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Tilman Birr

On se left

you see se

Siegessäule

Erlebnisse eines

Stadtbilderklärers

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Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es behandelt trotz gelegentlicher Nennung vermeintlich realer Namen typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gibt oder geben könnte. Diese Urbilder wurden durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel des Autors mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, das bewusst Grenzen verschwimmen lässt.

2. Auflage

Erstveröffentlichung März 2012

Copyright © 2012 by Tilman Birr

Copyright © dieser Ausgabe 2012

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt
mit freundlicher Genehmigung

des Hans-im-Glück-Verlags, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-07339-8
V002

www.manhattan-verlag.de

Einen Job suchen

Tuut.

»Hallo?«

»Ja, hallo, bin ich da bei Matthias?«

»Na, wen haste denn angerufen?«

»Hallo, hier ist Tilman. Ich hab –«

»Wer ist da?«

»Tilman. Ich hab deine Nummer vom –«

»Kenn keenen Tilman.«

Klick.

Tuut.

»Hallo?«

»Ja, Tilman nochmal. Wir sind wohl eben gerade unterbrochen worden.«

»Nee, simmer nich. Ich hab aufgelegt.«

»Passts dir grade nich, oder …?«

»Ich mach bei keiner Umfrage mit, und ich will auch nüscht gewinnen.«

»Jetzt warte doch mal ab! Es geht um deine Arbeit auf dem Schiff.«

»Bin ich gefeuert?«

»Nein! Ich hab deine Nummer vom Thomas. Der Thomas hat mir erzählt, dass du als Ansager auf sonem Spreedampfer arbeitest, und ich –«

»Das heißt nicht Ansager, das heißt Stadtbilderklärer.«

»Is ja egal. Auf jeden Fall hat der Thomas –«

»Nee, ist nicht egal. Ein Ansager sagt was an. Der quatscht nur runter. Ich erkläre. Mann, ich studiere doch nicht umsonst!«

»Der Thomas hat erzählt, die würden für diesen Job noch Leute suchen.«

»Ja, na und?«

»Ich wollte dich mal fragen, ob du da eine Telefonnummer hast oder ob du mir was über den Job erzählen kannst.«

»Das isn Job, gibt Geld. Ich erkläre, die zahlen.«

»Und was machst du da?«

»Was hab ich denn gerade gesagt?«

»Also du sagst quasi: Links sehen Sie das und das, das wurde dann und dann gebaut. Rechts sehen Sie das und das, das wird gerade renoviert.«

»Ich sehe, du hast auch studiert, wa?«

»Und wo fährt der Dampfer lang?«

»Das ist kein Dampfer. Wir fahren mit Benzin.«

»Bitte?«

»Wat heißt denn Dampfer? Glaubst du, wir fahren da mit sonem Schaufelraddampfer rum wie bei Tom Sawyer oder was? Tuut, tuut, Alta? Nächster Halt: Onkel Toms Hütte, Alta? Und unter Deck stehen die Neger und schippen Kohle in den Ofen?«

»Heißt das nicht so?«

»Nee, heißt dit nich.«

»Aber kann man doch auch sagen, oder? Dampfer? Oder Ansager.«

»Ick brauch mir von dir nich meine Arbeit erklärn lassen.«

Klick.

Tuut.

»Wat is?«

»Also gut, du bist – dings – Stadterklärer.«

»Bild!«

»Stadterklärerbild?«

»Stadtbilderklärer.«

»Gut. Du bist Stadtbilderklärer und arbeitest nicht auf dem Dampfer, sondern auf dem Boot.«

»Ein Boot is was zum Rudern. Ich arbeite aufm Schiff.«

»Na, dann halt Schiff. Und wo fährt das Schiff lang?«

»Na, auf der Landstraße wird dit Ding kaum fahren, wa?«

»Mooaaah!«

»Na komme, nu rege dich ma nich auf, Schnuckileinschen. Ich fahre immer die kurze Tour: vom Palast der Republik zu Berge bis zur Mühlendammschleuse, denn umdrehen und zu Tal bis zum Tiergarten kurz vor der Martin-Luther-Brücke. Kurzer Stopp an der Schwangeren Auster und wieder zurück bis Palast.«

»Und da muss man dann die ganze Zeit reden?«

»So siehts aus. Du kriegst am Anfang son Skript, aber das ist voller Fehler. Ich musste das erst mal durcharbeiten und korrigieren. Und dann musst du ja jede Ansage auch noch auf Englisch wiederholen.«

»Das kann ich ja.«

»Supi. Klasse. Toll. Er kann Englisch!«

»Hast du denn eine Telefonnummer, wo ich mich mal bewerben kann?«

»Ja, hab ich auch.«

»Super.«

»…«

»Kann ich die Nummer auch haben?«

»Na ja, ich mach mal ne ganz große Ausnahme, Kollege. Wart mal grade.«

Raschel, raschel.

»Hier: Hammer und Zirkel Reederei. 030 2809xxx «

»Danke.«

»Macht dann zehn Öre Vermittlungsgebühr.«

»…«

»Kleener Spaß, Alta. Und du willst da jetzt anfangen?«

»Naja, mal schauen. Klingt ja eigentlich nach ner ganz netten Arbeit.«

»Ganz nette Arbeit, jaja. Pass mal auf, ich erzähl dir was, Kollege. Wenn du sechs Touren hintereinander gemacht hast, immer nur mit einer halben Stunde Pause dazwischen, die du nich mal bezahlt kriegst, dann klingst du am nächsten Tag wie Konrad Kujau. Du quatschst dir da n Wolf und hast dit allet historisch super recherchiert und so, und nach der Tour kommen die Amis zu dir und wollen wissen, was Hitler heute so macht und ob der noch im Parlament sitzt. Den Australiern musst du erklären, dass Westberlin eingemauert war. Die glauben doch, dass Deutschland in der Mitte mipm Lineal geteilt war, und Berlin lag halt zufällig auf der Grenzlinie. Dann kommen irngdwelche Glatzen aus Brandenburg und wollen von dir wissen, wo der Führerbunker gewesen is. Na, da hör ich doch schon den Schäferhund bellen, Alta. Und die Bootsführer kieken dich mipm Arsch nich an, weil –«

»Aber die suchen noch Leute?«

»Ja, ick glaube schon.«

»Dann werd ich da mal anrufen.«

»Ick warne dir. Das ist kein Job für Freunde des Mittagsschlafs. Du bist die ganze Zeit unter Strom. Das ist nicht einfach ein bisschen Blabla, das ist ein Knochenjob. Dann kommen da Rentner, die glauben, sie wissen alles besser, weil sie Hitler und Ulbricht persönlich gekannt haben. Und denn wollen die dir was erzählen von –«

»Jaja.«

Klick.

