Wie Zahlen wirken
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© 2011 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Herstellung: Thomas Gerhardy
Umschlaggestaltung: Martin Baaske
Illustrationen: Martin Baaske
Satz und Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-446-42980-2
Wie Zahlen wirken
I. Von Menschen und Zahlen
Mediokristan vs. Extremistan
Gott würfelt nicht
Zahlen vs. Natur
II. Zählen lernen
Drei auf einen Blick
Der Charme des Ungefähren
Kerben, Kiesel, Knoten
Bodycount
Die Geschichte der 0
III. Was Ziffern wollen
Ziffernzoo
08/15
Marketing by Numbers
IV. Lieblingszahlen und Synästhesie
Idiosynkrasie
Farbige Zahlen
Mein Freund, die 4
V. Gerade oder Ungerade?
3, 5, 7 gehen immer
3 rules!
3 zu 4
4 gewinnt!
VI. Vokabular der Zahlen
Was Sie schon immer ...
… über 1 wissen wollten
… über 2 wissen wollten
… über 3 wissen wollten
… über 4 wissen wollten
… über 5 wissen wollten
… über 6 wissen wollten
… über 7 wissen wollten
… über 8 wissen wollten
… über 9 wissen wollten
… über 10 wissen wollten
… über 11 wissen wollten
… über 12 wissen wollten
VII. Numerologie, Pop und Internet
13. Stock und verflixtes siebtes Jahr
Schicksalszahlenspiele
Pop- und Geek-Zahlen
VII. Fokale Punkte
Halbe und Runde
Magnetische Schwellenwerte
9er-Preise
IX. Geld und Preise
Preispsychologie 101
Anker und Lockvögel
The Art of Pricing
X. Proportionen und Schönheit
Saitenverhältnisse und Sphärenklänge
Goldener Schnitt und Göttliche Teilung
Fibonacci und die Folgen
XI. Menschliches Maß
Homo Quadratus und Homo Circularis
Menschliche Module
Small is beautiful
XII. Soziales Plastik
Einsam, zweisam, dreisam
Soziale Schwellenwerte
Schwärme, Trends und Netzwerke
Literatur
Dank
Man sollte misstrauisch werden, wenn Menschen einem weismachen wollen, man könne mit Zahlen Spaß haben. Oft sind es dieselben, die behaupten, man könne auch ohne Alkohol fröhlich sein: Pädagogen und selbst ernannte Pädagogen. „Kein Schulfach ist so am Ende wie die Mathematik“, schreibt das SZ-Magazin im Juni 2011. Nie waren Mathestunden unbeliebter. Und im richtigen Leben pflanzt sich das fort: Das Klischee vom Zahlenfresser, neudeutsch „number cruncher“, als anämischem Nerd ohne eigenes Sozialleben kommt ja nicht von ungefähr. Excel-Tabellenkalkulationen sind die Hölle und Sudokus, seien wir ehrlich, eine der ödesten Freizeitbeschäftigungen, die man sich vorstellen kann. Es gibt genügend andere Dinge auf der Welt, die Spaß machen. Und das Leben ist zu kurz, um sich mit mathematischen Spitzfindigkeiten herumzuschlagen.
Wenn auch Sie bei Zahlen rotsehen und abschalten, sobald sie in Kolonnen auf dem Papier auftauchen: Willkommen im Club – und in diesem Buch! Wir behaupten gar nicht erst, dass Zahlen per se gute Laune verbreiten würden. Wir wollen vielmehr den Beweis antreten, dass Zahlen nützlich sind. Und dass man ein paar nützliche Dinge über Zahlen wissen kann, die rein gar nichts oder nur entfernt mit Mathematik zu tun haben. Gleichzeitig ist Zahlenwissen exzellentes Partywissen. Kleine Geschichten und urbane Legenden, die sich um Zahlen und Zufälle ranken, üben eine faszinierende Sogwirkung aus, und die Grenzen zum numerologischen Aberglauben sind fließend. Fast jeder hegt seine private Metaphysik der Zahlen. So legen wir uns die Welt zurecht.
Im Alltag gehen normale Menschen anders mit Zahlen um als Mathematiker. Und menschliche Gehirne verarbeiten Zahlen nicht wie ein Computer. Für beide – Mathematiker wie Computer – sind alle Zahlen mehr oder weniger gleich. Auf unserem Zahlenstrahl im Kopf aber sind manche Zahlen gleicher als andere. Bestimmte Punkte bilden Gravitationszentren und haben eine besondere Bedeutung. Wir glauben zu wissen, dass aller guten Dinge drei sind, dass Ehen im verflixten siebten Jahr auseinanderbrechen und dass 13 keine gute Größe für eine Tischgesellschaft ist.
Aber wieso verschenkt man große Blumen nur in ungerader Anzahl? Weshalb sind die 7 und die 19 beim Lotto besonders beliebt? Warum kaufen wir eher Marmelade, wenn wir die Wahl aus sechs Sorten statt aus 15 haben? Wieso sind 2.200 Euro ein besserer Preis für ein Kunstwerk als 1.800 Euro? Weshalb machen sieben Mitglieder ein ideales Projekt-Team aus? Warum entspricht ein DIN-A4-Blatt nicht dem Verhältnis des Goldenen Schnitts? Und wieso können wir nie mehr als 150 „echte“ Freunde haben, selbst wenn auf Facebook eine größere Zahl angezeigt wird? Anders gefragt: Welche Mechanismen liegen unserem eigenwilligen und scheinbar irrationalen Umgang mit Zahlen, Mengen, Größen, Proportionen und Preisen zugrunde?
Zahlen und Zahlenverhältnisse haben eine psychologische Wirkung, ähnlich wie Farben, Formen und Töne. Wie der jeweilige Kulturkreis das Gefühl bestimmt, welche Tonleitern und Klangfolgen als harmonisch empfunden werden, so ist er auch dafür verantwortlich, dass wir bestimmten Zahlen gegenüber alles andere als indifferent sind. Diesseits der abstrakten Ebene der Mathematik liegt das Reich der psychologischen und anthropologischen Zahlen, in dem ganz eigene Gesetze gelten. Gesetze, die sich im Laufe der Evolutions- und Kulturgeschichte herausgebildet haben und die auch heute noch Entscheidungen beeinflussen, Orientierung stiften und unsere Ideen von Harmonie und Schönheit prägen.
Die Quellen für diese symbolische Aufladung sind mannigfach. Einiges lässt sich am menschlichen Körper und den darauf basierenden archaischen Zählsystemen festmachen. Vieles speist sich aus religiösen Vorstellungen, die wiederum nicht selten ihren Ursprung in der frühen Astrologie und Kosmologie haben. All diese Zutaten, kulturellen Assoziationen und Aufladungen sind noch als Spurenelemente vorhanden. Sie finden sich im Rechtssystem, in der Wirtschaft, in Kunst und Kommunikation. Um zu verstehen, wie Zahlen wirken, gilt es zu begreifen, dass unser alltäglicher Umgang mit ihnen auf einer Ursuppe aus religiöser Symbolik, numerologischer Mystik und Bruchstücken sedimentierten Wissens vergangener Jahrhunderte treibt.
