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Dialyse für Einsteiger

2. Auflage

Gerd Breuch

Willi Servos

URBAN & FISCHER

Copyright

Zuschriften und Kritik an:

Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Verlagsbereich Pflege, Hackerbrücke 6, 80335 München

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Die Erkenntnisse in Pflege und Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Buch abweichen, und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2006

2. Auflage 2010

© Elsevier GmbH, München

Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH.

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Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint.

Planung: Christine Schwerdt, München

Projektmanagement: Stefanie Schröder, München

Lektorat und Redaktion: Ulrike Frühwald, Hamburg

Herstellung: Nicole Kopp, München

Satz: Mitterweger und Partner, Plankstadt

Druck und Bindung: Printer Trento, Trento/Italien

Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Büro für Gestaltung, Neu-Ulm

Titelfotografie: B. Braun Avitum AG, Melsungen

ISBN: 978-3-437-27791-7

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter und

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

Die überaus interessierte Aufnahme der 1. Auflage "Dialyse für Einsteiger" in der Dialysewelt hat uns in unserer ursprünglichen Intention bestärkt, ein kompaktes, leicht verständliches Fachbuch in einer unverstellten Sprache zu präsentieren. Ein wenig überrascht hat uns jedoch, dass über die eigentliche Zielgruppe – Pflegende in der Dialyse – hinaus auch alle kooperierende Bereiche, wie beispielsweise Techniker und Verwaltungsangestellte in der Dialyse, unser kleines Werk mit viel Freude und Interesse genossen haben.

Dieser Umstand ist hoffentlich ein Zeichen für ein neues interdisziplinäres Denken und Handeln in der Dialyse.

Eine Entwicklung, die absolut zu begrüßen wäre, denn das gesamte Dialyseteam muss den Spagat zwischen Qualitätssicherung und den Erwartungen der Patienten auf der einen und ökonomischen Zwängen auf der anderen Seite meistern. Eine wenig kommode aber durchaus spannende Situation für alle Beteiligten, die nach einem kooperativen Miteinander im Team verlangt.

Das Anforderungsprofil für Pflegende in der Dialyse hat, aufgrund sich stetig verändernder Rahmenbedingungen und einer sich wandelnden Patientenstruktur – Patienten werden älter und kränker – eine beträchtliche Dynamik entfaltet. Beschränkte sich in der Vergangenheit das Aufgabengebiet von Pflegenden in der Dialyse auf die Durchführung der maschinellen Nierenersatztherapie bei Patienten in zumeist gutem Allgemeinzustand, so beinhaltet es heute zusätzlich, den Bedürfnissen älterer, multimorbider Patienten mit Ansprache und empathischer Zuwendung zu entsprechen.

Es ist uns nur allzu gut bewusst, vor welcher Herausforderung Sie heutzutage als Dialyseeinsteiger stehen. Nach einer knapp bemessenen Einarbeitungszeit müssen Sie in Ihrem neuen Tätigkeitsfeld funktionieren, trotz all der Unsicherheiten, die eine neue berufliche Aufgabe mit sich bringt. Insbesondere in dieser Situation soll Ihnen das nun vorliegende Werk eine Hilfe sein.

Viele Leser haben sich seit dem Erscheinen der ersten Auflage mit Anregungen und Vorschlägen persönlich an uns gewandt. Vieles davon ist eingeflossen in diese zweite Auflage. Wir möchten Sie hiermit auffordern, sich weiterhin in den direkten Diskurs mit uns zu begeben, damit die Lebendigkeit unserer Ausführungen erhalten bleibt.

Des Weiteren stützen sich in dieser zweiten Auflage alle Kapitel neben den Erfahrungen der Autoren mehr denn je auf evaluiertes pflegerisches und medizinisches Wissen. Dabei folgt auch die 2. Auflage nach wie vor und primär den Ansprüchen der praktischen Relevanz und einer unverschleierten, verständlichen Darstellung.

Wissen entspannt, so lautete unser Motto in der ersten Auflage des Buches, und dieses soll auch weiterhin gelten, denn wer sein Wissen regelmäßig erweitert, kann neuen Anforderungen gelassen entgegensehen und schwierige Situationen im Berufsalltag professionell meistern.

Dezember 2009

Ihr

Gerd Breuch, Troisdorf

Willi Servos, Much

Die Autoren

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Willi Servos

Talstraße 40

D-53804 Much

E-Mail:

Fachkrankenpfleger für Nephrologie und Dialyse

Mentor in der Krankenpflege

Staatliche Anerkennung als Desinfektor

Lehranstalt für Desinfektoren im Gesundheitsamt der Stadt Köln

• 25 Jahre Berufserfahrung im Bereich der Dialyse und Nephrologie
• Langjährige praktische Erfahrung als Mentor im Bereich Dialyse
• 7 Jahre tätig als Pflegereferent im Pflegemanagement
• Jetzt: Leitender Pflegereferent für Fort- und Weiterbildung für den Bereich Dialyse/Nephrologie und Pflege im KfH-Bildungszentrum

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Gerd Breuch

Franz von Assisi Str. 5

D-53844 Troisdorf

E-Mail:

Fachkrankenpfleger für Nephrologie und Dialyse

Mentor in der Krankenpflege

Fortbildungsakademie für Gesundheitspflege, Köln-Hohenlind

Fortbildung zur pflegerischen Leitung eines Dialysezentrums; DBfK Neuwied

Geschäftsführende Heimleitung

DSK-Bildungsinstitut Freiburg

Pflegedienstleitung

Qualitätsrichtlinien §80 SGB XI

DSK Akademie für Management und Pflege, Freiburg

• 24 Jahre Berufserfahrung im Bereich der Dialyse und Nephrologie
• Langjährige praktische Erfahrung als Pflegedienstleiter und Mentor im Bereich Dialyse
• 10 Jahre tätig als Referatsleiter Pflegemanagement im KfH Neu-Isenburg
• Leiter des Instituts für Wissensvermittlung und Veranstaltungsorganisation, inwivo’ Neu Isenburg
• Produktspezialist Hämodialysetechnik in der Industrie
• Seit 6/2009 Systemspezialist Dialyse in der Industrie

Abkürzungsverzeichnis

ACT Aktivierte Gerinnungszeit (activated coagulation time)

AGE advanced glycosylation end-products

ANV Akutes Nierenversagen

APD Automatische Peritonealdialyse (automatic peritoneal dialysis)

ATL Aktivität des täglichen Lebens

AV-Shunt Arteriovenöser Shunt

B.I.A. bioelektrische Impedenzanalyse

BSS Blutschlauchsystem

BVM Blutvolumenmonitor

CAPD Kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse (continuous ambulant peritoneal dialysis)

CCPD Kontinuierliche cyclervermittelte Peritonealdialyse (continuous cycling peritoneal dialysis)

CERA continuous erythopoiesis receptor activator

DP Double Pool

EPO Erythropoetin

ETO Äthylendioxid

GDP glucose degradation product

GFR Glomeruläre Filtrationsrate

HD Hämodialyse

HDF Hämodiafiltration

HF Hämofiltration

HIT Heparininduzierte Thrombozyto-penie

IPD Intermittierende Peritonealdialyse (intermittend peritoneal dialysis)

Iso-UF Isolierte Ultrafiltration

K (Harnstoff-)Clearance

KAST Katheteraustrittsstelle

KG Körpergewicht

KOF Körperoberfläche

LA Lebensaktivität

LF Leitfähigkeit

NIPD Nächtliche intermittierende Peritonealdialyse (nocturnal intermittend peritoneal dialysis)

NMH Niedermolekulares Heparin

PD Peritonealdialyse

PET Peritonealer Äquilibrationstest

PTFE Polyetrafluoräthylen

PTT Partielle Thromboplastinzeit

RAAS Renin-Angiotensin-System

RBV Relatives Blutvolumen

SGA subjective global assessment

SN-Dialyse Single-Needle-Dialyse

SP Single Pool

TMP Transmembrandruck

TPD Tidal-Verfahren (tidal peritoneal dialysis)

TZ Thrombinzeit

UF Ultrafiltration

URR Harnstoffreduktionsrate (urea reduction rate)

V Verteilungsvolumen

ZVK Zentraler Venenkatheter

Table of Contents

1 Herzlich willkommen im Team

Sie haben sich für ein sehr interessantes, aber auch außergewöhnliches Arbeitsfeld für Pflegende entschieden: die Dialyse. Viele der nun auf Sie zukommenden Anforderungen waren vermutlich nicht Gegenstand Ihrer Ausbildung zur Pflegefachkraft oder Arzthelferin bzw. zur medizinischen Fachangestellten (MFA). Kein Problem, um Neues zu lernen, ist es nie zu spät. Auch wenn das Dialysegerät Ihnen am Anfang wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommt, können wir Ihnen versichern, dass Sie mit Interesse und vor allen Dingen Motivation auch diesen Gipfel erklimmen werden. Wir werden Ihnen auf diesem Weg helfen, indem wir all die interessanten und spannenden Dinge, die es rechts und links am Wegrand zu erkunden und bestaunen gibt, auf eine einfache, plausible und dennoch fundierte Art und Weise erläutern. Trotzdem ist die praktische Einarbeitung vor Ort in Ihrem Dialysezentrum durch nichts zu ersetzen, seien Sie also neugierig und interessiert. Scheuen Sie sich nicht davor, Fragen zu stellen, denn Sie werden schnell feststellen, dass Sie dabei auf Kollegen stoßen, die Sie bereitwillig unterstützen. Nutzen Sie jede Chance, am Know-how Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu partizipieren, und vergessen Sie nicht, dass auch Ärzte und Techniker kompetente Informationsquellen sind.

Häufig kommen jedoch die theoretischen Grundlagen und Hintergründe Ihrer Tätigkeit im Rahmen der praktischen Einarbeitung zu kurz. Ursachen sind oft mangelnde Zeitressourcen und die primäre Zielsetzung, erst einmal schnell als Arbeitskraft zu funktionieren. Sie haben es dennoch selbst in der Hand, nutzen Sie Ihren Schwung als Ein-steiger, denn das Allermeiste können Sie sich prima im Selbststudium erarbeiten. Betrachten Sie uns als virtuellen Kollegen, zuständig für den theoretischen Part Ihrer Einarbeitung. Wir werden gemeinsam mit Ihnen in 17 Kapiteln alles Wissenswerte rund um die Dialyse erarbeiten. Aber Vorsicht: Nach jedem Kapitel droht Ihnen eine kleine Prüfung! Selbstprüfung natürlich, streng vertraulich und nur für Sie gedacht. Und … haben Sie alles gewusst? Im Anhang finden Sie die Antworten zu den Fragen. Und denken Sie immer daran: Wissen entspannt!

