Judy Nunn
Traumwind
Roman
Roman
Aus dem australischen Englisch von Marion Balkenhol
FISCHER E-Books
Judy Nunn ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen Australiens und spielte Hauptrollen in zahlreichen TV-Serien. Auch als Bühnenschauspielerin machte sie sich in England und Australien einen Namen. Inzwischen ist sie als Romanautorin international erfolgreich. Nach ›Feuerpfad‹ ist ›Herzenssturm‹ ihr zweiter Erfolgsroman in Deutschland.
Franklin Ross will ganz nach oben. In Sydney erwirbt er Macht und Einfluss, heiratet die schöne Penelope, die als Schauspielerin in Hollywood Erfolge feiert. Aber bei allem Glanz ist Franklin einsam. Seine wahre Liebe hat er als junger Mann verraten. Nun setzt er alle Hoffnungen auf seine Familie, besonders auf seinen Enkel Terence. Gutaussehend, wild und furchtlos, scheint er das Glück ergreifen zu können. Auf Frauen wirkt er unwiderstehlich – bis auf die junge Künstlerin Emma. Sie weist ihn zurück, spürt, dass ein Geheimnis zwischen ihr und Terence steht. Sie macht sich auf, das Rätsel ihrer eigenen Familiengeschichte zu enthüllen und gerät dabei in höchste Gefahr. Wird sie die Schatten, die über der Ross-Dynastie liegen, vertreiben können?
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Panoramic Images / Getty Images
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Araluen‹ im Verlag Pan Macmillan Australia
© 1994 Judy Nunn
Fur die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400925-4
Für meinen Mann Bruce Venables
Wer gibt den Weinstock um die Traube hin?
William Shakespeare
Die Schändung der Lucretia
Kehrst du zurück nach Araluen
Krieger aus alter Zeit, Wanderer von weither,
Tritt leise auf, erwecke mich sanft
Erzähle mir leise von deinem Leid.
Lass dir von den Wasserlilien
Die Schmerzen lindern, lass Sorgen wanken
Schlafe ewig auf meinen Hügeln
Auf denen zeitlos Reben ranken.
Anonym
Anfänge
(1849–1873)
George und Richard
Es war an einem heißen, rauen Tag Mitte Januar auf der Südhalbkugel. George und Richard standen am Bug der Bark Henrietta an Backbord und sahen die zerklüftete Küste vorbeiziehen. Sie waren still. Nach drei Monaten auf See waren sogar Richard die Worte abhanden gekommen. Beide waren gelangweilt und kribbelig, hatten kein Heimweh mehr, waren nicht mehr seekrank und sehnten sich nur noch danach, wieder festen Grund unter den Füßen zu haben.
Als das Schiff jedoch die südliche Landspitze umfuhr, löste sich ihre Erstarrung, und sie schauten ehrfürchtig nach vorn.
»Mein Gott!«, flüsterte Richard. »Man hat uns ja gesagt, es sei schön hier. Aber sieh dir das nur an, George!«
Dann segelte die Henrietta in den Schoß des Hafens von Sydney.
George und Richard waren von einem erzürnten Vater in die Kolonie verbannt worden, der die Nase voll hatte, sie ständig mit Geld aus irgendwelchen Scherereien auszulösen – in der Hauptsache Glücksspiel und Frauen. Howard Ross hatte ihre Überfahrt nach Australien bezahlt, hatte ihnen jeweils die stattliche Summe von fünfhundert Pfund für den Anfang mitgegeben und ihnen für die nächsten fünf Jahre die Rückkehr nach England untersagt.
»Ihr werdet alle Vierteljahr jeweils einhundert Pfund Unterhalt von mir bekommen«, verkündete er. »Wenn ihr innerhalb von fünf Jahren nicht auf eigenen Füßen steht, will ich mit euch nichts mehr zu tun haben. Dann habt ihr euch weitere Zuwendungen verscherzt und seid auf euch selbst gestellt.«
Howard war ein harter Mann und meinte es ernst, trotz der tränenreichen Proteste seiner Frau Emily, die sich besonders um Richard sorgte, das jüngste ihrer sieben Kinder.
»Er ist noch nicht einmal zwanzig, Howard, und er ist schwach auf der Brust.«
»Blödsinn – das liegt nur an den vielen Zigarren. Er ist ein Simulant.« Bevor seine Frau noch weitere Einwände vorbringen konnte, fügte er hinzu: »Wenn er schwindsüchtig ist, wird das trockene Klima ihm guttun.« Damit war die Diskussion beendet.
Howard hatte von Anfang an für Richard nicht viel übrig gehabt, von George hingegen verabschiedete er sich nur ungern. Er hatte eine Schwäche für George, sagte sich aber, er dürfe niemanden bevorzugen. Beide Jungen hatten anscheinend den labilen Zug der Ross-Familie geerbt, und um sie zu stärken, konnte man sie nur aus dem Nest stoßen. Die übrigen Jungen hatten bewiesen, dass sie überaus fähig waren, das sehr erfolgreiche Familienunternehmen zu führen, und die beiden Mädchen waren zufriedenstellend verheiratet worden. Das Haus Ross hatte einen Ruf zu wahren, der nicht nur die Herstellung hochwertiger Stahlbestecke betraf, sondern auch das beispielhafte Verhalten aller, die dazugehörten – Angehörige einer der besten Kaufmannsfamilien Englands, glaubte Howard zumindest.
