Dialyse für Einsteiger
2. Auflage
URBAN & FISCHER
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Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Verlagsbereich Pflege, Hackerbrücke 6, 80335 München
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Die Erkenntnisse in Pflege und Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Buch abweichen, und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.
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1. Auflage 2006
2. Auflage 2010
© Elsevier GmbH, München
Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH.
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Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint.
Planung: Christine Schwerdt, München
Projektmanagement: Stefanie Schröder, München
Lektorat und Redaktion: Ulrike Frühwald, Hamburg
Herstellung: Nicole Kopp, München
Satz: Mitterweger und Partner, Plankstadt
Druck und Bindung: Printer Trento, Trento/Italien
Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Büro für Gestaltung, Neu-Ulm
Titelfotografie: B. Braun Avitum AG, Melsungen
ISBN: 978-3-437-27791-7
Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter und
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
Die überaus interessierte Aufnahme der 1. Auflage "Dialyse für Einsteiger" in der Dialysewelt hat uns in unserer ursprünglichen Intention bestärkt, ein kompaktes, leicht verständliches Fachbuch in einer unverstellten Sprache zu präsentieren. Ein wenig überrascht hat uns jedoch, dass über die eigentliche Zielgruppe – Pflegende in der Dialyse – hinaus auch alle kooperierende Bereiche, wie beispielsweise Techniker und Verwaltungsangestellte in der Dialyse, unser kleines Werk mit viel Freude und Interesse genossen haben.
Dieser Umstand ist hoffentlich ein Zeichen für ein neues interdisziplinäres Denken und Handeln in der Dialyse.
Eine Entwicklung, die absolut zu begrüßen wäre, denn das gesamte Dialyseteam muss den Spagat zwischen Qualitätssicherung und den Erwartungen der Patienten auf der einen und ökonomischen Zwängen auf der anderen Seite meistern. Eine wenig kommode aber durchaus spannende Situation für alle Beteiligten, die nach einem kooperativen Miteinander im Team verlangt.
Das Anforderungsprofil für Pflegende in der Dialyse hat, aufgrund sich stetig verändernder Rahmenbedingungen und einer sich wandelnden Patientenstruktur – Patienten werden älter und kränker – eine beträchtliche Dynamik entfaltet. Beschränkte sich in der Vergangenheit das Aufgabengebiet von Pflegenden in der Dialyse auf die Durchführung der maschinellen Nierenersatztherapie bei Patienten in zumeist gutem Allgemeinzustand, so beinhaltet es heute zusätzlich, den Bedürfnissen älterer, multimorbider Patienten mit Ansprache und empathischer Zuwendung zu entsprechen.
Es ist uns nur allzu gut bewusst, vor welcher Herausforderung Sie heutzutage als Dialyseeinsteiger stehen. Nach einer knapp bemessenen Einarbeitungszeit müssen Sie in Ihrem neuen Tätigkeitsfeld funktionieren, trotz all der Unsicherheiten, die eine neue berufliche Aufgabe mit sich bringt. Insbesondere in dieser Situation soll Ihnen das nun vorliegende Werk eine Hilfe sein.
Viele Leser haben sich seit dem Erscheinen der ersten Auflage mit Anregungen und Vorschlägen persönlich an uns gewandt. Vieles davon ist eingeflossen in diese zweite Auflage. Wir möchten Sie hiermit auffordern, sich weiterhin in den direkten Diskurs mit uns zu begeben, damit die Lebendigkeit unserer Ausführungen erhalten bleibt.
Des Weiteren stützen sich in dieser zweiten Auflage alle Kapitel neben den Erfahrungen der Autoren mehr denn je auf evaluiertes pflegerisches und medizinisches Wissen. Dabei folgt auch die 2. Auflage nach wie vor und primär den Ansprüchen der praktischen Relevanz und einer unverschleierten, verständlichen Darstellung.
Wissen entspannt, so lautete unser Motto in der ersten Auflage des Buches, und dieses soll auch weiterhin gelten, denn wer sein Wissen regelmäßig erweitert, kann neuen Anforderungen gelassen entgegensehen und schwierige Situationen im Berufsalltag professionell meistern.