Ein Rundgang durchs Dialysezentrum

image Dabei lernen Sie zunächst (→ ) einen virtuellen Pathologen kennen, der Sie beim Ausflug in die Welt der Anatomie und Physiologie der Niere begleitet und Ihnen Einblick in die feinsten Strukturen dieses hochkomplexen Organs verschafft.
image In der Abteilung „Nephrologie” absolvieren Sie einen Crashkurs zum Thema „Kurznephrologie für Einsteiger”. Dabei werden Ihnen sowohl die Ursachen der Niereninsuffizienz in kompakter Form (→ ) als auch die Folgeerkrankungen der chronischen Niereninsuffizienz (→ ) vermittelt.
image Im Labor dürfen auch Sie Hand anlegen (→ ). Hier können Sie Diffusionsversuche mit Füllertinte durchführen oder mit Puderzucker eine Plasmolyse erzeugen. Dabei wird deutlich, was sich hinter Begriffen wie „Osmose”, „Diffusion” und „Konvektion” verbirgt. Die physikalischen Grundlagen helfen Ihnen, Hintergründe und Abläufe der Dialyse und eventuell auftretende Probleme während der Behandlung besser zu verstehen.
image Im Keller des Dialysezentrums stoßen Sie auf den so genannten „Osmoseraum”. Heißt der wirklich so? Was macht die riesige Maschine dort? Und warum das viele Salz in den so beliebten 25-kg- Säcken? Treten Sie doch einfach ein (→ ) und Sie werden diese und viele weitere Fragen beantwortet bekommen.
image Auf dem Rückweg in die Behandlungs-zone kommen Sie am Technikerraum vorbei. Verfolgen Sie dort (→ ), vielleicht zusammen mit dem zuständigen Techniker, den Weg des Wassers vom Permeatanschluss des Dialysegeräts bis zum Blut des Patienten als Substitutionslösung beim Behandlungsverfahren HDF-Online.
image Spätestens wenn Sie beim Verfolgen des Wegs des Wassers durch das Dialysegerät an der Dialysatorkupplung angekommen sind, stellt sich Ihnen die Frage: Wie arbeitet eigentlich ein Dialysator? Er ist die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine und letztendlich der Ort, an dem sowohl die Entgiftung als auch der Wasserentzug stattfindet (→ ). Gehen Sie ins Lager und informieren Sie sich über das Dialysatorenportfolio Ihres Zentrums. Wir versprechen Ihnen: Nach ein wenig Selbststudium sind sie in der Lage, die Packungsbeilage eines Dialysators in Gänze zu interpretieren.
image Im Behandlungsraum wieder angekommen, widmen wir uns einem ganz speziellen medizinischen Thema: der Antikoagulation (→ ) und somit auch dem Heparin, einer Substanz, die allgegenwärtig unseren Arbeitsalltag begleitet. Wir informieren über Wirkung und Nebenwirkungen dieses Medikaments, die adäquate Dosis und die dazugehörigen Kontrollparameter.
image Danach möchten wir Sie auffordern, mit uns einen Abstecher ins benachbarte Krankenhaus zu machen, um bei einer Shunt-Operation zuzusehen. (→ ). Wir versprechen Ihnen: Der Blick in die Tiefe mit Sichtung der filigranen Gefäßstrukturen wird für Sie unvergessen bleiben und Ihnen später bei schwierigen Shuntpunktionen helfen. Darüber hinaus werden wir Ihnen alle gängigen Gefäßzugänge für die Hämodialyse vorstellen.
image Wieder im Dialysezentrum zurück, verbringen wir die nächste Zeit erst mal im Behandlungsraum. Als Erstes begeben Sie sich unter unserer Anleitung an Ihre erste Shuntpunktion. versorgt Sie dafür mit allen Tipps und Tricks. Und denken Sie immer daran: Eine erst mal unbemerkt bleibende Fehlpunktion schadet nicht nur der „Lebensader” des Patienten erheblich, sondern lässt unter Umständen auch Ihren Arbeitsablauf entgleiten. Daher sollten Sie diesem wichtigen Thema einen besonderen Stellenwert einräumen.
image Haben Sie den Patienten erfolgreich punktiert und ans Dialysegerät angeschlossen, machen wir Sie in mit den unterschiedlichen Behandlungsverfahren und einigen Therapieoptionen vertraut (→ ).
image Anschließend lernen Sie in die Wege zu einer effektiven Dialysebehandlung und die dazugehörigen Beurteilungskriterien sowie Steuerungsmechanismen kennen.
image Im Anschluss informieren wir Sie bei einer Tasse Kaffee im Aufenthaltsraum über die möglichen medizinischen Komplikationen, die vor während und nach der Dialysebehandlung beim Patienten auftreten können (→ ). Wir werden Sie dabei in die Lage versetzen, auftretende Behandlungskomplikationen frühzeitig zu erkennen und mit geeigneten Maßnahmen sicher und routiniert zu beheben.
image Ein Besuch bei der Kollegin, die im Behandlungszimmer nebenan einen schwerstpflegebedürftigen Patienten betreut, gibt Aufschluss über das zunehmende Anforderungsprofil an Krankenschwestern und -pflegern in der Dialyse. In werden wir Sie mit wichtigen Elementen der nephrologischen Pflege vertraut machen.
image Auf dem Rückweg ins Dienstzimmer werfen wir noch einen Blick in den Abstellraum. Dort sehen wir ein Reserve-Dialysegerät, das auf seinen Einsatz wartet. Ein freier Behandlungsplatz und die notwendigen Dialysematerialien, die wir mehrmals benutzen können, laden zum praktischen Training am Dialysegerät im simulierten Behandlungsbetrieb ein. Im ersten Schritt machen wir Sie mit den Alarmen am Dialysegerät und deren Ur-sachen vertraut (→ ), bevor Sie im nächsten Schritt zum „Trockentraining” schreiten (→ ).
image Und zu guter Letzt geben wir Ihnen noch eine kleine Aufgabe mit nach Hause. Prüfen Sie Ihr Wissen anhand der je weiligen Fragen. Die Antworten finden Sie im Anhang.

