Lydia Cacho
Sklaverei
Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel
Sachbuch
Aus dem Spanischen von Jürgen Neubauer
Fischer e-books
Lydia Cacho, geboren 1963 in Mexiko-City, ist Journalistin und Menschenrechtlerin. Nach der Veröffentlichung ihres ersten Buches 2005, in dem sie einen überaus mächtigen Pädophilen-Ring in Mexiko aufdeckt, wurde sie verhaftet, gefoltert und einem jahrelangen Gerichtsverfahren unterzogen, in dem sie sich gegen die Klage der Diffarmierung behaupten musste. 2007 wurde sie freigesprochen, lebt seitdem aber unter ständiger Bedrohung in Mexiko. Für ihre investigativen Arbeiten wurde Lydia Cacho mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem PEN Canada One Humanity Award.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Noch nie in der Menschheitsgeschichte war Sklaverei und Menschenhandel so verbreitet. Mit der modernen Sklaverei wird mehr Geld verdient als mit dem Drogenhandel. Unbeirrt kämpft die Menschrechtsaktivistin Lydia Cacho gegen den Kinder- und Sklavenhandel: Von Japan über Kambodscha und Europa bis nach Nord- und Südamerika ist sie undercover den Menschenhändlern auf der Spur.
Lydia Cacho analysiert die weltweit verbreitete Kultur des Sexismus, weist eindrücklich nach, wie sexuelle Gewalt in diversen Kriegen gezielt als Waffe eingesetzt wird und welche neue Formen der Ausbeutung durch das Internet entstanden sind.
Ein aufregendes Buch über eines der schockierendsten Themen unserer Zeit - mit einem Vorwort von Carolin Emcke.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Die spanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
›Esclavas del poder. Un viaje al corazón de la trata sexual de mujeres y niñas en el mundo‹
im Verlag Random House Mondadori, S. A. de C. V.
© 2010 Lydia Cacho
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401397-8
Eine genaue Definition des Begriffs finden Sie im Anhang.
»Trafficking and Forced Prostitution of Palestinian Women and Girls: Forms of Modern Day Slavery«. Sawa/Unifem, Juni 2008.
Wenn die Yakuza einen Fehler machen, müssen sie ihren Boss um Vergebung bitten und sich als Zeichen ihrer Treue einen kleinen Finger abschneiden. Nur dann wird ihnen vergeben.
In japanischen Bordellen und Massagesalons baden sich die Männer vor dem Geschlechtsverkehr mit den Prostituierten.
Agir pour les Femmes en Situation Précaire, zu Deutsch etwa: Handeln für Frauen in prekärer Situation.
Nach dem Militärputsch des Jahres 1988 benannten die neuen Machthaber das Land in Myanmar um. Die Gegner der Militärdiktatur akzeptieren diesen neuen Namen nicht und nennen ihr Land nach wie vor Birma, während die UNO und die Europäische Union die neue Bezeichnung übernommen haben. Um Verwirrungen zu vermeiden, verwende ich in diesem Buch den Namen Birma.
Siehe »Licence to Rape«, Shan Women’s Action Network (SWAN) und Shan Human Rights Foundation (SHRF). www.shanwomen.org.
Siehe Herbert Bix, Hirohito and the Making of Modern Japan. New York: Harper Perennial 2001.
Siehe Gay J. McDougall, »Contemporary Forms of Slavery«, Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, 22. Juni 1998.
Urvashi Butalia, Register von Anis Kidwai in Delhi, 1997.
Justin Hall, »Prostitution in Thailand and Southeast Asia« (1994). Siehe http://www.links.net/vita/swat/course/prosthai.html.
Siehe Debra McNutt, »Military Prostitution and the Iraq Occupation« (2007). http://www.counterpunch.org/mcnutt07112007.html.
Siehe Kenneth Reinicke, »Los hombres frente al tercer milenio«. Beitrag zur Tagung Los hombres ante el nuevo orden, Bilbao 2002.
Kathryn Farr, Sex Trafficking: The Global Market in Women and Children. New York: Worth 2005.
Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf den Artikel von Jorge Anaya Ayala u.a., »Politicas contra el lavado de dinero« in: Boletín mexicano de derecho comparado. Siehe http://www.juridicas.unam.mx/publica/rev/boletin/cont/121/art/art2.htm.
Für seine Untersuchung erhielt der Autor im Jahr 2008 den Sor-Juana-Inés-de-la-Cruz-Preis.
Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft. Frankfurt: Suhrkamp 2005.
Siehe http://www.unifem.org/gender_issues
In einer nichtrepräsentativen Umfrage unter 430 Frauen und 312 Männern.
Siehe Karen J. Hossfeld, »Hiring Immigrant Women: Silicon Valley's ›Simple Formula‹«. In: Maxine Baca Zinn und Bonnie T. Dill (Hrsg.): Women of Colour in U.S. Society. Philadelphia: Temple University Press 1994.
Jorge Castañeda, »Las migraciones: El gran excluido de la globalización«. In: Felipe González (Hrsg.), Iberoamérica 2020. Retos ante la crisis. Madrid: Fundación Carolina und Siglo XXI, 2009.
www.saubere-kleidung.de
Siehe www.amecopress.net/spip.php?article2576.
Fina Sanz, Psicoerotismo feminino y masculino para unas relaciones placenteras, autónomas y justas. Barcelona: Kairos, 2003.
Dorchen Leidholdt und Janice G. Raymond (Hrsg.), The Sexual Liberals and the Attack on Feminism. New York: Teachers College Press, 1990.
Eine Darstellung der verschiedenen Polizeipraktiken finden Sie auf meiner Website www.lydiacacho.net unter der Rubrik »Esclavas del poder«.
Einen Überblick über Organisationen in aller Welt finden Sie im Internet auf der Seite www.lydiacacho.net unter der Rubrik »Esclavas del Poder«.
Nach Zahlen des Protection Project 2009 der Johns Hopkins University sowie Recherchen der Autorin.
Eine Art muslimische Einsiedelei in abgelegenen Regionen, die gewisse Ähnlichkeit mit den Klausen christlicher Einsiedlermönche hat.
Diese Definition basiert auf den Definitionen des Arbeitskreises Maßnahmen zur Geldwäschebekämpfung, der 1989 von den G7-Staaten gegründet wurde, um die Anstrengungen im Kampf gegen die Geldwäsche zu bündeln.
Aus dem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (15. November 2000).
Siehe auch das Training manual to fight trafficking in children for labour, sexual and other forms of exploitation, herausgegeben von UNICEF und der Internationalen Arbeitsorganisation. Siehe www.unicef.org/protection/index_exploitation.html.
