite, wobei sie etwas übertrieben herumhampelt. Das sieht ihr ähnlich, wegen jeder Kleinigkeit gerät sie in Aufregung. Denn die Stellen am Körper zu suchen, wo sich das Blut staut und die ein sicheres Anzeichen für den Tod sind, ist keine Amtshandlung, die besonders große Kompetenz erfordert. Ambra macht es, ohne sich Handschuhe überzuziehen – das ist ein Grundsatz unseres Bosses, ein Vertreter der alten Schule in der Gerichtsmedizin: »Egal, wie ekelhaft das sein mag, man muss den Leichnam immer mit nackten Händen anfassen, denn nichts ist so sensibel wie unsere Haut.«

Ambra betastet Giulias Hals und bewegt ganz leicht ihren Kopf. Außerdem – sicherlich vor allem, um zu zeigen, dass sie das auch kann – umfasst sie Giulias Kinn, um die Starre des Unterkiefers zu kontrollieren, was ein weiteres, sicheres Anzeichen für den Tod ist.

»Es gibt nur sehr wenige Livores. Nur violette Schatten, mehr nicht. Die Starre ist noch nicht eingetreten.«

Alles spricht dafür, dass der Todeszeitpunkt noch nicht lange zurückliegt.

»Sehr gut, Ambra, du denkst immer schon voraus. Du, Allevi, hinkst ja meistens eher hinterher. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Kollegin.«

»Das war nicht eben viel, um sich ein Beispiel zu nehmen«, murmle ich frustriert, weil mir klar ist, dass Kompetenz und Erfolg praktisch niemals Hand in Hand gehen.

Anstelle mich von diesen beiden Sklaventreibern peinigen zu lassen, die es selbst hier nicht lassen können, sich schmachtende Blicke zuzuwerfen, schaue ich mir lieber den Raum genauer an.

Die Zimmerwände sind in einem kalten Lavendelton gestrichen. Das Bett ist unordentlich gemacht, ein schwarzer, leichter Pullover, den Giulia offensichtlich über ihrer weißen Bluse getragen hatte, hängt schief auf einem Bügel und rutscht dort fast herunter. Auf dem Toilettentisch Schminksachen von Chanel, ein Paar edle dunkle Lederhandschuhe, eine graue Brieftasche der Marke Gucci GGplus, die vor Kreditkarten überquillt, eine antike silberne Haarbürste mit den eingravierten Initialen GV, Kompaktpuder, eine Schachtel mit Antibabypillen. An den Wänden hängen verschiedene Fotografien: Einige sind am Meer aufgenommen, andere scheinen Momentaufnahmen aus langweiligen Vorlesungen zu sein. Manche zeigen Giulia mit einem Mädchen, das ihr sehr ähnlich sieht. Andere mit einem jungen Mann, der oft Ascot-Krawatten trägt. Oder mit Gruppen von Freunden, und Giulia sieht immer fröhlich aus.

Die ganze Atmosphäre beunruhigt mich zutiefst, und ich wende mich wieder dem Leichnam zu.

Wäre da nicht die Blutlache auf dem Boden, könnte man denken, Giulia schlafe. Die Augen mit dem orientalischen Einschlag, die dichten und dunklen Wimpern, die Haut wie aus Elfenbein. Sie sieht aus wie Schneewittchen.

Es sind immer Details, die mich umhauen und anrühren. Und so kommen mir beim Anblick von Giulias kleinen bloßen Füßen die Tränen. Sie sind ein wenig platt und im Vergleich zu ihrer beträchtlichen Körpergröße zu klein geraten. Ihr dünner Armreif, farbig und abgenutzt, den sie an irgendeinem Stand gekauft hat und der sich von dem wertvollen Brillantenarmband abhebt, erinnert mich daran, dass in diesem Leichnam einmal ein Leben steckte, das voller Zukunft war. Nie wieder wird es so sorglose Augenblicke geben wie jenen, in dem sie diesen Armreif erstand.

Es sind genau diese Gedankengänge, die Claudio regelmäßig zu der Bemerkung veranlassen, dass ich für diesen Job nicht geeignet bin.

Ich nähere mich meinem Mentor, um Hinweise zu erhalten.