Gerd Breuch und Willi Servos

2 Anatomie und Physiologie der Niere

Zunächst beschäftigen wir uns, wohl gemerkt in gebotener Kürze, mit der Anatomie und Physiologie der gesunden Niere. Vielen wird dieser Themenkomplex noch in – wir hoffen bester, aber befürchten grausiger – Erinnerung aus der Krankenpflegeschule oder der Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten sein. Um die Prinzipien und Funktionsweisen aller extrakorporalen Behandlungsverfahren der terminalen Niereninsuffizienz zu verstehen, ist es jedoch unabdingbar, die Grundzüge der menschlichen Niere verinnerlicht zu haben. Also: Wo befinden sich die Nieren genau? Wie sind sie aufgebaut? Wie funktionieren sie und was gehört neben der Urinproduktion zu ihren Aufgaben? Ein virtueller Pathologe begleitet uns bei unserem Ausflug in die Anatomie und Physiologie der Niere. Dabei betrachten wir zunächst die präparierten Nieren von außen.

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[M297]

2.1 Die Niere von außen betrachtet

Die Nieren sind paarig angelegt und befinden sich retroperitoneal (außerhalb der Peritonealhöhle) im hinteren oberen Bauchraum in Höhe des 11. oder 12. Brustwirbels bis zum 2. oder 3. Lendenwirbel. Die rechte Niere liegt zumeist tiefer, da sie durch die Leber etwas verdrängt wird. Jede Niere wiegt ca. 120–200 Gramm und ist 4 cm dick, 7 cm breit und etwa 11 cm lang (ganz einfach zu merken: 4711). Die Nieren sind von bohnenförmiger Gestalt und zur Körpermitte (medial) nach innen gekrümmt (konkav). In der konkaven Krümmung befindet sich eine Höhlung, die Nierenpforte oder auch Hilus genannt wird, an der die Nierenarterie (A. renalis) und Nerven in die Niere ein- und die Nierenvene (V. renalis) sowie Nerven und Lymphgefäße aus der Niere austreten. Außerdem geht das Nierenbecken (Pelvis renalis) an dieser Stelle in den Harnleiter (Ureter) über. Äußerlich ist die Niere von einem Fettpolster aus Bauchfett umgeben. Abgegrenzt wird dieses Fettpolster von einem bindegewebigen Sack, dem so genannten Fasziensack. Dieser umgibt nicht nur die Niere, sondern auch die Nebenniere, eine kleine endokrine Drüse, die am oberen Nierenpol angelagert ist.

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Abb. 2.1 Makroskopische Umgebung der Niere. [L190]

So, jetzt wissen Sie ganz genau, wo die Nieren liegen und wie sie von außen betrachtet aussehen. Im nächsten Schritt halbiert unser virtueller Pathologe eine Niere mittels eines Längsschnitts, und wir sind gespannt, was es dann mit bloßem Auge zu entdecken gibt.

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Abb. 2.2 Rechte Niere, von vorne und von hinten. [L007-2-16]

2.2 Die Grobstruktur der Niere

Auf einem Längsschnitt durch die Niere kann man mit bloßem Auge die Unterteilung in eine äußere Rindenschicht und eine innere Markschicht erkennen. Die Rinde ist fein gekörnt und reich an Blutgefäßen. Das Mark bildet in Richtung der Nierenpforte (Hilus) kegelförmige Vorbildungen, die so genannten Markpyramiden, die eine feine Längsstreifung erkennen lassen. Die Spitze dieser Pyramiden nennt man Nierenpapillen. Jede Nierenpapille ragt in einen trichterförmig erweiterten Hohlraum, den Nierenkelch. Die Nieren-kelche wiederum führen den Harn in das Nierenbecken. Von dort aus transportiert der Harnleiter den Harn weiter in die Harnblase.

Langsam wird die Sache spannend. Als Nächstes präpariert der Pathologe eine Niere so, dass wir einen genauen Blick durchs Mikroskop auf die Feinstruktur der Niere werfen können, in der das Geheimnis dieses komplexen Organs verborgen ist.

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Abb. 2.3 Makroskopie der Niere. [L190]

2.3 Der Blick durchs Mikroskop

Den Feinbau der Niere verstehen wir am besten, wenn wir von ihrem Gefäßsystem ausgehen. Damit die Nieren ihre Aufgaben erfüllen können, müssen sie sehr gut durchblutet sein. In 24 Stunden werden die Nieren von rund 1500 Litern Blut durchströmt.

Aus der Bauchaorta entspringt für die Versorgung jeder Niere eine Nierenarterie (A. renalis). Die Nierenarterie tritt am Hilus in die Niere ein und verzweigt sich in ein sehr-feines Gefäßnetz. Aus diesem Gefäßnetz gehen allseits kleine Zweige (Vas afferens) ab, die jeweils in ein arterielles Gefäßknäuel, dem Glomerulus, münden. Jeder Glomerulus ist von einer Kapsel, der Bowman-Kapsel, umgeben. Zwischen der Bowman-Kapsel und dem Gefäßknäuel befindet sich ein Spalt, in den der Primärharn mithilfe des Blutdrucks aus dem arteriellen Blut des Gefäßknäuels abgepresst wird. Glomerulus plus Bowman-Kapsel bezeichnet man auch als Nierenkörperchen. In der Nierenrinde sehen wir unter dem Mikroskop etwa eine Million dieser Nierenkörperchen je Niere.