Dezember 2009
Ihr
Die Autoren
Willi Servos
Talstraße 40
D-53804 Much
E-Mail:
Fachkrankenpfleger für Nephrologie und Dialyse
Mentor in der Krankenpflege
Staatliche Anerkennung als Desinfektor
Lehranstalt für Desinfektoren im Gesundheitsamt der Stadt Köln
Gerd Breuch
Franz von Assisi Str. 5
D-53844 Troisdorf
E-Mail:
Fachkrankenpfleger für Nephrologie und Dialyse
Mentor in der Krankenpflege
Fortbildungsakademie für Gesundheitspflege, Köln-Hohenlind
Fortbildung zur pflegerischen Leitung eines Dialysezentrums; DBfK Neuwied
Geschäftsführende Heimleitung
DSK-Bildungsinstitut Freiburg
Pflegedienstleitung
Qualitätsrichtlinien §80 SGB XI
DSK Akademie für Management und Pflege, Freiburg
Abkürzungsverzeichnis
ACT Aktivierte Gerinnungszeit (activated coagulation time)
AGE advanced glycosylation end-products
ANV Akutes Nierenversagen
APD Automatische Peritonealdialyse (automatic peritoneal dialysis)
ATL Aktivität des täglichen Lebens
AV-Shunt Arteriovenöser Shunt
B.I.A. bioelektrische Impedenzanalyse
BSS Blutschlauchsystem
BVM Blutvolumenmonitor
CAPD Kontinuierliche ambulante Peritonealdialyse (continuous ambulant peritoneal dialysis)
CCPD Kontinuierliche cyclervermittelte Peritonealdialyse (continuous cycling peritoneal dialysis)
CERA continuous erythopoiesis receptor activator
DP Double Pool
EPO Erythropoetin
ETO Äthylendioxid
GDP glucose degradation product
GFR Glomeruläre Filtrationsrate
HD Hämodialyse
HDF Hämodiafiltration
HF Hämofiltration
HIT Heparininduzierte Thrombozyto-penie
IPD Intermittierende Peritonealdialyse (intermittend peritoneal dialysis)
Iso-UF Isolierte Ultrafiltration
K (Harnstoff-)Clearance
KAST Katheteraustrittsstelle
KG Körpergewicht
KOF Körperoberfläche
LA Lebensaktivität
LF Leitfähigkeit
NIPD Nächtliche intermittierende Peritonealdialyse (nocturnal intermittend peritoneal dialysis)
NMH Niedermolekulares Heparin
PD Peritonealdialyse
PET Peritonealer Äquilibrationstest
PTFE Polyetrafluoräthylen
PTT Partielle Thromboplastinzeit
RAAS Renin-Angiotensin-System
RBV Relatives Blutvolumen
SGA subjective global assessment
SN-Dialyse Single-Needle-Dialyse
SP Single Pool
TMP Transmembrandruck
TPD Tidal-Verfahren (tidal peritoneal dialysis)
TZ Thrombinzeit
UF Ultrafiltration
URR Harnstoffreduktionsrate (urea reduction rate)
V Verteilungsvolumen
ZVK Zentraler Venenkatheter
Table of Contents
1 Herzlich willkommen im Team
Sie haben sich für ein sehr interessantes, aber auch außergewöhnliches Arbeitsfeld für Pflegende entschieden: die Dialyse. Viele der nun auf Sie zukommenden Anforderungen waren vermutlich nicht Gegenstand Ihrer Ausbildung zur Pflegefachkraft oder Arzthelferin bzw. zur medizinischen Fachangestellten (MFA). Kein Problem, um Neues zu lernen, ist es nie zu spät. Auch wenn das Dialysegerät Ihnen am Anfang wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommt, können wir Ihnen versichern, dass Sie mit Interesse und vor allen Dingen Motivation auch diesen Gipfel erklimmen werden. Wir werden Ihnen auf diesem Weg helfen, indem wir all die interessanten und spannenden Dinge, die es rechts und links am Wegrand zu erkunden und bestaunen gibt, auf eine einfache, plausible und dennoch fundierte Art und Weise erläutern. Trotzdem ist die praktische Einarbeitung vor Ort in Ihrem Dialysezentrum durch nichts zu ersetzen, seien Sie also neugierig und interessiert. Scheuen Sie sich nicht davor, Fragen zu stellen, denn Sie werden schnell feststellen, dass Sie dabei auf Kollegen stoßen, die Sie bereitwillig unterstützen. Nutzen Sie jede Chance, am Know-how Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu partizipieren, und vergessen Sie nicht, dass auch Ärzte und Techniker kompetente Informationsquellen sind.