George war am Boden zerstört, als er die Entscheidung des Vaters vernahm. Obwohl er erst einundzwanzig war, hatte er einen ausgeprägten Familiensinn und war davon ausgegangen, dass er seinen rechten Platz in der Dynastie einnehmen würde, nachdem er sich die Hörner abgestoßen hatte. Er würde an der Seite seiner älteren Brüder arbeiten. Er würde heiraten und Söhne zeugen, wie es sich für einen echten Ross gehörte.
Kein Argument der Welt konnte seinen Vater von seinem Entschluss abbringen, und betteln wollte George beileibe nicht. Es hätte ohnehin nichts an der Situation geändert. Und selbst wenn, George hätte niemanden um etwas angebettelt. Entgegen der Meinung seines Vaters war der junge George kein Mensch mit Charakterschwäche. Seine Neigung zu Frauen und Glücksspiel war ausschließlich seiner Jugend und dem Einfluss seines jüngeren Bruders zuzuschreiben. Sein jüngerer Bruder war seine eigentliche Schwäche. Er hatte das Bedürfnis seiner Mutter geerbt, Richard zu verhätscheln. Dessen war sich Richard bewusst und nutzte es schamlos aus.
»Um Himmels willen, George, Alter«, zog er ihn auf, »sei doch nicht so melodramatisch. Es ist doch nur für fünf Jahre. Wir werden eine herrliche Zeit haben – es wird ein Abenteuer.« Richard fand den Gedanken aufregend, um die halbe Welt zu fahren, und er ließ sich durch die Aussicht, was ihn am anderen Ende erwarten mochte, nicht einschüchtern. Schließlich war George bei ihm. George würde auf ihn aufpassen. Das machte er immer.
So kam es, dass George und Richard Ross an einem frischen Herbsttag Mitte September des Jahres 1849 von Bristol aus in See stachen, um zur Kolonie New South Wales zu segeln.
Der Sommer in Sydney war schwül. Selbst die Nächte brachten keine Erleichterung von der drückenden Hitze. »Es ist nicht immer so«, erfuhren George und Richard. »Es handelt sich um eine Hitzewelle – es wird wieder besser.« Diese Beteuerungen aber konnten Richard nicht umstimmen. Die Abenteuerlust war ihm in Sydney rasch vergangen. Es lag nicht nur an der Hitze. Nach der anfänglichen Begeisterung beim Anblick des prächtigen Hafens war er zu der Überzeugung gelangt, dass Sydney eine schmuddelige Stadt war. Er vermisste die grünen Hügel von Cheshire.
»Ein abscheulicher Ort«, beklagte er sich. »Sieh ihn dir doch nur an! Jede Menge Platz rundherum, und trotzdem bauen die Leute diese entsetzlichen kleinen Terrassenhäuser, wie sie in den verkommenen Stadtteilen von London stehen! Man sollte doch meinen, sie wüssten es besser.«
»Unsinn«, entgegnete George. »Es gibt ein paar prächtige Häuser in Sydney.«
Doch Richard hörte wie üblich nicht zu. »Hier gibt es nichts als Staub und Hitze und Fliegen und dürre Bäume ohne Farbe«, fuhr er fort. »Können wir nicht irgendwohin ins Grüne ziehen?«
»Nein«, antwortete George abweisend. »Das ganze Land ist so – du solltest dich langsam dran gewöhnen.«
»Das stimmt nicht«, beharrte Richard. »Erinnerst du dich an den Deutschen an Bord? Der zu seinem Bruder nach Adelaide fuhr? Er sagte, außerhalb der Stadt gebe es Täler, die ihn an den Rhein erinnerten. Warum gehen wir nicht dorthin? Bitte, George, lass uns umziehen.« George ließ sich allem Anschein nach erweichen, woraufhin Richard erbärmlich hustete und hinzufügte: »Im Übrigen legt sich dieser Staub erschreckend schmerzhaft auf meine Lungen.«
George lachte laut auf. »Und du bist erschreckend durchschaubar, Dickie.«
Richard grinste nur. Es war wunderbar, einen großen Bruder wie George zu haben.
Drei Monate nach ihrer Ankunft in Australien kauften George und Richard fünfzig Morgen erstklassiges Land in einem Tal nicht weit von Adelaide.
Richard war nicht kräftig genug, um sich mit körperlicher Arbeit abzugeben, und blieb in der Stadt, solange das Anwesen im Bau war. Nachts befriedigte er seine Gelüste, und ein paar Mal in der Woche fuhr er mit dem Pferdewagen hinaus, um zu sehen, wie George und die Männer vorankamen. So war das Leben durchaus zu ertragen.
Adelaide war in Richards Augen eine viel angenehmere Stadt als Sydney. Es war nicht so schmuddelig und übervölkert, und die freistehenden Steinhäuser fand er bezaubernd. Obwohl der Hafen von Sydney beeindruckend war, bevorzugte er die ruhige Schönheit des Torrens River, und die grünen Hügel der Umgebung erinnerten ihn an Cheshire.