Von der Bowman-Kapsel geht das Nierenkanälchen (Tubulus) ab, der Abflussweg für den Primärharn. Der erste Teil dieses Nierenkanälchen ist stark gewunden und befindet sich noch in der Nierenrinde (proximaler Tubulus). Diesem schließt sich die Henle-Schleife an, ein u-förmiger Bestandteil der Nierenkanälchen, der bis ins Nierenmark hineinreicht. Im Anschluss wandert das Nierenkanälchen in gewundener Form wieder zurück in die Nierenrinde (distaler Tubulus).

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Abb. 2.4 Glomerulus und Nephron. [L190]

Die Nierenkanälchen sind von einem weiteren Gefäßnetz umgeben, das aus den Glomeruli entspringt (Vas efferens). Zwischen diesem Gefäßnetz und den Nierenkanälchen findet ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch statt. So erfüllt die Niere neben der Ausscheidungsfunktion noch eine weitere Aufgabe, die Stoffwechselfunktion. Doch dazu später mehr.

Schließlich gehen die Nierenkanälchen in Sammelrohre von größerem Durchmesser über. Die Sammelrohre befinden sich im Nierenmark. Ein Nierenkörperchen (Glomerulus und Bowman-Kapsel) mit anschließendem Tubulus (die Sammelrohre gehören nicht mehr dazu) nennt man Nephron. Aus den Sammelrohren fließt der Harn über Papillargänge in die Nierenkelche. Diese wiederum leiten den Primärharn in das Nierenbecken.

Auf dem langen Weg durch das Tubulussystem bis ins Nierenbecken wird aus dem Primärharn der Sekundärharn oder Endharn gebildet, der weiter durch die Harnleiter in die Harnblase fließt. Der in der Harnblase gesammelte Urin wird letztlich über die Harnröhre ausgeschieden.

Nach der arteriellen Versorgung des Nierengewebes, dem Eintritt in die Glomeruli (Vas afferens) und der von dort ausgehenden Weiterleitung (Vas efferens) in das Gefäßnetz, das die Nierenkanälchen umgibt, fließt das nunmehr venöse Blut über ein Venensystem zum Nierenhilus und dort in die Nierenvene (V. renalis) zurück. Die Nierenvene tritt durch den Hilus aus und mündet abschließend in die untere Hohlvene (V. cava inferior).

Ein perfektes System, aber ganz schön kompliziert, oder? Wir empfehlen Ihnen, diesen Abschnitt zweimal zu lesen und parallel dazu die Abbildungen zu studieren.

Merke

Der Primärharn (ca. 180 Liter pro Tag) wird im Nierenkörperchen aus dem Gefäßknäuel (Glomerulus) abgepresst, in das Nierenkanälchen (Tubulus) geleitet und fließt von dort über ein Sammelrohr bis ins Nierenbecken. Auf dem Weg durchs Tubulussystem wird aus dem Primärharn der Endharn (1,5–2 Liter pro Tag) gebildet.

Aus dem Glomerulus entspringt ein weiteres Gefäßnetz, das die Nieren-kanälchen umschließt. Zwischen den Nierenkanälchen und diesem Gefäßnetz findet ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch statt.

Einprägen sollten Sie sich an dieser Stelle auch zwei Begriffe, die in der Medizin und insbesondere in der Anatomie ständig verwendet werden, deren Bedeutung man sich jedoch nur schwer merken kann: Proximal bedeutet „näher zur Körpermitte hin” oder „näher gelegen”, distal hingegen bedeutet „weiter von der Körpermitte weg” oder „entfernt gelegen”.

Nachdem wir die Nieren mithilfe unseres virtuellen Pathologen von außen und innen genau unter die Lupe genommen haben, wenden wir uns nun der Nierenphysiologie, also den Funktionen der Niere, zu.

2.4 Funktionen der Niere

Harnbildung

Primärharn

Im Glomerulus herrscht bei normalem Blutdruck ein Druck von ca. 50 mmHg. Dieser Druck führt dazu, dass aus den Gefäßschlingen Primärharn abgepresst wird (Glomeruläre Filtration: 0,12 Liter pro Minute = 170 Liter pro Tag). Der Blutdruck des Körpers unterliegt normalerweise im Verlauf des Tages typischen Schwankungen: Im Schlaf ist er niedriger als z. B. bei körperlicher Anstrengung oder Stress. Für die Filtration in den Glomeruli ist aber ein konstanter Blutdruck wichtig. Deshalb hat die Niere die Fähigkeit, den Blutdruck in ihrem Innern ihren Bedürfnissen anzupassen. Man nennt das auch Autoregulation der Niere. Dies geschieht im Wesentlichen über die glatte Muskulatur der zuleitenden Gefäße (Vas afferens) der Nierenkörperchen, die selbsttätig ihre Gefäßweite reguliert, so dass der glomeruläre Blutdruck auf etwa 50 mmHg eingestellt wird.

Diese Autoregulation funktioniert jedoch nur bei einem arteriellen Blutdruck zwischen 80 und 180 mmHg. Fällt der arterielle Blutdruck z. B. im Rahmen eines Schocks unter 40 mmHg, stellt die Niere die Harnbildung ein. Es kommt zu einer Oligurie (unter 500 ml Harnvolumen in 24 Std.) oder Anurie (unter 100 ml Harn-volumen in 24 Std.).