»Was ist deiner Meinung nach passiert?«

»Am Nacken hat sie eine Platzwunde. Aber die muss man sich erst einmal richtig ansehen, und zwar bei geeigneter Beleuchtung. Schau, der Türrahmen: Er ist blutverschmiert. Sie hat auch einige recht frische Prellungen an den Armen.«

»Ist sie umgebracht worden? Was meinst du?«

Claudio runzelt die Stirn, während er die Reflex, mit der er unaufhörlich Fotos schießt, manuell einstellt. »So aus dem Bauch heraus ist das schwer zu sagen. Die Verletzung könnte zum Beispiel von einem Sturz herrühren.«

»Gut, aber was erscheint dir wahrscheinlicher?«

»Glaubst du, das kann ich jetzt entscheiden? Alles, was ich vor der Autopsie sagen kann, ist, dass sie tot ist«, antwortet er kurz angebunden und schüttelt dabei hochmütig den Kopf. »Oberflächlich betrachtet gibt es aber keine Verletzungen, die von Selbstverteidigung herrühren, und das lässt den Schluss auf einen Unfall zu«, fährt er fort. Und als ob meine Fragen das nahegelegt hätten, legt der große Didakt nach: Mit jener Arroganz, die ihn auszeichnet, wenn er seinem Beruf nachgeht und meint, seine professionelle Überlegenheit beweisen zu müssen, sagt er so laut und deutlich, dass ihn Ambra und Visone noch gut hören können: »Na, Allevi, das ist doch der richtige Moment, um die Vorgehensweise am Tatort zu rekapitulieren.«

Ah, wie ich ihn hasse, wenn er sich so aufführt. Leider kommt das häufig vor. Denn seit er zu den Aktenträgern rund um den Boss gehört, glaubt er, sich auch noch als strenger Lehrer und Wissensvermittler aufspielen zu müssen.

»Nur die Grundregeln! Und halte dich bitte kurz«, bohrt er weiter, nicht mehr ganz so aufmerksam, während er seine Fotos schießt.

Wenn ich vor Zuhörern sprechen muss, neige ich zum Stottern. Und Ambra wartet schon mit verschränkten Armen darauf, dass ich gleich auf die Nase falle. Aber auch wenn ich allzu oft zerstreut und desinteressiert wirke, bin ich sehr wohl in der Lage zu antworten, denn ich liebe die Rechtsmedizin aus vollem Herzen.

»Umgebung untersuchen und dabei mit größter Sorgfalt auf jedes Detail achten. Alles beschreiben, auch Kleinigkeiten, die unwichtig erscheinen. Die Position des Leichnams, Kleider, eventuelle Verletzungen nicht vergessen. Und auf alles achten, was als Indiz für ein Verbrechen gelten könnte.«

»Zum Beispiel?«

»Anzeichen für eine Auseinandersetzung.«

»Weiter.«

»Den möglichen Zeitraum für den Eintritt des Todes unter Berücksichtigung aller klimatischen Faktoren ermitteln.«

»Sehr gut. Noch was?«

»Nichts verändern, ohne vorher Aufnahmen oder Notizen gemacht zu haben.«

»Das reicht. Du, Ambra, schreibst mir zwei Zeilen zum Leichnam, und du, Alice, darfst jetzt aufs Klo gehen, falls du dir eben fast in die Hose gemacht hast.« Ambra legt eine Hand auf ihre vollen Lippen, so als wolle sie ihr Lachen verbergen, und Claudio zwinkert mir mit jenem Wohlwollen zu, welches jede noch so grobe Unverschämtheit aus seinem Mund verzeihlich macht.

Am Ende verlässt er das Zimmer, um sich die restliche Wohnung anzusehen. Ich gehe ihm nicht nach, sondern schaue mir weiter alles aufmerksam an. Dabei ziehe ich mir ein Paar Handschuhe über, die ich aus seiner Tasche genommen habe. Ich betrachte Giulias Körper näher. Ihre Hornhaut ist noch nicht getrübt, und man sieht noch die warme, haselnussbraune Tönung ihrer Iris. Sie hat unglaublich lange Wimpern. Ich bin auf der Hut. Wenn Claudio mich hierbei ertappt, dreht er mir den Hals um.

Damit die Bedingungen klar sind: Ich nehme dich überallhin mit, aber du hältst dich gefälligst zurück.

»Dottoressa Allevi«, ruft mich jemand kurz darauf.

Ich drehe mich abrupt um. Es ist Ambra, die in der Gegenwart von Fremden so tut, als wäre sie eine Rechtsmedizinerin von Ruf, und nicht eine einfache Assistenzärztin voll kriecherischem Ehrgeiz.