Aber nicht nur der idyllische Aspekt der Stadt sagte ihm zu. Unter seiner ruhigen Fassade hatte Adelaide dem Genussmenschen Richard einiges zu bieten. Er schloss rasch Bekanntschaft mit den erleseneren Bordellen und Spielhöllen und wurde bald ein beliebtes Mitglied der extravaganten Gesellschaft von Adelaide, die nach Sonnenuntergang aufblühte.
George wusste, dass Richard sich den Erwartungen entsprechend verhielt, doch nach einer Strafpredigt gab er den Versuch auf, das Betragen seines Bruders zu ändern. Er hatte nicht die Zeit, Richard zu bessern. Es gab viel zu viel zu tun. Allerdings hielt er das Geld beisammen, zahlte seinem Bruder nur ein bescheidenes wöchentliches Taschengeld und drückte ansonsten ein Auge zu. Wenn Richard sein Geld beim Pokern verlieren wollte, dann war es seine Entscheidung.
George war sich auch bewusst, dass Richard seine schwache körperliche Verfassung vorschob, um jeglicher schweren Arbeit aus dem Weg zu gehen, aber es war ihm gleichgültig. Es machte ihm überhaupt nichts aus, denn George war von einer Freude erfüllt, die er nie für möglich gehalten hätte. Er liebte dieses Land. Er schwelgte in körperlicher Verausgabung und dem Wohlgefühl, die sie seinem Körper verlieh, der von Tag zu Tag härter und brauner wurde. Er genoss es, frei von seinem übermächtigen Vater und dem lähmenden Familienunternehmen zu sein. Wer zum Teufel brauchte schon Bestecke?, entschied er aus vollem Herzen. Iss mit den Händen. Mach alles mit den Händen – fälle deine Bäume, baue deine Häuser, bestelle deinen Boden. Und wenn ihm der Schweiß von der Stirn rann, drückte er die erdverkrusteten Fäuste an die Brust und lachte vor lauter Glück auf.
»Araluen. So werden wir das Anwesen nennen«, verkündete er eines Tages.
»Araluen?«, fragte Richard zweifelnd. »Was bedeutet denn ›Araluen‹?«
»›Ort der Wasserlilien‹«, erklärte George. »Es ist ein Begriff der Aborigines. Ich habe ihn von einem Einheimischen erfahren.«
»Ich habe keine Wasserlilien gesehen.«
»Das ist nur, weil du nie hinsiehst. Mach mal einen Ausflug hinunter an den Fluss am östlichen Ende des Tals. Da gibt es ein Wasserloch, das mit ihnen zugewachsen ist.«
»Na gut, dann eben Araluen.«
George schenkte Richards vielen gutgemeinten Vorschlägen zur Gestaltung des Gebäudes keine große Beachtung. Er machte sie für gewöhnlich, wenn er einer jungen Frau imponieren wollte, die ihn an jenem Tag gerade begleitete, um sich das im Bau befindliche Anwesen anzusehen.
»Aber meinst du nicht, George, die Tür sollte da hin?«, fragte Richard dann seinen Bruder und stieß ihm augenzwinkernd in die Seite, als wollte er sagen »Lass mich gut aussehen«, und George erwiderte grinsend: »Gute Idee, Dickie, verdammt gute Idee.« Richards Charme war trotz allem unwiderstehlich, und es gelang ihm immer wieder, George zum Lachen zu bringen. Er ist unverbesserlich, dachte George liebevoll.
Sobald das Anwesen stand, langweilte sich Richard. Er saß auf der großen Veranda und sah George und den Männern zu, wie sie die Scheune bauten. Er wünschte sich, wieder in der Stadt zu sein. Da war es viel unterhaltsamer.
»Du würdest dich nicht so langweilen, wenn du dich betätigen würdest«, fuhr George ihn schließlich an. Er war Richards Nörgelei allmählich leid.
»Was hast du dir denn so vorgestellt?«, fragte Richard gereizt. »Mulgawurzeln ausgraben? Holzschuppen bauen?« Der nachfolgende Husten war hohl und krächzend, und obwohl George wusste, dass sein Bruder um Mitleid heischte, war er besorgt. Das australische Klima hatte sich auf Richards Lunge nicht heilsam ausgewirkt.
»Vater hatte recht«, sagte er scharf. »Hör auf, Zigarren zu rauchen.«
»Du gleichst ihm von Tag zu Tag mehr«, antwortete Richard. »Du verwandelst dich in einen Tyrannen, George.« Er lächelte aber, während er an seinem Portwein nippte und seine Havanna paffte. Wie üblich konnte George es ihm nicht übel nehmen.
»Ich weiß, was du machen kannst, Dickie«, sagte George eines Abends, als sie in der zunehmenden Dämmerung auf der Veranda saßen und zusahen, wie Thomas Holz aus dem Schuppen karrte.