Häufig kommen jedoch die theoretischen Grundlagen und Hintergründe Ihrer Tätigkeit im Rahmen der praktischen Einarbeitung zu kurz. Ursachen sind oft mangelnde Zeitressourcen und die primäre Zielsetzung, erst einmal schnell als Arbeitskraft zu funktionieren. Sie haben es dennoch selbst in der Hand, nutzen Sie Ihren Schwung als Ein-steiger, denn das Allermeiste können Sie sich prima im Selbststudium erarbeiten. Betrachten Sie uns als virtuellen Kollegen, zuständig für den theoretischen Part Ihrer Einarbeitung. Wir werden gemeinsam mit Ihnen in 17 Kapiteln alles Wissenswerte rund um die Dialyse erarbeiten. Aber Vorsicht: Nach jedem Kapitel droht Ihnen eine kleine Prüfung! Selbstprüfung natürlich, streng vertraulich und nur für Sie gedacht. Und … haben Sie alles gewusst? Im Anhang finden Sie die Antworten zu den Fragen. Und denken Sie immer daran: Wissen entspannt!
Gerd Breuch und Willi Servos
2 Anatomie und Physiologie der Niere
Zunächst beschäftigen wir uns, wohl gemerkt in gebotener Kürze, mit der Anatomie und Physiologie der gesunden Niere. Vielen wird dieser Themenkomplex noch in – wir hoffen bester, aber befürchten grausiger – Erinnerung aus der Krankenpflegeschule oder der Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten sein. Um die Prinzipien und Funktionsweisen aller extrakorporalen Behandlungsverfahren der terminalen Niereninsuffizienz zu verstehen, ist es jedoch unabdingbar, die Grundzüge der menschlichen Niere verinnerlicht zu haben. Also: Wo befinden sich die Nieren genau? Wie sind sie aufgebaut? Wie funktionieren sie und was gehört neben der Urinproduktion zu ihren Aufgaben? Ein virtueller Pathologe begleitet uns bei unserem Ausflug in die Anatomie und Physiologie der Niere. Dabei betrachten wir zunächst die präparierten Nieren von außen.
[M297]
Die Nieren sind paarig angelegt und befinden sich retroperitoneal (außerhalb der Peritonealhöhle) im hinteren oberen Bauchraum in Höhe des 11. oder 12. Brustwirbels bis zum 2. oder 3. Lendenwirbel. Die rechte Niere liegt zumeist tiefer, da sie durch die Leber etwas verdrängt wird. Jede Niere wiegt ca. 120–200 Gramm und ist 4 cm dick, 7 cm breit und etwa 11 cm lang (ganz einfach zu merken: 4711). Die Nieren sind von bohnenförmiger Gestalt und zur Körpermitte (medial) nach innen gekrümmt (konkav). In der konkaven Krümmung befindet sich eine Höhlung, die Nierenpforte oder auch Hilus genannt wird, an der die Nierenarterie (A. renalis) und Nerven in die Niere ein- und die Nierenvene (V. renalis) sowie Nerven und Lymphgefäße aus der Niere austreten. Außerdem geht das Nierenbecken (Pelvis renalis) an dieser Stelle in den Harnleiter (Ureter) über. Äußerlich ist die Niere von einem Fettpolster aus Bauchfett umgeben. Abgegrenzt wird dieses Fettpolster von einem bindegewebigen Sack, dem so genannten Fasziensack. Dieser umgibt nicht nur die Niere, sondern auch die Nebenniere, eine kleine endokrine Drüse, die am oberen Nierenpol angelagert ist.
Abb. 2.1 Makroskopische Umgebung der Niere. [L190]
So, jetzt wissen Sie ganz genau, wo die Nieren liegen und wie sie von außen betrachtet aussehen. Im nächsten Schritt halbiert unser virtueller Pathologe eine Niere mittels eines Längsschnitts, und wir sind gespannt, was es dann mit bloßem Auge zu entdecken gibt.