Wenn wir der Symbolkraft der Zahlen auf den Grund gehen wollen, müssen wir zurückgehen zu den Anfängen der abendländischen Philosophie im antiken Griechenland um 500 vor Christus – und zu Pythagoras. Vielen Menschen ist er als Mathematiker und Philosoph namentlich bekannt, weil er in einem denkwürdigen Satz sinngemäß festgestellt hat, dass in einem rechtwinkligen Dreieck die beiden Kathetenquadrate zusammengenommen die gleiche Fläche haben wie das Quadrat über der Hypotenuse – oder so ähnlich. Was man im Mathematik-Unterricht dagegen nicht gelernt hat: Pythagoras war auch ein früher Hippie, der einen Haufen Freaks um sich geschart hatte. Später versuchten die sogenannten Pythagoräer sogar, mit ihrer geheimbundartigen Kommune die Lokalpolitik Oberitaliens zu unterwandern.
Hauptsächlich aber waren Pythagoras und sein Gefolge auf der spirituellen Suche nach dem geistigen Urgrund aller Dinge. Sie glaubten, dass die Bewegung der Sterne Töne verursachte, die wir mit unserem dürftigen Gehör nur nicht wahrnehmen könnten, und kamen zu der Erleuchtung: Nicht die Materie bestimmt das Wesen der Welt im Kern, auch nicht das Reich der Ideen, wie Platon später meinte, sondern die Zahlen und Zahlenverhältnisse. „Alles ist Zahl“, war das Credo der Pythagoras-Jünger. Die Zahlen existierten vor den Dingen und flüchtigen Erscheinungen der Welt und bildeten deren eigentliche Realität.
Aus Sicht der Pythagoräer, einer Sichtweise, die auch wir uns in diesem Buch zu eigen machen, sind Zahlen nicht nur zum Zählen und Rechnen da. Über ihre mathematische Funktion hinaus besitzen sie qualitative Eigenschaften, die man als ihren „Charakter“ bezeichnen könnte: Sie senden geheimnisvolle Signale aus, die es zu ergründen gilt. So war für die Anhänger des Pythagoras die 10 vollkommen, weil sie die Summe aus 1, 2, 3 und 4 bildet. Die geraden Zahlen galten in ihren Augen als weiblich, die ungeraden als männlich. Die 4 war für sie die Zahl der Gerechtigkeit, weil sie sich aus zwei gleichen Paaren zusammensetzt und damit das Prinzip der Gleichheit verkörpert. Auch wenn dieses gefühlte Wissen der Pythagoräer über 2.000 Jahre alt ist, wirken Reste davon als schwaches Echo noch immer in die Gegenwart hinein.
Diesen und vielen weiteren verstreuten Hinweisen werden wir nachgehen, nicht als Selbstzweck oder Zeitvertreib, sondern um daraus handfeste Hinweise und Empfehlungen zu destillieren. Dazu haben wir mit Theoretikern verschiedener Disziplinen und mit zahlreichen Praktikern gesprochen, von der Gastronomin über den Gestalter bis zum Galeristen. Bei den gewonnenen Erkenntnissen handelt es sich oft um „tacit knowledge“, um unbewusstes Wissen und implizite Heuristiken also, die, wenn überhaupt, nur mündlich weitergegeben werden. In der Zusammenschau bilden diese Einblicke einen gut abgehangenen, oft auf jahrzehntelanger Erprobung basierenden Erfahrungsschatz.
Dieses Buch versteht sich als eine praxistaugliche Gebrauchsanleitung für das Gestalten mit Zahlen. Mit Gestaltung ist dabei nicht nur der Entwurf eines Logos, das Layout einer Website und das Bauen von Häusern gemeint, sondern auch die Preisbildung oder die Zusammenstellung einer Reisegruppe für den gemeinsamen Urlaub. Viele Gestaltungsentscheidungen in Beruf und Alltag würden anders gefällt, wenn größere Klarheit über die Mechanismen der Zahlenpsychologie und die Signale bestünde, die mit der Auswahl bestimmter Ziffern oder Mengen ausgesandt werden.
Überraschenderweise liegen zwar zahlreiche Bücher und Ratgeber zur psychologischen Wirkung von Farben vor, aber noch kein populäres und praxisbezogenes Sachbuch über Zahlenpsychologie und Zahlensymbolik. Warum ist das Thema bislang nur gestreift worden? Vielleicht weil die Bedeutung von Zahlen, Mengen und Größen für die Gestaltung in allen Lebensbereichen, so elementar sie ist, nicht auf Anhieb offensichtlich wird. „Unter der Laterne ist es am dunkelsten“, sagt ein altes polnisches Sprichwort. „Zahlen sind keine natürlichen Tatsachen, auf die Organismen sinnlich reagieren können, wie sie es zum Beispiel auf Formen und Farben tun“, schreibt die Psychologin Anita Riess in Psychologie der Zahl, einem der wenigen Bücher, die es überhaupt zum Thema gibt.
Trotzdem sind wir nicht die Ersten, die dieses Terrain erkunden. Wissenschaftliche Spähtrupps waren schon da, und in der akademischen Literatur gibt es einen umfangreichen Korpus zur Kulturgeschichte der Zahlen. Daneben gibt es vereinzelte Sachbücher zu Teilaspekten unseres Themas und diverse Fachbücher zu den unterschiedlichen Anwendungsfeldern Design, Preisgestaltung und soziale Gruppengröße.
Zu den Riesen, auf deren Schultern wir stehen, um ins Land der psychologischen Wirkung von Zahlen zu blicken, und die wir entsprechend ausführlich zitieren, zählt der Schriftsteller, Historiker und Orient-Kenner Franz Carl Endres. Sein zuerst 1935 erschienenes Buch Mystik und Magie der Zahlen – später von der Orientalistin und Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel ergänzt, überarbeitet und als Das Mysterium der Zahl wiederveröffentlicht – ist ein reichhaltiges Kompendium, das die weit verstreuten Befunde zu den symbolischen, rituellen und magischen Bedeutungen von Zahlen in den unterschiedlichen Weltreligionen und im Volksglauben übersichtlich versammelt. Dazu liefern Harald Haarmanns Weltgeschichte der Zahlen und Georges Ifrahs Universalgeschichte der Zahlen weiteres Basis-Rüstzeug, um Schneisen durch das kulturhistorische Dickicht der Zahlen zu schlagen.
