Moderne Wundversorgung
Praxiswissen, Standards und Dokumentation
6. Auflage
Urban & Fischer
Front Matter
Kerstin Protz
Praxiswissen, Standards und Dokumentation
6. Auflage + CD mit allen Standards, Dokumentationsbögen und Zusatzinformationen
Unter Mitarbeit von: Jan Hinnerk Timm
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Zuschriften und Kritik an:
Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Hackerbrücke 6, 80335 München,
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6. Auflage 2011
© Elsevier GmbH, München
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Planung: Andrea Kurz, München
Projektmanagement: Dagmar Wiederhold, München
Redaktion: Ulrike Frühwald, Hamburg
Herstellung: Marion Kraus, München
Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland; TnQ, Chennai/Indien
Druck und Bindung: Printer Trento Srl, Trento/Italien
Fotos: Kerstin Protz, Hamburg, außer wenn anders angegeben
Zeichnungen: siehe Bildunterschrift
Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm
Titelfotografie: BSN medical GmbH, Hamburg
ISBN 978-3-437-27883-9
Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter und
Vorwort
Nur über wenige Bücher kann gesagt werden, dass sie einen Standard in der Versorgung darstellten. Die „Moderne Wundversorgung“ von Kerstin Protz gehört ohne Zweifel dazu. Für deren Erfolg sprechen bereits fünf exzellent konzipierte Auflagen. Wohl kein anderes vergleichbares Werk hat den praktischen Bereich der Wundversorgung so qualifiziert und nachhaltig bereichert. Die jetzt erschienene Neuauflage besticht wiederum durch ihre hohe Aktualität, Prägnanz und die Sorgfalt in der Darstellung von Grundlagen und Anwendungswissen. Herausragend ist die Praxisnähe dieses Werkes, die durch die CD-gestützten Materialien noch verbessert wird. Dem erfahrenen Wundtherapeuten oder -pflegenden ist das Buch genauso von Nutzen wie dem Einsteiger. Mit dem neuen Kapitel zur Verordnung von Wundauflagen führt das Buch über die praktische Anwendung der Wundtherapeutika hinaus und unterstützt die Verankerung moderner Wundbehandlungsprinzipien in der Praxis.
Alle Wundversorgenden, ob Pflegende, Ärzte oder andere Berufsgruppen, werden von diesem Werk profitieren.
Hamburg, den 2.9.2010
Danksagung der Autoren
Wir danken Frau Dr. med. Nadine Franzke und Herrn Werner Sellmer für das aufmerksame und kritische Gegenlesen des Buchmanuskripts. Neben notwendigen Ergänzungen und konstruktiven Anmerkungen verdanken wir Herrn Sellmer unter anderem die Kostengegenüberstellung (Anhang 1) sowie den tabellarischen Überblick über aktuell in Deutschland am Markt verfügbare hydroaktive Wund- und Spezialverbände in Kapitel 2 und auf der CD. Herrn Prof. Dr. med. Matthias Augustin danken wir für das Vorwort und die vielen Inspirationen und Anregungen.
Zudem danken wir allen Kolleginnen und Kollegen, die uns immer wieder Tipps und Tricks sowie Anregungen aus ihrem Praxisalltag gegeben haben.
Die Autoren
Kerstin Protz (Jahrgang 1969): examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Studium zur Managerin im Sozial- und Gesundheitswesen (MSG), Projektmanagerin Wundforschung im CWC (Comprehensive Wound Center) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Mitglied der Arbeitsgruppe des nationalen Expertenstandards (DNQP) „Pflege von Menschen mit chronischen Wunden“, Referentin für Wundversorgungskonzepte, Sachverständige für Pflege im BDSF, Autorin von Fachliteratur, Vorstandsmitglied im Wundzentrum Hamburg e.V., Beiratsmitglied der Initiative Chronische Wunde (ICW) e.V.