Abb. 2.2 Rechte Niere, von vorne und von hinten. [L007-2-16]
Auf einem Längsschnitt durch die Niere kann man mit bloßem Auge die Unterteilung in eine äußere Rindenschicht und eine innere Markschicht erkennen. Die Rinde ist fein gekörnt und reich an Blutgefäßen. Das Mark bildet in Richtung der Nierenpforte (Hilus) kegelförmige Vorbildungen, die so genannten Markpyramiden, die eine feine Längsstreifung erkennen lassen. Die Spitze dieser Pyramiden nennt man Nierenpapillen. Jede Nierenpapille ragt in einen trichterförmig erweiterten Hohlraum, den Nierenkelch. Die Nieren-kelche wiederum führen den Harn in das Nierenbecken. Von dort aus transportiert der Harnleiter den Harn weiter in die Harnblase.
Langsam wird die Sache spannend. Als Nächstes präpariert der Pathologe eine Niere so, dass wir einen genauen Blick durchs Mikroskop auf die Feinstruktur der Niere werfen können, in der das Geheimnis dieses komplexen Organs verborgen ist.
Abb. 2.3 Makroskopie der Niere. [L190]
Den Feinbau der Niere verstehen wir am besten, wenn wir von ihrem Gefäßsystem ausgehen. Damit die Nieren ihre Aufgaben erfüllen können, müssen sie sehr gut durchblutet sein. In 24 Stunden werden die Nieren von rund 1500 Litern Blut durchströmt.
Aus der Bauchaorta entspringt für die Versorgung jeder Niere eine Nierenarterie (A. renalis). Die Nierenarterie tritt am Hilus in die Niere ein und verzweigt sich in ein sehr-feines Gefäßnetz. Aus diesem Gefäßnetz gehen allseits kleine Zweige (Vas afferens) ab, die jeweils in ein arterielles Gefäßknäuel, dem Glomerulus, münden. Jeder Glomerulus ist von einer Kapsel, der Bowman-Kapsel, umgeben. Zwischen der Bowman-Kapsel und dem Gefäßknäuel befindet sich ein Spalt, in den der Primärharn mithilfe des Blutdrucks aus dem arteriellen Blut des Gefäßknäuels abgepresst wird. Glomerulus plus Bowman-Kapsel bezeichnet man auch als Nierenkörperchen. In der Nierenrinde sehen wir unter dem Mikroskop etwa eine Million dieser Nierenkörperchen je Niere.
Von der Bowman-Kapsel geht das Nierenkanälchen (Tubulus) ab, der Abflussweg für den Primärharn. Der erste Teil dieses Nierenkanälchen ist stark gewunden und befindet sich noch in der Nierenrinde (proximaler Tubulus). Diesem schließt sich die Henle-Schleife an, ein u-förmiger Bestandteil der Nierenkanälchen, der bis ins Nierenmark hineinreicht. Im Anschluss wandert das Nierenkanälchen in gewundener Form wieder zurück in die Nierenrinde (distaler Tubulus).
Abb. 2.4 Glomerulus und Nephron. [L190]
Die Nierenkanälchen sind von einem weiteren Gefäßnetz umgeben, das aus den Glomeruli entspringt (Vas efferens). Zwischen diesem Gefäßnetz und den Nierenkanälchen findet ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch statt. So erfüllt die Niere neben der Ausscheidungsfunktion noch eine weitere Aufgabe, die Stoffwechselfunktion. Doch dazu später mehr.
Schließlich gehen die Nierenkanälchen in Sammelrohre von größerem Durchmesser über. Die Sammelrohre befinden sich im Nierenmark. Ein Nierenkörperchen (Glomerulus und Bowman-Kapsel) mit anschließendem Tubulus (die Sammelrohre gehören nicht mehr dazu) nennt man Nephron. Aus den Sammelrohren fließt der Harn über Papillargänge in die Nierenkelche. Diese wiederum leiten den Primärharn in das Nierenbecken.
Auf dem langen Weg durch das Tubulussystem bis ins Nierenbecken wird aus dem Primärharn der Sekundärharn oder Endharn gebildet, der weiter durch die Harnleiter in die Harnblase fließt. Der in der Harnblase gesammelte Urin wird letztlich über die Harnröhre ausgeschieden.
Nach der arteriellen Versorgung des Nierengewebes, dem Eintritt in die Glomeruli (Vas afferens) und der von dort ausgehenden Weiterleitung (Vas efferens) in das Gefäßnetz, das die Nierenkanälchen umgibt, fließt das nunmehr venöse Blut über ein Venensystem zum Nierenhilus und dort in die Nierenvene (V. renalis) zurück. Die Nierenvene tritt durch den Hilus aus und mündet abschließend in die untere Hohlvene (V. cava inferior).