Wer Arbeit will ...

Ich wählte. Es tutete. Eine Frau meldete sich.

»Ja?«

Ja wer?

»Hallo, ist da die Hammer und Zirkel Reederei?«

»Junger Mann, wir heißen Kreuz und Krone.«

»Oh, Entschuldigung … äh … Guten Tach, ich habe gehört, dass Sie noch Stadtbilderklärer suchen, und wollte mich gern bewerben.«

»Moment mal«, sagte die Frau, nahm anscheinend den Hörer vom Ohr und rief ins Büro hinein: »Hans, hier is einer, der sagt, er will hier arbeiten.«

Aus dem Hintergrund hörte ich eine Männerstimme:

»Kenn ick nich. Leg auf!«

Trotzdem kam der Mann ans Telefon und machte mit mir einen Termin aus.

Ich habe ein Vorstellungsgespräch, dachte ich, jetzt kann ich mitreden. Nach besoffen sein, Führerschein machen und Sex haben war dies die letzte Erfahrung, die mir zum Erwachsensein noch gefehlt hatte. Meine Kenntnisse über Bewerbungsgespräche beschränkten sich auf Informationen aus zweiter Hand. Die Zeitschrift »Junge Karriere«, die ich als Bonus mit meinem Studentenabonnement einer Berliner Tageszeitung bekam, goss dieses Thema jeden Monat neu auf: »Die zehn größten Fehler im Bewerbungsgespräch«, »So mache ich einen guten Eindruck im Bewerbungsgespräch«, »Keine Angst vorm Jobinterview«, »Wie man im Bewerbungsgespräch punktet – Personalchefs packen aus«. Eine Art Dr. Sommer für Berufsanfänger. Vielleicht hätte ich das genauso interessiert lesen sollen, wie ich als Vierzehnjähriger Dr. Sommer gelesen hatte.

Manchmal erzählten mir auch Freunde oder flüchtige Unibekanntschaften von ihren Bewerbungsgesprächen, in denen häufig dieselben Fragen gestellt wurden, die man schlau beantworten musste.

»Was sind denn Ihre Schwächen?«

Hier muss man eine Schwäche nennen, die eigentlich eine Stärke ist:

»Ich bin total penibel. Ich will immer alles ganz genau und gründlich erledigen. Hihihi.«

»Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?«

Hier soll man Aufstiegswillen und Ehrgeiz zeigen:

»Auf Ihrem Stuhl.«

»Was würden Sie beim nächsten Bewerbungsgespräch anders machen?«

Hier muss man Selbstvertrauen beweisen, ruhig auch mit Humor:

»Ich würde zwei gleichfarbige Socken anziehen.«

Anscheinend gab es in Bewerbungsgesprächen eine Art Liturgie: Der Rebbe singt etwas vor, und der Khossed muss die richtige Antwort zurücksingen. Dies sei die Grundvoraussetzung für die Einstellung, zusammen mit einem abgeschlossenen Studium, mehreren Auslandssemestern, einem Stapel Praktikumszeugnisse, Kinderlosigkeit, der Beteuerung, kein Privatleben zu haben sowie Alkohol und Feste zu verabscheuen, und der Bereitschaft, auf Abruf den Chef nachts aus dem Puff abzuholen und nach Hause zu fahren.

Ein paar Tage später fuhr ich in einen Berliner Außenbezirk, in dem die Reederei ihr Büro hatte. Ein Mann in den Fünfzigern empfing mich, stellte sich mir als Herr Dietrich vor und führte mich in sein Büro.

»So, junger Mann, dann wollen wir mal sehen«, sagte er und blätterte durch meine Unterlagen. »Aha, Historiker ist er. Aha, DDR-Geschichte hat er studiert. Englisch, Italienisch und Latein spricht er. Gut. Ach was, er hatte in der Schule Leistungskurs Französisch?«

Wie sagt man in einem Bewerbungsgespräch, dass man diese Sprache nie verstanden und sofort nach dem Abitur wieder vergessen hat?

»Ja«, sagte ich. »Da hat er ausbaufähige Grundkenntnisse.«

»Er soll auch gar nicht Französisch sprechen. Sobald man den französischen Gästen auch nur ›Bonjour‹ sagt, glauben die, man spricht perfekt Französisch, und wenn man dann doch nichts auf Französisch erklärt, sind die sauer. Aber sein Englisch ist ja hervorragend, wie ich sehe. Studium der Anglistik im Nebenfach, dann dürfte er da ja überhaupt keine Schwächen haben.«

»Äh … meine Schwächen sind: Ich bin total penibel. Ich will immer alles ganz genau und gründlich erledigen.«

»Ja, das ist ja schön. Aber passen Sie auf, dass Sie es damit nicht übertreiben. Wir hatten hier mal einen Kollegen, der hat sich so in seinen Job hineinversetzt, dass er dann auch privat alles auf Englisch wiederholt hat.«

»Was hat er?«

»Schatz, ich bin zu Hause! Darling, I’m home!«

»Äh …?«

»Kleiner Spaß.«

»Ach so.«

Er erklärte mir zunächst die Wochenplanung und die Routen. Ich sollte wie Matthias die einstündige Tour fahren, »durch die historische Mitte und das Regierungsviertel«. Das passte mir ganz gut, denn nach sechsmal einer Stunde bekommt man sicher mehr Trinkgeld als nach zweimal drei Stunden. Trinkgeld nehmen sei grundsätzlich erlaubt. Man solle aber nicht mit einem selbstgemalten Schild, auf dem groß »TRINKGELD HIER EINWERFEN!« steht, am Ausgang stehen. Die Kapitäne hätten hier das Hausrecht, und manche würden darauf bestehen, dass der Stadtbilderklärer nicht auf dem Schiff, sondern nur am Ufer Trinkgeld entgegennimmt.

