
Ricarda Junge |
Die komische Frau
Roman
FISCHER E-Books

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
"Aperture #1" (Detail), 1999, Öl auf Leinwand, 52''x 62'', Mark Stock, www.theworldofmarkstock.com, Courtesy of Modernism Gallery
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400804-2
Für Victoria
»IF YOU ARE LOSING YOUR SOUL AND YOU KNOW IT, THEN YOU’VE STILL GOT A SOUL LEFT TO LOSE.«
Charles Bukowski
Im Folgenden werde ich davon berichten, was sich zwischen dem dreizehnten April und dem zehnten Mai dieses Jahres im Haus Löwestraße Nummer eins in Berlin-Friedrichshain Sonderbares ereignet hat. Mir ist bewusst, dass es für die Ereignisse der letzten Wochen möglicherweise eine psychologische, rationale Erklärung gibt, die sich mir im Moment jedoch nicht erschließt. Es sei jedem freigestellt, eine eigene Deutung zu finden, ich aber werde versuchen, mich darauf zu beschränken, das Geschehene möglichst genau wiederzugeben. Dabei soll mein Glaube mein Schutzschild sein: der Glaube an die reinigende, lindernde und erneuernde Kraft des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Menschen werden geboren und sterben, Staaten werden gegründet und aufgelöst, etwas erfasst eine ganze Generation wie ein Traum, an den man sich nicht mehr erinnert, sobald man aus ihm erwacht. Nur eine leichte Irritation bleibt, die sich jeder auf seine Weise erklärt. Mit dem wechselnden Wetter, dem Pollenflug, der in diesem Jahr eine besondere Plage war, dem zu schweren Essen oder dem Lärm, den der Nachbar gestern bis spät in die Nacht veranstaltet hat. Etwas kommt, etwas geht. Aber was immer auch geschieht, geschieht auf ein Wort hin. Gedacht, gesprochen, geschrieben, verschwiegen.
Der dreizehnte April war in diesem Jahr der Montag nach Ostern. Ich war mit meinem kleinen Sohn zu meinen Eltern an die Ostsee gefahren, wo wir die Feiertage gemeinsam verbrachten. Es war warm. Die Magnolienbäume blühten rosa und weiß, an ihren Ästen, die mich an die gebogenen Arme alter Kronleuchter und Kandelaber erinnerten, hingen Ostereier, die mein kleiner Sohn und mein Vater immer noch mit Vergnügen betrachteten, während meine Mutter in Gedanken vermutlich schon wieder dabei war, sie in Seidenpapier zu wickeln, in Kartons zu verstauen und diese in den Keller hinunterzutragen. Ich hörte sie in der Küche Kaffee aufsetzen, Tassen und Untertassen aus dem Schrank über der Spüle und Löffel aus der Schublade nehmen. Die Kaffeemaschine gurgelte, das Porzellan klirrte, im Radio lief das Lied einer Band, die ich während meiner Studienzeit einmal live in einem rauchigen Hamburger Kellerclub gehört hatte. Der Sänger war mit einer meiner Kommilitoninnen befreundet gewesen und damals noch weitgehend unbekannt, jetzt wurde sein Lied als die Nummer drei der diesjährigen Ostercharts gefeiert. Nummer eins und zwei belegten eine ›Lady Gaga‹ mit ›Pokerface‹ und ein belgischer Sänger namens ›Milow‹. Von beiden hatte ich noch nie etwas gehört, was in mir plötzlich ein Gefühl von Melancholie und den unbehaglichen Gedanken ans Älterwerden aufsteigen ließ. In der Woche zuvor hatte meine beste Freundin Janina, die Patentante meines Sohnes, mich frühmorgens angerufen und mir erzählt, dass sie gerade ihr erstes graues Haar entdeckt habe. Während ich, den Hörer ans rechte Ohr gepresst, in der Diele meiner kleinen Wohnung stand und lauschte, ob das Klingeln meinen Sohn geweckt hatte, beschrieb sie mir ihr graues Haar, seine Länge und wie es sich, nicht nur optisch, sondern auch in der Struktur vom Rest ihres Haares unterschied. »Siebzehn Zentimeter«, sagte sie und dass sie es samt Haarwurzel ausgerissen und sofort ausgemessen habe. »Wie lang braucht ein Haar, um so lang zu werden? Wie konnte ich es übersehen?« Wie nebenbei erwähnte sie auch, dass das Londoner Architekturbüro, für das sie in den vergangenen drei Jahren gearbeitet hatte, Insolvenz angemeldet habe. Janina war seit einem Tag zurück in Deutschland und nun auf dem Weg zum Arbeitsamt. Ich nahm den Hörer vom Ohr und sah auf das Display. Es zeigte die Hamburger Nummer ihrer Eltern, die ich noch aus Schultagen auswendig kannte. »Die Einschläge kommen näher«, sagte Janina. »Es ist eine verdammte Kettenreaktion. Mit einer Bank in New York fängt es an, und man denkt noch, dass das sehr weit weg ist, und dann trifft es dich plötzlich selbst. Wie geht es dir?«
»Leander und ich haben uns getrennt«, sagte ich.