Der französische Neuropsychologe Stanislas Dehaene erforscht seit Jahren experimentell, wie das menschliche Gehirn mit Mengen, Größen und Zahlen umgeht. Er hat gezeigt, dass wir von Geburt an mit einem Zahlensinn ausgestattet sind, der dem mathematischen Zahlenverständnis zwar manchmal im Weg steht, uns aber gleichzeitig ermöglicht, Mengen zu erfassen und zu unterscheiden. Der Jurist Bernhard Großfeld liefert mit seinen Büchern Zeichen und Zahlen im Recht und Zauber des Rechts wichtige Erkenntnisse, die weit über das juristische Feld hinausgehen. Nicht zuletzt hat Robert Kaplan uns mit seiner Geschichte der Null die Augen dafür geöffnet, wie dünn der Firnis des Dezimalsystems ist, das unseren heutigen Zahlengebrauch prägt.
Jedes der folgenden Kapitel ist in sich abgeschlossen, sodass man nach Lust und Lieblingszahl zwischen ihnen herumspringen kann. Dennoch unterliegt die Kapitelfolge einer dramaturgischen Logik: Zunächst nehmen wir das Verhältnis von Mensch und Zahl, Gesellschaft und Natur in den Blick (Kapitel I). Dann streifen wir die kulturhistorischen Hintergründe und die psychologischen Grundlagen des Umgangs mit Zahlen (Kapitel II). Nachdem wir den Erscheinungsformen und Wirkungsweisen von Zahlen und Ziffern in der Kunst und im Marketing nachgegangen sind (Kapitel III), widmen wir uns den bisweilen kuriosen und kurzweiligen Affekten, Idiosynkrasien und Sonderbegabungen im Zahlenkontext (Kapitel IV). Wir verweilen kurz bei den unterschiedlichen Qualitäten gerader und ungerader Zahlen, die sich auf den Konflikt zwischen der 3 und der 4 zuspitzen lassen (Kapitel V), um uns anschließend das Grundvokabular der Symbolik der Zahlen von 1 bis 12 anzueignen (Kapitel VI). Auf einen Exkurs in Aberglaube, Numerologie und Nerdismus (Kapitel VII) folgen die Anwendungsfelder Spieltheorie und Preispsychologie (Kapitel VIII und IX), Gestaltung und Proportionen (Kapitel X und XI). Zum Abschluss wenden wir uns der sozialen Frage zu, wie Zahlen unser Zusammenleben und -arbeiten beeinflussen (Kapitel XII).
Am Ende des Buches werden Sie verstanden haben, warum es zwölf Kapitel hat (diese Einleitung wohlweislich nicht mitgezählt), warum es 17,90 Euro kostet (statt 18 Euro) und warum es 12,5 mal 20,5 Zentimeter misst (was einem Seitenverhältnis von etwa 1,6 entspricht). Idealerweise werden Sie nach der Lektüre die Welt mit anderen Augen sehen. Sie werden Zahlen, die Ihnen im Alltag begegnen, anders beurteilen als zuvor. Und Sie werden Zahlen bewusster und souveräner benutzen, wenn Sie mit ihnen umgehen.
Wieso werden Zahlen, die Zahlenpsychologie und das Wissen darum wichtiger? Vielleicht ja, weil immer mehr Lebensbereiche von der neuen Leitdisziplin Design eingemeindet und „durchdesignt“ werden, wie der Designthoretiker Mateo Kries in seinem Buch Total Design überzeugend darlegt. Und weil wir, wie der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin in seiner jüngsten Großerzählung Die empathische Zivilisation behauptet, auf ein neues Zeitalter des „dramaturgischen Bewusstseins“ zusteuern. Nach dem Ende der großen ideologischen Erzählungen wie Kommunismus und Kapitalismus, zu denen auch der technisch-rationale Fortschrittsgedanke zählt, bewegen wir uns laut Rifkin auf eine Ära zu, in der wieder stärker theatralische, mythologische und narrative Qualitäten zum Tragen kommen.
Dramaturgische Gestaltung außerhalb der engen Grenzen des Produktdesigns, das Wissen um die psychologische Wirkung bei der Anordnung von Elementen, wird zu einem entscheidenden soft skill der Zukunft. Empathie, die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, ist der Schlüssel dazu. Es geht, kurz gesagt, um eine Wiederverzauberung der Welt mit rationalen Mitteln und wissenschaftlichen Argumenten. In unserem Fall geht es darum, die Zahlen nicht den Buchhaltern und Technokraten auf der einen, den Esoterikern und Numerologen auf der anderen Seite zu überlassen. Denn keine Zahlen sind auch keine Lösung. Es geht also darum, sich die Zahlen in einem empathischen – und emphatischen – Sinn wieder anzueignen, als etwas Nützliches und Lebendiges, Menschliches und Zwischenmenschliches.
Der Mensch besteht nicht nur aus Natur, im Gegenteil: „Die Natur des Menschen ist die Künstlichkeit“ – mit diesem Paradoxon will uns der Kulturanthropologe Helmuth Plessner darauf hinweisen, dass die viel beschworene menschliche Natur auf nichts als Einbildung und Ideologie basiert. Vielmehr besteht die Einzigartigkeit des Menschen gerade darin, dass er aus der Naturgeschichte ausschert und mit seinem Gehirn einmalige Dinge anstellt, die sich nicht allein aus der Evolutionsbiologie heraus erklären lassen. Die Erfindung der Mathematik und das abstrakte Denken gehören eindeutig dazu.
Heute haben die Zahlen ihre mythisch-symbolische Bedeutung, die sie über Jahrhunderte mit sich trugen, weitgehend eingebüßt. Das naturwissenschaftlich-technische Weltbild des Westens hat dem Regime der Quantifizierung zum Durchbruch verholfen und die Zahlen in den Rang einer ganz profanen Durchsetzungsmacht erhoben oder – je nach Perspektive – degradiert: Machbar ist, was beziffert und berechnet werden kann. Während der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert wurden in der Astronomie und Physik, aber auch in der entstehenden Chemie und der Biologie erstmals Zahlen und Messergebnisse zur systematischen Grundlage wissenschaftlicher Beobachtung und Forschung. Von da aus griff die Quantifizierung immer weiter um sich, bis die Statistik im 19. Jahrhundert zu einer gesellschaftspolitischen Leitwissenschaft aufstieg: Alles ist Zahl – nur eben in einem ganz anderen Sinne, als es der Mythomathematiker Pythagoras und seine Freunde gemeint hatten.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert werden wir als Staatsbürger systematisch durch und mittels Zahlen erfasst, verwaltet und regiert. Der Zensus 2011 ist nur das jüngste Beispiel für eine umfassende statistische Erhebung. Statistisches Bundesamt, Umfrageinstitute und sozialwissenschaftliche Instrumente wie das SOEP, das Sozio-oekonomische Panel, vermessen, zählen und analysieren alle Lebensbereiche – von den Geburtsraten bis zu Kriminalstatistiken, vom durchschnittlichen jährlichen Bierkonsum bis zum Steueraufkommen. Bereits in der Bibel erfüllte die Volkszählung des Königs Herodes eine wichtige Funktion für den Handlungsfortgang, und schon die Babylonier erfassten Steuern und Getreidevorräte auf Tontafeln. „Jede organisierte Gesellschaft, jede Form politischer Macht hat sich in irgendeiner Form immer auch auf Zahlen gestützt“, schreibt der amerikanische Wissenschaftshistoriker I. Bernard Cohen in seinem Buch The Triumph of Numbers. How Counting Shaped Modern Life. Seit jeher gilt also: Wer die Zahlen kontrolliert, hat die Macht.