»Sonst gibt es mit den Kapitänen aber keine Probleme. Der Schiffsführer auf dem Schiff, mit dem Sie fahren werden, hat erst ein einziges Schiff verloren. Hat auf dem Müggelsee einen Eisberg gerammt. Das war letzte Woche.«

»Ach?«

»Kleiner Scherz. Haha.«

»Ach so, hähähä!«

Es gebe drei Sachen, die mit äußerster Vorsicht zu behandeln seien. Das sei zunächst Politik. Der Stadtbilderklärer solle sich weder positiv noch negativ zu Politikern, Parteien oder dem politischen Geschehen äußern und erst recht keine Politkabarettwitzchen aus dem Scheibenwischer klauen. Das Zweite sei Religion. Das Dritte sei Sport, insbesondere Fußball.

»Wo kommt er doch gleich her?«, fragte er.

»Frankfurt am Main.«

»Hui! Ist er Eintracht-Fan?«

»Na ja, es geht so.«

»Das sagen Sie auf dem Schiff besser nicht. Wir hatten hier mal einen eingefleischten Union-Fan als Stadtbilderklärer, der wäre fast mal von einem Dresdner über Bord geschmissen worden. Das passiert öfter, gerade mit Dresdnern. Wenn Sie jemanden haben, der sächsisch spricht, sagen Sie am besten, Sie wären Eskimo oder Massai oder so was.«

»Alles klar, ich bin Massai.«

»Kleiner Scherz. Und ganz wichtig, ich kann es nicht oft genug sagen: Seien Sie nicht krampfhaft witzig. Leute, die versuchen, auf Teufel komm raus lustig zu sein, werden ganz schnell peinlich.«

»Natürlich, da haben Sie recht.«

»Jetzt ist es Ende Mai, da haben Sie ja noch fast die ganze Saison vor sich. Wir machen in der ersten Novemberhälfte Schluss, je nach Wetterlage. Danach ist Winterpause, meistens bis Ostern. Wissen Sie denn schon, was Sie im Winter machen wollen?«

»Ich würde zwei gleichfarbige Socken anziehen«, sagte ich.

»Ja … gut«, sagte Herr Dietrich. »Das macht man ja gerne mal im Winter.«

Ich bekam ein Skript, eine Broschüre mit allen Touren und Fahrplänen sowie Herrn Dietrichs Visitenkarte. Ich könne auch probeweise mal bei anderen Erklärern mitfahren, um mir anzusehen, wie die das machen. Wenn ich mich bereit fühlte, in ein bis zwei Wochen, würde ich die erste Tour in seiner Anwesenheit machen, danach könnte ich offiziell anfangen.

»Das ist gut, dass Sie kommen«, sagte Herr Dietrich zum Abschied. »Wir sind im Moment ziemlich knapp mit den Erklärern. Jemanden wie Sie können wir gut gebrauchen.«

Als ich wieder in der S-Bahn saß, wunderte ich mich über seine Direktheit: Das klang doch alles so, als würde er mich nehmen. Donnerwetter! Anscheinend hatte ich wirklich ein exzellentes Bewerbungsgespräch hingelegt. Meine Bekannten aus der Uni müssen recht gehabt haben: Man muss einfach nur die Antworten auswendig lernen und hat den Job so gut wie in der Tasche. Wer Arbeit will, der kriegt auch Arbeit.

Wo war ich jetzt?

Das Skript bestand aus zwanzig Seiten Fließtext. Seit meiner Führerscheinprüfung hatte ich nichts mehr auswendig lernen müssen. Außerdem hatte sich meine Konzentrationsfähigkeit seit der Einführung von Youtube, Wikipedia und StudiVZ auf den Stand eines Fünfzehnjährigen zurückentwickelt.

Es begann mit einer allgemeinen Einführung. Erste Erwähnung Cöllns 1237, Berlins 1244. Vereinigung zur Doppelstadt, Aufstieg unter den Hohenzollern.

»Die Stadt Berlin bestand im 19. Jahrhundert praktisch nur aus dem Bezirk Mitte. Erst die Reichsgründung von 1871 gab Berlin einen städtebaulichen Impuls, der sich auch an den Straßennamen ablesen lässt. Die preußische Annexion Elsass-Lothringens nach dem Krieg von 1870/71 reflektiert sich in der Namensgebung der Straßen im südlichen Prenzlauer Berg: Colmarer Straße, Straßburger Straße, Metzer Straße, Hagenauer Straße und so weiter. Deshalb nennt man dieses Viertel Elsässer Viertel.«

Elsässer Viertel, nie gehört. Es sagt ja auch niemand »Weniger-bekannte-Flüsse-Viertel« zu der Gegend in Friedrichshain, in der Weichsel-, Kinzig-, Fulda- und Finowstraße liegen. Im holländischen Zoetermeer gibt es ein Apfelviertel. Golden Delicioushof, Cox Orangehof, Jonagoldhof. Wer denkt sich so was aus? In Hamburg gibt es eine Käfersiedlung, und es würde mich nicht überraschen, wenn es irgendwo ein Hundeviertel gäbe. Terriersteig, Collieweg, Golden-Retriever-Straße. Nur eine Schäferhundstraße gibt es dort wahrscheinlich nicht, weil das zu sehr nach Nazi riecht. Klingt aber schon geil: Ich wohne in der Schäferhundstraße, Ecke Kruppstahlallee. Blutstraße, Ecke Bodenstraße. Da könnte man ein ganzes Naziviertel bauen. Blondschopfstraße, Ecke Blauaugenweg. Endsiegallee, Ecke Tausendjähriges-Reich-Straße. Wir-haben-dem-Führer-ewige-Treue-geschworen-Boulevard, Ecke Anschlussstraße. Dann muss es da aber auch irgendwo eine Guido-Knopp-Straße geben. Vielleicht als Ringstraße um das ganze Viertel herum.