»Ach ja«, antwortete Richard wachsam. »Und das wäre?«
Thomas ging durch die Seitentür in die Küche, wo er mit Emma sprach. Thomas und Emma waren ein Paar in mittleren Jahren, freigestellte Sträflinge, die George ein paar Monate zuvor eingestellt hatte. Sie waren von unschätzbarem Wert. Ein Großteil der Hausdiener in der Kolonie wurde aus den Reihen der Sträflinge rekrutiert; sie hatten eine Art Begnadigung auf Zeit erhalten, die ihnen erlaubte, ihre Strafe als Hafturlaub abzuleisten, ihnen aber untersagte, jemals nach England zurückzukehren.
»Lernen. Das wäre etwas für dich«, fuhr George fort. Richard starrte ihn fassungslos an und trank schweigend seinen Wein. George stand auf, trat ans Geländer der Veranda und breitete die Arme weit aus. »Sieh dir das an. Ist es nicht großartig? Und es gehört uns, Dickie. Das alles.«
Die Aussicht war durchaus beeindruckend. Die lange, gerade Auffahrt zum Anwesen, die massive Steinscheune zur Rechten und zur Linken die Ställe, über denen die Quartiere der Dienerschaft lagen. Doch Richard wusste, dass George das Land meinte. Die vielen Morgen Land, die mühsam gerodet worden waren. Richard fand überhaupt nicht, dass es großartig aussah. Er war der Ansicht, es sei peinlich entblößt; ihm waren die grünen Bäume und die Wiesen, die vorher dort waren, viel lieber gewesen. Aber natürlich musste man das Land roden und sein Getreide anbauen, um zu überleben, also nickte er pflichtschuldig.
»Ja, George, es ist prächtig. Du hast gute Arbeit geleistet. Was genau soll ich denn lernen?«, fragte er, gab sich interessiert und hoffte, Emma würde bald zum Essen rufen.
»Getreide«, antwortete George. »Weizen, vermutlich – den scheinen die meisten Einheimischen zu bevorzugen. Das Land kann bald bestellt werden, und wir müssen den richtigen Zeitpunkt für die Aussaat kennen, die richtige Tiefe, die richtige … «
»Großer Gott, wie soll ich das bloß machen?«
»Die Einheimischen, Dickie. Becirce die Einheimischen und lerne ihre Methoden kennen.«
»Oh.« Plötzlich war Richards Interesse geweckt. Damit bot sich eine passende Ausrede, sich vom Anwesen zu entfernen und in die Stadt zu gehen. »Sehr schön. Dann fange ich morgen mit meinen Nachforschungen an.«
George lächelte. Richards Reaktion war äußerst durchschaubar. »Und beschränke deine Nachforschungen nicht auf die Stadt selbst, ja? Du musst die Anwesen besuchen und mit den Farmern reden.«
»Ja, George, selbstverständlich.«
Merkwürdigerweise jedoch fand Richard die Antwort gerade in der Stadt.
»Wein! Wir werden Wein anbauen!«, rief Richard drei Wochen später, als er vom Arzt zurückkam. Sein Husten hatte sich verschlimmert, und der besorgte George hatte darauf bestanden, dass er einen Arzt konsultierte.
»Wovon redest du, Dickie? Ich dachte, du wärst beim Arzt gewesen.«
»War ich ja auch, und er sagt, wir sollten Wein anbauen. Er hat mir ein paar Stecklinge geschenkt. Sie sind auf dem Pritschenwagen. Komm und sieh sie dir an.«
»Und was ist mit deiner Brust? Mit dem Blut, dass du gestern gespuckt hast? Was hat er über …?« George folgte seinem Bruder hinaus auf die Veranda.
»Ach, vergiss die Brust – sieh dir das hier nur an!« Richard langte in den Pritschenwagen und hielt eine Handvoll Weinstecklinge hoch. »Hier ist unsere Zukunft, George.« Er trat neben seinen Bruder auf die Veranda und drückte ihm einen Steckling in die Hand. »Hier!«
So aufgeregt hatte George ihn noch nie erlebt. Verständnislos starrte er auf den Steckling, dann wieder auf seinen Bruder. »Welchen Wein? Wovon redest du?«
»Trauben, Mann, Trauben! Als Dr.Penfold hierherkam, brachte er Weinstecklinge aus einigen der besten Weinanbaugebieten Frankreichs mit, und er hat Erfolg! Jetzt schon! Nach nur sieben Jahren!«
»Wein?«, sagte George ungläubig, als ihm klar wurde, worauf es hinauslief. »Du meinst, wir sollen unseren eigenen Wein herstellen?«
»Ja, George, ja!«
»Aber wir sind keine Winzer. Die Herstellung von Wein ist eine Wissenschaft.«
»Wir sind auch keine Landwirte. Und die Wissenschaft nennt man Weinbaukunde.«
»Aber davon haben wir keine Ahnung.«
»Dann werden wir es uns beibringen. Damit werden wir anfangen.« Richard hielt die Stecklinge hoch. »Dr.Penfold wird uns helfen – er weiß alles über Weinbau – und in zehn Jahren werden wir zu den besten Winzern des Landes gehören. Siehst du«, prahlte er, »ich kenne die Weinsprache schon.«
George schüttelte den Kopf, doch Richard fuhr unbeeindruckt fort. »Wenn wir schon Einheimische werden müssen, warum sollen wir dann nicht etwas anbauen, das uns Spaß macht, um Himmels willen? Ich bestehe darauf, dass du morgen mit mir zu Dr.Penfold kommst, um dir sein Anwesen anzusehen – er hat uns nach ›The Grange‹ eingeladen.«
Erneut versuchte George zu unterbrechen, doch Richard nahm davon keine Notiz. »Er wird in seiner Praxis in der Stadt sein, aber seine Frau Mary wird uns versorgen. Und jetzt sei ein guter Junge, geh und mach Emma Beine wegen des Tees, während ich den alten Ned hier ausspanne, der auch nach etwas Trinkbarem lechzt.«
»Und sag Emma, jede Menge Kuchen und Gebäck«, rief Richard und führte Pferd und Wagen zu den Ställen. »Ich komme um vor Hunger!«
Wie üblich setzte Richard seinen Kopf durch, und obwohl George auch weiterhin bezweifelte, ob es klug wäre, Weinreben zu züchten, erklärte er sich bereit, zehn Morgen des Landbesitzes zu spenden, um einen Weinberg anzulegen.
