Abdruck des Gedichts »Alle Fälle« mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags: Wisława Szymborska, Die Gedichte, Herausgegeben und übertragen von Carl Dedecius, Frankfurt am Main, 1997, S. 141.
Abdruck aus »Unerzählt« mit freundlicher Genehmigung des
Hanser Verlags: W.G. Sebald, Unerzählt, Mit Radierungen von Jan Peter Tripp, Mit einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger und einem Nachwort von Andrea Köhler, © 2003 Carl Hanser Verlag München.
Abdruck aus »Ansichtskarten« mit freundlicher Genehmigung von: Miklós Radnóti, Ansichtskarten, Nachdichtung und Nachwort von Franz Fühmann, Verlag Volk und Welt, Berlin, 1967, S. 90.
Für die Brüder Zahav
O tempora! O mores! O mekkora nagy tzoress.
(O tempora! O mores! O welch großer Zores.)
Aus Sumpfdotterblume,
eine Zeitung des ungarischen Arbeitsdienstes
Arbeitslager Bánhida, 1939
Brüllnder Kanonendonner fällt aus Bulgarien ein,
schlägt auf den Bergkamm, zaudert und fällt vor unsre Reih’n.
Gedanken Mensch Tier Wagen staun sich in wüstem Hauf,
es rennt ein mähniger Himmel, die Straße wiehert auf.
Du bist die einzige Feste in all der irren Flut,
in meines Herzens Tiefe ein Glanz, der ewig ruht,
und stumm ist, ein Engel, der überm Verderben bewundernd schwebt,
oder ein Käfer, der sich im morschen Baumstumpf vergräbt.
Miklós Radnóti, Ansichtskarte I,
geschrieben an seine Frau während seines Todesmarsches von Heidenau, 1944
Es ist
Als läge ich
Unter einem niedrigen
Himmel & atmete
Durch ein Nadelöhr
W. G. Sebald
Aus Unerzählt
Später würde er ihr erzählen, dass ihrer aller Geschichte in der königlich-ungarischen Oper begonnen habe, am Vorabend seiner Abreise mit dem Westeuropa-Express nach Paris. Es war das Jahr 1937, der Monat September, der Abend ungewöhnlich kühl. Sein Bruder hatte darauf bestanden, ihn zum Abschied in die Oper einzuladen. Auf dem Programm stand Tosca, sie hatten Plätze ganz weit oben. Die drei Marmorbögen der Fassade, die korinthischen Säulen, die heroischen Statuen im Hauptgesims – nicht für sie. Für sie gab es einen bescheidenen Nebeneingang mit einem rotgesichtigen Kartenabreißer, einen abgewetzten Holzboden und abblätternde Opernplakate an den Wänden. Junge Mädchen in knielangen Kleidern stiegen Arm in Arm mit jungen Männern in fadenscheinigen Anzügen die Stufen hinauf; Pensionäre im Streit mit ihren grauhaarigen Ehefrauen schlurften die fünf schmalen Treppen empor. Oben dann ein fröhliches Geklirre: der mit Spiegeln und Holzbänken gesäumte Erfrischungssalon, die Luft neblig vor Zigarettenqualm. Eine Tür am hinteren Ende führte in den Konzertsaal, in diese gewaltige, elektrisch beleuchtete Höhle mit ihrem Deckenfresko aus griechischen Gottheiten und den mit Goldvoluten geschmückten Rängen. Andras hätte sich nie träumen lassen, hier jemals eine Oper zu sehen, und es wäre auch nie dazu gekommen, wenn Tibor nicht die Karten gekauft hätte. Doch Tibor war der Meinung, zu einem Aufenthalt in Budapest gehöre mindestens ein Abend Puccini im Operaház. In diesem Moment beugte sich Tibor über das Geländer und zeigte Andras die Loge von Admiral Horthy, die allerdings bis auf einen alten General in Husarenjacke verlassen war. Tief unten geleiteten Platzanweiser im Smoking die Herrschaften zu ihren Sitzen, Männer in Abendgarderobe, das Haar der Frauen funkelnd vor Schmuck.
»Wenn Mátyás das doch sehen könnte«, sagte Andras.
»Das wird er noch, Andrácska. Er kommt nach Budapest, wenn er sein Abitur hat. Und ein Jahr später wird ihm die Stadt zum Hals heraushängen.«
Andras musste lächeln. Tibor und er waren nach Budapest gezogen, kurz nachdem sie den Abschluss am Gimnázium in Debrecen gemacht hatten. Aufgewachsen waren die drei Brüder in Konyár, einem kleinen Dorf in der nördlichen Tiefebene, und auch für die beiden Älteren war die Hauptstadt einst der Mittelpunkt der Welt gewesen. Jetzt plante Tibor, zum Medizinstudium nach Italien zu gehen, und Andras, der erst seit einem Jahr in Budapest war, würde am nächsten Tag zu einer Hochschule in Paris aufbrechen. Bis die Nachricht von der École Spéciale d’Architecture gekommen war, hatten alle gedacht, