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Meinem Vater Heinz und
meinen Söhnen Tim und Mats

1

Erster Tag

Gott pisst auf uns, würde Larry sagen. Und danach lachen, einen flüchtigen Blick auf den Vorplatz der Tankstelle werfen, mir zuprosten und einen Schluck aus der Bierdose nehmen. So wie immer. Gott pisst auf uns, der Lacher, das Bier, der Blick. Ein ewiger Refrain, immer wieder, für Tage wie diesen, an denen der Regen nicht eine einzige Sekunde aussetzt.

Larrys Spruch gehörte zu den Wolkenbrüchen, dem Schneeregen und den Stürmen, die im Frühjahr und im Herbst über diese Gegend fegten. Wobei der Regensturm, der an diesem Abend über dem Kennebec niederging, mir heftiger erschien als alle Stürme je zuvor. Schneller zu fahren als Schritttempo war nicht möglich. Schwarzgraue Wolken türmten sich bis nach Hermit Island auf. Es goss, als sollte all der Unrat aus dem Werftenviertel unten am Fluss hinweggespült werden.

Hinter dem Wafflehouse stieg der Kennebec über die Ufer, schwappte brackiges Wasser über die Mauer, flutete die Hafenanlage, die Fundamente der verrosteten Turmkräne und die verwaisten Parkplätze.

An der Western Ave trotzte die Corliss Baptist Church dem Unwetter. Eine aus den Scharnieren gerissene Laterne warf ein schwaches, unstetes Licht auf die Schautafel, die für ein Musical warb: Tommy, aufgeführt von der Theatergruppe der Milton Highschool. Der Sturm hatte das Y aus der Halterung gefegt.

Jake hatte einen phlegmatischen Vater gespielt. Wobei Jakes Schauspielerei katastrophal war. Gesten, Mimik, die Sprache, alles übertrieben, alles falsch. Außerdem war Jake gerade erst vierzehn Jahre alt geworden und viel zu jung für einen Familienvater.

Er hatte es mir zeigen wollen. Sieh her, das bist du! Ein Eigenbrötler, ein Spinner, ein enttäuschter Kerl um die Fünfzig, der die Haare in die Stirn fallen lässt, um die kahlen Stellen zu kaschieren.

Ein miserabler Vater! Der sich in einen Schuppen hinter der Garage verkrochen hat, mit seinen Büchern, seinen Fotografien, seinen Schallplatten. Ein Vater, der nicht ein einziges Mal mit seinem Sohn bei den Red Sox in Boston gewesen war, nicht zum Angeln am White Lake, nicht einmal zum Baden am Popham Beach.

Ich wäre Jake gerne ein besserer Vater gewesen, aber er stand nun mal auf der Seite von Kathleen. Mit allem, was er tat, sagte und dachte, wollte er seiner Mutter gefallen.

Kathleen hatte während der Aufführung von Tommy meine Hand gehalten. In Gesellschaft gaben wir trotz allem das gut situierte, stolze Elternpaar. In dieser Rolle waren wir mit den Jahren immer besser geworden, beinahe perfekt, überzeugender jedenfalls als die Laienschauspieler auf der Bühne.

Nach dem letzten Vorhang hatte Kathleen mich mit Tränen verhangenen Augen angesehen, mit einem zaghaften Lächeln. So stolze Eltern. Dann hatte sie ein Tuch aus ihrer Tasche gefingert, um ein paar Tränen wegzutupfen, während sie tapfer gegen die Rührung anlächelnd sich dem Publikum zuwandte. Für diesen Auftritt hätte Kathleen einen Applaus verdient gehabt.

An der Kreuzung zur Middle Street schimmerte die rosafarbene Leuchtreklame von Liza’s Laundry. Zum ersten Mal war ich Liza ein paar Tage nach Jakes viertem Geburtstag begegnet. Das war nach einem Streit mit Kathleen gewesen.

»Deinen Dreck kannst du selber wegmachen!«, hatte sie geschrien und mir die Wäsche vor die Füße geworfen, während Jake Böser Papa! Böser Papa! kreischte. Von da an brachte ich meine Sachen jeden Freitag zu Liza. Irgendwann, an einem dieser Freitage, sagte sie: Sie haben jungenhafte Augen!

Sie zog mich ins Lager, und wir liebten uns zwischen Säcken mit schmutziger Wäsche, den ratternden Waschmaschinen und den heulenden Trocknern.

Schon nach ein paar Wochen hörten wir auf, miteinander zu schlafen. Weil es nicht wichtig war. Wir trafen uns weiter; heimlich, als hätten wir eine Affäre. Wir redeten über das Leben, über Bücher, Musik oder Filme. An den Geburtstagen und zu Weihnachten schenkten wir uns Kleinigkeiten.

Nach der Aufführung von Tommy in der Corliss Baptist Church hatte ich Liza zuletzt gesehen. Lorena, ihre Tochter, hatte auch eine kleine Rolle in dem Musical gespielt.

Wie immer fuhr Liza bei der Begrüßung mit ihrem Zeigefinger über meinen Handrücken. Einmal herauf, einmal herunter. Unser Code. Liza würde ich vermissen.

Vor der Brücke an der Court Street lenkte ich den Volvo auf das Gelände der Exxon. Sie hatten die Tankstelle zwischen die Betonstelzen des Highway gebaut und sich so das Dach für die Zapfanlagen gespart. Aber die Brücke war zu hoch, der Sturm trieb den Regen über den Hof. Ich stemmte die Fahrertür auf, zwängte mich hinaus, sofort fegte der Wind die Tür wieder ins Schloss.