Mitarbeit: Jan Hinnerk Timm (Jahrgang 1972), Fachjournalist
Table of Contents
Kapitel 1 Grundlagen
Aufbau und Funktionen der Haut, Wundarten
Die Haut ist mit einer Fläche von 1,5–2 m2 und einem Gewicht von 7–10 kg das größte Organ des menschlichen Körpers. Je nach Körperregion verfügt die Haut über eine unterschiedliche Dicke. Die Gesichtshaut ist vergleichsweise dünn, von zahlreichen Gefäßen durchzogen und mechanisch wenig belastbar. Im Gegensatz dazu ist die Haut am Rücken wesentlich dicker und unempfindlicher. Die ausgeprägteste Hornschicht weisen die Hautareale an Fußsohlen und Handinnenflächen auf. Diese Gebiete neigen am stärksten zur Schwielenbildung und haben keine Talgdrüsen.
Die Haut ist in drei Schichten unterteilt: Oberhaut (Epidermis), Lederhaut (Dermis oder Corium), Unterhaut (Subcutis) (). Darunter begrenzt die Körperfaszie aus festen Kollagenfasern diese Region zum Sehnen-, Muskulatur-, Knochen- und Knorpelbereich.
Abb. 1.1 Übersicht über den Aufbau der unbehaarten Haut (Leistenhaut). Man erkennt Epidermis und Corium. Die Subcutis ist nicht abgebildet. Die Hautoberfläche ist durch feine Rillen (Hautlinien in Hautleisten) aufgeteilt, an deren Kämmen die Ausführungsgänge der Schweißdrüsen enden. (Gezeichnet von Gerda Raichle)
Folgende fünf Schichten bilden die Oberhaut: Hornschicht (Stratum corneum), Glanzschicht (Stratum lucidum), Körnerzellschicht (Stratum granulosum), Stachelzellschicht (Stratum spinosum) und Basalschicht (Stratum basale). Die gefäßlose Epidermis erneuert sich, erkennbar durch das Abschuppen alle 27–30 Tage. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Zellen der tieferliegenden Oberhautschichten beständig zur Hautoberfläche wandern.
Die Lederhaut besteht zwar nur aus zwei Schichten, der Zapfen- (Stratum papillare) und der Netzschicht (Stratum reticulare), ist aber trotzdem deutlich dicker als die Epidermis. Sie erhält ihre typische Flexibilität durch das locker vernetzte Bindegewebe. In ihr befinden sich die für die Kollagensynthese verantwortlichen Fibroblasten. Bestandteile der Lederhaut sind: Haare, Duft-, Schweiß- sowie Talgdrüsen, Blutgefäße, Nervenzellen und Nägel.
Die Unterhaut ist nicht klar von der Lederhaut abgegrenzt. Sie besteht aus lockerem Bindegewebe und ermöglicht die Verschiebbarkeit der Haut. Die Subcutis dient als Fettspeicher und stellt einen Wärme- und Aufprallschutz dar. Je nach Lokalisation ist sie unterschiedlich fest mit dem Muskulatur- und Knochengewebe verbunden.
Die Haut hat folgende Funktionen:
Durch die spezielle Struktur der Hautschichten können Substanzen wie ätherische Öle oder Arzneistoffe resorbiert werden. Das ist nur zum Teil gewollt, z. B. bei transdermalen Opioidpflastern, meistens jedoch unerwünscht (Bestandteile von Wundauflagen und lokaler Wundtherapeutika wie Jod).
Der Zustand der Haut gibt wesentliche Hinweise auf die Ernährungs- und Flüssigkeitssituation und ist zudem Indikator für diverse Grunderkrankungen. Für den Patienten bringen Hautschädigungen oft unangenehmen Juckreiz, Schmerzen und Spannungsgefühle mit sich. Daher stellen sie eine psychische und physische Belastung dar, die im Folgenden zu Einschränkungen in der Lebensqualität führt.
Eine Wunde (griech.: trauma, lat.: vulnus) ist ein durch Zellschädigung, Zerstörung oder Trennung von Körpergewebe bedingter pathologischer (krankhafter) Zustand, oft verbunden mit einem Substanzverlust sowie einer Funktionseinschränkung.
Die Entstehungsursache und das Erscheinungsbild einer Wunde können sehr unterschiedlich sein. Eine genaue Wundklassifikation ist grundlegend für die Art der Behandlung.
Akute Wunden entstehen unmittelbar durch äußere Einflüsse, beispielsweise durch Schnitt-, Stich- oder Bissverletzung. Sie heilen meist unkompliziert ab.
Eine Wunde, die nach 4–12 Wochen keine Heilungstendenzen zeigt, obwohl sie fach- und sachgerecht versorgt wurde, gilt als chronische Wunde. Mögliche Ursachen sind Wundart und Kontextfaktoren, wie eine chronisch venöse Insuffizienz, Polyneuropathie, Druck, Malnutrition oder eine arterielle Durchblutungsstörung.
Die Entstehung einer Wunde kann verschiedene Ursachen haben, beispielsweise Gewalteinwirkung von außen durch mechanische, chemische und thermische Verletzung.
Eine sehr verbreitete Wundart ist die mechanische Wunde. Sie tritt infolge einer Gewalteinwirkung auf. Typische mechanische Wunden sind: Ablederung, Amputation, Blase, Biss-, Riss-, Schnitt-, Stich-, Schussverletzung, Schürfwunde.
Eine weitere Ursache kann die beabsichtigte Verletzung durch einen ärztlichen invasiven Eingriff zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken sein. Hierzu gehören z. B. im OP gesetzte Wunden, Amputationen und Gewebeentnahmen (z. B. Spalthautentnahme, Probeexzision).
Chemische Wunden entstehen durch Säuren, Laugen und Gase. Nach ihrer Neutralisierung werden sie wie Verbrennungswunden eingeteilt und therapiert.
Ulkuswunden (lat. Geschwür) werden meist nicht durch Gewalteinwirkung hervorgerufen. In der Medizin ist damit ein tief liegender Gewebedefekt gemeint, der auf trophisch bedingte Störungen der Haut wie Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen aber auch auf systemische Erkrankungen wie Magen-/Darmgeschwüre, Tumoren oder Hautinfekte zurückgeführt werden kann.
Thermische Wunden entstehen durch eine pathologische Temperatureinwirkung auf die Haut. Temperatur, Dauer und Intensität sind ausschlaggebend für das Ausmaß der Gewebsschädigung. Es liegt ein teilweiser oder kompletter Gewebeuntergang durch die Einwirkung von Hitze, Strom, Strahlung oder chemische Schädigungen vor. Die Haut ist dadurch unter Umständen bis in tiefe Gewebsschichten inklusive der Hautanhangsgebilde geschädigt. Thermische Wunden sind häufig Alltagswunden, verursacht durch Strom, heißes Wasser () oder Fett, Bügeleisen oder Feuerquellen. Ebenso können Sonnenbrand, Erfrierungen und Strahlenschäden (Radioaktivität, Bestrahlung bei Karzinompatienten) Auslöser sein.
Abb. 1.2 Thermische Wunde. Verbrühung des rechten Knies durch heißes Wasser.
I. Grad („superficial thickness“) | |
Befund: |
• Rötung (Erythem)
• Lokales Ödem
• Keine offenen Gewebsdefekte
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Verbrennungstiefe: |
• Oberflächliche Epithelschädigung ohne Zelltod
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Pathophysiologie: |
• Hyperämie
• Vasodilatation
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II. Grad („partial thickness – superficial“) | |
Dieser Grad wird zusätzlich in IIa „oberflächliche dermale Verbrennung“ und IIb „tiefe dermale Verbrennung“ differenziert. | |
IIa Oberflächliche dermale Verbrennung | |
Befund: |
• Blasenbildung unter der Dermis
• Vereinzelt Epithelnekrose
• Klare, wegdrückbare Rötung
• Ödemausbildung durch „Capillary Leak“
• Feucht-nasser Wundgrund
• Starker Wundschmerz aufgrund von freiliegenden Nervenendigungen
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Verbrennungstiefe: |
• Schädigung der Oberhaut und oberflächlicher Anteile der Lederhaut mit Sequestrierung (Abkapselung eines abgestorbenen, nicht resorbierbaren Gewebestücks)
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IIb Tiefe dermale Verbrennung | |
Befund: |
• Blasenbildung oder zerstörte Blasenreste
• Wundgrund blass bis blassrötlich
• Trockener Wundgrund
• Abnehmende Sensibilität
• Schmerzen (nadelstichartig)
• Spontane Regeneration möglich
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Verbrennungstiefe: |
• Weitgehende Schädigung der Lederhaut
• Erhalt der Haarfollikel und Drüsenanhängsel
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Pathophysiologie: |
• Denaturierung von Protein (weißliches Corium)
• Zunehmende Zerstörung der Nervenendigungen und der ver- und entsorgenden Kapillaren
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III. Grad („partial thickness – deep“) | |
Befund: |
• Nekrosen (nach Wundreinigung sind diese weiß-gelblich)
• Oft trockene, zerstörte Epidermis
• Keine Sensibilität, keine Schmerzen
• Keine Rekapillarisierung nach Fingerdruck
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Verbrennungstiefe: |
• Vollständige Zerstörung von Ober- und Lederhaut
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Pathophysiologie: |
• Denaturierung der Haut und ihrer Anhangsgebilde
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IV. Grad („full thickness“) | |
Befund: |
• Nekrose aller Hautschichten und der darunter liegenden Strukturen wie Muskeln, Knochen, Sehnen
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Verbrennungstiefe: |
• Zerstörung weitgehender Schichten mit Unterhautfettgewebe, eventuell Muskeln, Sehnen, Knochen und Gelenken
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Pathophysiologie: |
• Lyse bei chemischer Schädigung
• Verkohlung des Gewebes
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Die Schweregradeinteilung orientiert sich am Ausmaß der verletzten Oberfläche sowie der Tiefe der Schädigung. Die Oberflächenschädigung wird mit der sogenannten „Neuner Regel“ nach Wallace berechnet. Mit ihr kann eingeschätzt werden, wie viel Prozent der Haut verbrannt sind. Die Berechnung wird wie folgt erstellt: Kopf 9 %, Arme je 9 %, Rumpf und Rücken je 2 × 9 % (18 %), Beine je 2 × 9 % (18 %) und Genitalbereich 1 %.
Weitere notwendige Daten zur Bestimmung des Schweregrads sind Informationen über Tiefe der Verbrennung, innere Verbrennungen bzw. chemische/toxische Schäden (z. B. Inhalationstrauma aufgrund von Säuren oder Laugen), Begleitverletzungen.
Grad I:
Grad IIa:
Grad IIb:
Grad III und IV:
Anruf beim nächsten Brandverletztenzentrum, bei der nächsten Rettungsstelle oder zentralen Bettenvermittlung über die Zentrale für Brandverletzte (ZBB) in Hamburg, Tesdorpfstr. 8, 20148 Hamburg, Telefon: 040/428 51-39 98, -39 99, Fax: 040/ 428 51-42 69.
Achtung:
Erste-Hilfe-Maßnahmen
Achtung! Immer Selbstschutz beachten!
Zusätzlich zur Ursache der Wundentstehung sind Art und Tiefe der Gewebsschädigung zu definieren.
Eine Wundheilung findet erst ab 28 °C statt, da ab dieser Temperatur die Mitose (Zellteilung) beginnt. Deshalb stellt ein feucht-warmes Milieu die optimale Grundlage für die Wundheilung dar. Auch ermöglicht die feucht-warme Umgebung, dass die neu entstehenden Zellen schneller wandern und sich anordnen. Die für den Zellaufbau notwendigen Substanzen werden bereitgestellt und die Immunabwehr aktiviert. Der dicke, feste Schorf, typisch für die trockene Wundheilung, kann sich im feuchten Milieu nicht entwickeln und die Granulation und Migration der Epithelzellen behindern.