»Scheiße.«
Im Kinderzimmer knackten und knarrten die Gitterstäbe des Bettchens, als mein Sohn sich von einer Seite auf die andere warf und mit den Füßen dagegen donnerte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er gleich aufwachen würde.
»Nach Ostern habe ich ein Vorstellungsgespräch in Berlin«, sagte Janina. »Vielleicht habe ich sogar Zeit, bei dir zu übernachten. Dann können wir reden, in Ordnung?«
»Mach dir keine Sorgen, ich bin okay«, antwortete ich. »Viel Spaß beim Arbeitsamt.«
Sie lachte. »Eine reine Formalität. Krise hin oder her, ich hoffe, dass ich deren Hilfe nicht lange brauche.«
Ich hatte die Kaffeemaschine, die ich schon am Abend vorbereitet hatte, angestellt und war zurück in mein Bett geschlüpft, um unter der Decke zusammengerollt auf das Geräusch seiner Schritte zu warten, das Quietschen der Türklinke, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, um sie herunterzuziehen, und den Knall, mit dem sie wieder hochschnellte und die Tür aufsprang. Dann kam er langsam den Flur entlang, die nackten Füße machten ein saugendes, schmatzendes Geräusch auf dem PVC-Boden, unter dem manchmal auch die alten Holzdielen knackten. Langsam, langsam, als lauschte er in die Stille hinein und überlegte, ob ich schon in der Küche oder im Wohnzimmer war, seinen grünen Stofffrosch in einer Hand, den Schnuller an der bunten Holzkette in der anderen. Ich rief nach ihm, er stieß die Schlafzimmertür, die ich angelehnt gelassen hatte, auf, sie schepperte gegen die Wand, und mein Sohn kletterte mit einem verschlafenen Lächeln und roten Wangen zu mir ins Bett.
Jetzt spielte Adrian im Garten meiner Eltern. Er lief den Hang, der von der Terrasse abwärts auf die von Kiefern und Buchen umstandene Wiese führte, hinauf und hinunter und rief immerzu: »Blau! Blau! Blau!«
»Was sagt er da?«, fragte meine Mutter, die mit einem Tablett in den Händen in der Terrassentür stand und mit der Fußspitze vorsichtig nach der lockeren Steinstufe tastete. Ich stand auf, nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Tisch. In Berlin besuchte Adrian eine Kindertagesstätte, die meiste Zeit ging er dort gerne hin, aber in den letzten Wochen hatte er ein paarmal darum gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen. Am dritten Tag gab ich nach: In Ordnung, heute machen wir einfach mal blau. Seitdem war diese Farbe zu einem Synonym für alles Schöne geworden.
Meine Mutter lächelte schmal, als ich davon erzählte. Zwar hatten sich meine Eltern mittlerweile davon überzeugen lassen, dass der Besuch einer Kindertagesstätte einem Kind nicht unbedingt schaden musste, glücklich waren sie über meine Entscheidung aber immer noch nicht. Meine Mutter ging noch einmal ins Haus, um den Kaffee zu holen, während ich den Tisch deckte. Ich hörte, wie sie die Haustür öffnete und nach meinem Vater rief, der den Rasen im Vorgarten mähte. Im plötzlich entstandenen Luftzug schlug die Terrassentür zu, und Adrian kam kreischend zu mir gelaufen, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schrie: »Laut!« Er hatte sich nicht wirklich erschrocken, er freute sich, für immer mehr Dinge, die um ihn herum geschahen, das richtige Wort zu kennen. Manchmal, wenn ich ihn nicht verstand, stampfte er wütend mit einem Fuß auf. Mir kam es vor, als wartete in seinem Kopf eine ganze Welt darauf, erzählt zu werden, sie drängte in einem Schwall aus ihm heraus, in einem Kauderwelsch, einem Singsang aus Silben, Lauten und einzelnen Worten. Ich fragte mich, wie es war, schon so viele Worte zu kennen, ohne sie selbst artikulieren zu können, so viele Fragen zu haben, ohne in der Lage zu sein, sie zu stellen. Die Terrassentür schwang wieder auf und meine Mutter kam mit der Kaffeekanne heraus. Sie schenkte uns ein.
»Willst du wirklich schon wieder zurückfahren?«, fragte sie. »Bleib doch noch ein bisschen. Wir vermissen euch immer so.«
»Ich kann ja nicht ewig wegbleiben«, sagte ich. »Ich hoffe nur, dass Leander kein Chaos hinterlässt. Ich habe keine Lust, nach Hause zu kommen und erst einmal Ordnung machen zu müssen.«
»Da führt kein Weg dran vorbei«, sagte meine Mutter. »Du glaubst doch nicht, dass er seine Sachen abholt und dann zurückkommt, um die Wohnung wieder herzurichten, um die Lücken zu füllen. Was er vorher nicht geschafft hat, wird er auch nach eurer Trennung nicht tun. Hast du dir schon überlegt, was du jetzt aus dem Schlafzimmer machst?«
Im Schlafzimmer hatten die meisten Sachen von Leander gestanden. Nach seinem Auszug aus unserer gemeinsamen Wohnung musste der Raum leer und wie ein Provisorium wirken.
»Hat er dir wenigstens das Bett gelassen?«, fragte meine Mutter.
»Ich wünschte, er würde es mitnehmen«, sagte ich. »Was soll ich mit dem Doppelbett?«
Bis mein Vater kam, gingen meine Mutter und ich einer unserer Lieblingsbeschäftigungen nach, räumten in Gedanken die Möbel in meiner Wohnung um, überlegten, was man neu anschaffen müsste und wie viele Kosten damit verbunden wären. Meine Mutter kannte den IKEA-Katalog beinahe auswendig und stellte mir einen gemeinsamen Einkaufsnachmittag in Aussicht, wenn sie mich das nächste Mal in Berlin besuchen käme. »Du wirst ja bald dreißig«, sagte sie, »da kaufen wir dir etwas Schönes. So ein Neuanfang muss auch optisch vollzogen werden, man darf ihn nicht nur denken, man muss ihn auch fühlen und sich hineinlegen können.«
Sie lachte und gab mir Milch in den Kaffee, der mittlerweile schon fast kalt geworden war. »Blau, blau, blau!«, sang Adrian und schaufelte sattbraune Blumenerde aus den Rosenbeeten auf die Terrasse.
»Er hat noch nie etwas vom Blues gehört«, sagte ich und bereute es im gleichen Moment, denn meine Mutter legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Ich schob sie freundlich zur Seite. »Es geht mir gut«, sagte ich. »Wirklich.«
Ich sah, dass sie sich Mühe gab, mir zu glauben. »Ihr wart lange zusammen«, sagte sie. »Er ist Adrians Vater.«
»Es ist vorbei.«
Und so war es. Ich habe mich in meinem Leben niemals leicht von Menschen oder Dingen getrennt, auf meinen Fensterbänken drängen sich gerahmte Fotos, in den Regalen stapelt sich ein Album über dem anderen, aus meinem Telefonbuch streiche ich nie eine Nummer oder Adresse aus, die sich ändert, sondern versehe den Namen mit einem Sternchen und füge die neue Adresse auf einer anderen Seite hinzu. Freunden, die wie Janina in den vergangenen Jahren Dutzende Male umgezogen sind, habe ich auf diese Weise einen kleinen Lebenslauf geschrieben. Städte, Straßen, Arbeitgeber, Nummern. Es gefällt mir, dass sich viele Zahlen oft wie zufällig wiederholen und Telefonnummern bei einer Person immer eine bestimmte Ziffernfolge enthalten, bei meinem Bruder ist es zum Beispiel die 54. Janina hat immer die Hausnummer zwölf oder sieben, nur einmal ist ihr eine 83 dazwischengerutscht, eine kurze, unglückliche Episode mit einem Mann, aus dessen Wohnung sie schon wieder auszog, bevor sie all ihre Umzugskartons ausgepackt hatte. Auch wenn so etwas nichts anderes als reiner Zufall sein sollte, gab es mir doch ein Gefühl von Zusammenhang und Kontinuität, das die Trennung von Leander nicht stören, sondern wiederherstellen sollte. Wenn der Strom ausfällt, kann man es sich im Schein einer Kerze gemütlich machen. Der Wackelkontakt einer Lampe jedoch oder ein tropfender Wasserhahn können einen in den Wahnsinn treiben. Es funktionierte nicht mehr zwischen uns, aber das, was gewesen war, flackerte immer wieder kurz auf. So war es seit Adrians Geburt gewesen. Nun wollte ich den Strom abstellen. Eine alles durchdringende Dunkelheit schien mir leichter erträglich als ein Licht, auf das ich mich nicht verlassen konnte. Ich muss immer zumindest ungefähr wissen, womit ich rechnen kann.
Nach dem Kaffeetrinken half mir mein Vater, das Gepäck in meinen alten Peugeot zu verstauen. Kinderwagen, Dreirad, Koffer und Taschen mussten klug übereinandergesetzt und ineinander verkeilt werden. Mein Vater hatte auch Reifendruck, Ölstand und die Scheibenwischanlage kontrolliert, getankt und ein wenig Öl nachgefüllt. »Vergiss nicht, dass du die Sommerreifen bald aufziehen musst«, ermahnte er mich, »und wenn sie abgefahren sind und du kein Geld hast, neue zu kaufen, ruf bitte an. Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
Ich umarmte ihn und meine Mutter, die mit meinem Sohn auf dem Arm aus dem Haus kam, und hatte das Gefühl, dass sie sich mehr Sorgen machten als ich. Dann standen sie in der Auffahrt und winkten uns nach. Ich stellte das Radio ein, drehte den Ton leiser, noch bevor ich die Autobahn erreicht hatte, war Adrian eingeschlafen. Ich sah ihn im Rückspiegel in seinem Kindersitz sitzen, das weiche Kinn auf der Brust, die Wimpern ein dunkler Schatten auf der rosigen Haut. Wenn er so schlief, erinnerte er mich immer ein wenig an einen kleinen Buddha. Im letzten Monat war er noch einmal ein ganzes Stück gewachsen, hatte mit seinen zwei Jahren die Größe eines Drei- bis Vierjährigen erreicht, aber immer noch den rundlichen Körper eines gutgenährten, glücklichen Babys. Ich war nicht sicher, wie viel er von dem, was zwischen seinen Eltern vorging, verstand. Aber ich hatte immer den Eindruck gehabt, dass er die Spannungen zwischen uns sehr wohl mitbekam, dass er unruhiger schlief, wenn er uns am Abend streiten gehört hatte und besonders anhänglich wurde, wenn sein Vater türenschlagend und schreiend aus der Wohnung gestürmt war. Ich stellte es mir so vor, dass er alles sah, aber keine Worte dafür hatte. Etwas Namenloses wuchs in ihm an und drängte dann in einem Silbensingsang aus ihm heraus. Er fand seinen Weg, sich auszudrücken und mitzuteilen. Und ich gab mir Mühe, ihn zu verstehen. Auch Leander tat das. So sehr wir uns auch auseinandergelebt hatten, seinen Sohn liebte er zweifellos.
Ich bin nicht sicher, ob – und wenn ja, inwieweit – meine Beziehung zu Leander mit den Ereignissen der letzten Wochen in einem Zusammenhang steht. Für mich ist das eine mit dem anderen auf eine merkwürdige Weise verquickt, aber ich will nicht verschweigen, dass ich allein meinem Gefühl folge, wenn ich hier, wenn auch nur kurz, von Leander und mir berichten werde. Es ist nicht leicht, ihn zu beschreiben. Vielleicht tut man es am besten, wenn man sagt, dass er ein Mensch ist, der die Angst kennt, ohne ängstlich zu sein. Er duckte sich nicht, sondern machte ihretwegen einen besonders aufrechten Eindruck. Er hielt die Schultern immer gestrafft und reckte sein spitzes Kinn angriffslustig nach vorn. Er redete viel und konnte Stille nur schwer ertragen. Wer schweigt, ist schuldig, wer spricht, unternimmt wenigstens einen Versuch. Er versuchte viel. Als ich ihn das erste Mal sah, wetterte er gegen die Amerikaner, die kurz davor waren, in den Irak einzumarschieren. Janina und ich waren zufällig unter die Demonstranten geraten. Es war eine merkwürdige Zeit, ein Strömen und Fließen, niemand schien so recht zu wissen, wohin, und ich wusste es überhaupt nicht. Leanders Eifer gefiel mir. Es schien etwas in ihm gebündelt zu sein, ein heilsamer Zorn, ein klarer Verstand, ein kräftiger Rücken, eine Stimme, die, von keinem Mikrofon verstärkt, klar und deutlich über den Platz drang. Um mich herum kämpften alle ständig: Der Kampf um einen festen Arbeitsvertrag oder auch nur einen Praktikumsplatz, der Kampf mit der ersten Steuererklärung, der Kampf um Unabhängigkeit, und während jeder für sich allein kämpfte, stritt Leander für eine bessere Welt. Auf seinem Schreibtisch standen die gesammelten Werke von Karl Marx, daneben eine gerahmte Fotografie Willy Brandts, die Sessel in seinem Zimmer waren mit roten Sternen bedruckt, und auf einem Nierentischchen lag eine aufgeklappte Holzschachtel mit Zigarren aus Kuba. Er war ohne Vater aufgewachsen und hatte nun mehrere neue, alte Väter gefunden. Oskar Lafontaine verehrte er sehr, mich nannte er reaktionär. Ein Wort, das aus der Mottenkiste meiner Eltern zu stammen schien. Mein politisches Bewusstsein, warf Leander mir vor, beschränke sich auf den Versuch, die Privilegien der herrschenden Klasse erhalten zu wollen. Und das, obwohl ich mich mit meinem abgebrochenen Studium, einem Hilfsjob in der Bibliothek und einem kleinen Roman, der kaum Aufmerksamkeit erregt hatte, wohl kaum selbst zu den Herrschenden zählen oder auch nur von ihnen profitieren konnte. In klaren Momenten sah ich die Inszenierung, die in seinen Reden, seinen Auftritten, seiner Wohnung und selbst den regelmäßigen Muschelessen steckte, zu denen er politische Weggefährten, Kommilitonen und Mitstreiter in seine enge, mit einem Kohleofen beheizte Küche einlud. Ich sah seinen Eifer und seinen kaum verhohlenen Ehrgeiz genauso wie seine Unfähigkeit, Freundschaften zu schließen. Es gab Gefährten und Gegner, Unbelehrbare und solche, die es noch zu überzeugen galt. Und es gab mich. Während meine Freunde und Freundinnen die Universität verließen, auf ihre ersten Arbeitsverträge anstießen und ihre Karrieren planten, rauchte ich schwarzen Tabak und Zigarren aus Kuba und stritt mit Leander bis in die Nacht hinein oder bis die alte Dame, die unter ihm wohnte, mit dem Besenstiel gegen die Decke stieß. Gemeinsam versuchten Leander und ich es anders zu machen und schafften es, solange sein Bafög und das Geld, das ich dazuverdiente, uns zum Leben reichten. Am Ende dreht sich alles ums Geld. Und wenn es ums Geld geht, scheint es nicht schwer, sich das Scheitern von Idealen und Überzeugungen einzugestehen.