In der Wirtschaft dreht sich alles ganz selbstverständlich um Unternehmenskennzahlen, Bilanzen und den Shareholder Value. Politik und Medien argumentieren mit Zahlen. Täglich werden wir überschüttet mit Statistiken, harten Daten, Prozentzahlen und Wahrscheinlichkeiten. „Die Welt in Zahlen“, wie sie das Wirtschaftsmagazin brandeins monatlich präsentiert, erscheint klar, eindeutig und unhinterfragbar. Dabei sind im statistischen Diskurs Aufklärung und Vernebelung unauflöslich miteinander verbunden. Denn Statistiken können bekanntlich trügerisch sein, weshalb man nur denen glauben sollte, die man selbst gefälscht oder manipuliert hat. Etliche Sachbuchautoren der jüngeren Zeit sind angetreten, uns von unserem statistischen Analphabetentum und dem blinden Vertrauen in die Macht der Statistik zu erlösen. Das Einmaleins der Skepsis des Bildungsforschers Gerd Gigerenzer, um nur einen Titel davon zu nennen, will uns den „richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken“ lehren. Eine solche mathematische Aufklärung würde hier den Rahmen sprengen. Uns geht es zunächst einmal darum, für die psychologischen Fallstricke zu sensibilisieren, die in den großen, abstrakten Zahlen stecken.
Historisch jüngeren Datums ist die Erfassung und Darstellung realer Werte im Dezimalsystem mit beweglicher Nullstelle. Die indisch-arabischen Ziffern, die ein Hoch- und Runterskalieren zwischen den Zehnerpotenzen erlauben – und damit erstmals richtiges Rechnen –, kamen erst im Mittelalter nach Europa und setzten sich nur schleppend gegen die römischen Ziffern, ausgeschriebene Zahlwörter und das händische Abzählen durch (mehr dazu in Kapitel II). „Schon früh müssen sich rivalisierende Lager aus ‚Abakisten‘ mit ihren Rechenbrettern und Rechensteinen einerseits und ‚Algoristen‘ andererseits gebildet haben“, berichtet der Mathematikhistoriker Robert Kaplan von diesem Kulturkonflikt, der seit dem 12. Jahrhundert in Kaufmannsstuben und höheren Bildungsanstalten tobte.
Während die einen also schon mittels der neuartigen Rechenoperationen, die das Dezimalsystem gestattete, scheinbar mühelos mit riesigen Summen jonglierten, schoben die anderen noch Kügelchen auf dem Zählbrett oder am Abakus hin und her. Dabei gelangten die fingerfertigen Abakisten zwar zunächst häufig schneller zum Ergebnis. Doch der Preis war eine mathematische Begrenzung ihres Horizonts, und am Ende siegte der Geist über den Körper. Kaplan schreibt: „Die stumme Sprache der praktischen Rechenfertigkeit mit Rechenbrett und Fingern trägt uns behände und ruhmreich an die äußersten Grenzen der Rechenkunst – aber man strandet mit ihr, sobald man die Grenze zur Algebra und aller Länder der Mathematik, die dahinter liegen, überschreitet.“ Wer dagegen mit Symbolen wie der 0 und den aus ihr hervorgegangenen Variablen wie a, b und x operierte, der konnte die Abstraktionsebenen der höheren Mathematik erklimmen. Auch wenn der Konflikt entschieden ist und wir heute alle zu den Algoristen gehören, sind wir doch tief in unserem Inneren Abakisten geblieben. Wir können mit abstrakten Zahlen umgehen, aber sie gehen uns nicht wirklich in Fleisch und Blut über.
Wir haben zwar gelernt, mit Kommastellen zu rechnen und Minusbeträge zu multiplizieren. Wir können mit irrationalen Zahlen hantieren, und wer in der Schule Mathe-Leistungskurs hatte, kann womöglich noch eine binomische Formel auflösen. Wir haben sogar ein diffuses Gespür für Größenordnungen entwickelt, die wir niemals auf einem Haufen gesehen haben. Wir wissen, wie sich eine Millionenstadt anfühlt und dass es sich bei den 750 Milliarden Euro, die die Europäische Union im Mai 2010 als Rettungsschirm für das angeschlagene Finanzsystem aufspannte, um eine außergewöhnlich große Summe handeln muss.
Dieser Gewöhnungseffekt kann erstaunliche Dimensionen annehmen, wie sich an unserem Verhältnis zur Million ablesen lässt. Früher schmissen Manager und Politiker mit ihr um sich, heute dagegen taucht die Million kaum noch in den Nachrichten auf. Es ist nur noch von Milliarden die Rede. „Was ist aus der Million geworden?“, fragte Max Fellmann Anfang 2010 im SZ-Magazin und erinnerte an eine Szene aus der Agentenkomödie Austin Powers: Der Bösewicht Dr. Evil, der 30 Jahre von der Bildfläche verschwunden war, meldet sich zurück und droht, die Welt zu vernichten. Seine Forderung von einer Million Dollar verursacht ungläubiges Gelächter bei den versammelten Staatschefs. Erst als er die Forderung auf 100 Milliarden Dollar erhöht, nimmt man ihn ernst.
Zwar haben wir uns mit der Welt der sieben- bis zwölfstelligen Zahlen arrangiert, aber so richtig beheimatet fühlen wir uns dort, wo die Luft der Anschaulichkeit dünn wird, dennoch nicht. Für die allermeisten bleibt das mathematische Zahlenverhältnis wie eine Fremdsprache, die man zwar erlernen und beherrschen kann, aber niemals so flüssig spricht wie die Muttersprache. Deshalb unterlaufen uns in diesen Regionen auch häufiger Fehler und systematische Fehleinschätzungen. Das betrifft selbst Wirtschaftswissenschaftler, Finanzpolitiker und die wenigen Superreichen, von denen der Öl-Milliardär Paul Getty einmal sinngemäß gesagt hat: Wirklich reich ist man, wenn man sich in der Bilanz um einige Millionen Dollar verhauen kann und es nicht auffällt.
Thomas Druyen ist einer der wenigen Soziologen, die sich nicht mit Armut und ihren gesellschaftlichen Folgen, sondern mit Reichtum beschäftigen. Seit Jahren beforscht er die Superreichen, „Ultra High Net Worth Individuals“, wie sie von Privatbanken genannt werden, also Menschen mit einem Vermögen von über 30 Millionen Dollar, selbst bewohnte Immobilien nicht eingerechnet. Nach Druyens Definition beginnt Reichtum dort, wo man komfortabel von den Zinsen leben kann, ohne die Substanz des Vermögens anzutasten. Die Zahl der Superreichen nimmt zu, und das Spektrum ist nach oben ziemlich offen. Nach Druyens Recherchen gibt es allein in Deutschland rund 130 Milliardäre, wobei die Datenbasis naturgemäß dünn ist und die Zahl je nach Bewertungsansatz variieren kann. Befragt nach der symbolischen Qualität und dem realen Gehalt, den diese Schwellenwerte haben, kann Druyen bestätigen: „Die Million, die Milliarde und vor allem die Billion sind Zahlenmythen, die konkret wirken und bestimmte Vorstellungen erlauben. Im Grunde aber sind es nur Türschilder in eine Welt, die sich der Vorstellung der meisten Menschen völlig entzieht.“
Die platte Erklärung dafür, warum wir uns mit solch großen Zahlen, Summen und Mengen so schwertun, ist, dass sie in unserem Alltag keine Rolle spielen. Deshalb sind eine Million oder eine Milliarde von irgendetwas Größenordnungen, die wir uns nicht plastisch vorstellen können – egal, ob es sich um Geld, Gehirnzellen oder die Zahl der Facebook-Nutzer handelt. Gerne wird in solchen Fällen auf Vergleichsgrößen und Visualisierungen zurückgegriffen, um unserer mangelnden Vorstellungskraft für große Zahlen auf die Sprünge zu helfen und einen anschaulichen Eindruck ihrer Relationen zueinander zu gewinnen. So lassen sich etwa große Geldsummen in Mengen von Bargeld übersetzen: Während eine Million Euro in 100-Euro-Scheinen noch bequem in den inzwischen sprichwörtlich gewordenen schwarzen Koffer aus der CDU-Parteispendenaffäre passt, stapeln sich die Scheine bei einer Summe von 100 Millionen Euro schon über einen Meter hoch auf der Fläche einer Europalette. Und für eine Milliarde Euro sind dann schon zehn solcher Paletten vonnöten.
Aber die Ursachen dafür, dass wir mit derart großen Zahlen nicht richtig warm werden, liegen tiefer, wie Nassim Nicholas Taleb, Mathematiker und Autor des Bestsellers Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse erläutert. Solche schwarzen Schwäne sind Ereignisse, mit denen niemand rechnet, die aber enorme Folgen haben, wie etwa der 11. September oder die Finanzkrise. Taleb geht es in seinem Buch um unsere strukturelle Unfähigkeit, den richtigen Umgang damit zu finden. Er unterteilt gesellschaftliche Phänomene in zwei Kategorien, die er mit Ländernamen umschreibt: Mediokristan und Extremistan. Wofür sie stehen, beschreibt er mit einem Gedankenexperiment: Würde man zu einem willkürlich ausgewählten Sample von tausend Menschen den dicksten Mann der Welt addieren, würde er das Durchschnittsgewicht nur minimal anheben. Würde man hingegen zu einer gleich großen Gruppe an Durchschnittsverdienern Bill Gates hinzugesellen, würde dieser allein 99,9 Prozent des Gesamtvermögens der Gruppe stellen.
Die Erklärung: Die meisten physischen Größen, die in enger Verbindung zur Natur stehen – also etwa Gewicht, Körpergröße, Kalorienkonsum –, stammen aus Mediokristan und tendieren zu einem Mittelwert. Dagegen stammt die soziale Materie, die nicht den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft unterliegt, aus Extremistan, wo enorme Ausreißer und extreme Amplituden an der Tagesordnung sind. Die moderne Welt mit ihren Rückkopplungsschleifen und Netzwerkeffekten bringt erst jene Nichtlinearitäten hervor, die sich in groben Unterschieden, Extremwerten und der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit von Ergebnissen niederschlagen, egal, ob es um die Anzahl von Buchverkäufen, Personen bei der Loveparade oder die Entwicklung von Aktiendepots geht. Die Hardware hinter unserem kognitiven Apparat ist allerdings auf Mediokristan optimiert, weil die gesamte Evolutionsgeschichte in einer Mediokristan-Umgebung stattfand. Die Grundannnahme, dass Dinge sich kontinuierlich entwickeln und sich innerhalb eines begrenzten Rahmens bewegen, ist deshalb mehr oder weniger hart verdrahtet in unseren Gehirnen angelegt. Und daher fällt es uns heute oft so schwer, mit solch komplexen Größen zu operieren und soziale Phänomene richtig einzuschätzen.
Das zerklüftete Hochland von Extremistan liegt hingegen dort, wo abstrakte Werte als gebündelte Größe verhandelt werden, wo vernetzte Systeme am Werk sind und der Teufel immer auf den dicksten Haufen scheißt: So betrug der Wert des globalen Aktienvermögens Anfang 2011 schon wieder 53 Billionen US-Dollar – doppelt so viel wie zwei Jahre zuvor auf dem Höhepunkt der Finanzkrise und dem Tiefststand der Kurse. Das Bruttoinlandsprodukt der Welt, mithin der bezifferte Wert aller in einem Jahr weltweit gehandelten Güter und Dienstleistungen, erreichte 2008 einen Allzeit-Höchststand von 61 Billionen Dollar, bevor die Kurve krisenbedingt einknickte. Der Handel mit Derivaten, Optionen und Futures, also mit Papieren, die keinen eigenen Wert unterlegt haben, sondern auf die Entwicklung anderer Größen spekulieren, umfasste zu diesem Zeitpunkt sogar ein Volumen von weit über 600 Billionen Dollar – zehnmal mehr als die reale Wirtschaftsleistung des gesamten Erdballs.
Zehnmal mehr können wir uns irgendwie vorstellen, 600 Billionen Dollar nicht. Und mal ehrlich: Wer würde widersprechen, wenn wir das Volumen der Weltwirtschaft nicht auf 61, sondern auf 610 Billionen Dollar beziffert hätten? Wie abstrakt diese Regionen letztlich bleiben, lässt sich an einem häufigen Übersetzungsfehler aus dem Englischen ablesen: Oft ist von „Billionen Dollar“ die Rede, wo eigentlich Milliarden gemeint sind, während die englische „trillion“ zur Trillion statt zur Billion wird.