Für Jorge, für seine bedingungslose Liebe
Die Situation ist eine ganz einfache: Ohne Nachfrage gäbe es keine Prostitution. Die Prostitution hat nichts mit der weib-lichen Sexualität zu tun, sie ist eine rein männliche Erfindung. Wenn die Männer in aller Welt keinen käuflichen Sex nachfragen würden, dann würden nicht Millionen von Frauen und Mädchen verschleppt, misshandelt und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten.
Victor Malarek, ›The Johns: Sex for Sale and the Men Who Buy It‹
Gewalt ist nicht gut, denn sie tut weh, und ich muss weinen.
Yerena, Überlebende des Sklavenhandels, 10 Jahre alt
von Carolin Emcke
Man hat sie bedroht und verklagt, entführt und misshandelt. Lydia Cacho hätte gute Gründe gehabt, ihre lebensgefährlichen Recherchen über Kindesmisshandlung, sexuelle Gewalt und Menschenhandel anderen zu überlassen. Sie hätte zufrieden sein können mit dem Heim für sexuell ausgebeutete Frauen und Kinder, das sie im Jahr 2000 gegründet hat. Sie hätte aufgeben können, als sie wenige Jahre später selbst zum Opfer der Gewalt wurde, weil ihre Arbeit die illegalen Geschäfte der Sex-Händler und ihrer politischen Schattenmänner zu stören begann. Jeder hätte es verstanden, wenn ihr nach all dem, was sie schon erlebt hat, die Kraft ausgegangen wäre oder der Mut.
Seit der Veröffentlichung ihres Buches »Los Demonios del Edén (»Die Dämonen im Garten Eden«) im Jahr 2005, über die Verwicklung des bekannten Unternehmers Jean Succar Kuri in ein Netzwerk von Kinderpornographie und -prostitution, musste Lydia Cacho nicht nur ihre Arbeit, sondern ihr Leben verteidigen. Jahrelang hatte sie als investigative Journalistin die Aussagen mitunter minderjähriger Opfer sexueller Ausbeutung gesammelt und zudem Hinweise auf die Verstrickung korrupter Politiker und erfolgreicher Unternehmer in die mafiosen Geschäfte der Sex-Industrie gefunden. Doch anstatt Unterstützung für ihre Recherchen von den mexikanischen Ermittlungsbehörden oder der Polizei zu bekommen, wurde Cacho mit Verleumdungsklagen überzogen und im Dezember 2005 von einer Gruppe von Polizeibeamten entführt und gefoltert.
Zwar konnte Cacho nach Zahlung einer Kaution wieder freikommen, aber zwei Monate später wurde durch die Veröffentlichung von Telefonmitschnitten deutlich, dass Mario Marín Torres, der Gouverneur des Bundesstaates Puebla, selbst die Verhaftung und Vergewaltigung von Lydia Cacho als »Gefallen« für einige zwielichtige Freunde erörtert hatte. Nach anfänglichen Dementis hat Marín inzwischen zugegeben, die Stimme auf den Tonbändern »könnte seine sein«. Lydia Cacho reagierte auf diese Einschüchterungsversuche nicht mit Rückzug, sondern sie zeigte ihrerseits den Gouverneur, einen Staatsanwalt und einen Richter wegen Korruption und versuchter Vergewaltigung in Haft an. Der »Caso Cacho« hat das Abgeordnetenhaus, das Verfassungsgericht und schließlich den damaligen Staatspräsidenten Vicente Fox beschäftigt.
Sie hat sich damit nicht begnügt. Lydia Cacho hätte aufhören können, sie hätte sich anderen Themen zuwenden können, anderen sozialen oder politischen Konflikten in Mexiko. Stattdessen hat Cacho ihre Recherchen über die sexuelle Ausbeutung und Misshandlung von Frauen und Kindern nur mehr intensiviert und systematisiert. Was sie im Lokalen als kriminelles Netz in ihrem Wohnort Cancún aufgezeigt hatte: die widerliche Allianz aus kleinen Zuhältern, windigen Unternehmern und korrupten Politikern, die Verbindungslinien von Schleusern, Schmugglern und Behörden, die den Handel mit der menschlichen Ware erst möglich machten, das hat sie nun in einem nahezu wahnwitzigen Unterfangen weltweit nachgezeichnet und analysiert. Was in der politischen Landschaft ihrer mexikanischen Heimat schon bedenklich war, nimmt sich im globalen Maßstab der internationalen Mafia aus Menschenhändlern und Pornographie-Ringen nicht minder lebensgefährlich aus.
In jahrelanger Recherche hat Lydia Cacho die internationalen Netzwerke der Zwangsprostitution und Ausbeutung von Kindern untersucht. Cachos Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt und Ausbeutung von Frauen und Kindern kennt, im wörtlichen Sinn, keine Grenzen. Hier schreibt keine mexikanische Feministin über die Verbrechen an Kindern und Mädchen in ihrer Heimat, hier schreibt eine universale Menschenrechtlerin über eines der geläufigsten Verbrechen, das sich weltweit unter dem Deckmantel der sozialen Gewöhnung und der politischen Gleichgültigkeit ausgebreitet hat. Sie hat mit verzweifelten Opfern gesprochen, mit Frauen, die verschleppt und vergewaltigt wurden, mit Prostituierten, Geishas, Stripperinnen, Mädchen, Kindern, die von Zuhältern so bearbeitet wurden, dass sie glaubten, sie ließen sich freiwillig missbrauchen, sie hat ängstliche Polizisten getroffen, die sich nicht zu sprechen trauten, hoffnungslose Beamte, die in einem Sumpf aus Korruption und Komplizität zu ertrinken drohen, und sie lässt Zuhälter zu Wort kommen, die von der Kunst der Lüge und der Manipulation sprechen, als handele es sich um ein besonders ehrwürdiges Handwerk. Lydia Cachos Buch versammelt sie alle, alle Beteiligten, Täter und Opfer, alle menschlichen Figuren, um die Bedingungen der Möglichkeit des globalen Geschäfts mit der sexuellen Gewalt und Ausbeutung zu erläutern. Doch Lydia Cacho beobachtet nicht nur, sie deckt nicht nur auf, was sonst im Verborgenen blieb, sie analysiert, sie argumentiert, sie begründet, warum hier ein globales Verbrechen vor unser aller Augen statthat, das endlich geahndet gehört.
Der Text eint in einzigartiger Weise verschiedene Genres der Argumentation: Interview, Reportage, Essay. Cacho verbindet alle diese Erzählformen zu einem erschütternden Kaleidoskop. Das Material ihrer Reisen: die Stimmen der Betroffenen, individuelle Schicksale aus der Türkei, aus Kambodscha, Israel und Palästina, Japan, Birma und Argentinien koppelt Cacho mit Reportage-Momenten, Szenen, in denen sie die eigene Rolle und das eigene Vorgehen transparent macht. Die Informanten werden sichtbar, die düsteren Orte, an die Cacho sich begeben musste, um ihre Quellen zu treffen, all das stinkende, dreckige Elend, das mit einem Versprechen vom großen Glück in einer fernen Welt begann, all die verschlossenen Türen und exklusiven Clubs, die zahllose Frauen in Gefangenschaft halten, all das scheint auf in diesen Passagen. Dazwischen gibt es auch extrem komische Szenen: wie Cacho unbeholfen mit den Stripperinnen eines Lokals an der Stange herumtanzen muss, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen; all das erzählt Cacho mit ironischer Leichtigkeit, als wäre die ganze Situation nicht auch ungeheuer gefährlich. Die einzelnen Begegnungen situiert sie zudem in offiziellen Statistiken und Erhebungen, Analysen der Gesetze in dem jeweiligen Land, in dem sie sich bewegt, die den individuellen Stimmen einen politisch-sozialen Resonanzraum geben.
Lydia Cacho lässt sich von der Materialfülle, die sie in Jahren zusammengetragen hat, nicht überwältigen, sie strukturiert deswegen ihr Buch in zwei große Teile. Sie gliedert das globale Geschäft mit sexueller Ausbeutung und Menschenhandel einmal territorial und zum anderen systematisch. Sie kombiniert Anschauung und Analyse, empirische Beobachtung/Fakten und systematische Reflexion. Und es ist dieser zweite, systematische Teil, der in ungekannter analytischer Klarheit alle Quellen, ökonomische, psychosoziale und politisch-juristische, aus denen sich die sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder speist, vorführt und der alle rhetorischen Strategien der Verharmlosung der Verbrechen gegen Frauen und Mädchen entlarvt.
Cacho verweist auf die unterschiedlichen Gründe für die instabile Situation von Frauen: Eindrucksvoll argumentiert sie, wie einerseits die in Konfliktregionen oder Kriegsgebieten vorherrschende Gesetzlosigkeit Frauen besonders leicht zu Opfern von Menschenhändlern macht, wie die anarchischen Zustände in Krisengebieten, die schwachen Kontrollen an Grenzübergängen den Schmugglern das illegale Geschäft mit der Zwangsprostitution erleichtern. Andererseits beschreibt Cacho aber auch eindrucksvoll das komplexe Geflecht aus gesetzlichen Regelungen zur Eindämmung der Zwangsprostitution, die paradoxerweise nur mehr das ökonomische Interesse an sexueller Ausbeutung steigern, weil die Illegalität des Menschenhandels die Profite der Sex-Industrie steigern.
Es ist, als ob Cacho sich jeden Einwand, jeden Zweifel vorab überlegt hätte. Jede rhetorische Volte der Verharmlosung, all die diskursiven Strategien, die die Misshandlung von Frauen als sexuelle Befreiung, als selbstgewählt, als modern verkaufen wollen, all das erwähnt und zerlegt Cacho ruhig und genau. Sie erzählt von Prostitutionsnetzwerken, die gleichzeitig Kampagnen für misshandelte Frauen finanzieren, um sich so den Anschein der moralischen Gesittung zu geben. Sie berichtet vom taktischen Geschick der Menschenhändler, die in ihren Bordellen darauf achten, dass Frauen, die sich als professionelle Prostituierte betrachten, mit Opfern sexueller Gewalt gemischt werden, um auf diese Weise das Verbrechen hinter der legalen Prostitution zu verdecken. Sie kritisiert auch jene Mythen und Klischees, die mit Begriffen des Bösen operieren, um Zuhälter oder Menschenhändler zu dämonisieren. Für Cacho liegt vielmehr gerade in dem sympathischen, freundlichen Gebahren vieler Zuhälter, in ihrem Charme und ihrer Attraktivität, die Gefahr; gerade in der Gleichzeitigkeit von Herzlichkeit und Grausamkeit speist sich die Macht der mafiosen Strukturen, die allabendlich in Filmen und Serien nur mehr belächelt werden.
Lydia Cacho steht in der besten Tradition der großen Aufklärer: Sie argumentiert kritisch gegen den Aberglauben von der selbstbestimmten Wahl von Prostituierten, sie verlässt sich nicht auf fremde Urteile, sie sucht nach Gründen, sie prüft, sie zweifelt, an anderen Überzeugungen und an den eigenen, sie lässt keine Wut zu, keine vorschnellen Ressentiments, sie macht es sich nicht leicht, sondern sie will wissen, worüber sie spricht, und sie will den Schleier der Gleichgültigkeit, der die Misshandlung und Ausbeutung von Frauen und Kindern deckt, zerreißen.
Der Mut der Lydia Cacho besteht nicht nur darin, den Drohungen der Handlanger der Politiker, Polizisten, Zuhälter und Menschenhändler, über deren Verbrechen sie schreibt, zu trotzen. Ihr Mut besteht darin, sich den trostlosen Geschichten der vergewaltigten Mädchen und Kinder auszusetzen, ihr Mut besteht darin, weiter zuzuhören, nicht aufzuhören mit ihrer Arbeit, obgleich das Elend in der globalisierten Welt der sexuellen Ausbeutung und Sklaverei, über das Lydia Cacho schreibt, unerträglich ist.
Als ich sieben Jahre alt war, warnte meine Mutter meine Schwester und mich, wenn wir auf die Straße gingen, sollten wir der Kinderfängerin aus dem Weg gehen. Die Kinderfängerin war eine alte Frau, von der es in der Nachbarschaft hieß, sie entführe Kinder: Sie locke sie mit Süßigkeiten in ihr Haus und verkaufe sie dann an Fremde. Damals kam mir die Geschichte wie ein Schauermärchen von Charles Dickens vor. Doch vier Jahrzehnte nach den Lektionen meiner Kindheit musste ich erfahren, dass dies keineswegs der Fall war und dass sich die Verschleppung von Frauen und Kindern zu einem der gravierendsten Probleme des 21. Jahrhunderts entwickelt hatte. Für die meisten Menschen klingen Worte wie »Frauen-« oder »Mädchenhandel« wie ein fernes Echo aus grauer Vorzeit, als Piraten junge Frauen verschleppten und in fernen Ländern in Bordelle verkauften. Wir haben uns lange dem Glauben hingegeben, dass die Modernisierung und die globalisierte Marktwirtschaft mit der Sklaverei aufräumen würden und dass die Kinderprostitution, die sich noch in einigen dunklen Ecken der »unterentwickelten Welt« hielt, beim bloßen Kontakt mit den Gesetzen und der Zivilisation des Westens verschwinden würde. Die Recherchen, die ich für dieses Buch angestellt habe, belegen das genaue Gegenteil. Wir beobachten heute weltweit ein explosionsartiges Wachstum von kriminellen Netzwerken, die Mädchen und Frauen verschleppen, verkaufen und versklaven. Die Kräfte, die angeblich die Sklaverei beseitigen sollten, haben ihr in Wirklichkeit zu einer beispiellosen Expansion verholfen. Wir leben heute in einer Kultur, in der die Verschleppung, der Handel, der Missbrauch und die Zwangsprostitution von Mädchen und jungen Frauen zunehmend normal werden. Diese Kultur fördert die Verdinglichung des Menschen und tut so, als handele es sich dabei um eine Errungenschaft der Freiheit und des Fortschritts. Angesichts ihrer Versklavung durch eine unmenschliche Marktwirtschaft, die man der Menschheit aufzwingt und als unvermeidliches Schicksal verkauft, wählen Millionen von Frauen die Prostitution als geringeres Übel und ergeben sich in die Ausbeutung, die Misshandlungen und die Macht des organisierten Verbrechens.
Mafiosi, Politiker, Militärs, Unternehmer, Industrielle, religiöse Führer, Bankiers, Polizeibeamte, Richter, Auftragsmörder und ganz gewöhnliche Menschen – sie alle bilden das gewaltige Netzwerk des internationalen Verbrechens. Der Unterschied zwischen Einzeltätern beziehungsweise regional agierenden Banden einerseits und den globalisierten Verbrechersyndikaten andererseits liegt in der Strategie, den Methoden und der Vermarktung. Die internationalen Kartelle verdanken ihre Macht zweifelsohne der Tatsache, dass sie sich, egal wo sie aktiv werden, über den Weg der Korruption erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss verschaffen können. Der Kitt dieses Netzwerks ist die sexuelle Befriedigung, über die alle Beteiligten an den Früchten der Zwangsprostitution teilhaben: Die einen schaffen den Sklavenmarkt, andere beschützen ihn, und wieder andere fragen die menschliche Ware nach.
Das organisierte Verbrechen ist eine illegale Unternehmung mit dem Zweck der Gewinnerzielung. Die Akteure werden wechselweise als Gangsterbanden, Mafia, Syndikate oder Kartelle bezeichnet. Sie gehören der sogenannten Schattenwirtschaft an, die zwar keine Steuern entrichtet, sich aber mit den Hütern der staatlichen Ordnung arrangieren muss, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Dieser Pakt zwischen der staatlichen Macht und dem organisierten Verbrechen betrifft vor allem den Handel mit Waffen, Drogen und Menschen. Die Aktivitäten dieser kriminellen Organisationen bestehen in erster Linie aus Raub, Betrug und dem illegalen Handel mit Waren, Dienstleistungen und Menschen.
Im 21. Jahrhundert lässt sich ein gewaltiger Aufschwung und eine Professionalisierung des organisierten Verbrechens beobachten. Unter Ausnutzung der Spielregeln der kapitalistischen Marktwirtschaft hat sich die Mafia neue Wege eröffnet, um in beispiellosem Umfang Waren und Dienstleistungen zwischen Ländern und Kontinenten zu verschieben. Die Mafiosi machen ihre Geschäfte mit der Gewalt und mit dem Schutz vor Gewalt. Zweck ihrer Unternehmungen sind Geld, Lust und Macht.
Der Menschenhandel[1], der in 175 Ländern der Erde dokumentiert ist, legt die Schwächen des globalisierten Kapitalismus genauso bloß wie die Ungleichheiten, die durch die wirtschaftlichen Spielregeln der Mächtigen entstehen. Vor allem aber zeigt er eindrucksvoll, inwieweit sich die menschliche Grausamkeit inzwischen in der Kultur festgesetzt hat und als normal angesehen wird. Jedes Jahr werden weltweit rund 1,4 Millionen Menschen, überwiegend Frauen und Mädchen, in die Sexsklaverei gezwungen. Sie werden gekauft, verkauft und weiterverkauft wie Rohstoffe der Industrie, wie Trophäen, wie Opfergaben oder wie gesellschaftlicher Müll.
Während meiner fünfjährigen Recherche habe ich die Operationen der kleinen und großen internationalen Verbrechersyndikate verfolgt und Zeugnisse von Überlebenden der kommerziellen sexuellen Ausbeutung gesammelt. Auf meinen Reisen bin ich auch Männern, Frauen und Kindern begegnet, die Opfer der Arbeitssklaverei oder der Zwangsheirat geworden waren. Dieses Buch beschäftigt sich jedoch ausschließlich mit der modernen Sexsklaverei. Die hochentwickelte internationale Sexbranche hat einen Markt geschaffen, auf dem schon bald mehr Sklaven verkauft werden als zur Zeit des afrikanischen Sklavenhandels vom 16. bis ins 19. Jahrhundert.
Es gibt kein Verbrechernetzwerk, das kein Geschäft mit dem Sex machen würde. Alle verschleppen, verkaufen, vermieten, verleihen, vergewaltigen, quälen und ermorden sie Frauen und Kinder – die japanischen Yakuza genauso wie die chinesischen Triaden, die russische, die italienische und die albanische Mafia oder die lateinamerikanischen Drogenkartelle. Die wirtschaftliche und politische Macht verlangt nach sexueller Befriedigung. Nach den Regeln des Machismo sind Frauen keine Menschen, sondern Objekte, und selbst die in den Verbrecherorganisationen tätigen Frauen halten sich an die Gesetze der Misogynie und der Verachtung ihres eigenen Geschlechts.
In der kriminellen Psyche gehen Eros und Tanatos Hand in Hand. Die Macht, Feinde zu foltern, zu töten oder zu köpfen, verlangt nach einem Ausgleich. Das ist einer der Gründe, weshalb die Bosse der großen Kartelle Frauen jeden Alters kaufen, verkaufen, misshandeln und ermorden. Sie fördern verschiedenste Formen der Prostitution und schaffen immer neue Märkte für das Geschäft mit der Lust. Der Zugang zu sexueller Befriedigung stiftet den Zusammenhalt zwischen Gruppen von Unternehmern und Militärs. Auch deshalb ist das Geschäft mit dem Sex neben dem Waffen- und Drogenhandel das einträglichste der Welt. Ob Mädchen, Jugendliche oder erwachsene Frauen – das Alter spielt keine Rolle, Hauptsache, sie lassen sich von ihren Besitzern kontrollieren, benutzen und unterwerfen.
In diesem Buch beschäftige ich mich auch mit der Einstellung, die Männer zu Frauen und zur Sexualität haben. In den Aussagen der männlichen Akteure begegnen wir einem Phänomen, das gelegentlich als »Bumerang des Feminismus« bezeichnet wird: Immer mehr Männer suchen sich immer jüngere Frauen beziehungsweise Frauen aus Ländern, in denen das weibliche Geschlecht nach wie vor unterdrückt wird. Wir begegnen aber auch Frauen auf dem Straßenstrich und Frauen, die sich selbst als »freie Prostituierte« bezeichnen und das Sexgewerbe als eine normale Form des Broterwerbs in einer kapitalistischen und ausbeuterischen Welt betrachten. Auch auf dieses Thema werde ich in diesem Buch eingehen, um die weltweite Diskussion um Sexsklaverei und Prostitution in ihrer ganzen Komplexität auszuleuchten.
Meine Recherchen in aller Welt haben mir einen völlig neuen Blick auf die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verbrecherorganisationen eröffnet. Die Straflosigkeit, mit der sie ihren Geschäften nachgehen, ist nicht nur beängstigend, sondern hochgradig verdächtig, zumal die mächtigsten Nationen der Erde den Kampf gegen den Menschenhandel weit oben auf ihre Agenda der nationalen und internationalen Sicherheit gesetzt haben. Warum besteht dann aber nach wie vor ein derartiger Widerspruch zwischen der Einwanderungspolitik und den Handelsverträgen? Wie kam es zur Feminisierung der Migration? Wie viele Länder dulden die Ausbeutung ihrer eigenen Bürger unter dem Vorwand der wirtschaftlichen Entwicklung? Warum gibt es in den wohlhabenden Ländern nach wie vor keine Transparenz bei der Behandlung von Einwanderern aus armen Ländern? Wie funktionieren die Fabriken, in denen die illegalen Einwanderer arbeiten, und wie einigen sich die Unternehmer und der Staat darauf, in welchen Bereichen die Ausbeutung geduldet wird?
Die Tatsache, dass ich eine Frau bin, machte mir die Recherche nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil, mein Geschlecht stellte oft eine zusätzliche Hürde dar. Obwohl ich vier Sprachen spreche, musste ich Übersetzern und einheimischen Mittelsmännern vertrauen, die jeden Winkel ihrer Stadt und die Spielregeln der einheimischen Verbrechersyndikate kannten. Journalisten von internationalen Tageszeitungen, ausschließlich Männer, empfahlen mir Fahrer, Informanten und Führer. Obwohl viele meiner männlichen Kollegen den Frauenhandel als Teil der Korruption und des organisierten Verbrechens wahrnahmen, hatte sich keiner im Detail mit dem Thema beschäftigt. Ohne Verdacht zu erregen, konnten sie die Bordelle und Karaokebars betreten, die in Dutzenden Ländern die Schauplätze der Zwangsprostitution sind. Ihr Geschlecht ist ihre Eintrittskarte zu den Orten des Verbrechens.
In Kambodscha, Thailand, Birma und Zentralasien musste ich verschiedene Strategien anwenden, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Dabei musste ich allerdings auch immer wieder Rückschläge hinnehmen, etwa als ich in Kambodscha aus einem Casino der chinesischen Triaden flüchten musste, in dem Mädchen im Alter von zehn Jahren und jünger verkauft wurden.
Überall lauerten Gefahren. In allen Touristenstädten der Welt arbeiten Taxifahrer und Hotelportiers, die sexuelle Dienstleistungen vermitteln und den Netzwerken der Menschenhändler angehören. Ich konnte mir daher nie sicher sein, ob ich nicht verraten werden würde. Ich lebte mit dem ständigen Risiko, dass jemand, der mich durch die Straßen von Colombo, Miami oder Havanna begleitete, die örtlichen Banden darüber informierte, dass eine Journalistin diese und jene Erkundigungen anstellte oder Stadtteile besuchen wollte, in denen Zuhälter und Zwangsprostituierte leben.
Meine Angst zwang mich einerseits zur Vorsicht, doch sie veranlasste mich andererseits auch, meine Informanten sehr sorgfältig auszuwählen, und vermittelte mir ein Gefühl der Dringlichkeit. Vor allem aber ließ sie mich besser nachvollziehen, welchen Gefahren sich die Opfer aussetzten, die den Mut hatten, mir ihre Geschichten zu erzählen, und erinnerte mich eindringlich daran, wie gefährlich es ist, als Frau in einer vollkommen von Männern beherrschten Gesellschaft zu leben.
Ich sprach mit Überlebenden und Experten, aber ich musste auch an die Angehörigen der Verbrechernetzwerke herankommen – und vor allem lebend wieder entkommen. Mein großes Vorbild war der deutsche Investigativjournalist Günter Wallraff, Autor des Buchs Ganz unten, den ich vor einigen Jahren in Mexiko kennengelernt habe. Bei meiner Reise durch Zentralasien verkleidete ich mich und nahm verschiedene Identitäten an. Auf diese Weise gelang es mir, in Kambodscha mit einer philippinischen Menschenhändlerin eine Tasse Kaffee zu trinken; in Mexiko in einer Bar mit kubanischen, brasilianischen und kolumbianischen Hostessen zu tanzen; in Tokio ein Jugendbordell zu besuchen, dessen Besucher aussahen, als wären sie einem Manga-Comic entsprungen; oder als Nonne verkleidet durch La Merced zu gehen, einen der gefährlichsten Stadtteile von Mexiko-Stadt, der von mächtigen Verbrechersyndikaten beherrscht wird.
Beim Sklavenhandel geht es immer um wirtschaftliche Macht, doch der Handel mit Sexsklaven hat noch eine zusätzliche Dimension. Er schafft nämlich eine Kultur, in der die Sklaverei als eine Antwort auf die Armut und die fehlenden Bildungsmöglichkeiten von Millionen von Frauen und Kindern erscheint. Die Macht der internationalen Sexindustrie gründet sich auf der Vermarktung des menschlichen Körpers als einer Ware, die sich ohne Zustimmung der Eigentümerin ausbeuten, kaufen und verkaufen lässt. Steve Harper, Marketing-Guru und Promoter der Sexindustrie, erklärte in einem Interview anlässlich der Internationalen Sexmesse des Jahres 2009: »Machen Sie sich nichts vor. Hier geht es um Geld, nicht um Menschen.« Unter dieses Motto stellt Harper auch seine Kurse für Unternehmer der Sexbranche. Mit den Abermillionen von US-Dollar, die das Sexgewerbe jedes Jahr für politische Lobbyarbeit und die Normalisierung der Sexsklaverei ausgibt, könnte man ein ganzes Land vor dem Hunger retten.
Bevor ich meine Reise antrat, unterhielt ich mich mit einem pensionierten mexikanischen General. Dieser sagte mir, für den illegalen Handel mit Maschinengewehren benötige man lediglich einen Käufer, einen Verkäufer, eine geeignete Verpackung und einen korrupten Beamten. Eine menschliche Sklavin muss man dagegen erst davon überzeugen, dass ihr Leben nicht mehr wert ist als das, was ihr Käufer dafür bezahlt. Die Menschenhändler bringen ihre potentiellen Opfer in ihre Gewalt, indem sie ihnen jede Aussicht auf ein Leben in Würde und Freiheit nehmen. Die Armut ist nicht nur ein fruchtbarer Boden für die Sklaverei, sondern sie ist die Saatmaschine, die Sklaven und Sklavinnen in aller Welt hervorbringt. Die Komplizenschaft der Regierungen ist dabei nicht zu übersehen.