Es werden zwei Arten der Wundheilung unterschieden. Primäre Wundheilung findet z. B. bei aseptischen OP-Wunden oder frischen (nicht älter als 4–6 h) infektionsfreien Verletzungen statt. Die Wundränder liegen dicht aneinander und sind gleichmäßig oder glatt durchtrennt (Beispiel: Schnittwunde). Die primäre Wundheilung ist nach 6–10 Tagen abgeschlossen und lässt nur eine minimale Vernarbung zurück.
Wunden, bei denen ein primärer Wundverschluss nicht möglich ist, müssen sekundär verheilen. Hierzu gehören infektionsgefährdete, infizierte, großflächige Wunden, wie der sogenannte Platzbauch oder Verbrennungswunden, sowie alle chronischen Wunden, z. B. Dekubitus, diabetisches Gangrän und Ulcus cruris.
Beide Arten der Wundheilung laufen in drei sich überschneidenden Phasen ab. In der Reinigungs- oder Exsudationsphase findet die Ausschwemmung von Bakterien und Zelltrümmern statt. Zelleigene Substanzen bewirken zunächst die Engstellung der geschädigten Gefäße zur Vermeidung eines weiteren Blutverlusts. Anschließend wird das Gerinnungssystem aktiviert. Ein Zusammenwirken von etwa 30 verschiedenen Faktoren ermöglicht die in Etappen ablaufende Blutgerinnung, bei der letztendlich ein Fibrinnetz ausgebildet wird. Der durch die Engstellung der Zellen verminderte Blutfluss kommt nun durch Gerinnung ganz zum Stillstand. Makrophagen (Fresszellen) dringen in die Wunde ein und beginnen mit dem Abbau von Bakterien, abgestorbenen Gewebeteilen und anderen Fremdkörpern durch Phagozytose. Dieser Vorgang ist bei akuten Wunden normalerweise nach drei Tagen abgeschlossen.
In der Granulations- oder Proliferationsphase werden die Substanzverluste durch neu entstehendes Gewebe aufgefüllt. Fibroblasten, die durch Makrophagen aktiviert werden, bilden unter Nutzung des bei der Gerinnung entstandenen Fibrinnetzes ein Gerüst. Dieses ermöglicht eine Struktur für die Neuansiedlung von Zellen im Wundbereich. Eine weitere Aufgabe der Fibroblasten ist die Produktion von Kollagen, wodurch das neu entstehende Granulationsgewebe gefestigt wird. Migrierende Endothelzellen bilden nach der Vorlage dieser Matrix Kapillaren aus, die sich mehr und mehr verzweigen, bis sie in ein Blutgefäß einmünden. In einer gut durchbluteten Wunde befinden sich zahlreiche Gefäße, die den wundspezifisch gesteigerten Stoffwechsel ermöglichen. Die Ansammlung von Kapillaren gibt der Wunde in der Granulationsphase ihre typische Erscheinungsform. Das Gewebe ist gut durchblutet, erscheint tiefrot gefärbt, gekörnt und feucht glänzend. Diese neuen Kapillaren sind noch äußerst empfindlich gegenüber traumatischer Einwirkung. Es ist von daher erforderlich, die Wunde in der Granulationsphase mit entsprechenden Auflagen besonders zu schützen und feucht zu halten. Die Granulationsphase () beginnt bei akuten Wunden frühestens ab dem 2. Tag und kann bis zu 14 Tage andauern.
Abb. 1.3 Granulation und beginnende Epithelisierung, hier bei Zustand nach Platzbauch.