Noch geringer als auf Geld wirkt sich die Erdenschwere der physischen Welt auf Daten und Information aus. Diese wachsen scheinbar über alle Grenzen, limitiert nur durch das Mooresche Gesetz, welches besagt, dass sich die Leistung von Computerchips alle 18 bis 24 Monate verdoppelt. So wird der Informationsgehalt des Internets für 2010 auf 1,2 Zetabyte, also 1,2 Billionen Gigabyte taxiert. Daten fressen kein Brot und nur minimal Strom, sodass sie sich beinahe schwerelos vermehren können. Manchmal aber bereitet die Inflation der Zahlen in diesen Regionen, in denen sich sonst nur Astrophysiker bewegen, ganz reale Probleme – dann nämlich, wenn sie mit den Grenzen der physischen Welt kollidieren.
Im Frühjahr 2011 war es so weit: Die IP-Adressen gingen aus. Die Zahl der möglichen digitalen Hausnummern hielt mit dem Wachstum des Internets und der Zunahme der Endgeräte nicht mehr mit. Als man sie vor 30 Jahren als Kombination aus vier dreistelligen Zahlen mit Werten zwischen 0 und 255 einführte, konnte man sich nicht vorstellen, dass das Kontingent der 4.294.967.296 möglichen Adressen irgendwann erschöpft sein würde, aber so kam es. Abhilfe brachte erst die Einführung der neuen IPv6-Adressen, mit denen sich theoretisch 340.282.366.920.938.463.463.374.607.431.768.211.456 mögliche virtuelle Orte eindeutig ausweisen lassen. Sascha Lobo hat sich in seinem Blog die Mühe gemacht, diese Zahl einmal in Worten auszuschreiben, was wir hier gerne wiedergeben: „Dreihundertvierzig Sextillionen zweihundertzweiundachtzig Quintilliarden dreihundertsechsundsechzig Quintillionen neunhundertzwanzig Quadrilliarden neunhundertachtunddreißig Quadrillionen vierhundertdreiundsechzig Trilliarden vierhundertdreiundsechzig Trillionen dreihundertvierundsiebzig Billiarden sechshundertsieben Billionen vierhunderteinunddreißig Milliarden siebenhundertachtundsechzig Millionen zweihundertelftausendvierhundertsechsundfünfzig“. Damit ließe sich jedem Sandkorn an allen Stränden und in allen Wüsten der Erde eine eigene IP-Adresse zuweisen. Das sollte fürs Erste reichen.
Eine größte Zahl kann es per Definition nicht geben, aber die größte derzeit bekannte Primzahl ist 243.112.609 − 1, eine Zahl mit 12.978.189 Dezimalstellen. Errechnet wurde sie 2008 an der University of California in Los Angeles von einem fuchsigen Systemadministrator namens Edson Smith. Der hatte ein als Bildschirmschoner getarntes Rechenprogramm auf die Universitätsrechner eingeschmuggelt, um sich das von der Electronic Frontier Foundation für die Entdeckung der ersten Primzahl mit über zehn Millionen Stellen ausgesetzte Preisgeld von 100.000 Dollar zu sichern. Und damit verlassen wir Extremistan, das Reich der ganz großen Zahlen, und wenden uns wieder dem Alltag zu – aber auch der hat seine Tücken.
Denn es fällt schon schwer genug, in der zugerümpelten modernen Welt zu navigieren, auch wenn uns hier nicht ständig Zahlen jenseits des Vorstellbaren entgegenschlagen. „Das große Glück der großen Zahl“, wie Jeremy Bentham das Programm der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung unter dem Label „Utilitarismus“ zusammenfasste, schlägt immer häufiger um in Unzufriedenheit und Überdruss. Es scheint ein Zeitsymptom zu sein, dass es von allem zu viel gibt und das heutige Individuum dadurch überfordert ist: zu viel Stess, zu viele Informationen, vor allem aber zu viel Auswahl. Sozialpsychologen sprechen von „choice overload“, um den historisch neuen Umstand zu charakterisieren, dass ein Mehr an Vielfalt und Auswahl nicht automatisch zu mehr Lebens- und Kundenzufriedenheit führen muss.
Das zeigt sich vor allem im Supermarkt. In einem berühmt gewordenen Experiment aus dem Jahr 2000 bauten die Psychologen Sheena Iyenga und Marc Lepper in einem kalifornischen Supermarkt einen Probierstand mit 24 Marmeladen der Marke „Wilkin & Sons“ auf. Am nächsten Samstag veränderten die Forscher den Versuchsaufbau und hatten nur sechs Sorten im Angebot. Zwar konnte der Stand mit den 24 Sorten deutlich mehr Supermarktkunden anlocken, von denen entschied sich aber nur ein verschwindend kleiner Bruchteil, nämlich drei Prozent, zum Kauf, während es bei den sechs Sorten knapp ein Drittel war. Iyenga und Lepper interpretierten dieses verblüffende Ergebnis dahingehend, „dass ein komplexes Angebot zuerst hochgradig attraktiv auf Konsumenten wirken, jedoch anschließend ihre Motivation, das Produkt auch zu kaufen, reduzieren kann“.
Auch wenn die Methodik des Experiments später kritisiert wurde und einige Konsumpsychologen heute die „Too much choice“-Hypothese generell in Zweifel ziehen, löste der Befund um die Jahrtausendwende einige Schockwellen aus und zog reale Effekte bei Konsumgüterherstellern und Händlern nach sich. Auf breiter Front wurden Sortimente durchforstet, Produktlinien bereinigt und Regale aufgeräumt. So reduzierte der Kosmetikkonzern Procter & Gamble das Spektrum seiner „Head & Shoulders“-Shampoos von 26 auf 15 – und erzielte prompt ein Umsatzplus von zehn Prozent. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass weniger manchmal mehr sein kann und zahlenpsychologische Erkenntnisse bei derartigen Optimierungen hilfreich sind, dann wäre er hiermit erbracht.
Ähnlich schwer wie mit großen Zahlen und großer Auswahl tun wir uns mit dem Zufall. Unsere Gehirne sind so programmiert, dass sie Muster und Regeln auch dort finden, wo nur Rauschen ist, Chaos herrscht und der Zufall regiert. Evolutorisch verursachte es weniger Kosten, Tigergesichter im Gebüsch zu erkennen, wo gar keine waren, als keine zu erkennen, wo welche waren. Deshalb können wir auch mit Risiken und Wahrscheinlichkeiten nicht wirklich rational umgehen. Nachdem am Roulettetisch die Kugel fünfmal hintereinander auf Rot gelandet ist, sind wir überzeugt, dass nun aber die Serie durchbrochen werden und die Wahrscheinlichkeit für Schwarz deutlich steigen müsse. Dabei handelt es sich um eine Kette völlig unabhängiger Ereignisse, und die Wahrscheinlichkeit beträgt nach wie vor unveränderte 50 Prozent. „Bias“ nennt man diese strukturellen Wahrnehmungsfehler und eine systematisch getrübte Urteilskraft in wissenschaftlichen Kontexten. Man kann sich das vorstellen wie die Vormagnetisierung eines Tonbandes, wofür es früher auf dem Kassetten-Deck tatsächlich den Bias-Knopf gab.
Das Phänomen der Mustererkennung begegnete vielen Apple-Nutzern im Zusammenhang mit der Shuffle-Funktion ihres iPods. Obwohl das Gerät de facto eine vollkommen zufällige Playlist generierte, wunderte man sich häufig, dass manchmal mehrere Songs von ein und demselben Künstler hintereinander liefen. Auch hatte man mitunter den Eindruck, das Gerät stelle die Auswahl nach den persönlichen Vorlieben zusammen. Verschwörungstheoretisch veranlagte Blogger in den USA mutmaßten zudem, dass der Shuffle-Modus die großen Labels bevorzugte, die in enger Geschäftsverbindung mit Apple standen. Unter dem Druck der öffentlichen Spekulationen änderte Apple den Algorithmus des Gerätes ab und machte ihn „weniger zufällig, damit er sich zufälliger anfühlt“, wie Apple-Chef Steve Jobs es auf den Punkt brachte.
Dan Gardner berichtet diese Anekdote in seinem Buch Future Babble, das eigentlich davon handelt, wie Experten in ihren Zukunftsvorhersagen durch Mustererkennung systematisch biased, also wahrnehmungsverzerrt sind. Ein Grund dafür ist, dass wir ein bestimmtes Bild vom Zufall haben: „Bittet man jemanden, auf möglichst zufällige Art und Weise Punkte auf ein Blatt Papier zu machen, wird er diese einigermaßen gleichmäßig über das Blatt verteilen, sodass keine Punkthaufen oder größere leere Flecken entstehen – tatsächlich ein Ergebnis, das bei rein zufallsbasierter Verteilung äußerst unwahrscheinlich ist.“ Der Zufall sieht eben einfach nicht nach Zufall aus.
Vor dem Problem stand auch Gerhard Richter, Deutschlands bekanntester bildender Künstler, als er 2007 die Fenster des Kölner Doms neu gestaltete. Angelehnt an sein früheres Werk 4096 Farben wählte er dafür farbige Quadrate, die in zufälliger Anordnung einen abstrakten „Farbklangteppich“ ergeben sollten. Allerdings beschränkte Richter sich diesmal auf die 72 Farben, die schon für die mittelalterlichen Domfenster verwendet worden waren. Per Zufallsgenerator ließ er 11.263 Farbquadrate anordnen. Anschließend griff Richter an Stellen ein, wo das Programm nicht zufällig, sondern intentional wirkende Muster und Häufungen einzelner Farben produziert hatte. So musste er eine Formation zerschlagen, die sich im unteren Bereich ergeben hatte und wie eine große 1 aussah. Eigentlich war es Richters erklärte Absicht, sich selbst eher zurückzunehmen, gleichzeitig wollte er die Fenster als etwas Selbstverständliches und Alltägliches erscheinen lassen. Dazu muss man dem Zufall dann doch etwas auf die Sprünge helfen.
Was den Umgang mit zufälligen Zahlen zudem erschwert, ist die Tatsache, dass die Natur selbst sich nicht an ihre eigenen Regeln hält. Genauer gesagt – und trotzdem schwer zu begreifen: Sie hält sich nicht an den Grundsatz der Gleichverteilung. Nicht alle Ziffern kommen gleich häufig vor, zumindest sofern ihnen natürliche oder reale soziale Vorgänge zugrunde liegen. So beginnen Zahlen aus großen empirischen Datensätzen – etwa die Einwohnerzahlen von Städten, Geldbeträge in der Buchhaltung, die Länge von Flussläufen oder Naturkonstanten – sehr viel häufiger mit einer 1 als mit einer anderen Ziffer. Die mathematische Wahrheit ist, dass nicht die Daten aus der Natur selbst, wohl aber die Mantissen der Logarithmen dieser Daten einer Gleichverteilung folgen, doch das ist ein weites Feld. Man kann dies ein wenig plausibilisieren, indem man sich vergegenwärtigt, dass ein x-beliebiger Wert, um von 10 auf 20 zu wachsen, um 100 Prozent zunehmen muss, es im Bereich zwischen 80 und 90 jedoch nur 12,5 Prozent sind, obwohl der absolute Zuwachs derselbe bleibt. Deshalb verharren Werte länger in einem niedrigen Spektrum. Viele Wachstumsprozesse brechen auch einfach nach der ersten, zweiten oder dritten Stufe ab.
Der Mathematiker Simon Newcomb hat 1881 als Erster auf dieses Phänomen hingewiesen. Ihm war aufgefallen, dass in Büchern mit Logarithmentafeln die Seiten, auf denen in den Tabellen die 1 die erste Ziffer ist, deutlich schmutziger waren als die anderen, weil sie häufiger angefasst wurden. Der Physiker Frank Benford hat diese Beobachtung 1938 aufgegriffen und ausgehend von einer Vielzahl an Beispielen systematisiert. Vereinfacht formuliert besagt das Benfordsche Gesetz: Je niedriger die Anfangsziffer, desto häufiger tritt sie auf. So ist die 1 mit einer Wahrscheinlichkeit von 30,1 Prozent die häufigste Anfangsziffer, während die 9 nur in 4,6 Prozent der Fälle vorne steht.
Das Benfordsche Gesetz wird heute beispielsweise dazu benutzt, Manipulationen an Daten aufzudecken, sei es im Rechnungswesen, in wissenschaftlichen Studien oder bei Wahlergebnissen. Den Manipulatoren gelingt es in der Regel nicht, die zufällige, aber ungleiche Verteilung der Anfangsziffern beizubehalten und so das statistische Rauschen in der richtigen Zusammensetzung zu simulieren. So konnten die Behörden mithilfe des Benfordschen Gesetzes den fantasievollen Manipulationen in der Buchhaltung der US-Konzerne Enron und Worldcom auf die Schliche kommen, was in beiden Fällen den Konkurs nach sich zog.
So mysteriös Benfords Gesetz erscheinen mag, ist es nichts anderes als der zahlenmäßige Widerschein der Tatsache, dass natürliche und soziale Systeme keine mathematisch homogene Gleichverteilung produzieren. Viele natürlichen Wachstumsprozesse produzieren Verteilungen, die um einen Mittelwert herum zu beiden Seiten abflachen: die berühmte Glockenkurve, die Carl Friedrich Gauß mathematisch beschrieben hat. In den USA ist diese „bell curve“ hochgradig ideologisch aufgeladen, weil ein gleichnamiges Buch aus den 1990ern behauptete, auch die menschliche Intelligenz sei nach der Gaußschen Formel logarithmisch normalverteilt – was impliziert, dass alle pädagogischen Versuche, für mehr Bildungsgleichheit zu sorgen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind. Auch wenn die Glockenkurve in diesem Fall zu Recht als Instrument einer Ideologie entlarvt wird – in vielen anderen Bereichen, etwa bei der Körpergröße oder bei der Penislänge, trifft sie zu.