In diesem Buch begegnen wir sämtlichen Protagonisten der Tragödie: den Sklavenhändlern; den Opfern, die sich aufgegeben, und den Überlebenden, die sich körperlich und seelisch befreit haben; den Mittelsmännern, den Geschäftemachern des Sextourismus und ihren Kunden; den Zuhältern, den Militärs und den korrupten und ehrlichen Beamten aller Ebenen und Länder. Wir begegnen Müttern, die mir ihre Töchter anboten, und Müttern, die verzweifelt ihre entführten Töchter suchten. Hier hören Sie ihre Stimmen, ihre Drohungen und ihre Hoffnungen.
Eine Darstellung dieser verbrecherischen Machenschaften wäre allerdings unvollständig, würde man nicht die Spur des Geldes nachverfolgen. Wie und wo wird das Geld gewaschen? Die Finanzbranche ist ein ganz entscheidender Akteur des Geschäfts. Um dem Phänomen weiter auf den Grund zu gehen, habe ich die Haltung verschiedener Regierungen zu Sklaverei und Prostitution recherchiert; untersucht, welche Einnahmen ihre Legalisierung oder Duldung für die jeweiligen Staaten mit sich bringt; und gefragt, welche Einstellung Männer und Frauen vor ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund gegenüber der Prostitution haben. So kam ich beispielsweise in zutiefst religiöse Länder wie die Türkei, wo die Prostitution nicht nur erlaubt ist, sondern der Staat sogar die Bordelle betreibt, und am anderen Extrem in Länder wie Schweden, wo der Gesetzgeber die Freier bestraft und die Opfer der Sexsklaverei beschützt.
Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Millionen von Menschen, die sich der Rettung und Unterstützung der Opfer des Sklavenhandels widmen, von China bis nach Brasilien, von Indien bis in die Vereinigten Staaten, von Guatemala bis nach Kanada und Japan.
Dieses Buch zeichnet eine Landkarte der modernen Sexsklaverei. Es gibt Antworten auf die Grundfragen des Journalismus: durch wen, wie, wann, wo und warum im 21. Jahrhundert der Handel mit Sklaven, Waffen und Drogen immer weiter zunimmt. Wie wir jedoch mit diesen Verbrechen umgehen, hängt von uns selbst, den Bürgern der Weltgesellschaft, ab. Ich hoffe, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg zur Freiheit und Hoffnung findet und dass wir die moralische Entrüstung überwinden, die die Diskussion um das Thema in den vergangenen Jahren geprägt hat.
Ich sehe noch einmal nach, ob ich meinen Pass, mein Flugticket und mein Visum für die Türkei habe. Es ist das zweite Mal, dass ich nach Zentralasien reise, und beim Blick auf die Landkarte kommen Erinnerungen an meine erste Reise hoch.
Vor einigen Jahren war ich zunächst nach Finnland und von dort aus weiter nach St. Petersburg, Moskau und Kiew geflogen. Meine nächste Station war die georgische Hauptstadt Tiflis, wo ich die Journalistin Anna Politkowskaja kennengelernt hatte und mich von ihr in die Komplexitäten der Region hatte einführen lassen. Ich war durch Aserbaidschan, Armenien und Usbekistan gereist und hatte Taschkent und Samarkand besucht, eine der prachtvollsten Städte des alten persischen Reiches. Das Ende meiner Reise war Aschabad in Turkmenistan gewesen. Es war inzwischen Oktober geworden, und ich hatte unter dem Winter gelitten, wie man eben unter dem Winter leidet, wenn man aus einem tropischen Land stammt und nicht daran gewöhnt ist, Minustemperaturen stoisch zu ertragen.
Diesmal reise ich im Februar los, und die Kälte ist nicht ganz so grausam. Ich blicke wieder auf die Karte und sehe mir meine Reiseroute an, die den Routen der Sklavenhändler folgt. Von London aus will ich in die Türkei fliegen und dort die beiden größten Städte Istanbul und Ankara besuchen.
Ich habe gemischte Gefühle. Als Kind hatte ich oft davon geträumt, die Welt zu bereisen und fremde Kulturen und Zivilisationen kennenzulernen. Ich hatte mir vorgestellt, durch die unterirdischen Städte von Kappadokien zu gehen, deren Steine ihren Besuchern geheime Geschichten zuraunten, wie ich meinte. Meine Mutter hatte mir davon erzählt, wie überwältigt sie gewesen war, als sie die Hagia Sofia in Istanbul besucht hatte.
Die Türkei ist eine Brücke zwischen zwei Welten; diese laizistische Republik spielt eine wichtige Rolle als Verbindung zwischen Asien und Europa. Die Grenzen sind durchlässig, und ich kann mir kaum vorstellen, welche Herausforderung es für die Behörden darstellen muss, sie zu kontrollieren. Die Türkei grenzt im Nordosten an Georgien, im Osten an Armenien und Aserbaidschan, im Südosten an den Iran, im Norden ans Schwarze Meer, im Osten an Griechenland, an die Ägäis und Bulgarien. Im Süden liegen der Irak und Syrien und natürlich das Mittelmeer. Die Handelsrouten haben sich seit dem Altertum kaum geändert, und ich will herausfinden, wie sich die Dynamik der Schmugglerbanden seit der Globalisierung des organisierten Verbrechens verändert hat.
Die Türkei, ein Land mit fast 75 Millionen Einwohnern, schloss 1996 ein Freihandelsabkommen mit seinen europäischen Nachbarn und ist mit einem ähnlichen Widerspruch konfrontiert wie die meisten Länder, die ihre Grenzen geöffnet haben: Seither floriert nicht nur der legale, sondern auch der illegale Handel. Obwohl die Türkei mit der Europäischen Union assoziiert ist, wurde ihr die Vollmitgliedschaft bislang vorenthalten, weil sie die Bedingungen dafür nicht erfüllt.
Als ich in Istanbul ankomme, ist es bereits Nacht. Beim Anblick der Sterne und der violetten Streifen am Himmel stockt mir der Atem. Im Taxi auf dem Weg ins Hotel kurble ich die Scheibe herunter und atme den Duft der Stadt ein: den Diesel, die Gewürze und den Salzgeruch des Meeres. Jede Stadt hat ihr ganz eigenes Aroma.