»Wenn es sich aber in fünf Jahren nicht als rentables Unterfangen erweist … «
»Zehn, George – du musst mir zehn Jahre Zeit geben. Es wird mindestens zehn Jahre dauern, bis es läuft.«
»Na schön. Zehn«, stimmte George zu. »Aber wenn nach zehn Jahren … «
Richard brach in schallendes Gelächter aus. »Du solltest dich mal hören, George! Du klingst wie Vater, wenn er sich aufplusterte.« George musste unwillkürlich zustimmend lachen.
Es waren harte zehn Jahre, und George wollte oft aufgeben, doch es war Richard, der darauf beharrte, weiterzumachen.
»Es braucht seine Zeit«, sagte er, wenn George wiederholt vorschlug, sie sollten das Land, auf dem sie Wein anbauten, in Weideland für die Schafe umwandeln, die er gekauft hatte. »Das lohnt sich, glaube mir.«
George blieb während der ersten experimentellen Jahre skeptisch, in denen Misserfolge zu überwiegen schienen, doch am Ende begann sich Richards Beharrlichkeit allmählich auszuzahlen, und George musste wohl oder übel zugeben, dass sein Bruder recht gehabt hatte.
Richards Triumph aber war teuer erkauft. Jahrelange schwere Arbeit forderte ihren Tribut, Jahre des Beschneidens, Erntens und Bewässerns. Und wenn er nicht an den Weinstöcken arbeitete, schlenderte er durch ihre Reihen. In der brütenden Hitze des Sommers und den strengen Frösten mitten im Winter ging Richard unaufhörlich zwischen seinen endlosen, kostbaren Weinstöcken hindurch, wie ein Schäfer, der seine Herde bewacht. Kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag wurde er ernsthaft krank. Als Dr.Penfold auf das Anwesen kam, warnte er George, dass Richard einfach nicht in diesem Tempo weitermachen könne.
»Versuchen Sie es ihm zu sagen«, erwiderte George. »Wir haben natürlich Arbeiter, aber er pflegt die Reben, als wären es seine Kinder, und erlaubt niemandem, den Betrieb zu beaufsichtigen, nicht einmal mir.«
Dr.Penfold und seine Frau gehörten zu den erfolgreichsten Weinbauern im Land, und diese Tatsache war es, mehr noch als die ausgezeichnete Reputation des Arztes, die Richard schließlich überzeugte, einen Aufseher einzustellen. Dr.Penfold war in Richards Augen der Einzige, der zu beurteilen vermochte, dass die Weinstöcke nun fest angewachsen seien, der einzig Qualifizierte, um einen Fachmann zu empfehlen, dem man die Aufgabe ihrer Pflege übertragen konnte.
Ein solcher Fachmann war natürlich nicht billig. Auch die zusätzlichen Arbeitskräfte nicht, die George unbedingt einstellen wollte, um Richard klarzumachen, dass für ihn keine Notwendigkeit bestand, aus dem Haus zu gehen. »Zumindest nicht, bis der Sommer anfängt – der Frühlingsfrost tut deiner Brust nicht gut.«
»Das können wir uns nicht leisten, George«, protestierte Richard schwach. »Wir kommen gerade erst über die Runden.«
Das stimmte. Sie hatten erst vor kurzem ihre Schulden beglichen, und Rücklagen waren kaum vorhanden, die Unterstützung durch den Vater war längst eingestellt worden.
Howards Zuwendungen waren in den ersten fünf Jahren vierteljährlich eingetroffen, wie er versprochen hatte, stets zusammen mit einem Brief von Emily, doch ohne ein persönliches Wort von Howard. Am Ende des fünften Jahres wurden sie mit einer kurzen Notiz darüber in Kenntnis gesetzt, dass keine weiteren Gelder mehr angewiesen würden und George und Richard innerhalb eines halben Jahres zurückzukehren hatten.
Sie hatten in Abständen mit ihrer Mutter korrespondiert, doch abgesehen von der Empfangsbestätigung ihrer Zuwendungen hatte weder George noch Richard einen Grund gesehen, mit Howard Kontakt aufzunehmen. Nachdem er jedoch die Anweisungen des Vaters erhalten hatte, schrieb George ihm, sie würden nicht in sechs Monaten zurückkehren, sie brauchten keine weiteren Zuwendungen und hätten sich in ihrer Wahlheimat glücklich niedergelassen. Er schloss den Brief mit einem förmlichen Dank für die Unterstützung, die sie erhalten hatten, sowie dem Versprechen, dem Namen Ross in der neuen Kolonie alle Ehre zu machen. Richard fügte ein Postskriptum hinzu, in dem er versprach, eine Flasche seines besten Weins zu schicken, sobald er zur Verfügung stände.
Danach hörten sie nichts mehr von Howard. Selbst die Briefe von Emily wurden im Lauf der Jahre weniger, als hätte sie die Hoffnung aufgegeben, ihre jüngsten Söhne je wiederzusehen. Vielleicht lag aber auch Richard mit seiner Vermutung richtig, dass Howard ihren Kontakt mit ihnen nicht wünschte.
Wie auch immer, George und Richard gelang es, auch ohne ihr vierteljährliches Einkommen zu überleben. Und die Tatsache, dass sie nun füreinander die Familie waren und ihre Heimat wahrscheinlich nie wiedersehen würden, schmiedete sie noch enger aneinander.
Daher fiel es George unendlich schwer, noch einmal Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen. Nur Richards Krankheit und die Angst um das Leben seines Bruders hatten ihn zu dieser Maßnahme gezwungen.
Zehn Jahre und zwei Monate nachdem Howard die Henrietta mit Kurs auf die Kolonie hatte ablegen sehen, öffnete er Georges Brief, der ihn über Richards Krankheit in Kenntnis setzte und um finanzielle Unterstützung bat.
»Der Junge muss mich für schwachsinnig halten«, tobte er. »Was bildet er sich eigentlich ein?« Trotz Emilys Flehen lehnte er es rundweg ab, Geld zu schicken. »Das ist doch nur ein Trick«, sagte er. »Richard ist ein Halunke. Das war er schon immer. Er hat George überredet, sich mit ihm zu verbünden und möglichst viel aus ihrem Vermögen abzuziehen. Ich muss schon sagen, von George hätte ich mehr erwartet. Sie werden schon wieder zurückkommen, wenn sie merken, wie ungemütlich es ist zu hungern.« Damit war das Thema für Howard endgültig abgeschlossen.
Jener Sommer war hart und schien ewig zu dauern. George erkannte schon bald, dass er sich in ein falsches Gefühl der Sicherheit hatte einlullen lassen, als er Richard überredete, im Haus zu bleiben und den Frühlingsfrost zu meiden. Der Sommer setzte früh ein, plötzlich und mit Macht. Als die heißen Winde durch die Weinberge fegten und die gesamte Ernte zu vernichten drohten, wurde George klar, dass jeder Versuch, Richard vom Arbeiten abzuhalten, nutzlos war. Ihm blieb nur, seinem Bruder zur Seite zu stehen, jeden nur möglichen Windschutz zu errichten und die Weinstöcke regelmäßig zusätzlich zu bewässern.
Das war der entscheidende Sommer. George war sich dessen sicher. Richard hielt noch weitere fünf Jahre durch, doch der Sommer des Jahres 1860 hatte ihm den Rest gegeben. Machtlos sah George zu, wie sein Bruder dahinsiechte und sich bis zum Ende seiner Krankheit nicht geschlagen gab.
Richard starb 1865, sechs Wochen vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, und er starb zufrieden. Sein Erfolg als Weinbauer stand außer Zweifel – selbst Dr.Penfold sagte es. Richard trank mit einem Glas seines feinsten Syrah auf sein Ende.
»Hast du Vater eine Flasche geschickt?«, fragte er.
»Ja, ich habe sie Martin Longford auf der Taglioni mitgegeben. Er sagte, er wolle sie persönlich überreichen.«
»Aber das ist fast sechs Monate her. Und seither nichts?«
»Komm schon, Dickie, du weißt, dass es neun Monate dauern kann, bis uns eine Nachricht erreicht.«
»Unsinn.« Richard schmunzelte. »Vater hat uns verstoßen, und du weißt es genau.« Er hustete, was wie gewöhnlich in einen Anfall ausartete.
Es tat George in der Seele weh, mit anzusehen, wie der zerbrechliche Körper seines Bruders nach Luft rang. Schließlich war der Hustenkrampf vorbei, und Richard lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Es geht dem Ende zu, dachte George und griff nach einem Wasserkrug. Dr.Penfold hatte sich in der Richtung geäußert. Nicht im Beisein von Richard, aber Richard wusste es, dessen war sich George sicher.