Abschließend wird in der Regenerations- oder Epithelisierungsphase faserreiches Narbengewebe ausgebildet. Das Granulationsgewebe verliert Wasser und bildet Gefäße zurück. Gleichzeitig nutzen die einwandernden Epithelzellen die feuchte Oberfläche des Granulationsgewebes, auf dem sie langsam vom Rand her einwachsen. Die Zellschicht verdickt sich zusätzlich durch Mitose und führt so zum vollständigen Wundverschluss. Die Epithelisierungsphase ( und ) beginnt bei akuten Wunden ab dem 4. Tag und kann bis zu 21 Tage dauern.
Abb. 1.4 Restgranulation mit etwas Fibrinbelag und fortschreitender Epithelisierung, hier bei Zustand nach Platzbauch.
Abb. 1.5 Spalthautentnahmestelle mit fortschreitender Epithelisierung.
Bei der Heilung chronischer Wunden laufen die hier aufgeführten Mechanismen wesentlich langsamer ab und können sogar Wochen, Monate bis Jahre andauern.
Innerhalb dieser Phasen treten unterschiedliche Wundzustände auf: Nekrosen, infizierte Wunden, belegte Wunden, granulierende und epithelisierende Wunden.
Grundsätzlich gilt: Zuerst ist die Ursache der Wundheilungsstörung zu beheben (Kausaltherapie), bevor ein Heilungsprozess initiiert werden kann. Hierzu bedarf es einer umfassenden Diagnostik. Bei der arteriellen Verschlusskrankheit (AVK) bedeutet dies beispielsweise, dass zuerst die Durchblutungsstörung durch revaskulisierende Maßnahmen zu beseitigen ist, z. B. durch Dilatation (PTA = perkutane transluminale Angioplastie) oder Bypass. Im Falle einer venösen Durchblutungsstörung ist eine anzulegende Kompression für die Heilung eines Ulcus cruris venosum ausschlaggebend. Liegt ein Dekubitus vor, sollte zunächst das Risiko von Druck, Reibe- und Scherkräften minimiert werden. Leidet der Patient an einer diabetischen Grunderkrankung, ist es angebracht, zunächst die Stoffwechselsituation einzustellen.
Auch systemische Einflussfaktoren (den gesamten Organismus beeinflussende Faktoren) müssen beachtet werden, um den Heilungsprozess in Gang zu setzen:
Nur wenn der Patient die Notwendigkeit zur Mitarbeit erfassen kann und gleichzeitig ausreichend Antrieb hat, ist die Basis für eine Adhärenz („Ausmaß, mit welchem das Verhalten eines Patienten mit den Empfehlungen übereinstimmt, die er von einer Person aus dem Gesundheitsbereich erhalten und mit denen er sich einverstanden erklärt hat“, WHO 2003 in DNQP [2009] S. 148) bereitet und somit eine Grundlage für den Behandlungserfolg gelegt.
Zusätzlich zu den systemischen können lokale Störfaktoren die Abheilung der Wunde stören oder gefährden: Hämatome, Nekrosen, Ödeme, Schorf, Auskühlung oder Austrocknung der Wunde, Hypergranulation (Kasten), vorgeschädigtes Gewebe (z. B. durch Bestrahlung), hypertrophes Narbengewebe (Kasten), Klaffen der Wunde (Nahtdehiszenz), ungenügende Ruhigstellung der geschädigten Region oder Druck, Fremdkörper innerhalb der Wunde, Infektion.
Es gibt leider kein Patentrezept für die Behandlung von Hypergranulation (überschießendes Gewebe über Hautniveau). Die Therapie mit Silbernitrat („Höllenstift“) gilt heute als unzeitgemäß, da das rosige, frische Gewebe durch Verätzen wieder zerstört wird. Oft schädigt diese Behandlungsform auch die Wundumgebung. Zudem ist durch die entstehende Schwarzfärbung (im Gewebe bildet sich elementares Silber) keine Wundbeobachtung mehr möglich. Auch der Off-Label-Einsatz (ein Einsatz, der über die Indikationen laut Packungsbeilage hinausgeht bzw. dort nicht aufgeführt ist) von Cortisoncremes wird kritisch gesehen. Oft ist das Hypergranulationsgewebe schäumig und sehr weich, es fehlt die körnige Struktur. Meist reicht es, dieses Gewebe mechanisch abzutragen (Kompresse, Kürette), um danach festeres Granulationsgewebe zu erhalten. Eine Alternative, die gute Erfolge zeigt, ist die Versorgung von feucht-warm auf konventionell-trocken umzustellen, denn zu viel Feuchtigkeit und Wärme kann eine Hypergranulation bedingen. Deshalb kann es hilfreich sein, Versorgungen wie Hydrokolloid- oder Polyurethan schaumverband gegen eine trockene Kompresse auszutauschen. Um ein Verkleben mit dem Wundgrund zu vermeiden, empfiehlt es sich, ein zeitgemäßes Wunddistanzgitter (unten, Traditionelle Wundversorgung) unterzulegen. Unterstützend kann eine leichte Kompression angebracht werden. Häufig zeigen sich unter dieser Therapieform gute und schnelle Erfolge.
Es gibt verschiedene Produkte (Narbenpflaster, Gel, Creme, Auflage mit Silikonbeschichtung), die äußerlich auf das frisch vernarbte, geschlossene Gewebe aufgebracht werden. Grundsätzlich sollte die Anwendung zeitnah und regelmäßig erfolgen. Allerdings ist auch bei länger bestehenden Narben, v.a. bei hypertrophem Narbengewebe und Keloiden der Einsatz von Narbenreduktionsprodukten empfehlenswert.
Die Tragezeit variiert zwischen 12 und 24 h/Tag. Der komplette Behandlungszeitraum wird je nach Produkt und Narbe mit 2–12 Monaten angegeben. So bietet der Markt z. B. Silikonverbände wie Mepiform®, Cica-Care® oder activ‘m® sowie Produkte zum Einreiben wie Contractubex-Gel an (). Die Produkte sollen unter anderem eine erhöhte Wasserbindung im Narbengewebe bewirken und das Gewebe gleichzeitig ebnen und geschmeidiger machen (Produktbeispiele Anhang 3 „Möglichkeiten zur Narbenreduktion“)
Abb. 1.6 Wundauflagen zur Narbenreduktion..
Die Produkte der traditionellen trockenen Wundversorgung haben folgende Aufgaben: Aufnahme von Wundexsudat, Polsterfunktion, Schutz gegen äußere Einflüsse. Darüber hinaus können sie auch Träger für Arzneimittel sein.
Spezielle Form: Absorbervliese wie Cutisorb® Ultra (BSN medical), DryMax® Extra (mediSet GmbH), sorbion® sachet S und sorbion® sana (sorbion AG), Vliwasorb® (Lohmann & Rauscher) und Zetuvit® plus (HARTMANN). Enorm saugfähig. Anwendung bei stark exsudierenden Wunden, z. B. Gamaschenulzera, Fistelungen, Platzbäuchen. Vorteil: Einige dieser Produkte geben nach Exsudateinlagerung keine Flüssigkeit ab → keine Hautmazerationen. Einige Produkte sind speziell beschichtet, um ein Verkleben mit dem Wundgrund zu verhindern (, Stark exsudierende Wunden).
Abb. 1.7 Meshgraft-Plastik.
Achtung:
Die silikonbeschichteten, elastischen Netze Mepitel®, Mepitel® One, ADAPTIC TOUCH™ oder Askina® SilNet verkleben nicht mit dem Wundgrund, ebenso wie sorbion® plus, eine mikroperforierte Folie aus Polyethylen, oder das mikroporöse Polyamidgewebe 3M™Tegaderm Contact®. Letzteres ist frei von jeglichen Wirk- und Hilfsstoffen und wird bei Kontakt mit Wundexsudat durchsichtig, was eine adäquate Wundkontrolle erleichtert.