Nach seinem Studium arbeitete Leander als freier Journalist. Er schrieb nur über Dinge, die ihn interessierten und lehnte jeden Auftrag ab, der mit seinen Überzeugungen kollidierte. Umgekehrt stürzte er sich für etwas, das seine Neugierde weckte, in umfangreiche Recherchen und machte sich eine solche Arbeit damit, dass die Einnahmen die Ausgaben bald nicht mehr deckten. Was er schrieb, kam gut an, mancher Redakteur nannte seinen Schreibstil brillant, aber die Zeilenhonorare waren so niedrig, dass selbst Leander irgendwann das Gefühl bekam, seine Arbeit würde nicht genug Wertschätzung erfahren. Wir diskutierten nächtelang, ob Worte ihren Wert und ihr Gewicht dadurch erhielten, wie viel Geld man für sie bekam, oder dadurch, wie viel man als Schreibender für sie zu zahlen bereit war. Welche Opfer konnten wir bringen, welcher Preis war zu hoch, auf welche Wirkung waren wir aus? Und hatten wir tatsächlich das Recht, mit anderen Maßstäben als mit denen zu messen, mit denen alle anderen maßen? Die Umstände machten es leicht, eine Entscheidung hinauszuzögern. Leanders Berufsstart war in eine Zeit gefallen, in der allen Zeitungen sowohl Abonnenten als auch Anzeigenkunden wegbrachen. Viele Journalisten wurden entlassen, Volontäre nicht übernommen, unbefristete Arbeitsverträge gab es fast gar nicht mehr. Wir machten einfach weiter. Rauchten, redeten, schrieben, manchmal reisten wir auch, am Monatsende ging uns regelmäßig das Geld aus, dann rationierten wir die Zigaretten, luden uns bei Freunden zum Essen ein oder ließen im »Schlauch« anschreiben, einer kleinen Imbissbude, in der es Ananaslimonade oder Bier zu Schaschlik, Currywurst und Kartoffelsalat gab. Adrians Geburt änderte alles. Während ich in den Wehen lag, bekam Leander einen Anruf aus Berlin. Ein amerikanischer Medienkonzern hatte trotz der Krise eine neue Zeitschrift auf den Markt gebracht, ein glänzendes Magazin, für das jetzt händeringend Reporter und Redakteure gesucht wurden. Wenn auch erst einmal ohne einen festen Vertrag. Der Tagessatz, den sie boten, erschien uns schwindelerregend hoch. Leander verließ das Krankenhaus für ein paar Stunden, holte mein Sparbuch aus unserer Wohnung, hob mittels einer Vollmacht unser letztes Geld ab und kleidete sich bei einem Herrenausstatter im Hamburger Bahnhofsviertel neu ein. Es war ein merkwürdiger, altertümlicher Laden aus den fünfziger Jahren, und während ich am Bett unseres neugeborenen Sohnes saß, stellte ich mir vor, wie Leander durch die verwinkelten, mit Jacketts, Hemden, Hosen und Mänteln vollgestopften Zimmerchen ging, treppauf, treppab, durch schmale Flure, deren hintere Enden mit ausgeblichenen Vorhängen als Umkleidekabinen abgeteilt waren. Ein merkwürdiges und zugleich anheimelndes Kabinett, durch das alte Herren in eleganten Anzügen wie Schatten glitten, an Worten sparten, und wenn sie doch sprachen, klang es, als hätten sie einen Fisch im Mund und wollten ihren Fang mit niemandem teilen. Leander und ich lebten schon lange in Hamburg, die Stadt war unser Hafen geworden, den wir auch dann nicht verlassen hatten, als ein Freund nach dem anderen, Professoren, Kommilitonen, ja sogar unser Lieblingscafé samt Besitzer, Bedienungen und Inventar nach Berlin gezogen waren. Jetzt machte sich auch Leander auf den Weg dorthin, im neuen Anzug, mit weißem Hemd und einem klassisch geschnittenen Mantel aus dunkelblauem, fast schwarzem Kaschmir. Sein Vorstellungsgespräch fand in einem kleinen Palast Unter den Linden statt, nicht weit von der Friedrichstraße entfernt. Ich schaltete mein Handy alle zehn Minuten ein, um zu sehen, ob Leander schon eine Nachricht geschickt hatte. Als wir schließlich miteinander sprachen, sagte er in seinem gewohnt nüchternen, leicht ironischen Ton, dass es angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, die in Berlin herrsche, beinahe schon an ein Wunder grenze, dort in Brot und Lohn zu kommen. Aber er habe ja immer an Wunder geglaubt.