Larry knurrte nur zur Begrüßung. Er thronte hinter der Ladentheke, in seinem ausgewaschenen Baumwollhemd, der kahl rasierte Schädel halslos auf dem Oberkörper.

Larrys Augen waren auf den Fernseher gerichtet, Baseball, Red Sox gegen die Blue Jays. Die Theke zugestellt mit Süßigkeiten, Zeitungen und billigem Spielzeug, das Familienväter beim Tankstopp kauften, um ihren Kindern zu Hause ein Lächeln zu entlocken.

Das automatische Gewehr war nicht zu sehen. Aber es lauerte zwischen den Schokoriegeln, zwischen Zero und Smores. Die Mündung der Waffe war auch dem Jungen nicht aufgefallen. Er war mit einer Kanone im Anschlag in die Tankstelle gestürmt und hatte geschrien: Gib dein beschissenes Geld her, oder ich knall dich ab!

Ohne zu zögern, hatte Larry den Abzug mehrmals durchgezogen. So, als habe er all die Jahre hinter den Schokoriegeln und den grellblonden Plastikpüppchen nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Die erste Kugel hatte den Jungen gegen das Regal mit den Bierdosen geschleudert.

Ich hatte Elche und Gasthäuser am White Lake fotografiert und war auf dem Rückweg gewesen, als ich die Tankstelle betrat:

Hey, Knipser, hier kannst du ein paar scharfe Fotos machen!, grinste Larry. Und dann hatte er auf den blutüberströmten Körper gezeigt.

Ich war auf Landschaften und Porträts spezialisiert. Hunderte von lächelnden Kindern, darunter viele Schüler von Kathleen, hatte ich abgelichtet. Kinder, aus denen Jahre später nach irgendeiner rätselhaften Gesetzmäßigkeit Verkäuferinnen, ein schwuler Priester, ein paar mäßig erfolgreiche Autoverkäufer, ein Basketballprofi und eben ein toter Tankstellenräuber geworden waren.

Ich hatte Jeff Myers sofort erkannt. Ein ehemaliger Schüler von Kathleen, der sich hin und wieder bei uns mit Gartenarbeiten ein paar Dollar verdiente. Ich fotografierte den Toten zwischen den Bierdosen, fotografierte die Blutspritzer an den Wänden, die zerbrochene, blutverschmierte Sonnenbrille, Larry im Rollstuhl, das Gewehr im Anschlag, mit diesem Gesichtsausdruck aus Überraschung und Genugtuung.

Schließlich fotografierte ich auch noch die eintreffenden Polizisten, die Sanitäter und die Neugierigen, bis mir ein Cop die Canon abnahm und mich zur Vernehmung auf die Wache an der Court Street brachte.

Zu Hause hatte Kathleen mich angeschrien, ob ich dem Jungen wenigstens den Puls gefühlt hatte. Als er da in seinem Blut lag! Was sollte ich sagen? Dass ich nicht daran gedacht hatte, weil ich mit dem Fotografieren beschäftigt war?

Kathleen hatte gar nicht mehr aufgehört, mich zu beschimpfen. Ob der Junge vielleicht erst gestorben sei, während ich ihn schon fotografierte? Und ob ich mir Gedanken darüber gemacht hätte, was den Jungen zu dem Überfall getrieben haben könnte? Er ist ein Waisenkind, sein Vater hat sich totgesoffen! Und was es für Jeffs arme Mutter bedeutete, die Fotos ihres toten Jungen in den Illustrierten zu sehen. Du gefühlloses deutsches Schwein!

Tatsächlich hatten einige Zeitungen meine Bilder gedruckt. Das Foto mit dem verlegen grinsenden Larry Morotta, Vietnamveteran im Rollstuhl, der soeben einen siebzehnjährigen Halbwaisen erschossen hatte, war sogar von den »Camera«-Lesern zum »Polizeifoto des Jahres« gewählt worden. Den Preis holte ich mir nie ab. Die Abzüge schenkte ich Larry.

Später bestellte er einen Anstreicher, der die Blutspritzer übertünchte. Alle, bis auf einen. Den hatte Larry samt Schokoeckchen rahmen lassen. Daneben, in einem zweiten Bilderrahmen, ein Bericht aus dem »Chronicle« über den Überfall. Und in einem dritten Rahmen Larrys Purple Heart.Er war als Marine in Vietnam gewesen, wo er mit einem Jeep auf eine Mine gefahren war.

Larry klebte die Fotos von dem toten Jungen in ein Album, um es den Kunden zu zeigen, die nach dem getrockneten Blut im Bilderrahmen fragten.

Die Werbepause kam und Larry sagte endlich:

»Gott pisst auf uns!«

Er lachte kurz auf, grinste, weil er mich so lange hatte zappeln lassen. Er nahm einen Schluck Bier.

»Du willst abhauen, stimmt’s?«

Er sah mich mit seinem »Du kannst mir nichts vormachen«-Blick an.

»Sag doch, ich sehe es dir an.«

Larry war mir eine Art Freund geworden. Vielleicht nur, weil wir uns an all die Treffen in seiner Tankstelle gewöhnt hatten. Mehr nicht. Genau genommen war Larry der Einzige, mit dem ich mich regelmäßig traf. Was nicht gerade viel war, nach dreißig Jahren an einem Ort.

»Ja, kann sein«, sagte ich.

»Na also!«

Larry wollte gleichgültig wirken, aber seine Augen flackerten. Dann straffte sich sein Gesicht, und er sagte:

»Deine Frau ist es nicht wert, dass du wegen ihr abhaust, Peter!«

»Es ist nicht wegen Kathleen.«

Larry schüttelte kaum merklich den Kopf:

»Und? Wo willst du hin?«

»Meinem Vater geht es schlecht. Ich will ihn noch mal sehen. Und dann? Weiß nicht!«

Lange geschah nichts, dann nickte Larry, als habe er verstanden. Sein Blick ging noch einmal zu denRed Sox und den Blue Jays.

»Vielleicht läuft sie dir ja da über den Weg. Und dann kannst du es ja noch mal mit ihr versuchen!«

Ich wollte das nicht hören. Nicht mal von Larry.

»Sie ist verschwunden, das weißt du doch!«, sagte ich.

»Ist ja gut«, beschwichtigte er mich, »aber es könnte doch sein!«

Und wie immer, wenn Larry nicht weiterwusste, schob er sich einen Schokoriegel in den Mund.

Nie hatte ich mit irgendjemandem über Astrid gesprochen, nicht mal mit Kathleen. Nur mit Larry. Vielleicht, weil er nichts von der Liebe verstand, weil er ein maulfauler Kerl war, der stundenlang auf den Fernseher starrte, enttäuscht, ein Krüppel zu sein. Ein Kerl, der nicht mal bei den einfachen Mädchen, die im Supermarkt bedienten, landen konnte.

Nur wenn ich von Deutschland erzählte, von Astrid, von diesem Sommer 1975, von der Grenze, von den SM70-Todesautomaten, dann horchte Larry auf, wie ein Kind, das vor dem Einschlafen gerne unheimliche Geschichten hörte.

Seit dem Überfall hatte ich Larry beinahe jeden Abend besucht. Mein Platz war neben der Registrierkasse, wo ich immer ein paar Becher Kaffee trank, während wir redeten und rauchten.

Irgendwann hatte Larry mich gefragt, ob ich ihn nach Rumford fahren könnte. Die Frau nannte sich Rose und machte es angeblich nur mit ehemaligen Marines. Auf dem Weg zu ihr war Larry immer aufgekratzt gewesen, hatte ununterbrochen geredet und gelacht. Wenn wir zurückfuhren, schwiegen wir meistens und hörten die Oldies auf KUK69.

Die letzte Fahrt nach Rumford lag schon ein paar Monate zurück. Irgendetwas musste Larry passiert sein bei Rose. Auf der Rückfahrt hatte er zuerst nur geschwiegen, wie immer. Dann schaltete er das Radio aus, sah aus dem Fenster und fing an zu weinen. Über Rose hatte Larry danach nie wieder gesprochen.

»Werde wahrscheinlich auch nicht mehr lange hier sein«, sagte er, nachdem er den Schokoriegel verschlungen hatte, »irgendwann wird mich der Scheißregen noch mit der verdammten Tankstelle in den Kennebec spülen!«

Bevor ich etwas erwidern konnte, packte Larry meine Hand und drückte mir die Finger zusammen, als wollte er die Knochen aus ihnen herausquetschen.

»Danke wegen Rose«, sagte Larry, »und nimm dich vor den beschissenen Minen in Acht!«

»Da, wo ich hingehe, gibt es keine Minen mehr!«

»Trotzdem«, sagte Larry.

Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen, und es kam mir vor, als triebe der Sturm den Regen noch heftiger über den Vorhof. Ich duckte mich, drehte mich noch einmal um. Aber Larry starrte auf den Fernseher, als habe er nur darauf gewartet, dass ich endlich verschwände.

2

Samstag,
26. April 1975

Sie lehnte in der Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich konnte sie nur erahnen. Zu wenig Licht. Ob sie lächelte, als ich sie fotografierte, oder ob ihre Augen geschlossen waren, hatte ich nicht erkennen können. Sie stand nur da. Eine Schulter gegen einen Türpfosten gelehnt und sagte »Hi!«, wie es neuerdings manche taten. Es sollte amerikanisch klingen.

Meine Schwester, die zwei Jahre jünger war als ich, feierte ihren Geburtstag. Monika hatte die Lampen in farbiges Papier gehüllt und Kerzen aufgestellt. In der Luft schwebte der Duft der Räucherstäbchen, ein Gemisch aus Eukalyptus und Weihrauch. Monika hatte ihren Plattenspieler in den Flur geschoben und beschallte das Haus mit Schrottmusik von David Cassidy oder den Osmonds.

»Bitte, bitte, Peter, kannst du meine Gäste fotografieren?«

Das alberne Gerede von Monika. Ich hatte trotzdem Ja gesagt, wollte aber verschwinden, sobald ich fertig war.

Deshalb ging ich rasch weiter, als sich das Mädchen in dem Türrahmen von mir wegdrehte. Ich fotografierte Monikas Freunde in Gruppen, allein oder wie sie mir mit einem Glas Pfirsichbowle zuprosteten. Manche gingen auch in Deckung, wenn ich mich ihnen mit der Kamera näherte.