»Was ist los, Ambra?«

»Komm, wir sind so gut wie fertig.« Beim »wir« muss ich mir ein Grinsen verkneifen, denn Claudio ist eine Primadonna und hat keinesfalls die Absicht, sich die Butter von irgendjemandem vom Brot nehmen zu lassen. Aber Ambra schaut demonstrativ auf ihre Uhr, wirft mir ungeduldige Blicke zu und folgt Claudio, der hinausgeht, ohne sich auch nur im Geringsten um seine zwei Schnepfen zu kümmern.

Im Auto beobachtet mich Claudio im Rückspiegel. Ich sitze völlig erledigt auf dem Rücksitz, während Ambra uns wie üblich zulabert.

»Was ist los?«, fragt er mich plötzlich.

»Nichts.«

»Du bist total fertig. Ich sag’s ja immer, du bist für diesen Beruf nicht geschaffen.«

»Das stimmt nicht«, versuche ich mich zu wehren, »und das weißt du auch genau. Ich habe schon alles Mögliche gesehen, jeden Anblick und jeden Geruch ertragen.«

»Und was ist dann diesmal so anders?«, legt er nach. Ambra gähnt.

»Ich kenne Giulia Valenti vom Sehen. Geht dir das nie so, dass du von einem Fall in besonderer Weise berührt wirst?«

»Nur unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Allevi, du musst lernen, dass das der einzige Aspekt ist, der dich zu interessieren hat, sonst übst du deinen Beruf nicht objektiv aus.«

»Wann führst du die Autopsie durch?«, frage ich todmüde.

»So wie es aussieht, Montag oder Dientag.«

Also wird Giulia in eine Kühlzelle kommen, wo sie für mindestens achtundvierzig Stunden bleiben wird.

Ich fühle, wie eine unendliche Traurigkeit mich zu einem Klumpen zusammendrückt.

Als ich endlich zu Hause ankomme, kostet es mich eine geradezu übermenschliche Anstrengung, die Treppen hinaufzusteigen. Ich bewohne ein winziges Apartment gegenüber von der Stazione Cavour, für das ich eine Wuchermiete zahle. Die Wohnung ist so klein, dass mir manchmal die Luft zum Atmen fehlt, und sie ist auch ziemlich baufällig. Doch mein Vermieter, dieser Geizkragen von Signor Ferreri, hat keine Lust, auch nur einen Euro herauszurücken, um sie bewohnbarer zu machen. »Die Lage ist ein Traum«, erwidert er auf unsere Vorhaltungen. Unsere, das heißt meine und die meiner Mitbewohnerin: Nakahama Yukino, oder einfach, so wie im Fernen Osten, Yukino. Yukino ist Japanerin und kommt aus Kyoto. Sie studiert italienische Sprache und Literatur und verbringt gerade zwei Jahre in Rom, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, zart gebaut, trägt auffallende Klamotten und hat einen Pagenkopf. Ihr Pony ist immer dermaßen perfekt in Form, dass er unecht wirkt.

Ich liebe Yukino. Sie ist die Hüterin meines Heims, eine römische Hausgöttin mit Mandelaugen.

Als ich die Haustür öffne, hat sie es sich im Yogasitz in einem Sessel bequem gemacht. Ihr hübsches kleines Gesicht schaut verdutzt auf den Fernsehschirm, in ihren Händen hält sie einen Manga.

»Du bist noch wach? Gibt’s Probleme?«, frage ich und hänge meinen Mantel an den Kleiderhaken.

Sie schaut mich mit einem Gesichtsausdruck an, der im mer aufgelöst wirkt, ich habe keine Ahnung, warum. »Drei«, antwortet sie und hält dabei drei Finger hoch. »Erstens habe ich meinen Mensa-Ausweis verloren. Der ganze Nachmittag hin, um einen neuen zu bekommen. Zweitens, es regnet durch das Fach, und Signor Ferreri will keine Verbesserungen bezahlen. Drittens ist mir seit einer Stunde schlecht. Und trotzdem schaffe ich es nicht, mich vom Fernseher abzureißen …«

»Loszureißen, heißt das, Yuki. Und du meinst vermutlich das Dach und nicht das Fach.«

»Egal.«

»Nicht ganz. Aber man muss diesen Ferreri noch einmal anrufen. Ich werde mit dem Anwalt drohen.«

»Anwalt geht nicht. Wir wohnen schwarz hier.« Das ist der einzige Weg,um weniger Miete zu bezahlen.

»Aber das heißt nicht, dass es uns einfach in die Wohnung regnen darf! Alles hat seine Grenzen.« Yukino macht wütend den Fernseher aus und erhebt sich. »Du hast recht. Aber es ist besser, wenn du anrufst. Er versteht nichts, wenn ich rede.«

»Mach ich, morgen rufe ich ihn an«, seufze ich und binde meine Haare irgendwie zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Yukino lächelt freundlich. »Hast du Lust auf eine Pyjamaparty? Ich hab Chips gekauft.«

»Ich bin fix und fertig, ehrlich.«

»Du warst auf einer Party, kein Grund müde zu sein«, erwidert sie schmollend.

»Ich war an einem Tatort, nix Party.«

Yukino reißt die Augen auf. Sie macht das so auffallend und so häufig, dass sie wirklich aussieht wie eine Mangafigur. Manchmal warte ich nur noch darauf, dass über ihrem Kopf eine Sprechblase erscheint.

»Oh … das tut mir leid«, meint sie traurig. »Aber dann brauchst du Entspannung!«, ruft sie und ist erfreut, dass sich die Situation doch noch zu ihren Gunsten wenden lässt.

»Du kannst aussuchen zwischen Kare Kano, Inu Yasha und Full Metal Panic!« schlägt sie vor, während ihre Hände nach den entsprechenden DVDs greifen. »Itazura na Kiss nicht vergessen, aber den haben wir schon so oft gesehen.«

»Yukino, es ist spät!«

»Ich habe eine Idee! Den Teil von Kare Kano, in dem Tsubasa seinen Stiefbruder kennenlernt. Biete!

»Bitte, heißt das!«

»Und wenn ich wieder nach Kyoto gehe …«

Und mit diesem Appell an meine Zuneigung – und weil ich gar nicht daran denken mag, dass sie früher oder später wieder nach Japan zurückkehren wird – ringt sie mir meine letzten Kraftreserven ab, die mich in die für diese Nacht typische Atmosphäre unbegrenzter Möglichkeiten hineintragen.

Egal, ob du ein Löwe oder eine Gazelle bist: Bei Tagesanbruch musst du rennen

Das i-Tüpfelchen nach einem durchschnittlich scheußlichen Tag, den ich in der Leichenhalle verbracht habe, besteht dann zwei Tage später darin, dass ich in einem Nahverkehrszug sitze, um zu meinen Eltern zu fahren. Ich habe sie schon seit mindestens zwei Monaten nicht mehr besucht. Und es stimmt nicht, dass sie mir nicht fehlen würden, wie sie mir oft vorwerfen. Es steckt einfach nur meine fürchterliche Faulheit dahinter.

Wenn ich aus dem Fenster schaue und die schneebedeckte Landschaft betrachte, wird mir ganz nostalgisch zumute. Es hat in Rom seit wer weiß wie vielen Jahren nicht mehr geschneit, und jetzt ist die Erde überall von einer dünnen weißen Schicht bedeckt. Diese Szenerie erinnert an die der Weihnachtszeit und weniger an einen Tag Mitte Februar, an dem mich Langeweile und Melancholie niederdrücken. Außerdem rollt der Zug durch typisch heruntergekommene Vororte, die mir die ganze Schäbigkeit menschlicher Existenz vor Augen führen.

Ich habe die Hausschlüssel vergessen und drücke auf die Klingel. Mein Bruder Marco öffnet mir. Nachdem er seine Wohnung aufgeben musste, weil der Vermieter dort einziehen wollte, ist er kürzlich ins elterliche Nest zurückgekehrt. Bis jetzt hat er noch nichts Besseres gefunden.

Vielleicht ist Marco schwul, ich halte es eigentlich für sehr wahrscheinlich, aber er könnte genauso gut der Kopf von al-Qaida sein, denn über sein Privatleben erfährt man nichts.

Wer ist mein Bruder?

Ich habe keine Ahnung, aber ich weiß, wer er einmal war. Bis zum Alter von siebzehn, achtzehn Jahren war an meinem Bruder nichts Außergewöhnliches. Vielleicht war er ein bisschen einzelgängerischer als der Durchschnitt. Er interessierte sich für Kunst und Malerei und hatte kein großes Interesse am wirklichen Leben. In diesem Punkt sind wir uns sehr ähnlich, denn auch ich lebe ziemlich losgelöst von der Realität – oder wenigstens wirft man mir das oft vor. Nach dem Gymnasium und einem fürchterlichen Aufenthalt in London, der sechs Monate dauerte und von dem er zurückkam und aussah wie Freddie Mercury am Anfang seiner Karriere (samt seiner Mähne), hat sich mein Bruder zu einem Fabelwesen der Goth entwickelt. Und von diesem Augenblick an ist sein Privatleben zum Mysterium geworden.