Ein perfektes System, aber ganz schön kompliziert, oder? Wir empfehlen Ihnen, diesen Abschnitt zweimal zu lesen und parallel dazu die Abbildungen zu studieren.
Der Primärharn (ca. 180 Liter pro Tag) wird im Nierenkörperchen aus dem Gefäßknäuel (Glomerulus) abgepresst, in das Nierenkanälchen (Tubulus) geleitet und fließt von dort über ein Sammelrohr bis ins Nierenbecken. Auf dem Weg durchs Tubulussystem wird aus dem Primärharn der Endharn (1,5–2 Liter pro Tag) gebildet.
Aus dem Glomerulus entspringt ein weiteres Gefäßnetz, das die Nieren-kanälchen umschließt. Zwischen den Nierenkanälchen und diesem Gefäßnetz findet ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch statt.
Einprägen sollten Sie sich an dieser Stelle auch zwei Begriffe, die in der Medizin und insbesondere in der Anatomie ständig verwendet werden, deren Bedeutung man sich jedoch nur schwer merken kann: Proximal bedeutet „näher zur Körpermitte hin” oder „näher gelegen”, distal hingegen bedeutet „weiter von der Körpermitte weg” oder „entfernt gelegen”.
Nachdem wir die Nieren mithilfe unseres virtuellen Pathologen von außen und innen genau unter die Lupe genommen haben, wenden wir uns nun der Nierenphysiologie, also den Funktionen der Niere, zu.
Im Glomerulus herrscht bei normalem Blutdruck ein Druck von ca. 50 mmHg. Dieser Druck führt dazu, dass aus den Gefäßschlingen Primärharn abgepresst wird (Glomeruläre Filtration: 0,12 Liter pro Minute = 170 Liter pro Tag). Der Blutdruck des Körpers unterliegt normalerweise im Verlauf des Tages typischen Schwankungen: Im Schlaf ist er niedriger als z. B. bei körperlicher Anstrengung oder Stress. Für die Filtration in den Glomeruli ist aber ein konstanter Blutdruck wichtig. Deshalb hat die Niere die Fähigkeit, den Blutdruck in ihrem Innern ihren Bedürfnissen anzupassen. Man nennt das auch Autoregulation der Niere. Dies geschieht im Wesentlichen über die glatte Muskulatur der zuleitenden Gefäße (Vas afferens) der Nierenkörperchen, die selbsttätig ihre Gefäßweite reguliert, so dass der glomeruläre Blutdruck auf etwa 50 mmHg eingestellt wird.
Diese Autoregulation funktioniert jedoch nur bei einem arteriellen Blutdruck zwischen 80 und 180 mmHg. Fällt der arterielle Blutdruck z. B. im Rahmen eines Schocks unter 40 mmHg, stellt die Niere die Harnbildung ein. Es kommt zu einer Oligurie (unter 500 ml Harnvolumen in 24 Std.) oder Anurie (unter 100 ml Harn-volumen in 24 Std.).
Da wir an dieser Stelle jedoch den gesunden Organismus betrachten, interessiert uns als Nächstes die inhaltliche Zusammensetzung des Primärharns. Dieser enthält nicht nur Wasser, sondern auch die im Blutplasma gelösten Substanzen. Allerdings können nur klein- und mittelmolekulare (klein- und mittelgroße) Substanzen den glomerulären Filter passieren. Hochmolekulare (große) Substanzen wie Eiweiße oder kleine Substanzen, die an Eiweiße gebunden sind, werden nicht abfiltriert und gelangen mit dem Blutfluss ins Tubulussystem.
Auf dem gleichen Prinzip wie die Primärharnbildung in der Niere (Filtration mittels Druck) basiert auch die Entgiftung bei der Hämofiltration.
Der Primärharn ist eine eiweißfreie, wässerige Lösung, die die im Blutplasma gelösten klein- und mittelmolekularen Substanzen enthält.
Der Endharn wird aus dem Primärharn auf dessen Weg durch die Nierenkanälchen (Tubuli) gebildet. Notwendig dazu ist ein reger Stoff- und Flüssigkeitsaustausch zwischen den Blutgefäßen und den Nierenkanälchen in beiden Richtungen. Dabei laufen unterschiedliche Vorgänge gleichzeitig ab.