Eine todlangweilige Party. Ich blieb, weil es zu spät war, noch auszugehen. Wie immer bei solchen Partys standen alle nur in der Küche herum, oder sie hockten mit verschränkten Beinen auf dem Teppich, tranken Rotwein oder griffen nach den Holzspießchen mit den bunten Papierflaggen. Den ganzen Nachmittag hatte Monika damit verbracht, Käse in Würfel zu schneiden und dann mit den Gurkenscheibchen und den Mandarinenstückchen aufzuspießen.

Kessler wühlte die Schallplattensammlung unserer Eltern durch und zog »Das goldene Schlagerkarussell 1974« hervor.

»Wie wäre es denn damit?«, brüllte er, und alle lachten.

Kesslers Vater gehörte »Die Hi-Fi-Truhe« unten am Markt. Nachmittags, nach der Schule, half Kessler dort aus. Sie verkauften Stereoanlagen, Fernseher, Waschmaschinen und Staubsauger. Es gab auch eine Schallplattenabteilung, allerdings führten sie nur deutschen Schlager und die Top Twenty der Hitparade. Kessler war ein furchtbarer Angeber, der dauernd um meine Schwester herumschlich. Auch wenn es mich nichts anging, aber ich wollte nicht, dass ausgerechnet einer wie Kessler meiner Schwester zu nahekam.

Später klimperte Schubeck auf der Gitarre, und die Mädchen sangen »Give peace a chance«. Danach diskutierten sie über Vietnam. Bis Britta Czernay in einer »Bravo« blätterte und sich alle lieber über Petting und Onanieren lustig machten.

Ab zwölf wurde getanzt. Niemand hatte Lust, Platten aufzulegen. Wieder bettelte meine Schwester mich an, und als dazu auch noch alle in die Hände klatschten und »Peter, Peter« riefen, gab ich nach und stellte mich hinter den Plattenspieler.

Ich spielte die schlechtesten Singles, die ich in Monikas Sammelalbum finden konnte. Die Jungs schüttelten sich ungelenk im Rhythmus der Musik, während die Mädchen sich mit geübten Schritten bewegten, immer wieder die Haare zurückwarfen, als versetzte die Musik sie augenblicklich in Trance. Immer schon hatte ich die Mädchen im Verdacht, dass sie das Tanzen heimlich zu Hause vor dem Spiegel übten. Meine Schwester hatte ich jedenfalls schon ein paar Mal dabei beobachtet.

Die Schönheit des Mädchens erkannte ich erst am nächsten Tag in der Dunkelkammer. Die Entwicklerflüssigkeit machte zuerst einen Türrahmen, dann den schmalbeinigen italienischen Stuhl und zuletzt das Mädchen sichtbar. Es war kein sonderlich gutes Foto. Zu dunkel, zu grobkörnig. Ich hätte Licht setzen müssen. Das Gesicht blieb unscharf.

Der Blick war nicht auf die Kamera gerichtet, sondern das Mädchen hatte an mir vorbei in den Flur gesehen. Die Haltung abweisend, angespannt, als habe es sich zum Besuch der Party überreden lassen und sähe nun, dass es noch schlimmer war als befürchtet.

Das Kleid war aus einer feinen, haarigen Wolle. Die Vorderseite mit Perlmuttknöpfen übersät. Die Knöpfe reflektierten das Blitzlicht. Es sah aus, als leuchtete das Kleid von innen. Ich war sicher, dass es solche Kleider nur in Hamburg gab. Es war das einzige Mädchen auf der Party meiner Schwester, das ein Kleid anhatte. Alle anderen trugen Jeans, karierte Hemden oder Shirts mit Namen von Universitäten.

Ich lief nach draußen, um das Foto bei Tageslicht anzusehen. Mir war, als hätte ich soeben den Code einer geheimen Botschaft entschlüsselt.

Obwohl ich wusste, dass auf den Negativen keine weiteren Aufnahmen sein würden, sah ich noch einmal alle Bilder durch und entwickelte in der Dunkelkammer fünf weitere Abzüge von dem Mädchen in dem leuchtenden Kleid.

»Hier, für deine Freunde«, sagte ich und legte Monika die Fotos von ihrer Party auf den Tisch.

»Danke!«

»Wer ist die da?«

»Gefällt sie dir?«, sagte Monika und sah mich an.

»Ich frage nur wegen der Abzüge«, antwortete ich so gleichgültig wie möglich.

»Mache ich schon, war ja meine Party!«

Meine Schwester packte den Stapel, sah die Fotos durch, lachte einige Male, weil Partygäste Grimassen zogen.

»Die Bilder sind toll geworden«, sagte sie.

»Mmh.«

»Sie heißt übrigens Astrid ter Möhlen. Sie ist in der Zwölf. Kennst du sie nicht? Alle Typen schleichen doch um sie herum. Wenn du willst, kann ich ihr sagen –«

Ich ließ die Tür ins Schloss fallen.Astrid ter Möhlen! Ter Möhlen gehörte die Fabrik, in der mein Vater arbeitete. Sie hatten sogar schon einen Platz nach ter Möhlen benannt, obwohl er noch gar nicht tot war. Ter-Möhlen-Platz. Die ganze Stadt zitterte vor dem Alten. Vermutlich war das Mädchen die Enkelin.

Ich trug das Foto ein paar Tage in einem Briefumschlag mit mir herum. Hin und wieder warf ich einen Blick darauf. Auf dem Schulhof beobachtete ich Astrid ter Möhlen und kam mir dabei vor wie ein Idiot. Ich hätte sie nur ansprechen müssen, aber ich hatte Angst, es zu vermasseln, und nie fielen mir die richtigen Worte ein.