Apropos Ringstraße: Wenn ich irgendwann in die Position kommen sollte, eigenmächtig die Benennung von Straßen bestimmen zu können, dann würde ich mir eine Ringstraße suchen und sie abschnittsweise nach Mitgliedern der Familie Herder benennen: nach dem Botaniker Ferdinand Gottfried von Herder, dem Geologen Sigismund August Wolfgang von Herder, dem Verleger Bartholomä Herder und natürlich dem Dichter Johann Gottfried Herder. Über die Grenzen der Region hinaus würde diese Straßenfolge als »Herderringe« bekannt werden, und meine Stadt würde zur Pilgerstätte für tausende spätpubertierende Rollenspieler in Lendenschurz und mit Trinkhorn am Gürtel. Kneipen mit pseudokeltischen Schriftarten auf grünen Schildern würden sich dort ansiedeln, die Met ausschenken und in denen man sich mit »Wohlan« begrüßt. Hobbits würden dort Stramme Mäxe vertilgen, Zwerge mit den Ausweisen ihrer großen Brüder Bier kaufen, und kahlrasierte Orks aus Hoyerswerda (Heizungsbauer, abgebrochen) würden sich betrinken und Ärger machen, während die zartfühlenden Elben (Soziale Arbeit an der Fachhochschule) langohrig daneben stünden und melancholisch den Kopf schüttelten wie ein Indianer, der mit ansehen muss, wie auf den Gräbern seiner Ahnen ein Einkaufszentrum gebaut wird.

Wo war ich jetzt? Ach ja, Stadtplanung und 1871. Also weiter im Text. 1920 Erweiterung Berlins auf heutige Grenzen. Krieg, Mauerbau, Mauerfall. Folgt kleine Brückenkunde: Monbijoubrücke ist nagelneu, nach altem Vorbild rekonstruiert. Weidendammer Brücke mit Reichsadler im Geländer (sehr niedrig, bitte sitzen bleiben!). Marschallbrücke war Grenzübergang für den Wasserweg. Moltkebrücke nach Moltke benannt. Was? »Helmuth von Moltke war ein hoher preußischer Militär des 19. Jahrhunderts. Er sollte mit dieser Benennung geehrt werden.«

Ach was. Unglaublich. Das Skript verkaufte die größten Banalitäten als Erkenntnis, verpasste es aber zu sagen, wer Moltke genau war. Mir ist außerdem kein Fall bekannt, in dem jemand mit einer Straßenbenennung geschmäht werden sollte. Ausnahmen sind möglich. Als Willy Brandt 1992 starb, haben sich einige bayerische Dorfbürgermeister einen Spaß daraus gemacht, ihre hässlichsten Straßen, die ursprünglich »Hinterm Klärwerk« oder »An der Jauchegrube« hießen, nach Willy Brandt zu benennen. Ein oberbayerischer Hardliner, der Willy Brandt immer noch für einen Vaterlandsverräter und Ostpreußenverkäufer hielt, hatte es sich sogar erlaubt, eine mittelalterliche Hinrichtungsstätte mit dem Namen Willy Brandts zu versehen. Zwar musste er so den Namen eines zentralen Platzes opfern, doch war ihm das die Schmähung des Kommunistenfreundes offensichtlich wert, zumal er durchsetzen konnte, dass auf dem Platz eine Informationstafel aufgestellt wurde: »Der Galgenplatz lag ursprünglich außerhalb der Stadtmauern und war im Mittelalter der Standort des Galgens und des Schafotts, zur Zeit der Hexenprozesse auch der Scheiterhaufen. Bis ins 19. Jahrhundert wurden hier die Todesurteile an verurteilten Verbrechern, Mördern und Verrätern vollstreckt. 1993 wurde der Platz nach dem früheren Bundeskanzler Willy Brandt benannt.«

Im privaten Kreis soll der Bürgermeister fortan nur noch vom »Platz des Vaterlandsverräters« gesprochen haben. Als ihm diese Bezeichnung bei einer Pressekonferenz herausrutschte, musste er seinen Hut nehmen, verließ daraufhin die CSU und gründete eine lokale Wählergemeinschaft, die bei den folgenden Kommunalwahlen die Mehrheit erreichte und den Bürgermeister wieder ins Amt setzte. Seitdem wartet er darauf, dass Helmut Schmidt stirbt und er die abgelegene Sackgasse »Am faulen Graben« nach ihm benennen kann.

Mist, schon wieder war ich abgedriftet. Wo war ich jetzt? Tiergarten. Siegessäule. Schloss Bellevue. Regierungsviertel. »1994 beschloss der Bundestag den Umzug der Regierung in die Bundeshauptstadt Berlin. Bonn behielt einige Ministerien und war fortan Bundesstadt.«

Oje, die armen Bonner! »Bundesstadt« klingt wie Trostpreis (»Für Sie das Spiel zur Sendung«), und wer einmal am Bonner Hauptbahnhof war, weiß, dass es dort auch genauso aussieht. Warum geben sich eigentlich so viele Städte selbst Titel, die weniger Auszeichnungen als Armutszeugnisse sind? Fachhochschulstadt Aschaffenburg. Barockstadt Fulda. Expo- und Messestadt Hannover. Bünde/Westfalen – die Zigarrenstadt. Hofheim – Obstgarten des Vordertaunus. Hartberg – Zentrum der nördlichen Oststeiermark. Goetheort Stützerbach. Hier soll der Dichterfürst sogar mal besoffen gewesen sein. Hannover und Fulda haben ein so starkes Bedürfnis nach Anerkennung, dass sie ihre Titel am Bahnhof durchsagen lassen. In Donauwörth hängen am Bahnhof unter dem Ortsnamensschild gleich zwei Titelschilder: »Stadt der Käthe-Kruse-Puppen« und »Hubschrauberstadt Europas«. Göttingen hat sogar ein beknacktes Wortspiel am Bahnhof hängen: »Stadt, die Wissen schafft«. Igitt!