Physiotulle® und Urgotül® sind Netze aus Polyesterfasern getränkt mit Hydrokolloidpartikeln und Vaseline. Bei Wundkontakt nehmen sie eine gelartige Konsistenz an und können so praktisch kaum verkleben. Die hydroaktive Salbenkompresse Hydrotüll® besteht aus einem Polyamidträgermaterial, das mit einer wirkstofffreien, hydroaktiven Salbenmasse auf Triglycerid-Basis imprägniert ist. In Verbindung mit Wundexsudat bildet die Salbenmasse ein Gel, das die Wunde feucht hält und ein Austrocknen und Verkleben verhindert.
Die Wundauflagen der konventionellen Wundversorgung sollen möglichst viel Wundexsudat aufnehmen. Dies führt zu einer Austrocknung der gesamten Wunde. Es bildet sich ein die Abheilung blockierender, trockener Schorf (bis hin zur Nekrose). Innerhalb eines trockenen Milieus wandern die Epithelzellen nicht in die Wunde ein. Die für die Immunabwehr in der Exsudationsphase wichtigen Makrophagen können ebenfalls nur im Wundrandbereich verbleiben und nicht im gesamten Wundgebiet phagozytisch tätig werden. Eine Kompresse bietet keinen ausreichenden Schutz gegen das Eindringen von Keimen und Bakterien und isoliert die Wunde in thermischer Hinsicht ungenügend. Meist ist der Verbandwechsel von traditionellen Wundauflagen sehr schmerzhaft. Es wird ein regelrechtes „Wundpeeling“ durch schmerzhaftes Abziehen der in die Wundauflage eingewachsenen Kapillaren und Fibringerüste erzeugt.
Die Anforderungen an die Wundauflagen haben sich unter dem Einfluss der modernen Wundversorgung geändert. Entgegen den traditionellen Prinzipien, dass eine Wundauflage nur als Träger eines Medikamentes dient, wirken die modernen Wundauflagen selbst als therapeutisches Mittel. Grundsätzlich verhindern die modernen feuchten Wundauflagen das Austrocknen der Wunde.
T. D. Turner definierte 1979 den idealen Wundverband folgendermaßen:
Wundauflagen, die aktiv in den Heilungsprozess eingreifen, werden als aktive Wundauflagen bezeichnet. Bei diesen Produkten liegt das Hauptaugenmerk nicht darauf, die Wunde feucht zu halten, sondern die Mechanismen der Abheilung zu fördern. Sie enthalten Substanzen (oder regen deren Produktion an), die eine Rolle im Heilungsprozess spielen oder ihn initiieren, z. B. Wachstumsfaktoren, Kollagen, Silber, Hyaluronsäure.
Diverse Entscheidungskriterien sind maßgeblich für die Auswahl einer individuell angepassten Wundauflage. Die Studienlage zeigt und Fachexperten sind sich darüber einig, dass eine phasengerechte feuchte Wundversorgung heutzutage als zeitgemäß gilt. Folgende Kriterien sollten Berücksichtigung finden: Wundstadium und -phase, eventuelle Infektionszeichen oder eine bereits bestehende Infektion, Exsudatmenge, Zustand von Wundrand und -umgebung, Kontinenzsituation des Patienten sowie bestehende Gerüche. Weitere Aspekte sind Wirtschaftlichkeit, Handhabbarkeit, Patientenbedürfnisse und die Akzeptanz der Auflage durch den Patienten. Das Wechselintervall ist abhängig vom Abheilungszustand der Wunde bzw. dem richtigen Verhältnis zwischen Exsudation der Wunde und Aufnahmefähigkeit der Wundauflage und orientiert sich zudem an den Herstellerangaben.
Der ideale Wundverband allein bedingt noch keine zügige Wundheilung. Erst im Zusammenhang mit der Kausaltherapie unter Behandlung und Ausschaltung der Ursachen ist es möglich, den Heilungsprozess adäquat zu initiieren. Diese Grundsätze werden in erläutert.