Dann stand ich plötzlich im Gedränge nach der Pausenklingel vor ihr und hielt ihr das Foto hin.

»Ah, das habe ich schon«, sagte sie und lachte, »von deiner Schwester.«

»Dann habe ich was falsch verstanden«, sagte ich.

»Du kannst sehr gut fotografieren. Mein Vater will es rahmen lassen.«

»Dabei ist es nicht mal richtig scharf.«

Ich wollte dableiben und weglaufen, schon weil ich rot anlief. Dagegen war nichts auszurichten. Ich zeigte Astrid ter Möhlen die Unschärfe des Fotos. Sie beugte sich über den Abzug, dabei streifte ihr Haar mein Gesicht. Es kitzelte auf meiner Wange.

»Dann ist es eben ein bisschen unscharf«, sagte sie und lachte noch einmal.

Ich bekam einen Stoß und stolperte nach vorn. Ich brauchte nur irgendeinen Satz, mit dem es weiterging, der sie davon abhalten könnte, zu gehen, während um uns herum die Schüler in die Klassen drängten.

»Ich muss los«, sagte sie.

»Ich«, sagte ich. Ohne eine Ahnung zu haben, was nach dem Ich kommen sollte.

»Wenn du Zeit hast, kannst du mich ja mal fotografieren. Mein Vater würde sich über ein paar Fotos freuen«, sagte sie.

Es war so einfach. Warum war ich nicht selbst darauf gekommen? Sie fotografieren.

»Du musst nicht, wenn du nicht magst!«, sagte sie.

»Nein, nein, das mache ich gerne«, sagte ich schnell.

Ich fuhr mit dem Handrücken über die Stirn und wischte eine Strähne weg, die da gar nicht war. Astrid lächelte und zog die Augen zusammen.

»Deine Schwester hat meine Telefonnummer.«

3

Zweiter Tag

Die Maschine setzte auf. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich war so lange nicht hier gewesen. Ein halbes Leben lang.

Der Kerl aus Portland, der beinahe den gesamten Flug im Sitz neben mir verschlafen hatte, wachte auf, rieb sich albern die Augen und sagte:

»Schon da?«

Er hatte es auf einen Lacher abgesehen, aber ich schwieg, zog die Tasche aus der Ablage und beeilte mich, das Flugzeug zu verlassen.

Jeder Ortsname, der Fluss, das Jagdschloss und sogar der Anblick der Bauernhöfe wühlten mich auf. Mir wäre lieber gewesen, für all das unempfindlich zu sein. Aber gegen die verdammte Rührung kam ich einfach nicht an.

Vielleicht läuft sie dir ja da über den Weg. Überall hatte ich nach ihr gesucht. Jede dieser Straßen, die mir auch nach all den Jahren noch vertraut waren, hatte ich nach ihr abgesucht, jedes Stück Wald, jeden Teich, all unsere Plätze, alles. Und die Polizei hatte sogar eine Hundestaffel eingesetzt und mit Holzstangen im Unterholz gestochert.

Ich hielt an, lief ein paar Mal um den Mietwagen herum, rauchte und machte dann noch ein paar hilflose Kniebeugen. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich wegen Vater hier war. Nicht ihretwegen. Vor ein paar Wochen hatte Vater am Telefon gesagt:

»Junge, ich bin jetzt vierundachtzig. Vielleicht sehen wir uns ja noch mal!«

Es roch nach Winter. Ein kalter Wind aus Osten verwirbelte den Nieselregen. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Gegend etwas abhandengekommen war. Alles sah genauso aus wie damals. Bis auf die Grenze. Sie war verschwunden. Ausradiert. Wegretuschiert. Zurückgeblieben war eine arglose Landschaft mit ein paar Pferdekoppeln, den kräftigen Wäldern, den sanft ansteigenden Hügeln und den ordentlich bestellten Äckern.

Als hätte es die Grenze nie gegeben, nicht die endlosen Mauern und Zäune mit den Lichtrassen und Kolonnenwegen, auch nicht die Hunde in den Laufanlagen, weder die Minenfelder noch die Kfz-Sperren oder die Wachtürme. Als hätte diese endlose Schneise gar nicht existiert, die sich wie eine Wundnaht durch das ganze Land zog, durch die Felder, die Waldungen, auch über die Flüsse, die Straßen und die Wege, sogar mitten durch die Dörfer. Die Grenze, die nachts taghell erleuchtet war, sodass man schon von Weitem wusste, wenn man ihr zu nahe kam.

Ich zündete noch eine Zigarette an, fuhr weiter, und als ich den Fluss erreichte, konnte ich mich nicht mehr an dessen Namen erinnern. Aber durch die Mitte des Stromes war die Grenze verlaufen, und auf dem Grund hatten angeblich Minen gelauert. Die Brücke war damals auf östlicher Seite abgetragen worden. Der westliche Teil hatte danach nur noch sinnlos bis in die Mitte des Flusses geragt.

Mike und ich hatten uns mal gestritten, ob ein Auto bis nach drüben flöge, wenn es nur genügend Anlauf nähme. Die neue Brücke verlief in einem eleganten Bogen über den Fluss und verschwand hinter der Uferböschung auf der östlichen Seite.

An den Straßenbäumen hingen die Schilder mit den Totenköpfen, die im Licht der Scheinwerfer reflektieren. Manche Bäume waren auch mit Blumen und Totenlichtern geschmückt. Immer noch rasten die jungen Leute also an den Wochenenden gegen die Alleebäume, wenn sie nach Braunschweig oder Hannover zum Tanzen wollten.

Vor der Ortseinfahrt hatte eine Leuchtreklame der ter Möhlens gestanden. ter Möhlen, Fahrzeugbau. Als sei das der wirkliche Name der Stadt. Jetzt war das Gestrüpp aus dem Wald schon bis auf den Rangierhof vorgedrungen. Die Fabrik lag verlassen da, als seien die Arbeiter vor Jahren vor irgendetwas geflüchtet.

Ich fuhr auf die Rottsieper Straße und dachte daran, wie oft ich diese Straße verflucht hatte. Sie wurde im oberen Drittel beharrlich steiler, und jedes Mal, wenn ich die Steigung mit dem Fahrrad genommen hatte, war mir schon auf halber Höhe die Luft weggeblieben, ein einziges Keuchen und Schlingern. Auf dem letzten, noch einmal ansteigenden Stück war es dann nur noch ein Spucken und Stoßatmen.

Tekwers Kiosk am oberen Ende der Rottsieper Straße war die Erlösung, das Ziel. Wir belohnten uns für den Aufstieg mit Süßigkeiten und Fußballsammelbildern, später kauften wir bei dem alten Tekwer die ersten Zigaretten und ab und zu sogar ein Herrenmagazin.

Jetzt war der Kiosk mit groben Brettern zugenagelt. Auf den Bohlen in mehreren Schichten Plakate, die für einen Computermarkt aus dem letzten Jahr warben.

Von der Rottsieper bog ich ab in die Straße zum Haus meiner Eltern. Mir fielen Namen von Nachbarn ein, an die ich seit über dreißig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Ein Paar schlurfte über den Gehweg. Die Alten blieben stehen, drehten sich nach mir um. Nachbarn. Frank Petzolds Eltern. Die versuchten, sich an mich zu erinnern.

Die Gartenbeleuchtung war eingeschaltet. Auch alle Zimmer waren hell erleuchtet. Das Messingschild an der Haustür hatte Patina angesetzt, aber es war immer noch das alte Schild. Ebenso die Klingel, deren Knopf schräg aus der Schelle ragte.

Eine Frau öffnete. Anscheinend hatte sie gerade geweint. Es dauerte, bis ich begriff, dass meine Schwester vor mir stand. Sie trug die Haare kurz, eine Mischung aus Grau und Blond, eng am Kopf anliegend, wie ein Helm.

»Papa ist schlecht dran, er ist im Krankenhaus«, sagte sie.

In unserem Haus hatte es damals anders gerochen. Nicht so modrig, sondern jünger. Lebendiger. Im Flur klebten neue Tapeten, tellergroße Blumen. Mutter saß zusammengesunken auf der linken Seite des Sofas. Immer hatte Mutter auf dieser Seite gesessen. Vaters Sessel, vom Sofa weg und zum Fernseher gedreht, war leer.

»Junge!«, rief Mutter und schluchzte auf.

Später tranken wir Kaffee. Monika hatte Schnittchen gemacht, den Geschmack von Graubrot mit Cervelatwurst hatte ich vergessen. Mutter redete von Vater, wie er sich plötzlich ans Herz gefasst hatte.

»Er hat noch Mutter gerufen, dann hat er schon die Augen verdreht und ist vom Sessel gerutscht.«

Sie weinte, und dann sagte sie:

»Dabei konnte er es gar nicht erwarten, dich zu sehen.«

Monika löste ihr eine Tablette auf, dann brachte sie Mutter zu Bett.

In der Küche fand ich das alte Geschirr noch an seinem Platz. Rosa Rosen auf dunkelgrünen Zweigen, das Rosenservice. Das immer auf den Tisch kam, wenn wir Besuch hatten. Im Besteckkasten der Dosenöffner, mit dem ich mir eine Fingerkuppe abgetrennt hatte, als ich zwölf war. Ich hielt den Öffner gegen die Kuppe. Er passte.

»Was willst du hier?«

Ich hatte Monika nicht kommen gehört und zuckte zusammen, was mich ärgerte.

»Wie meinst du das?«, sagte ich, obwohl ich wusste, wie sie es meinte.

»Wie meinst du das?«, äffte meine Schwester mich nach. Sie versuchte sogar, meinen Akzent zu treffen.

»Warum bist du so wütend?«

»Warum bist du so wütend?«, wiederholte sie. »Warum wohl? Vielleicht, weil du einfach abgehauen bist. Du hast dir sogar einen anderen Namen gegeben, Blum war dir wohl nicht gut genug, oder? Ja, ich bin wütend. Während der Herr Sohn fotografierte.«

»Ich weiß nicht, was das soll, Monika!«

»Durfte ich hier schuften und Mutters Launen ertragen. Ich habe gekocht, gewaschen, geputzt. Während der feine Herr Sohn seinen tollen Bildband geschickt hat: Wunderschöner Indian Summer. Damit die Eltern auch stolz auf ihn sein können!«

Über Monikas Hals liefen rote Streifen, ihre Augen flackerten, sie schwitzte.