Diese unverhohlene Anbiederei muss einem doch verdächtig vorkommen. Als ähnlich peinlich empfand ich immer die Provinzler, die sich bewusst sind, dass sie in einem unbedeutenden Kaff wohnen, und deshalb die Besonderheiten ihrer Heimat hervorheben wollen. Dinkelsbühl hat die zweitgrößte Hallenkirche Süddeutschlands. Riesa hat den zweitgrößten Binnenhafen Ostdeutschlands. Kremmen hat das größte zusammenhängende Scheunenviertel Deutschlands. Montabaur hat einen ICE-Bahnhof bekommen und ist damit »ein Stückchen näher an Europa gerückt«. Reinheim liegt sehr zentral im Odenwald, mitten im Dreieck Frankfurt-Darmstadt-Aschaffenburg. Von Neustadt an der Dosse kann man den Regionalexpress nehmen und steht »in siebzig Minuten vor dem Kanzleramt«.

Im Prinzip gehört auch Berlin zu dieser Art Städte. Auf jeden Hollywoodvogel, der auch nur zur Durchreise nach Berlin kommt, reagiert die Lokalpresse aufgeregt wie ein Teenie vor dem Schnapsladen. Angelina Jolie und Brad Pitt sind in Schönefeld zwischengelandet. Es wird gemunkelt, sie wollten in Berlin sogar essen gehen. George Clooney war zwei Tage hier und hat drei Sätze in eine Kamera gesprochen. Er sei gern in Berlin, hat er gesagt. Wahnsinn! Arnold Schwarzenegger hat seinen Besuch abgesagt, weil in Kalifornien Waldbrände ausgebrochen sind, schadeschade. Wenn Robbie Williams ein Konzert in Berlin gibt, steht das eine Woche lang jeden Tag in der Zeitung, und sogar ich freue mich aufs Konzert, weil dann die dämliche Vorberichterstattung endlich aufhört. Am Tag nach dem Konzert kommt ein langer Artikel mit großem Foto im Tagesspiegel. Protagonisten sind immer zwei Mädchen: »Minka und Tini haben seit Stunden im Regen ausgeharrt, um ihr Idol zu sehen. ›Die Warterei hat sich aber total gelohnt‹, sagt die 19-jährige Zahnarzthelferinauszubildende Minka. ›Er hat super Lieder gesungen. Mein Lieblingslied war auch dabei.‹« Ja bitte, wo sind wir denn? Bei der Theateraufführung einer niedersächsischen Gesamtschule? Sogar eine Imagekampagne hat Berlin gestartet, wie eine westfälische Kleinstadt. Hat man Ähnliches von New York, Tokio oder London gehört?

Wenn ich es mir so überlegte, fand ich die meisten deutschen Städte ziemlich beknackt. Die Landeshauptstädte kann man eigentlich alle vergessen. Beweis: Hannover. Berlin ist eine Agglomeration mentaler Bauerndörfer mit implantierten Künstlervögeln. Köln besteht aus einer einzigen Kriegslücke plus Dom, begrenzt durch eine vulgäre Ausgehmeile, umgeben von eingemeindeten Dörfern. München ist eine Stadt voller pelzmanteltragender Prokuristengattinnen, die sich beim Konditor mit »Frau Direktor« ansprechen lassen, und wo Kultur entweder hochsubventioniert oder verboten wird. Außer Konkurrenz laufen die schönen großen Kleinstädte, die sich zwar sehr gut zum Studieren eignen, wo aber außer Tocotronic-Konzert, Poetry Slam und ähnlichen Studentenspäßen nicht viel passiert: Freiburg, Regensburg, Marburg, Tübingen, Heidelberg, Passau, Münster, Jena. Als richtige Städte bleiben Leipzig und Frankfurt am Main. Keine Möchtegerntitel, keine Lokalarroganz, kein zwanghaftes Verleugnen der eigenen Unwichtigkeit.

Was machte ich dann eigentlich in Berlin? Wie hatte ich es bisher hier ausgehalten, und warum zog ich nicht weg? Gewohnheit, Freunde, Faulheit? Und warum wollte ich diese Stadt jetzt auch noch anderen Menschen erklären? Oder gefiel es mir wirklich in Berlin?

Wo war ich jetzt?

Ze Berliners call it liebevoll …

Hallo. Ich komm von der Reederei und wollte fragen, ob ich mal mitfahren kann.«

Der vollbärtige Bootsmann drehte sich wortlos um und ging ins Schiff. Heißt das jetzt ja oder nein? Eine pummelige Frau mit Namensschild am Schlabberhemd kam heraus.

»Hallo, ich bin die Mona.«

»Ich bin Tilman. Ich hab mich bei der Reederei als Sprecher beworben und wollte heute probeweise mal mitfahren.«

Wir gaben einander die Hand, und sie führte mich aufs Oberdeck, wo ich mich vor sie in die erste Reihe setzte. Schöner Tag. Die Sonne schien, und die allgemeine Laune war offensichtlich gut. Wenn das den ganzen Sommer über so bleiben sollte, ließe sich das bestimmt aushalten.

»Machst du das schon länger?«, fragte ich Mona.

»Das ist jetzt meine dritte Saison. Aber eigentlich bin ich Dolmetscherin für Englisch und Russisch.«

Das traf sich gut. Das mühsame Heraussuchen der englischen Vokabeln, die ich für eine Führung in Berlin brauchen würde (Plattenbau, Ausbürgerung, Mauertote), konnte ich mir also ersparen, wenn ich ihr jetzt gut zuhörte und mitschrieb.

»Bist du sicher, dass du den Job machen willst?«

Wieso fragten mich eigentlich alle danach? War das so eine Art Mafia, aus der man nicht mehr aussteigen konnte? Wie viele Stadtbilderklärer lagen wohl schon mit einbetonierten Füßen auf dem Grund der Spree?

»Äh, ja … schon. Ist doch bestimmt ein ganz netter Job.«

»Pfff …«, machte Mona. »Das kann auch ganz schön frustrierend sein. Ich erkläre und erkläre, aber ob die überhaupt was verstehen, weiß ich auch nicht.«

»Ach so, ja. Das kann natürlich sein.«

Ich beschloss, mir darüber vorerst keine Gedanken zu machen.

»Weil, weißte, die sind manchmal gar nicht so einfach.«

Aha.

Wir legten ab. Mona stellte sich vor, begrüßte die Gäste im Namen der Reederei und wies sie an, auf dem Oberdeck sitzen zu bleiben, damit sie sich nicht den Kopf an den Brücken stießen.

»Links sehen Sie den Fernsehturm. Er ist 368 Meter hoch und wurde 1969 eröffnet. Die Berliner nennen ihn liebevoll Telespargel. On ze left ze TV-Tower. It was opened in 1969. Ze Berliners call it Tele-Asparagus.«

Ich schrieb: ›Telespargel – Tele-Asparagus‹.

Ob die Deutschen wegen solcher Wortschöpfungen im Rest der Welt für ein bisschen plemplem gehalten werden? Man könnte es fast für möglich halten, wenn man sich die Spitznamen anderer Gebäude oder Denkmäler anhörte, etwa den Nischel in Chemnitz oder den Briggegickel in Frankfurt am Main.

Mona sprach weiter über das Nikolaiviertel. Es folgten: ›Kurfürstenhaus – elector’s house‹ und ›Gründungsort – where the city was founded‹.

»Rechts der Marstall, die Unterkunft für die Pferde und Kutschen des königlichen Haushalts. Heute befinden sich hier die Zentral- und Landesbibliothek Berlin sowie die Musikhochschule Hanns Eisler.«

Sie hatte eine ziemlich monotone Betonung. Ich musste an lange Referate an langen Nachmittagen im Sozialwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität denken. Ich schrieb auf: ›Marstall –‹

»On ze right, ze Marstall. Sis is where ze horses and carriages were kept.«

Mist. ›Marstall – Marstall‹.

Die ersten Reihen machten den Eindruck, als hörten sie ihr zu. Von achtern war aber deutliches Gebrabbel zu hören. Mona nahm das Mikrofon vom Mund.

»Siehste«, sagte sie zu mir. »Die, die hinten sitzen, hören nie zu. Und das sind meistens die Briten. Ich glaube, die sind nur zum Saufen hier.«

»Vielleicht hört man hinten einfach schlecht«, sagte ich.

»Quatsch«, sagte sie. »Die wollen nur nicht. Das hat doch einen Grund, warum die hinten sitzen. Ist wie in der Schule.«

Wir fuhren unter der Rathausbrücke durch bis zur Mühlendammschleuse. Mona nahm das Mikrofon wieder an den Mund:

»Vor uns die Mühlendammschleuse, die hier in den Dreißigerjahren angelegt wurde. Hinter uns die Mühlendammbrücke. Der Mühlendamm heißt so, weil hier früher viele Mühlen standen.«

Hinter mir fing ein Mann an zu grummeln:

»Na, wer hätte das gedacht.«

Schon wieder kamen mir die Sozialwissenschaftler in den Kopf. In einem Werk über die DDR-Gesellschaft hatte ich einst den Pleonasmus gelesen: »Das Konzept der Industriegesellschaft ist ein auf Industrialisierung beruhendes Struktur- und Entwicklungsmodell.« Ach komm! Wie sagte meine österreichische Großmutter immer: »Jå, des is hoit des.«

Wir wendeten und fuhren flussabwärts.

»Links sehen Sie die Reste des Palastes der Republik. Der Palast wurde in den Siebzigerjahren an der Stelle gebaut, an der früher das Stadtschloss der preußischen Könige stand. On ze left you see what is left of ze palace of ze republic …«

Sie erklärte nur die Hälfte. Was war im Palast drin? Warum steht das Stadtschloss nicht mehr? Und warum wird der Palast jetzt abgerissen?

»Die Berliner nannten den Palast liebevoll Erichs Lampenladen.«

Das klingt aber nicht sehr liebevoll. Und wer war Erich?

Sie setzte das Mikrofon wieder ab und sprach mit mir:

»Das ist sowieso schwierig mit den Touristen. Die kommen hierher und glauben, sie setzen sich ins gemachte Nest. In Mitte kann man ja kaum noch über die Straße laufen, ohne dass man gegen einen Italiener stößt.«

»Äh, ja. Das stimmt.«

»Würde mich ja nicht stören. Aber wir müssen das hier ausbaden.«

Wann hat ihr Unwohlsein mit den Touristen wohl eingesetzt? Wenn ich diesen Job mache, werde ich dann automatisch auch so? Aus meiner Kindheit kannte ich das Phänomen des Kinder hassenden Bademeisters im Freibad und kam nun zum ersten Mal auf den Gedanken, dass er vielleicht gar nicht als Kinderhasser Bademeister wurde, sondern erst im Laufe seines Aufseherdaseins dazu wurde.

»Vor uns die Moltkebrücke, die 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins restauriert wurde. Der preußische General von Moltke sollte mit der Benennung geehrt werden. Moltke kämpfte in den Deutschen Kriegen.«

Das Skript hatte sie gut auswendig gelernt.

»Ze bridge was named after ze prussian general Moltke, who fought in ze agreement wars.«

Agreement wars: Übereinkunftskriege. Ein interessanter Gedanke. Vielleicht hatte ich da noch Lücken in meinen Kenntnissen des 19. Jahrhunderts.

Wir fuhren in den Tiergarten.

»Die Siegessäule wurde nach den Deutschen Kriegen von 1864 bis 1871 gebaut. Die Figur auf der Säule stellt die Siegesgöttin Victoria dar. Wegen ihrer Farbe nennen die Berliner die Figur liebevoll Goldelse.«

Man hälts im Kopp nicht aus!

»Ze column of victory was built after ze agreement wars of 1864 to 1871.«

Schon wieder! Wie sieht wohl ein Übereinkunftskrieg aus? Totschießen mit beiderseitigem Einverständnis? Ich schrieb auf: ›Deutsche Kriege – agreement wars‹ und setzte ein Fragezeichen dahinter.

»Ich weiß gar nicht, ob die überhaupt was verstehen«, sagte sie wieder zu mir. »Ich red das einfach runter, und wenn sie zuhören: schön. Wenn nicht, dann ist das nicht mein Problem.«

»Jaja, das stimmt wohl.«

Sie hatte es erfasst. Genau deswegen wollte ich diesen Job machen. Wer nicht zuhört, hat Pech gehabt. Wir sind ja hier nicht in der Schule (»Ich frag das beim nächsten Mal ab, Herrschaften.«). Mit Ekel dachte ich zurück an die Zeit, in der ich als Nachhilfelehrer unverschämte Achtklässler in Mariendorf unterrichten musste. Mit Hand und Fuß hatte ich jedes Mal die Grobheiten der englischen Grammatik aufs Neue erklärt, nur um bei der folgenden Sitzung doch wieder in den Hausaufgaben zu lesen: »John go in the gym. There he play skwash.«

Diesmal konnte ich es besser machen: Ich würde die Gäste immer nur ein einziges Mal sehen, und wer nichts verstand, konnte sein Aufmerksamkeitsdefizit woanders aus sich herauszappeln. So müssten Nachhilfeschüler auch sein: zuhören, zahlen, gehen.

»Den Glockenturm, den Sie links sehen, hat die Firma Daimler-Benz der Stadt Berlin zum 750-jährigen Jubiläum der Stadtgründung geschenkt. Eigentlich heißt das Glockenspiel Carillon, die Berliner nennen den Turm aber liebevoll St. Daimler.«

Wegen ihrer Ansagen nennen die Berliner diese Stadtbilderklärerin liebevoll »Tante Quasseline«. Haha.

»Meine Damen und Herren, wir legen nun kurz vor dem Haus der Kulturen der Welt an und machen fünf Minuten Pause.«

Bevor ich nach Berlin zog, dachte ich, ein Gebäude, das »Haus der Kulturen der Welt« hieß, müsse ja wohl eine DDR-Gründung sein und im Osten stehen. Zum einen wegen des »Wir halten Freundschaft mit allen Völkern der Welt und der Sowjetunion«-Tonfalls, zum anderen wegen der Genitivhäufung, die neben dem militärischen Abkürzfimmel – dem sogenannten Aküfi – ein beherrschendes Stilmittel der offiziellen Rhetorik war. Nie ist mehr Genitiv von deutschem Boden ausgegangen. Die Schriften der führenden Theoretiker der Partei der Arbeiterklasse. Der noch weitere Ausbau der allseitigen Stärkung unserer Republik. Man muss sich wundern, dass die Kongresshalle am Alexanderplatz nicht »Halle des Kongresses« hieß.

Einige Passagiere gingen von Bord, ein paar andere kamen herein. Ich blinzelte über die Bäume des Tiergartens in den blauen Himmel. Ganz schön warm heute. Wenn ich den Job wirklich machen wollte, brauchte ich einen Strohhut oder etwas Ähnliches. Und ob ich in den Pausen Zeit finden würde, mal zwanzig Minuten im Crewraum den Kopf auf den Tisch zu legen?

»Wir bedanken uns außerdem bei den Werktätigen des VEB Feliks Dzierzynski Schiffswerke Rostock, die in unermüdlicher Arbeit für unsere Republik den Plan wieder einmal übererfüllt und uns dieses schöne neue Schiff gebaut haben. Wir werden uns erkenntlich zeigen, indem wir die Ideen der führenden Theoretiker der Partei der Arbeiterklasse umsetzen, die Vorgaben des VIII. Parteitages erfüllen und weiterhin für die noch weitere allseitige Stärkung unserer Republik kämpfen werden.«

Ich schreckte hoch und fiel fast vom Stuhl. Der Mann hinter mir beugte sich zu mir:

»Schlafen Sie ruhig weiter, junger Mann. Sie verpassen nichts.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Die Berliner nennen das Kanzleramt liebevoll Bundeswaschmaschine«, sagte Mona vorne.

Ach so.

Als wir wieder am Palast angelegt hatten, standen wir beide am Ausgang.

»Und dann geben die nicht mal Trinkgeld«, flüsterte sie mir zu.

»Ja«, sagte ich. »Find ich auch voll unfair.«

Ich fuhr nach Hause und machte sofort Wikipedia auf.

»Deutscher Krieg: […] Bis heute finden sich hauptsächlich die Ausdrücke Preußisch-Österreichischer Krieg oder Einigungskrieg.«

PONS Deutsch-Englisch:

»Einigung <- , -en> f 1. (Übereinstimmung) agreement 2. (Vereinigung) unification«.

Chronik meiner Nebenjobs

Arbeit!

Geißel der Menschheit!

Verflucht seist du bis ans Ende aller Tage.

Du, die du uns Elend bringst und Not,

uns zu Krüppeln machst und zu Idioten,

uns schlechte Laune schaffst und unnütz Zwietracht säst,

uns den Tag raubst und die Nacht,

verflucht seist du!

Verflucht!

In Ewigkeit

Amen.

Michael Stein

Mit Lohnarbeit hatte ich schon immer Probleme. Nicht wegen der Arbeit oder des Lohnes, sondern wegen einer ausgeprägten Scheu vor Autoritäten und der ständigen Angst, etwas falsch zu machen und dafür Sanktionen fürchten zu müssen. Erfahrung im Falschmachen hatte ich viel. Als Kind wusch ich die Autos der Nachbarn und zerkratzte dabei ihren Lack. Meine Eltern gingen so mehrerer freundlicher Nachbarschaftskontakte verlustig, und fortan musste meine Oma aus einem Frankfurter Außenbezirk anreisen, um unsere Blumen zu gießen, wenn wir in Urlaub waren.