Richard lehnte das Wasser mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und zeigte auf das Glas Wein, das George ihm kurz zuvor hatte einschenken müssen. Er trank einen Schluck, prüfte ihn genüsslich, und als er sich schließlich zutraute, zu sprechen, ohne einen weiteren Anfall auszulösen, sagte er mit stolzem Nicken: »Zweiundsechzig – eines unserer guten Jahre. In zehn Jahren wird es ein preisgekrönter Tropfen sein. Hol dir auch ein Glas, George, ich will einen Toast ausbringen.«
Als George mit einem frischen Glas wiederkam, sah Richard zufrieden und gelöst aus. Beinahe heiter, dachte George. Ja, er wusste es bestimmt.
»Vater hat immer gesagt, wir hätten die schwache Seite der Familie Ross geerbt«, meinte Richard, während George sich Wein einschenkte. »Ich zumindest. Ich vermute, auf dich hat er immer noch gehofft.« Er hielt sein Glas hoch. »Nun, alter Knabe, wenn wir zu den schwachen Ross’ gehören, möge Gott die Welt vor den Starken schützen. Auf dich, George.« Sie stießen an. »Du bist ein guter Bruder.«
»Auf uns beide.« Mehr wagte George nicht zu sagen, sonst hätte ihn die bebende Stimme verraten.
»Ehrlich gesagt«, fuhr Richard fort, ohne die Gefühlswallung des Bruders zu bemerken, »du bist auch ziemlich dumm.«
Die Kränkung war echt und ließ die aufsteigenden Tränen wirkungsvoll versiegen. »Dumm? Wieso?«
»Dein Brief an Vater damals – den ich, offen gestanden, ein bisschen schwülstig fand –, als du versprochen hast, dem Familiennamen in der neuen Kolonie alle Ehre zu machen.«
»Was ist damit?«, fragte George abwehrend. »Ich meinte es ernst.«
»Verdammt, Mann, wie willst du dem Familiennamen alle Ehre machen, wenn keine Familie da ist?« George sah ihn entgeistert an, und Richard unterdrückte den Wunsch, laut aufzulachen, das hätte nur den nächsten Hustenanfall ausgelöst. Stattdessen grinste er breit, und sein Lächeln war trotz des ausgemergelten Gesichts gewinnend wie eh und je. »Dumm, verstehst du? Nimm dir eine Frau, Mann, heirate. Du bist achtunddreißig und wirst nicht ewig leben. Einer von uns beiden muss anfangen, Kinder in die Welt zu setzen, und im Augenblick bist wohl eher du auf der sicheren Seite.«
Schließlich brach er doch in Gelächter aus. Die Folge war ein Hustenanfall, und es dauerte ein paar Minuten, bevor Richard fortfahren konnte. Inzwischen war er derart geschwächt, und seine Brust schmerzte so stark, dass er nur noch schlafen wollte. Er schenkte George trotzdem ein Lächeln.
»Du gleichst so sehr unserem Vater mit deiner Entschlossenheit, eine Ross-Dynastie zu gründen.« George wollte sich schon wieder verteidigen, doch Richard redete weiter. »Daran ist ja auch nichts falsch. Du wirst deine Sache gut machen, und im Gegensatz zu Vater wirst du dich um die Deinen kümmern.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich persönlich mache mir nichts aus einer Familie, aber ich möchte, dass du mir etwas versprichst.« George nickte und beugte sich zu seinem Bruder, dessen Stimme nun sehr schwach war. »Nimm dich der Weinstöcke an.«
»Ja, selbstverständlich.« George nickte.
»Gut.« Richard schloss die Augen. »Wie sehen uns morgen. Weck mich, wenn es hell wird.« Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.
George weckte ihn nicht beim Morgengrauen. Am nächsten Morgen war Richard ins Koma gefallen und starb um neun Uhr am selben Abend.
George trauerte um seinen Bruder und fühlte sich einsam wie nie zuvor. Nach der Trauer kam die Wut. Er war überzeugt, dass Richards Tod unnötig gewesen war. Wenn sie moderne, arbeitssparende Geräte hätten kaufen können, wenn sie zusätzlich Arbeitskräfte hätten einstellen können, wenn man Richard ins Krankenhaus eingewiesen hätte … Mit anderen Worten, wenn Howard die Mittel zur Verfügung gestellt hätte, um die George ihn gebeten hatte, wäre sein jüngster Sohn noch am Leben.
Die Wut nagte an George. Er setzte die Familie nicht über Richards Tod in Kenntnis – nicht einmal dann, als er zwei Jahre später von einer seiner Schwestern die Nachricht erhielt, seine Mutter liege im Sterben. Obwohl er zunächst traurig war, stählte er sein Herz dagegen – Emily war schließlich mitschuldig an Richards Tod, ebenso wie seine Brüder und Schwestern. Sie alle hatten ihr eigen Fleisch und Blut verleugnet.
Zu diesem Zeitpunkt traf George eine Entscheidung. Was ihn betraf, nahm die Familie Ross hier und jetzt ihren Anfang. Seine Familie Ross. Aus den Kolonien erwachsen. Er hielt sich an Richards Rat und suchte nach einer Frau, die dieses Namens würdig war.