Der Taxifahrer ist stolz auf seine Stadt und unternimmt eine kleine Rundfahrt mit mir. Er erklärt mir, dass wir uns an der Grenze zwischen Anatolien und Trakien befinden, die durch das Marmarameer, den Bosporus und die Dardanellen markiert wird. Die Meerenge ist die Grenze zwischen Asien und Europa. »Wir werden bald in die Europäische Union aufgenommen«, verkündet er in seinem sympathischen Touristenenglisch, in dem sich die unterschiedlichsten Akzente mischen. »Hier ist alles gut«, versichert er mir. »Hier leben Muslime, Juden, Christen, Ungläubige und Protestanten friedlich zusammen. Alle werden respektiert, und alle sind willkommen.« Es klingt, als würde er ein Glaubensbekenntnis herunterbeten. Ich lächle und denke an die Mitteilungen der Internationalen Schriftstellerorganisation PEN, die für den Schutz der freien Meinungsäußerung eintritt und regelmäßig die Verfolgung und Inhaftierung türkischer Journalisten und Schriftsteller anprangert. Aber ich schweige, denn ich weiß, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und dass die Länder genauso vielfältig, komplex und wunderbar sind wie ihre Einwohner.
Die Freundlichkeit der Menschen, ihr Lächeln, die schönen Augen des jungen Kofferträgers, der mich im Hotel empfängt, und die freundliche Stimme der Rezeptionistin, die mich in perfektem Englisch begrüßt, sorgen dafür, dass ich mich willkommen fühle. Ich muss daran denken, dass man das Dunkel nicht sieht, wenn man das Licht nicht kennt, und dass es überall Gutes gibt. Ich hoffe, dass einige der rund 200 000 Frauen und Mädchen, die in den letzten fünf Jahren als Sklavinnen in die Türkei eingeschleust wurden, dieselbe Güte von jemandem erfahren haben, der sie als Menschen gesehen, sie angelächelt und ihnen das Gefühl gegeben hat, in dieser fremden Welt nicht ganz allein zu sein.
Ich rufe Eugene Schoulgin an, einen außergewöhnlichen Schriftsteller und Journalisten, der 1941 als Sohn einer Russin und eines Norwegers geboren wurde. Eugene hat in Afghanistan und dem Irak gelebt und wohnt heute in Istanbul, wo er Sekretär des Internationalen PEN-Clubs ist. In der Vorbereitung meiner Reise hat Eugene den Kontakt zu einigen kritischen Journalisten und Informanten hergestellt. Dieser Freund kümmert sich mit rührender Herzlichkeit um mich, und ich halte ihn darüber auf dem Laufenden, wen ich wo treffe, damit er weiß, wo und wie er mich zu suchen hat, für den Fall, dass mir etwas zustößt. Ohne seine Sicherheitshinweise wäre meine Recherche vermutlich deutlich weniger erfolgreich verlaufen.
Im Stadtteil Maslak, den Einheimische auch als »Manhattan« Istanbuls bezeichnen, geht allmählich die Wintersonne unter. Die Hochhäuser des modernen Finanzdistrikts zeugen von der Weltoffenheit dieser halb europäischen, halb asiatischen Stadt. Die kalte Luft treibt die Menschen in die Bars und Cafés, die nach dunklem Tabak, starkem Kaffee und hier und da auch nach frisch zubereitetem Lammfleisch duften. Junge, schlanke Frauen, die nach italienischer oder französischer Mode Miniröcke, hohe Stiefel und Strumpfhosen tragen, betreten mit offen zur Schau gestelltem Selbstbewusstsein die Cafés. Andere gehen in sich gekehrt, unauffällig gekleidet, den Kopf mit einem feinen Seidentuch bedeckt. Die jungen Männer, geschniegelt und parfümiert, tragen Hugo-Boss-Anzüge, teils echt, teils imitiert, und begrüßen einander mit einer Umarmung und einer Berührung der Wangen, ein Überbleibsel des doppelten Männerkusses ihrer Großväter. Türkische Popmusik füllt den Raum, und die Stimme der Sängerin erinnert mich ein wenig an Britney Spears.
Ich stehe an der Theke und trinke ein türkisches Bier, während ich auf meinen Informanten warte. Es dauert nicht lange, und ein großer, attraktiver Mann mit hellbrauner Haut, kurzgeschorenem Haar, dichten Augenbrauen und einer braunen Lederjacke stellt sich neben mich an den Tresen. Seine Nase ist rot von der kalten Luft. Während er sich noch den Wollschal abnimmt, spricht er, ohne mich anzusehen, meinen Namen aus und bestellt sich ein Bier.
Er sieht mich aus dem Augenwinkel an und nuschelt in einem stockenden Französisch, dass wir uns hier nicht unterhalten können. »Im Fünf-Sterne-Hotel. Wir sehen uns morgen im Fünf-Sterne-Hotel.« Ich hole eine Karte meines Hotels aus meiner Handtasche und gebe sie ihm. Er schaut erst die Karte an, dann mich, dann wieder die Karte.
»Das ist im Stadtteil Taya Hatun«, stellt er fest.
»Ja, es ist ein kleines Hotel, in dem nur Touristen unterkommen«, erkläre ich.
»Neun Uhr morgens. Nur Sie, Madame.«
Er bezahlt sein Bier, ohne einen Schluck davon getrunken zu haben, eilt aus dem Café und besteigt eine Straßenbahn, nicht ohne sich nach allen Seiten umgesehen zu haben.
Mahmut ist Polizeibeamter, und zwar einer von den Guten, wie mir ein Journalistenkollege versichert hat. Er wurde von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geschult und gehört einer Sondereinheit zum Kampf gegen den Menschenhandel in der Türkei an. Das amerikanische Außenministerium unterstützt den Kampf gegen den Menschenhandel mit sieben Millionen Dollar pro Jahr, und Norwegen steuert ebenfalls finanzielle Unterstützung bei. Mahmut ist ein laizistischer Türke und für einen türkischen Polizeibeamten außergewöhnlich gebildet. Er hält den offiziellen Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Frauen in der Türkei für eine Farce. Deshalb hat er sich nach monatelangen Verhandlungen mit meinen Kontaktpersonen bereit erklärt, sich von mir interviewen zu lassen.
Ich erwarte ihn in meinem kleinen Hotel über einer guten Tasse türkischen Kaffee. Am Nebentisch sitzt eine Gruppe spanischer Touristen, die sich angeregt unterhalten. Als ihr Führer kommt, stehen sie auf und fragen mich, ob ich mich ihnen nicht anschließen will. Ich lehne lächelnd ab. Eine Frau aus Sevilla meint, ich würde es bereuen, wenn ich diesen Ausflug verpassen würde. »Bestimmt«, antworte ich. Ich verabschiede mich freundlich und muss daran denken, dass diese Touristen vermutlich durch eine der Straßen gehen werden, die parallel zum Rotlichtviertel verlaufen, ohne zu wissen, dass sich dort, hinter den verspiegelten Scheiben, die ausländischen Sexsklavinnen verbergen.
Ich setze mich in die Hotelbar. Der Raum ist elegant möbliert und erinnert mich an einen türkischen Palast. Die Einrichtung besteht aus honigfarbenen Sesseln und verschieden bestickten Kissen aus Samt und Baumwolle. Leise Musik schwebt durch den hellen Raum, und nichts lässt darauf schließen, dass hier gleich jemand ein Gespräch über Menschenhandel führen könnte. Wenig später betritt der Polizeibeamte den Raum. Der Junge an der Rezeption begrüßt ihn freundlich, doch er schaut dabei kaum auf.
Der Ernst, mit dem er sich in meine Nähe stellt, schafft eine angespannte Stimmung. Ich bitte ihn, sich doch zu setzen, aber er blickt sich um und sagt mit leiser Stimme: »Wenn jemand erfährt, dass ich Ihnen Informationen gebe, dann verrotte ich im Knast. Wenn sie mich nicht vorher umbringen, weil ich das Vaterland verraten und gegen die Polizeiordnung verstoßen habe. Der Staat meint, dass die Medien unser Feind sind und dass wir ihnen nicht vertrauen dürfen.« Das weiß ich. Das Strafrecht der Türkei hat mehr als tausend Schriftsteller und Journalisten hinter Gitter gebracht, weil sie es gewagt haben, ihre Meinung über den türkischen Staat zu äußern. Das prominenteste Opfer ist der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk.
Die Regierung erklärt zwar, sie hätte die Gesetze auf Druck der Europäischen Union geändert, doch die Gerichte verhängen nach wie vor Haftstrafen gegen Journalisten. Pamuk schrieb über die Ermordung von Millionen Armeniern und Zehntausenden Kurden in der Türkei im Jahr 1915. Nach Ansicht der Richter beleidigte er mit seinen Aussagen die Ehre des türkischen Volkes, weshalb er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Wir bestellen eine große Kanne schwarzen Tee und lächeln uns höflich an. Plötzlich zeigt er schweigend auf die Kameras an der Decke der Hotelbar. Ich schlage ihm vor, auf mein Zimmer zu gehen. Das Zimmer ist zwar klein, aber es hat einen Sessel und einen Stuhl. Ich biete ihm Ersteren an.
Ganz allmählich entspannt sich Mahmut ein wenig. Er fragt mich, was ich über die Korruption und den Menschenhandel in der Türkei weiß. Während ich erzähle, hört er aufmerksam zu. Plötzlich bittet er mich, seine Jacke ausziehen zu dürfen. Ich nicke und erstarre, als ich eine Pistole im Achselholster des Polizisten sehe. Für einige Sekunden verliere ich den Faden. Mit dem Kugelschreiber in der Hand und einem Notizblock auf den Knien muss ich daran denken, dass ich in der Türkei bin, in einem Hotelzimmer, mit einem bewaffneten Mann, und dass nur er und ich das wissen. Er spürt meine Nervosität und erzählt mir von seiner Frau und von den vielen bewundernswerten Frauen, die er über seine Arbeit bei der IOM kennengelernt hat. Wir holen beide tief Luft und schließen schweigend einen Pakt des Vertrauens, ohne den wir Journalisten nicht überleben könnten.
Die Experten zeigen sich überrascht, dass trotz der Zunahme des weltweiten Frauenhandels die türkische Polizei immer weniger Fälle von Sexsklavinnen aus Russland, Moldawien, Georgien und Kirgisistan aufdeckt. Wie kann es sein, dass die türkische Polizei den Frauenhandel innerhalb von zwei Jahren um mehr als die Hälfte reduziert haben will? Warum gibt es in der Türkei keine Statistiken über den Menschenhandel im Inland?
Mit beiden Zeigefingern und Daumen hebt Mahmut das kleine Glas an den Mund und nimmt einen Schluck Tee. Während er seinen Schuh anstarrt, erklärt er mir, um in die Europäische Union aufgenommen zu werden, unterschreibe die Türkei jeden internationalen Vertrag und akzeptiere Gespräche über die Menschenrechtssituation im Land. Gleichzeitig habe sie die Armee und die Sicherheitskräfte verstärkt. Trotzdem meint er:
Für die Chefs von Polizei und Armee ist die Prostitution ein Geschäft, und sie selbst sind die Kunden. Sie meinen, dass die Amerikaner und Nordeuropäer von ›Sexsklaverei‹ sprechen, wenn sie Prostitution meinen, und sie meinen, dass das ihr Problem ist, nicht unseres. Es ist alles eine Frage der Perspektive, Madame. Zum Beispiel kommen eine Menge Sextouristen aus Norwegen und Schweden in die Türkei. Zu Hause machen sie es nicht, aber hier ist es legal, und keiner kennt sie.
Damit trifft er den Nagel auf den Kopf der weltweiten Diskussion um die Sexsklaverei. In dem Maße, in dem die Prostitution von der Regierung geschützt oder reguliert wird, ist jeder Versuch, zwischen Opfern der Zwangsprostitution und »berufsmäßigen Prostituierten« zu unterscheiden, zum Scheitern verurteilt. Mahmut versichert mir:
Die albanische und die russische Mafia arbeitet heute mehr denn je mit den türkischen Verbrechersyndikaten zusammen, um Frauen zu schmuggeln, die in der Prostitution enden. Das war schon immer so. Mit einem kleinen Unterschied: Heute, da sich die angeblich zivilisierten Nationen entschlossen haben, dieses Verbrechen zu bekämpfen, ist das Geschäft für alle Beteiligten lukrativer geworden. Für die Menschenhändler, für die Pornoproduzenten und für alle, die den Frauen einen falschen Traum verkaufen. Seit Beginn des Krieges in Afghanistan und im Irak blüht der Handel mit Drogen, Waffen und Frauen. Darüber spricht nur keiner. Aber Sie werden noch sehen, in ein paar Jahren wird die Öffentlichkeit Augen machen, welche Summen die Terroristen und die amerikanischen Privatarmeen mit dem Verkauf von Frauen aus der Region verdient haben. Die Yakuza kaufen im Irak Amphetamine und schmuggeln sie nach Japan, Italien und in die Vereinigten Staaten. Und sie kaufen Mädchen aus der ganzen Welt.
Während ich Monate später diese Zeilen in den Computer tippe, mache ich eine kurze Pause, sehe mir die Fotos an und höre mir die Aufnahmen an, die ich vier Wochen nach meiner Abreise aus der Türkei gemacht habe. Es sind Interviews mit einer Amerikanerin und einer Kolumbianerin, die in Tokio und Osaka an die Yakuza verkauft wurden, und es ist die Geschichte eines mexikanischen Mädchens, das von ihnen ermordet wurde. Wer sich informieren will, der kann das tun. Das Problem ist nur, dass die Regierungen lieber wegsehen, wenn es um die Geschichte der globalisierten Sklaverei geht.
1930