Da wir an dieser Stelle jedoch den gesunden Organismus betrachten, interessiert uns als Nächstes die inhaltliche Zusammensetzung des Primärharns. Dieser enthält nicht nur Wasser, sondern auch die im Blutplasma gelösten Substanzen. Allerdings können nur klein- und mittelmolekulare (klein- und mittelgroße) Substanzen den glomerulären Filter passieren. Hochmolekulare (große) Substanzen wie Eiweiße oder kleine Substanzen, die an Eiweiße gebunden sind, werden nicht abfiltriert und gelangen mit dem Blutfluss ins Tubulussystem.

Auf dem gleichen Prinzip wie die Primärharnbildung in der Niere (Filtration mittels Druck) basiert auch die Entgiftung bei der Hämofiltration.

Merke

Der Primärharn ist eine eiweißfreie, wässerige Lösung, die die im Blutplasma gelösten klein- und mittelmolekularen Substanzen enthält.

Endharn

Der Endharn wird aus dem Primärharn auf dessen Weg durch die Nierenkanälchen (Tubuli) gebildet. Notwendig dazu ist ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch zwischen den Blutgefäßen und den Nierenkanälchen in beiden Richtungen. Dabei laufen unterschiedliche Vorgänge gleichzeitig ab.

Wasserrückresorption

Man unterscheidet zwei Prozesse, die zu einer Wasserrückresorption aus den Nierenkanälchen in die umgebenden Blutgefäße führen:

image In den Zellen des proximalen Tubulus der Nierenkanälchen befindet sich eine Natriumpumpe. Sie pumpt Natrium aus dem Tubulus in die umliegenden Blutgefäße. Dadurch entsteht ein osmotisches Druckgefälle (Osmose → ), was dazu führt, dass das Wasser aus den Nierenkanälchen dem Natrium in den Blutgefäßen passiv folgt. Auf diese Weise werden ca. 80 % des im Primärharn befindlichen Wassers (120 Liter/24Std.) ins Blut rückresorbiert.
image Ein Hormon aus der Hypophyse namens Adiuretin, besser bekannt als das Antidi-uretische Hormon (ADH), ermöglicht es, in Zusammenarbeit mit der uns schon vertrauten Henle-Schleife, reines Wasser (ohne gelöste Substanzen) aus dem dis-talen Tubulus der Nierenkanälchen und den Sammelrohren zurück ins Blut zu resorbieren. Auf diese Weise werden weitere 18–19 % des Primärharns rückresorbiert, so dass letztlich nur 1,5–2 Liter Endharn übrig bleiben und ausgeschieden werden.

Aus dem Primärharn wird nicht nur Wasser entfernt. Lebenswichtige Substanzen werden aus den Nierenkanälchen ins Blut rückresorbiert und harnpflichtige Substanzen aktiv aus dem Blut in das Tubulussystem sezerniert (abgesondert).

Austausch von Stoffen zwischen Nierenkanälchen und Blut

Harnpflichtige Substanzen

Welche harnpflichtigen Substanzen im Primärharn und Endharn enthalten sind und somit letztendlich für die Vergiftung (Urämie) bei niereninsuffizienten Patienten verantwortlich sind, ist weitestgehend unbekannt. Man weiß jedoch, dass harnpflichtige Substanzen wie Kreatinin (Abbauprodukt des Muskelstoffwechsels) oder Harnstoff (Endprodukt des Eiweißstoffwechsels) sensible Blutparameter für die Vergiftungssituation eines nierenkranken Patienten sind. Kreatinin z. B. ist keine giftige Substanz. An einem langsamen Kreatininanstieg im Blut lässt sich aber die zurückgehende Nierenfunktion ablesen.

Ob bekannt oder unbekannt, der größte Teil-der harnpflichtigen Substanzen gelangt durch die unter dem Punkt Primärharn-bildung erläuterte Filtration in die Nieren-kanälchen. Ein kleinerer Teil, vor allem Harnsäure, wird durch Sekretion aus dem Blut in die Nierenkanälchen transportiert. Harnsäure wird später wieder zu fast 90 % ins Blut rückresorbiert. Auch Harnstoff diffundiert teilweise zurück ins Blut. Die noch verbleibenden harnpflichtigen Substanzen werden mit dem Endharn ausgeschieden.

Elektrolyte

Die Elektrolyte Kalium und Natrium sind für die Funktion von Nerven- und Muskelzellen von großer Bedeutung. Ihre Blutkonzentration wird durch fein abgestimmte Prozesse (Resorption und Sekretion) im Tubulussystem gesteuert. Beeinflusst wird dieser Vorgang durch das Hormon Aldosteron aus der Nebenniere. Es fördert im Tubulus die Resorption von Natriumionen und die Sekretion von Kalium- und Wasserstoff-ionen. Die Aldosteronfreisetzung ist von der Natrium- und Kaliumkonzentration im Blut abhängig. Sinkt der Natriumgehalt im Blut ab, so wird aus Zellen, die sich in der Henle-Scheife befinden (juxtaglomerulärer Apparat) ein Molekül namens Renin freigesetzt. Renin wiederum wirkt durch Umwandlung von Bluteiweißkörpern (Angiotensin) anregend auf die Freisetzung von Aldosteron.

Auch die Konzentration von Calcium im Blut wird, ähnlich wie bei Natrium und Kalium, unter Beteiligung der Niere und unter Kontrolle des hormonalen Systems eingestellt.