Er fand sie in Sarah, der einzigen Tochter strenggläubiger Methodisten, Henry und Elizabeth Cusack. Sarahs Eltern waren zutiefst erleichtert, ihre Tochter unter der Haube zu sehen; immerhin war sie fünfundzwanzig, keine große Schönheit, und ihre Mitgift war mäßig.
»Sarah kam unerwartet, sozusagen«, erklärte Henry etwas verlegen. »Wir hatten unser Geld bereits in die Jungen gesteckt, als sie kam.«
»Die Jungen« waren Sarahs fünf ältere Brüder, und der Grund, warum George diese Frau heiraten wollte. Sie hatte eine starke, gute Natur, und in ihrer Familie wurden Männer gezeugt.
»Schon gut.« Mit einer Handbewegung wischte George die Mitgift beiseite. »Ich habe mehr als genug für unseren Bedarf.«
In den vergangenen Jahren hatte George sich gemacht. Er hatte das halbe Anwesen in Weinberge umgewandelt und steckte gerade in Verhandlungen, um einen kleinen benachbarten Weinberg zu kaufen. Das alles habe ich Richard zu verdanken, dachte George. Wenn er es doch nur noch erlebt hätte!
Elizabeth wollte die Hochzeit aus Gründen der Schicklichkeit um einige Monate verschieben. »Schließlich haben Sie Sarah erst vor drei Wochen kennengelernt, Mr.Ross.«
George aber nahm kein Blatt vor den Mund. »Ich bin vierzig und kinderlos, Mrs.Cusack. Ich brauche Söhne.«
Mit der Wahrheit machte sich George nicht gerade beliebt bei Mrs.Cusack, doch sie hatte keine andere Wahl, wie ihr Mann ihr unter vier Augen deutlich machte. Ihrem Stolz wurde jedoch ein wenig Rechnung getragen, als George sich bereitwillig damit einverstanden erklärte, dass alle Nachkommen streng nach den Lehren der Methodisten zu erziehen seien.
George und Sarah heirateten am ersten Frühlingstag des Jahres 1868. Neun Monate und eine Woche nach der Hochzeit wurde ihr erstes Kind geboren, ein kräftiges, gesundes Mädchen, das sie Catherine nannten. Sarah zuliebe verbarg George seine Enttäuschung so gut es ging. Ein Jahr darauf aber, als Sarah einen Sohn zur Welt brachte, vermochte George mit seiner Freude nicht hinter dem Berg zu halten. Großzügig verteilte er Zigarren und sprach offen darüber, Charles sei der erste Nachfahre einer neuen Ross-Dynastie. Einer der zur Welt gekommen war, damit er sich um die Seinen kümmerte. Niemand wusste, wovon George redete; man schrieb es seiner übermäßigen Begeisterung über die Geburt seines ersten Sohnes zu.
Marys Geburt zwei Jahre später war kompliziert. Die Ärzte kämpften um das Leben der Mutter und des Kindes, und sie hatten Erfolg. Allerdings sagten sie Sarah, sie könne nie wieder Kinder haben.
Überraschend schnell fand sich George mit der Tatsache ab, dass ihm die Familie aus Söhnen verwehrt war, die er sich doch von Herzen gewünscht hatte. Es würde eben ein wenig länger dauern, eine Dynastie zu errichten – na und? Auf die Qualität kam es an, nicht auf die Quantität.
In Wirklichkeit hatte er Sarah im Lauf der Zeit lieben gelernt, und der Gedanke, sie zu verlieren, erschreckte ihn. Jetzt gab es eine Familie, und die Zukunft würde es schon richten. Charles würde Söhne haben, die Mädchen würden starke Männer heiraten. Die Dynastie war gegründet.
George war sich dessen so sicher, dass er nicht lange nachdachte, wie er antworten sollte, als der Brief vom persönlichen Sekretär seines Vaters eintraf.
» … in den letzten Monaten seines Lebens«, stand dort zu lesen, »wünscht Ihr Vater, Frieden mit Ihnen beiden zu schließen.« In dem Brief hieß es weiter, Howard sei bereit, sie wieder in sein Testament aufzunehmen, sollten George und Richard sich beeilen, ans Bett des Vaters zu kommen. Offensichtlich wünschte er die Anwesenheit der gesamten Familie an seinem Sterbelager, einschließlich seiner beiden jüngsten Söhne.
Georges Antwort fiel brutal und vernichtend aus. »Setzen Sie meinen Vater darüber in Kenntnis, dass sein jüngster Sohn tot ist«, schrieb er. »Sein jüngster Sohn ist vor acht Jahren gestorben, und sein zweitjüngster Sohn löst hiermit jegliche Verbindung zu seinem Vater.
Es gibt eine neue Ross-Familie, aufgewachsen in den Kolonien, die ab sofort Howard Ross oder seinen direkten Angehörigen keine Loyalität schuldet und auch von dort keine annimmt.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr, dachte George. Freudig erregt setzte er sein Siegel auf den Brief. Wahrscheinlich hatte es von Anfang an kein Zurück gegeben. Doch das hier – er betrachtete den Brief auf dem Schreibtisch – war unwiderruflich. Kompromisslos. Damit war ein Anfang gemacht.
Die frühen Jahre (1915–1946)