Man unterscheidet zwei Prozesse, die zu einer Wasserrückresorption aus den Nierenkanälchen in die umgebenden Blutgefäße führen:
Aus dem Primärharn wird nicht nur Wasser entfernt. Lebenswichtige Substanzen werden aus den Nierenkanälchen ins Blut rückresorbiert und harnpflichtige Substanzen aktiv aus dem Blut in das Tubulussystem sezerniert (abgesondert).
Welche harnpflichtigen Substanzen im Primärharn und Endharn enthalten sind und somit letztendlich für die Vergiftung (Urämie) bei niereninsuffizienten Patienten verantwortlich sind, ist weitestgehend unbekannt. Man weiß jedoch, dass harnpflichtige Substanzen wie Kreatinin (Abbauprodukt des Muskelstoffwechsels) oder Harnstoff (Endprodukt des Eiweißstoffwechsels) sensible Blutparameter für die Vergiftungssituation eines nierenkranken Patienten sind. Kreatinin z. B. ist keine giftige Substanz. An einem langsamen Kreatininanstieg im Blut lässt sich aber die zurückgehende Nierenfunktion ablesen.
Ob bekannt oder unbekannt, der größte Teil-der harnpflichtigen Substanzen gelangt durch die unter dem Punkt Primärharn-bildung erläuterte Filtration in die Nieren-kanälchen. Ein kleinerer Teil, vor allem Harnsäure, wird durch Sekretion aus dem Blut in die Nierenkanälchen transportiert. Harnsäure wird später wieder zu fast 90 % ins Blut rückresorbiert. Auch Harnstoff diffundiert teilweise zurück ins Blut. Die noch verbleibenden harnpflichtigen Substanzen werden mit dem Endharn ausgeschieden.
Die Elektrolyte Kalium und Natrium sind für die Funktion von Nerven- und Muskelzellen von großer Bedeutung. Ihre Blutkonzentration wird durch fein abgestimmte Prozesse (Resorption und Sekretion) im Tubulussystem gesteuert. Beeinflusst wird dieser Vorgang durch das Hormon Aldosteron aus der Nebenniere. Es fördert im Tubulus die Resorption von Natriumionen und die Sekretion von Kalium- und Wasserstoff-ionen. Die Aldosteronfreisetzung ist von der Natrium- und Kaliumkonzentration im Blut abhängig. Sinkt der Natriumgehalt im Blut ab, so wird aus Zellen, die sich in der Henle-Scheife befinden (juxtaglomerulärer Apparat) ein Molekül namens Renin freigesetzt. Renin wiederum wirkt durch Umwandlung von Bluteiweißkörpern (Angiotensin) anregend auf die Freisetzung von Aldosteron.
Auch die Konzentration von Calcium im Blut wird, ähnlich wie bei Natrium und Kalium, unter Beteiligung der Niere und unter Kontrolle des hormonalen Systems eingestellt.
Phosphat wird im Glomerulus aktiv filtriert und mit dem Endharn ausgeschieden. Parathormon, ein Hormon aus der Nebenschilddrüse, erhöht die Phosphatausscheidung in der Niere.
Die kranke Niere eines Dialysepatienten ist in der Regel nicht mehr in der Lage, ausreichende Mengen an Phosphat und Kalium auszuscheiden. Dies hat zur Folge, dass die Blutkonzentration dieser Substanzen über dem Normwert liegt. Erhöhte Kaliumwerte führen zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen, erhöhte Phosphatwerte beeinflussen den Knochenstoffwechsel negativ. Regelmäßige Kaliumkontrollen, vor allem nach dem langen Dialyseintervall, geben dem Patienten, aber auch Ihnen ein sicheres Gefühl im Bezug auf eine hinreichende Senkung des Serumkaliums während der Dialyse. Zur adäquaten Senkung des Phosphatwertes sind lange Dialysezeiten (z. B. 5 Std.) unumgänglich.
Glukose gehört zu den wichtigsten Energielieferanten im Stoffwechsel der Zelle. Sie wird im Glomerulus uneingeschränkt filtriert, d. h., die Glukosekonzentration im Primärharn ist genauso hoch wie im Blutplasma. Während die Glukose durch das Tubulussystem fließt, tritt sie vollständig aus dem Primärharn ins Blut über. Bei sehr hohen Glukosekonzentrationen im Blut (> 180 mg/dl) und damit auch im Primärharn, wird die mögliche Rückresorptionsrate aus dem Primärharn ins Blut überschritten. Es kommt zur Glukoseausscheidung im Harn (Glucosurie). Dies kann z. B. bei der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) der Fall sein.