»Tut mir leid«, sagte ich, »aber ich lebe nun mal in Amerika!«

Monika sah mich einen Augenblick schweigend an, mit offenem Mund, als habe sie es satt, überhaupt noch mit mir zu reden. Dann sagte sie leise:

»Ja, du lebst in Amerika. Weil du weggerannt bist. Wegen der feinen Astrid ter Möhlen. Haust ab wegen eines Mädchens, das noch nicht mal verliebt in dich war, du –«

»Hör auf!«, sagte ich und versuchte, dabei nicht laut zu sprechen. »Hör verdammt noch mal auf damit!«

»Kinder, warum streitet ihr?«, rief Mutter aus ihrem Schlafzimmer, »ich mache mir solche Sorgen wegen Papa, ich –«

»Ist schon gut, Mama«, sagte Monika, »schlaf jetzt!«

Die Haustür fiel hinter meiner Schwester ins Schloss, und sie stapfte durch den Garten zur Straße. Dass Monika wütend war, hätte ich mir denken können. Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, darüber nachzudenken.

Ich hatte einige Male mit ihr geredet, aber immer nur zufällig, wenn sie gerade mal am Telefon gewesen war. Und immer nur belangloses Zeug. Vater hatte Monika stets gedrängt, schnell den Hörer an ihn abzugeben. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war.

»Bei Monika läuft es auch nicht rund«, hatte mein Vater einmal gesagt. Aber ich war nicht darauf eingegangen, und danach hatte er immer nur Grüße ausgerichtet, die sie ihm vermutlich gar nicht aufgetragen hatte.

Ich war hellwach und müde zugleich. Es war noch zu früh, sich schlafen zu legen. Ich nahm den Wagen und fuhr in die Stadt, lief ziellos umher. Die Tür zu Mazzolas Restaurant war frisch gestrichen, in den italienischen Farben.

Ich wunderte mich, dass es den Laden noch gab, und obwohl ich nicht hungrig war, ging ich hinein. Es waren nur wenige Tische besetzt. Sie hatten andere Möbel, bis auf den Tresen und den Spiegel in dem Goldrahmen, vor dem die Schnäpse und die Liköre aufgereiht waren. Und immer noch hing in der Luft der Geruch von gebratenem Olivenöl und Oregano. Anscheinend hatten sie nicht mal die Kassette in der Stereoanlage gewechselt, italienische Schlager, immer einen Tick zu laut.

Mazzola saß auf einem Barhocker neben dem Espressoautomat. Er blätterte in einer Sportzeitung, und als er mich sah, glitt er vom Stuhl und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

»Dottore«, rief er, was er zu jedem sagte und was wir damals für italienische Lebensart hielten, »ich dachte schon, es schmeckt dir nicht mehr bei mir!«

Er lachte und stieß seinen Triller aus. Wie ein Vogel. Sein Markenzeichen. Es machte mich verlegen, dass sich alle Gäste nach uns umdrehten, und dann rief Mazzola auch noch seine Frau aus der Küche. Sein Sohn kam auch mit und fiel mir ebenfalls um den Hals. Damals hatte er immer neben der Küche gesessen und Fußballbilder sortiert.

Wir wechselten ein paar Worte, dann kamen ein paar junge Leute rein, und Mazzola und sein Sohn mussten sich um die Gäste kümmern.

»Wie immer?«, rief Mazzola, als er hinter der Theke stand.

Ich nickte. Er lachte mit diesem Vogeltriller. Ich wusste nicht, was wie immer sein sollte. Aber als Mazzola den grünen Salat mit Thunfisch und Zwiebelringen, die Maccaroni al Forno und ein Glas Cola ohne Zitrone, aber mit Eis brachte, dachte ich, gar nicht allzu lange weg gewesen zu sein.

4

Zweiter Tag,
nachts

Als ich zurückkam, war es im Haus vollkommen still. Bis auf das Ticken einer Wanduhr. An eine Wanduhr konnte ich mich nicht erinnern. Ich goss mir ein Glas Wasser ein und fand unter der Spüle die alten Zeitungen. Erst wenn der Stapel gegen das Abflussrohr drückte, wurde das Altpapier weggebracht.

Ich schlich über die Stiege zum Dachboden. Das Bett war frisch bezogen. Nirgendwo auch nur ein Flöckchen Staub. Jemand hatte die Fotorahmen von den Wänden genommen. Vielleicht hatte Mutter befürchtet, sie könnten von den Nägeln rutschen und zerspringen. Die Rahmen lagen auf dem Schreibtisch.

Die ersten Fotos zeigten Musiker mit langen, bis über die Schultern reichenden Haaren, die mit verzerrten Gesichtern auf ihre Gitarren oder das Schlagzeug einschlugen. Sie hielten ihre Körper seltsam verrenkt, während ihnen der Schweiß über die Gesichter rann. Die Fotos hatte ich für den »Kurier« gemacht.

Damals waren mir die meisten Musiker, die ich fotografierte, wüst und verdorben vorgekommen. Vielleicht, weil sie ein paar Jahre älter waren als ich und Marihuana rauchten. Jetzt sah ich auf diesen Bildern, die in all den Jahren kaum verblasst waren, nur ein paar harmlose Jungs mit langen Haaren.

Das Foto von Crest war sogar auf der Titelseite des »Kurier« erschienen. Das erzählt eine Geschichte, hatte der Chefredakteur gesagt und mir zwanzig Mark extra gegeben.