Als Jugendlicher lieferte ich für eine Apotheke Medikamente an alte Menschen aus und ließ dabei gern mal Flaschen mit Durchfallmittel fallen, deren Inhalt sich müffelnd und glibberig über alle anderen Medikamente verteilte, die die Rentner nun zu bezahlen sich weigerten.

Nach dem Abitur verweigerte ich den Wehrdienst und wurde Zivildienstleistender in einer Kindertagesstätte, wo die Arbeit aus kochen, putzen und Kinder anbrüllen bestand. Eben war ich noch auf der Schule, wo ich selbst die Autoritätensprüche der Lehrer hören musste: »So kommse nich weit«, »Dass ich Sie immer erst auffordern muss!« und »Dass Sie auch nie mehr machen als nötig!«. Jetzt musste ich selber die Autorität spielen und die feststehenden Erziehungssätze anwenden, die Eltern und Erzieher ihren Kindern seit Jahrtausenden um die Ohren schleudern: »Leg das weg«, »Ich sag es jetzt zum letzten Mal« und den Klassiker, der auf einer Freizeit nie fehlen darf: »Morgen wirdn anstrengender Tach«. Die Kinder tanzten mir gern auf der Nase herum, weil ich trotz korrekter Anwendung der Erziehungssätze nicht die Autorität eines preußischen Lateinlehrers ausstrahlte, sondern höchstens die bemühte Hilflosigkeit eines Schülerpraktikanten. Elf Monate ging ich als Zivildienstleistender einer Beschäftigung nach, die man als geregelte Arbeit hätte bezeichnen können. Dann wurde ich Student.

In Berlin wurde ich zuerst Pizzafahrer. Ein echter Studentenjob für einen echten Studenten, dachte ich. Vernachlässigte Frauen werden mir im Bademantel die Tür öffnen und sagen: »Huch, ich war gerade unter der Dusche.« Ich würde mich vor Verführungen kaum retten können. Mehrere Millionärswitwen würden mich als Gespielen halten, sodass ich bald das Pizzafahren aufgeben könnte.

Als erste Amtshandlung fuhr ich mit dem mir zugewiesenen Motorroller gegen einen Container und durfte in den folgenden Wochen die Reparatur abarbeiten. Der Chef, ein Berliner der Sorte »wortkarg und emotionsarm«, machte kein großes Theater darum. Ich dagegen machte mir tagelang Gedanken und fragte mich, ob ein Job wie Pizzafahrer nicht vielleicht doch eine Nummer zu groß für mich sei. Anstatt von Frauen in Bademänteln in den Whirlpool eingeladen zu werden, verbrachte ich viel Zeit auf dunklen Kopfsteinpflasterstraßen in Lichtenberg und verzweifelte an dem eigenwilligen Berliner Hausnummernsystem. Ich vergaß Getränke und gab falsches Wechselgeld heraus. Immer wieder kam ich mit gesenktem Kopf in die Pizzeria zurück und musste gestehen, was ich diesmal wieder verbockt hatte. Als ich nach zwei Monaten meine Kündigung bekanntgab, sagte der Chef nur: »Ick hab mir schon gewundert, warum du überhaupt noch kommst.«

Dann wurde ich Nachhilfelehrer an einer Nachhilfeschule in Mariendorf. Vor den Stunden hatte ich mehr Angst als die Tugruls, Jennys und Serdars, die ich unterrichtete. Während ich wusste, wo die Mängel der Schüler lagen, durften sie auf gar keinen Fall erfahren, dass ich fachlich oft auf dem Schlauch stand und eine pädagogisch-didaktische Vollpfeife war. Leider war dieser Umstand offensichtlich.

Beim Schüler Robert schien ich jedoch vorsichtigen Erfolg zu haben. Ich lernte mit ihm englische Grammatik, die er zu verstehen vorgab, und half ihm bei den Hausaufgaben, wobei ich aus lauter Ungeduld meistens seine Hausaufgaben selber machte, ihm sagte, er solle das abschreiben und sich merken, wie es ginge, damit er das beim nächsten Mal selber könne. Nach den Noten seiner schriftlichen Arbeiten gefragt, antwortete er jedes Mal mit: »Da hatte ich ne Drei, glaub ich«. Scheint ja zu klappen, dachte ich und war von seinem Fortschritt erstaunt. Eines Tages rief mich seine Lehrerin an und teilte mir mit, dass Roberts Versetzung gefährdet sei. Ob ich denn nicht gemerkt hätte, dass er nichts könne und nichts arbeite. Ob ich sie denn für so verkalkt hielte, dass sie nicht merke, dass seine Hausaufgaben offensichtlich vollständig von seinem Nachhilfelehrer angefertigt wurden. Ob ich denn nie auf die Idee gekommen sei, dass er mich über seine schriftlichen Noten anlog. Ich kündigte, bevor das Schuljahr vorbei war und die Eltern der sitzengebliebenen Schüler womöglich mit Schadenersatzforderungen an mich herantreten konnten.

Von der Vorstellung entsetzt, als Nachhilfelehrer an der Nichtversetzung eines Schülers mitschuldig zu sein, suchte ich mir einen schlichten Job, in dem ich wenig Schaden anrichten konnte. Ich wurde Tellerwäscher in einem Berliner Touristenlokal, das vorwiegend von Busreisegruppen frequentiert wurde, die vorher im Friedrichstadtpalast die chinesische Tanz-Hüpf-Sing-Show »Tao Pao Gong-Oh« oder im Tempodrom die Pferde-Schlittschuh-Revue »Horses on Ice« gesehen hatten. Dies war mir der angenehmste Job. Ich konnte in Ruhe hinter meiner Spülmaschine stehen und in meinem eigenen Tempo meine Arbeit erledigen. Wenn mir ein Teller aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerschellte, lachten die Köche. Ich lachte mit. Wenn ich etwas aus der Kühlkammer holen sollte, es nicht fand und dann zum Koch hinüberrief: »Entweder bin ich zu blöd, oder es ist aus«, rief er zurück: »Du bist zu blöd.« Das gefiel mir.