Die Resorptions- und Sekretionsvorgänge im Tubulussystem sind an der Einstellung des Säure-Basen-Haushalts (pH-Wert) im Blut beteiligt und wirken damit einer Übersäuerung (Azidose) bzw. einer Verschiebung des Blut-pH-Werts (Normwert 7,36–7,44) in den basischen Bereich (Alkalose) entgegen.
In der Tubuluszelle verbindet sich Kohlendioxid (CO2) mit Wasser (H2O) zu Kohlensäure (H2CO3), die ihrerseits in Bikar-bonat (HCO3, Base) und Wasserstoffionen (H+, Säure) zerfällt. Wasserstoffionen (H+), also Säure, werden aus dem Tubulussystem mit dem Harn ausgeschieden. Bikarbonat (HCO3) verbindet sich in der Tubuluszelle mit Natrium zu Natriumbikarbonat (NaHCO3), eine Base, die ins Blut übergeht.
Auch die Lunge ist aktiv an der Einstellung des Säure-Basen-Haushalts beteiligt. Im Rahmen einer Azidose (Zunahme der H+-Ionenkonzentration → Übersäuerung) verbinden sich H+ und HCO3 zu H2CO3, das in CO2 und H2O zerfällt. CO2 (Säure) wird zum Ausgleich der Azidose über die Lunge ausgeschieden.
Der Endharn selbst ist schwach sauer (pH-Wert: 5,5).
In der gesunden Niere wird Säure (Wasserstoffionen, H+) mit dem Harn aus-geschieden und eine Base (Natriumbi-karbonat, NaHCO3) ins Blut rückresorbiert.
Der Dialysepatient ist in der Regel übersäuert, da er keine Wasserstoffionen (H+, Säure) mehr ausscheidet und zu wenig Natriumbikarbonat (NaHCO3, Base) zum Ausgleich der Übersäuerung ins Blut rückresorbiert. Dieses Ungleichgewicht zwischen Säuren und Basen kann man während der Dialyse leicht ausgleichen. – Aber wie?
Genau, wir stellen die Konzen-tration von Natriumbikarbonat (Base) in der Dialysierlösung am Dialysegerät höher ein, als sie im Blut des Dialyse-patienten ist (z. B. auf 32 mmol/l). Dies hat zur Folge, dass Natriumbikar-bonat (Base) aus der Dialysierlösung ins Blut übertritt und die Übersäuerung ausgleicht.
Neben den oben beschriebenen Prozessen beherrscht die Niere noch ein ganz anderes Metier: Sie produziert auch Hormone.
Renin ist ein Hormon, das in der Niere gebildet wird. Genauer gesagt im juxtaglomerulären Apparat (Zellen im aufsteigenden Teil der Henle’schen Schleife). Die Niere reagiert damit auf eine verminderte Nierendurchblutung, mangelnde Flüssigkeit (Hypovolämie) im Körper, z. B. bei Erbrechen und Durchfall, oder Natriummangel im Blutserum.
Renin ist ein Bestandteil des so genannten Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAA-System). Hauptaufgabe dieses Systems ist es, den Blutdruck und das Flüssigkeitsvolumen im Kreislauf sowie den Natrium- und Kaliumhaushalt auf konstantem Niveau zu halten. Renin spaltet von dem in der Leber gebildeten Angiotensin ein Peptid ab, das Angiotensin I, welches wiederum von dem in der Lunge hergestellten Enzym ACE in Angiotensin II verwandelt wird. Angiotensin II bewirkt eine Gefäßverengung (Vasokonstriktion) der Arteriolen im gesamten Herz-Kreislauf-System und führt dadurch zu einer Steigerung des Blutdrucks. Ferner führt es zu einer Freisetzung von Aldosteron in der Nebennierenrinde, was wiederum die Resorption von Natrium und die Sekretion von Kalium im Tubulus erhöht.
Abb. 2.5 Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAA-System). [L138]
Mit dieser Information können Sie sich jetzt leicht erklären, auf welche Weise die Medikamentengruppe der ACE-Hemmer den Blutdruck senkt.