Daneben findet man – gerade bei sozialen Phänomenen – häufig stärkere Ungleichverteilungen, die nicht der Gaußschen Normalverteilung entsprechen. Statt sich einem Mittelwert anzuschmiegen, gibt es hier eine geringe Anzahl sehr hoher und dann sehr viele kleine Werte, sodass sich eine anfangs steil abfallende Kurve ergibt, die nach hinten immer flacher wird: Es gibt zum Beispiel nur eine kleine Gruppe von Menschen, die wie Bill Gates über einen Großteil des weltweiten Reichtums verfügen, während die große Masse sich mit wenig begnügen muss. Der italienische Ingenieur und Ökonom Vilfredo Pareto hat um 1900 solche Kurven untersucht und herausgefunden, dass sie sich häufig auf eine 80:20-Formel bringen lassen. Darauf gekommen war Pareto, indem er sich die Einkommensverteilung Italiens zu der Zeit vornahm und feststellte, dass 20 Prozent der Bevölkerung über 80 Prozent des Vermögens verfügten. Seine ökonomisch-pragmatische Schlussfolgerung: Banken sollten sich mit ihren Dienstleistungen doch auf diesen vermögensstarken Bevölkerungsteil konzentrieren.
Seither wurde das Pareto-Prinzip mancherorts fast in den Rang einer Welterklärungsformel erhoben. Tatsächlich lässt es sich in den unterschiedlichsten Verteilungsphänomenen wiederfinden: Bei Versicherungen verursachen 20 Prozent der Versicherten 80 Prozent der Schadenssumme, in Unternehmen und Geschäften bringen die 20 Prozent der besten Kunden 80 Prozent des Umsatzes, in Wohnungen weisen 20 Prozent des Teppichs 80 Prozent der Gesamtabnutzung auf. Besonders Coaches und Zeitmanagement-Berater nutzen Pareto, um ihrer Klientel einzubläuen, dass 80 Prozent des Ertrags mit 20-prozentigem Einsatz erreicht oder umgekehrt 80 Prozent der Zeit auf nur ein Fünftel eines Resultats verschwendet würden.
Für den Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller, ansonsten eher skeptisch, was prognostische Zahlenmagie angeht, leitet sich aus dem Pareto-Prinzip sogar ein normatives Gebot ab: „Diese Muster gibt es ganz offensichtlich und sie sind sehr weit verbreitet. Man kann oft beobachten, dass sich Systeme auf problematische Weise entwickeln, wenn die 80:20-Regel nicht mehr gilt. Wenn beispielsweise 80 Prozent des Wohlstands nicht mehr bei den reichsten 20 Prozent liegen, sondern sich nur auf die reichsten fünf Prozent konzentrieren, dann weiß man, dass eine Gesellschaft in Schwierigkeiten gerät.“ Dennoch sollte man das Pareto-Prinzip eher als heuristische Hilfe denn als Naturgesetz ansehen. Es liefert keine Letztbegründung, warum eine Vermögensverteilung, die der 80:20-Formel entspricht, gesellschaftlich akzeptabel wäre – und man nicht politisch auf eine Nivellierung hinwirken sollte.
Im Weltmaßstab haben die Globalisierung und der Aufstieg der Schwellenländer bereits dazu geführt, dass das Pareto-Prinzip nur noch näherungsweise gilt. So finden 75 Prozent des Welthandels heute unter 25 Prozent der Weltbevölkerung statt. Auch in der Betriebswirtschaft könnten die Tage der 80:20-Regel gezählt sein. Gerne haben Unternehmensberater die stupende Weisheit errechnet und verbreitet, dass 80 Prozent des Gewinns mit nur 20 Prozent des Angebots erzielt werden – verbunden mit der impliziten Empfehlung, das Sortiment um die Ladenhüter zu bereinigen. Bei Buchverlagen und Musiklabels sind solche Belehrungen oft ebenso zutreffend wie wohlfeil, weil man im Vorfeld ja nie genau wissen kann, welche 20 Prozent es sind, die sich zu Hits und Umsatzbringern entwickeln werden.
Chris Anderson, Chefredakteur der Zeitschrift Wired, geht in seiner Kritik traditioneller Marketingstrategien noch weiter. In seinem Weltbestseller The Long Tail vertritt er die These, dass das Pareto-Prinzip im Zeitalter von Online-Vertrieb und virtuellen Lagerbeständen ausgedient hätte und der Glaube daran sich sogar negativ niederschlage. Zu sehr sei man im Business immer noch auf die Hits am vorderen Ende der Pareto-Kurve fixiert. Dabei werde von Internet-Händlern wie Amazon bereits heute die Hälfte des Umsatzes mit den Nischenprodukten gemacht, die sich am langen Ende der Nachfragekurve einsortieren. Auch wenn jedes einzelne dieser Ladenhüter-Produkte nur wenig zum Umsatz beitrage, werde dieser lange Rattenschwanz doch in Zukunft in der Summe den Löwenanteil des Geschäfts ausmachen. Deshalb sollte man sich nicht von der 80:20-Formel irreführen lassen, sondern eher auf eine große Sortimentstiefe setzen.
Andersons Zahlenwerk wurde teils heftig kritisiert, und einige Autoren fanden das Pareto-Prinzip auch im Internet-Handel eher bestätigt als entkräftet. Nicht auszuschließen jedoch, dass es sich bei der Allgemeingültigkeit der 80:20-Regel ebenfalls um ein Phänomen der Mustererkennung handelt und dass sie in viele Verteilungsphänomene hineininterpretiert wird. Aber selbst wenn sie nicht in Stein gemeißelt ist, liefert die 80:20-Faustformel eine praktische Krücke für viele Lebenslagen. Beispielsweise ist sie eine zugkräftige Argumentationsfigur, wenn es darum geht, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass man sich auch einmal mit 80 Prozent zufriedengeben kann, weil das maximale Ergebnis einen überproportionalen und dadurch ungerechtfertigten Mehraufwand bedeuten würde.
Kleine Zahlen und Mengen sind dem Menschen näher als große – in Mediokristan finden wir uns besser zurecht als in Extremistan. Die physikalische Natur ist solchen Unterscheidungen gegenüber indifferent; die zahlenmäßige Ordnung der Dinge, die uns umgeben, kennt solche Präferenzen nicht. Der französische Neuropsychologe