Phosphat wird im Glomerulus aktiv filtriert und mit dem Endharn ausgeschieden. Parathormon, ein Hormon aus der Nebenschilddrüse, erhöht die Phosphatausscheidung in der Niere.

Merke

Die kranke Niere eines Dialysepatienten ist in der Regel nicht mehr in der Lage, ausreichende Mengen an Phosphat und Kalium auszuscheiden. Dies hat zur Folge, dass die Blutkonzentration dieser Substanzen über dem Normwert liegt. Erhöhte Kaliumwerte führen zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen, erhöhte Phosphatwerte beeinflussen den Knochenstoffwechsel negativ. Regelmäßige Kaliumkontrollen, vor allem nach dem langen Dialyseintervall, geben dem Patienten, aber auch Ihnen ein sicheres Gefühl im Bezug auf eine hinreichende Senkung des Serumkaliums während der Dialyse. Zur adäquaten Senkung des Phosphatwertes sind lange Dialysezeiten (z. B. 5 Std.) unumgänglich.

Glukose

Glukose gehört zu den wichtigsten Energielieferanten im Stoffwechsel der Zelle. Sie wird im Glomerulus uneingeschränkt filtriert, d. h., die Glukosekonzentration im Primärharn ist genauso hoch wie im Blutplasma. Während die Glukose durch das Tubulussystem fließt, tritt sie vollständig aus dem Primärharn ins Blut über. Bei sehr hohen Glukosekonzentrationen im Blut (> 180 mg/dl) und damit auch im Primärharn, wird die mögliche Rückresorptionsrate aus dem Primärharn ins Blut überschritten. Es kommt zur Glukoseausscheidung im Harn (Glucosurie). Dies kann z. B. bei der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) der Fall sein.

Säure-Basen-Haushalt

Die Resorptions- und Sekretionsvorgänge im Tubulussystem sind an der Einstellung des Säure-Basen-Haushalts (pH-Wert) im Blut beteiligt und wirken damit einer Übersäuerung (Azidose) bzw. einer Verschiebung des Blut-pH-Werts (Normwert 7,36–7,44) in den basischen Bereich (Alkalose) entgegen.

In der Tubuluszelle verbindet sich Kohlendioxid (CO2) mit Wasser (H2O) zu Kohlensäure (H2CO3), die ihrerseits in Bikar-bonat (HCO3, Base) und Wasserstoffionen (H+, Säure) zerfällt. Wasserstoffionen (H+), also Säure, werden aus dem Tubulussystem mit dem Harn ausgeschieden. Bikarbonat (HCO3) verbindet sich in der Tubuluszelle mit Natrium zu Natriumbikarbonat (NaHCO3), eine Base, die ins Blut übergeht.

Auch die Lunge ist aktiv an der Einstellung des Säure-Basen-Haushalts beteiligt. Im Rahmen einer Azidose (Zunahme der H+-Ionenkonzentration → Übersäuerung) verbinden sich H+ und HCO3 zu H2CO3, das in CO2 und H2O zerfällt. CO2 (Säure) wird zum Ausgleich der Azidose über die Lunge ausgeschieden.

Der Endharn selbst ist schwach sauer (pH-Wert: 5,5).

Merke

In der gesunden Niere wird Säure (Wasserstoffionen, H+) mit dem Harn aus-geschieden und eine Base (Natriumbi-karbonat, NaHCO3) ins Blut rückresorbiert.

Der Dialysepatient ist in der Regel übersäuert, da er keine Wasserstoffionen (H+, Säure) mehr ausscheidet und zu wenig Natriumbikarbonat (NaHCO3, Base) zum Ausgleich der Übersäuerung ins Blut rückresorbiert. Dieses Ungleichgewicht zwischen Säuren und Basen kann man während der Dialyse leicht ausgleichen. – Aber wie?

image Genau, wir stellen die Konzen-tration von Natriumbikarbonat (Base) in der Dialysierlösung am Dialysegerät höher ein, als sie im Blut des Dialyse-patienten ist (z. B. auf 32 mmol/l). Dies hat zur Folge, dass Natriumbikar-bonat (Base) aus der Dialysierlösung ins Blut übertritt und die Übersäuerung ausgleicht.

Neben den oben beschriebenen Prozessen beherrscht die Niere noch ein ganz anderes Metier: Sie produziert auch Hormone.

Hormonproduktion

Renin

Renin ist ein Hormon, das in der Niere gebildet wird. Genauer gesagt im juxtaglomerulären Apparat (Zellen im aufsteigenden Teil der Henle’schen Schleife). Die Niere reagiert damit auf eine verminderte Nierendurchblutung, mangelnde Flüssigkeit (Hypovolämie) im Körper, z. B. bei Erbrechen und Durchfall, oder Natriummangel im Blutserum.

Renin ist ein Bestandteil des so genannten Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAA-System). Hauptaufgabe dieses Systems ist es, den Blutdruck und das Flüssigkeitsvolumen im Kreislauf sowie den Natrium- und Kaliumhaushalt auf konstantem Niveau zu halten. Renin spaltet von dem in der Leber gebildeten Angiotensin ein Peptid ab, das Angiotensin I, welches wiederum von dem in der Lunge hergestellten Enzym ACE in Angiotensin II verwandelt wird. Angiotensin II bewirkt eine Gefäßverengung (Vasokonstriktion) der Arteriolen im gesamten Herz-Kreislauf-System und führt dadurch zu einer Steigerung des Blutdrucks. Ferner führt es zu einer Freisetzung von Aldosteron in der Nebennierenrinde, was wiederum die Resorption von Natrium und die Sekretion von Kalium im Tubulus erhöht.