Erythropoetin (EPO) ist ein Hormon, das die Bildung und Reifung der roten Blut-körperchen (Erythrozyten) im Knochenmark anregt. Da Erythrozyten beim gesunden Menschen eine Lebensdauer von nur etwa 120 Tagen haben, müssen sie konti-nuierlich neu produziert werden. Die wichtigste Aufgabe der roten Blutkörperchen besteht darin, die Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid mithilfe des in ihnen enthaltenen roten Blutfarbstoffs (Hämoglobin) zu transportieren.
Den größten Teil (> 90 %) des Erythropoetins bilden die Nieren, ein kleiner Teil entsteht in der Leber. Die von den Nieren hergestellte Menge an Erythropoetin hängt im Wesentlichen vom Sauerstoffgehalt im Blut ab. Fortgeschrittene Erkrankungen der Nieren (chronische Niereninsuffizienz) führen dazu, dass zu wenig Erythropoetin gebildet wird. Die verminderte Produktion von Erythropoetin in der Niere hat für den niereninsuffizienten Patienten fast immer eine Blutarmut (renale Anämie) zur Folge. Seit einigen Jahren steht gentechnisch hergestelltes Erythropoetin therapeutisch zur Verfügung.
Leider wird das gentechnisch hergestellte Erythropoetin nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern immer häufiger als Dopingsubstanz im Leistungssport eingesetzt. Der Sportler erspart sich damit ein aufwendiges Höhentraining. Der wesentliche Wirkfaktor des Höhentrainings ist die Hypoxie, was so viel wie Sauerstoffmangel bedeutet. In größeren Höhen nimmt die Hypoxie zu, da der Sauerstoffdruck in der Luft abnimmt. Höhentraining kann im Gebirge stattfinden oder in so genannten Barokammern, die die Hypoxie durch einen Unterdruck künstlich hervorrufen. Beim Höhentraining reagiert der Körper aufgrund des Sauerstoffmangels und der damit verbundenen geringeren Sauerstoffsättigung des Blutes mit einer Steigerung der Erythropoetinproduktion. Dies hat eine relative Zunahme der roten Blutkörperchen und somit der Leistungsfähigkeit zur Folge.
Vitamin D ist kein Vitamin im eigentlichen Sinne, sondern in seiner aktiven Form, dem Vitamin D3 oder 1,25-Cholecalciferol, ein Hormon.
Vitamin D wird aus einem Abbauprodukt des Cholesterins (Cholesterol) unter Einfluss von UV-Licht vom Körper selbst produziert. Schon eine 10- bis 15-minütige Besonnung von Händen, Gesicht und Armen an mehreren Tagen der Woche reicht bei jungen Menschen aus, um eine ausreichende Menge Vitamin D zu synthetisieren. Der letzte Schritt der Umwandlung von Vitamin D in die aktive Form (Vitamin D3) findet in der Niere statt (→ ). Vitamin D3 fördert unter anderem die Kalziumaufnahme aus der Nahrung.
Abb. 2.6 Vitamin-D-Synthese. [L138]
Die Wirkungen des aktiven Vitamins D werden zum Teil mit einem Hormon aus der Nebenschilddrüse, dem Parathormon, gesteuert. Auf einen zu niedrigen Kalziumspiegel im Blut (Hypokalzämie) reagieren die Nebenschilddrüsen mit einer vermehrten Parathormonausschüttung. Das Parathormon stimuliert wiederum die Vitamin-D-Produktion.
Bei Patienten mit zunehmender Einschränkung der Nierenfunktion kann die Niere immer weniger Vitamin D in die aktive Form Vitamin D3 umwandeln. Dies führt zu einer Verringerung der Kalziumaufnahme aus der Nahrung, der Kalziumspiegel im Blut fällt. Auf diese Hypokalzämie reagieren die Nebenschilddrüsen mit einer vermehrten Ausschüttung von Parathormon. Zum Ausgleich des Kalziumspiegels im Blut löst das Parathormon Kalzium aus den Knochen. Dieser Prozess ist eine Ursache für die Entwicklung der renalen Osteopathie, einer Langzeitkomplikation bei Dialysepatienten, die unbehandelt zu belas-tungsabhängigen Knochenschmerzen bis hin zu Knochendeformationen oder Knochenbrüchen führen kann.
So viel zur Anatomie und Physiologie der Niere. Zugegeben, die Niere ist schon ein komplexes Organ. Man könnte sie auch als den Workaholic unter den Organen bezeichnen.
(→ auf )