Meine Eltern bekümmert das anscheinend überhaupt nicht, sie verhalten sich so, als wäre die Andersartigkeit meines Bruders ein Gewinn. Beide sind sehr stolz auf Marco.

Und hier steht er vor mir, um mich zu begrüßen. Mit seinem wunderbar perfekten Lächeln – ich kenne niemand, der schönere Zähne hat als er – und einer Gurkenmaske im Gesicht. Er trägt ein eng anliegendes schwarzes Hemd (seit einigen Jahren trägt er nur noch Schwarz) und hält eine Zigarette zwischen den schmalen Fingern (er hat schon immer wunderschöne Hände gehabt, wie ein Pianist). Seine Nägel sind sorgfältig schwarz lackiert, vielleicht ist es aber auch ein dunkles Violett.

»Marco, grüß dich«, sage ich mürrisch. »Ich hab die Schlüssel vergessen.«

»Grüß dich, kleine Klette«, antwortet er. Er nennt mich seit unserer Kindheit »Klette«, denn ich hing ihm immer am Hosenbein und ließ ihn nicht einmal alleine aufs Klo gehen. Ich liebte ihn einfach über alles und konnte ohne ihn nichts mit mir anfangen. Und mit niemand anderem konnte ich so gut spielen wie mit ihm.

Marco arbeitet als Konzeptfotograf – was das genau ist, habe ich immer noch nicht verstanden. Er fotografiert alles Mögliche, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch Hochzeiten.

»Wasch dir mal gut dein Gesicht, die Maske ist überall angetrocknet«, sage ich schärfer, als ich eigentlich will. Instinktiv betastet er seine Haut mit den Fingerspitzen.

»Ist vielleicht wirklich besser, wenn ich das mal abwasche«, erwidert er ein wenig verblüfft. Meine Mutter kommt jetzt auf mich zu. Sie rührt eine merkwürdige Soße in einer Schüssel. »Grüß dich, meine Kleine, ich habe dich erst morgen erwartet«, empfängt sie mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Stimmt, aber ich wollte die Reise heute hinter mich bringen, um morgen, weit weg vom Lärm der Großstadt, im Glamour von Sacrofano, besser ausspannen zu können. »Warte, Marco, nimm die Tasche deiner Schwester, und trag sie auf ihr Zimmer.«

Ergeben nimmt das Fabelwesen Marco meine Tasche und bewegt sich in den ersten Stock hinauf.

»Mama, findest du das normal, dass Marco Gurkenmasken benutzt?«

»Wie meinst du das?«, fragt sie unschuldig zurück.

»Vergiss es. Es ist gar nichts.«

»Alice, was ich dich noch bitten wollte, versuch, in deinem Zimmer nicht zu rauchen. Ich muss jedes Mal hinterher einen ganzen Tag durchlüften.«

»Versprochen«, sage ich und hebe die Daumen zum Okay, aber ich schaffe es gerade mal zehn Minuten, bevor ich mir die erste Merit anzünde.

Marco streckt den Kopf zur Tür herein, um mir zu sagen, dass das Abendessen auf dem Tisch steht.

Ich drücke die halb gerauchte Zigarette aus. »Keine Sorge, ich verpetz dich nicht«, meint er lächelnd.

»Das ist ungerecht. Du darfst, und ich nicht. Das ist gegen das Grundgesetz.«

»Bei mir hat sies aufgegeben.«

»Warum bist du immer noch hier? Findest du Sacrofano nicht deprimierend?«

An den Türrahmen gelehnt, überlegt Marco einen Augenblick. »Als ich gerade meine Wohnung verloren hatte, wusste ich gar nicht, wohin. Aber ich denke mir, jedes Übel hat auch etwas Gutes. Eigentlich gefällt mir die Gediegenheit hier. Die Vertrautheit, die Normalität. Mir fehlt das Chaos der Stadt überhaupt nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Wenn ich was brauche, dann nehme ich das Auto und bin ganz schnell in Rom. Und dann kann ich wieder hierher zurückkommen, um mich auszulüften. Das ist schön«, beschließt er lakonisch und mit jenem leicht vagen Unterton, der so typisch für ihn ist. »Komm, lass dir nicht zu viel Zeit. Wir sehen uns unten.«

Ich öffne das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Der Himmel ist so dicht verhangen, dass ich den Mond nicht sehen kann.

Es ist Samstagabend. Alles ziemlich fad.