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Abb. 2.5 Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAA-System). [L138]

Mit dieser Information können Sie sich jetzt leicht erklären, auf welche Weise die Medikamentengruppe der ACE-Hemmer den Blutdruck senkt.

Erythropoetin

Erythropoetin (EPO) ist ein Hormon, das die Bildung und Reifung der roten Blut-körperchen (Erythrozyten) im Knochenmark anregt. Da Erythrozyten beim gesunden Menschen eine Lebensdauer von nur etwa 120 Tagen haben, müssen sie konti-nuierlich neu produziert werden. Die wichtigste Aufgabe der roten Blutkörperchen besteht darin, die Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid mithilfe des in ihnen enthaltenen roten Blutfarbstoffs (Hämoglobin) zu transportieren.

Den größten Teil (> 90 %) des Erythropoetins bilden die Nieren, ein kleiner Teil entsteht in der Leber. Die von den Nieren hergestellte Menge an Erythropoetin hängt im Wesentlichen vom Sauerstoffgehalt im Blut ab. Fortgeschrittene Erkrankungen der Nieren (chronische Niereninsuffizienz) führen dazu, dass zu wenig Erythropoetin gebildet wird. Die verminderte Produktion von Erythropoetin in der Niere hat für den niereninsuffizienten Patienten fast immer eine Blutarmut (renale Anämie) zur Folge. Seit einigen Jahren steht gentechnisch hergestelltes Erythropoetin therapeutisch zur Verfügung.

Leider wird das gentechnisch hergestellte Erythropoetin nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern immer häufiger als Dopingsubstanz im Leistungssport eingesetzt. Der Sportler erspart sich damit ein aufwendiges Höhentraining. Der wesentliche Wirkfaktor des Höhentrainings ist die Hypoxie, was so viel wie Sauerstoffmangel bedeutet. In größeren Höhen nimmt die Hypoxie zu, da der Sauerstoffdruck in der Luft abnimmt. Höhentraining kann im Gebirge stattfinden oder in so genannten Barokammern, die die Hypoxie durch einen Unterdruck künstlich hervorrufen. Beim Höhentraining reagiert der Körper aufgrund des Sauerstoffmangels und der damit verbundenen geringeren Sauerstoffsättigung des Blutes mit einer Steigerung der Erythropoetinproduktion. Dies hat eine relative Zunahme der roten Blutkörperchen und somit der Leistungsfähigkeit zur Folge.

Vitamin D und Parathormon

Vitamin D ist kein Vitamin im eigentlichen Sinne, sondern in seiner aktiven Form, dem Vitamin D3 oder 1,25-Cholecalciferol, ein Hormon.

Vitamin D wird aus einem Abbauprodukt des Cholesterins (Cholesterol) unter Einfluss von UV-Licht vom Körper selbst produziert. Schon eine 10- bis 15-minütige Besonnung von Händen, Gesicht und Armen an mehreren Tagen der Woche reicht bei jungen Menschen aus, um eine ausreichende Menge Vitamin D zu synthetisieren. Der letzte Schritt der Umwandlung von Vitamin D in die aktive Form (Vitamin D3) findet in der Niere statt (→ ). Vitamin D3 fördert unter anderem die Kalziumaufnahme aus der Nahrung.

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Abb. 2.6 Vitamin-D-Synthese. [L138]

Die Wirkungen des aktiven Vitamins D werden zum Teil mit einem Hormon aus der Nebenschilddrüse, dem Parathormon, gesteuert. Auf einen zu niedrigen Kalziumspiegel im Blut (Hypokalzämie) reagieren die Nebenschilddrüsen mit einer vermehrten Parathormonausschüttung. Das Parathormon stimuliert wiederum die Vitamin-D-Produktion.

Bei Patienten mit zunehmender Einschränkung der Nierenfunktion kann die Niere immer weniger Vitamin D in die aktive Form Vitamin D3 umwandeln. Dies führt zu einer Verringerung der Kalziumaufnahme aus der Nahrung, der Kalziumspiegel im Blut fällt. Auf diese Hypokalzämie reagieren die Nebenschilddrüsen mit einer vermehrten Ausschüttung von Parathormon. Zum Ausgleich des Kalziumspiegels im Blut löst das Parathormon Kalzium aus den Knochen. Dieser Prozess ist eine Ursache für die Entwicklung der renalen Osteopathie, einer Langzeitkomplikation bei Dialysepatienten, die unbehandelt zu belas-tungsabhängigen Knochenschmerzen bis hin zu Knochendeformationen oder Knochenbrüchen führen kann.

Resümee

So viel zur Anatomie und Physiologie der Niere. Zugegeben, die Niere ist schon ein komplexes Organ. Man könnte sie auch als den Workaholic unter den Organen bezeichnen.

image VORSICHT: Prüfung!

1. Wo liegen die Nieren?
2. Aus welchen Bestandteilen setzt sich ein Nephron zusammen?
3. Beschreiben Sie das Prinzip der Primärharn bildung!
4. Neben den Glomeruli gibt es in der Niere ein weiteres Gefäßnetz, beschreiben Sie Lage und Funktion dieses Gefäßnetzes!
5. Welche Vorgänge steuern die Wasserrück resorption aus dem Primärharn?
6. Wie beeinflussen die Nieren das Säure-Basen-Gleichgewicht im Blut?
7. Wann schüttet die Niere das Hormon Renin aus und was bewirkt dies?

(→ image auf )