Ich hatte die Band an der Grenze fotografiert. Im Hintergrund bauten Soldaten an einem Wachturm. Gerrit saß aufrecht im Gras, hielt eine Zigarette im Mundwinkel und blickte trotzig durch seine Haare in die Kamera, während Knud kniete und anscheinend Mühe hatte, überhaupt die Augen offenzuhalten. Mike lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel. Sein Oberkörper war nackt unter einer filzigen Lammfellweste.

Hinter den Jungs, nur durch einen provisorischen Metallzaun getrennt, standen zwei Grenzsoldaten. Sie waren sicher nicht älter als Knud, Gerrit und Mike, aber in ihren Uniformen wirkten sie doppelt so alt. Standen da mit geschulterten Maschinenpistolen und machten Gesichter, als schössen sie uns gerne sofort über den Haufen.

In dem letzten Bilderrahmen steckte ein Foto von Astrid und mir. Damals war ich neunzehn Jahre alt gewesen. Den Lederblouson hatten mir später ein paar Junkies in Atlanta abgenommen. Ich nahm den Rahmen in die Hand, hielt das Foto gegen das Licht und war bestürzt von der Unschuld in meinem eigenen neunzehnjährigen Gesicht.

Ich sah stolz aus, stolz auf meine schöne Freundin. Astrid hatte ihren Kopf an meine Schulter gelegt und lächelte nur so aus der Schräge, als habe sie es faustdick hinter den Ohren.

Ich hängte das Foto an einen der Nägel und dachte daran, wie oft ich mit Astrid in diesem Zimmer gewesen war. Wie oft hatten wir auf dem Bett gelegen? Nur so oder um Schallplatten zu hören, eingehüllt in die süßlichen Wolken der Räucherstäbchen. Und hatten uns im Arm gehalten.

Ich zog die Reisetasche auf und nahm ein paar Sachen für die Nacht heraus. Ich hatte fast alles in unserem Haus in Bath zurückgelassen, hatte nur die alte Spiegelreflex und die Blechbüchse mit den Fotos eingesteckt. Oben auf das allererste Foto, schwarz-weiß, unscharf, indirekt geblitzt, Astrid in dem Kleid mit den reflektierenden Knöpfen. Das erste von dreihundertzweiundsiebzig Bildern. Dreihundertzweiundsiebzig Bilder in vier Monaten, das waren drei Bilder pro Tag.

Ich öffnete die Dachluke, sah hinaus in die Nacht und stellte mir vor, sie sei nur einmal kurz hinausgegangen und kehrte jeden Augenblick zurück.

Ich rauchte, ließ mich auf das Bett fallen, sank tief ein in die Kissen. Ich betrachtete das Muster der Tapete, ein Labyrinth aus verblichenen gelben, grünen und roten Streifen. Oft hatte ich einen Weg durch dieses Labyrinth gesucht, ohne je irgendwo anzukommen. Ich nahm mir eine der grünen Linien vor, aber schon am zweiten Knotenpunkt verlor ich den Anschluss.

In diesem Zimmer, in diesem Bett, fühlte ich mich wie damals, als neunzehnjähriger verliebter Junge. Ich dachte an Vater. Dass er sich in dem Krankenhaus vielleicht auch so fühlte. Gar nicht wie vierundachtzig, sondern vielleicht erst wie zwanzig. Und dass er sich fragte, weshalb er dann schon sterben sollte, so jung?

Ich schloss die Augen, um ein wenig zu schlafen, aber es ging nicht. Ich machte Licht und nahm eine der alten Zeitungen. Sie schrieben nur belangloses Zeug, und ich hatte beinahe schon umgeblättert, als mir eine Notiz am unteren Rand der Lokalseite auffiel. Noch immer nichts Neues von dem Skelett.

Es waren nur ein paar Zeilen, die sich auf ein Ereignis bezogen, das offenbar Wochen zurücklag. Ich wühlte in den älteren Ausgaben des »Kurier«, bis ich endlich den Bericht fand. Über eine ganze Seite ausgebreitet. Mysteriöser Knochenfund! Skelett vermutlich schon seit Jahrzehnten in Wasserrohr.

Dazu hatten sie ein Foto gedruckt, das einen Polizisten in einem weißen Overall zeigte, der etwas mit einer Greifzange in einen Beutel schob. Der Hund eines Rentners habe sich losgerissen, sei in das Kanalrohr gekrochen und mit einem menschlichen Knochen zurückgekommen, schrieben sie.

Ein paar Ausgaben später hieß es, es handelte sich um die Knochen einer jungen Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes nicht älter als zwanzig war. Das hätten die kriminaltechnischen Untersuchungen ergeben.

Die Leiche sei vermutlich im Sommer 1975 in dem Kanalrohr abgelegt worden. Die Polizei habe bei dem Skelett eine Quittung gefunden. Mit Datum vom 15. August 1975. Außerdem Reste von Zigaretten, die nur bis 1978 hergestellt wurden, sowie ein Stück von einer Fahrradkette und Kerzenwachs.

Ich hörte Mutter husten. Ich verfolgte ihre Schritte bis zum Badezimmer, dann das Rauschen der Wasserspülung. Auf dem Rückweg blieb sie einen Moment stehen. Dann endlich glitt die Tür zu ihrem Schlafzimmers ins Schloss.

Es passte alles zusammen. Das Rohr. Die Leiche. Sommer 1975. Bei dem Gedanken, dass irgendein Kläffer Astrids Knochen apportiert hatte, wurde mir übel.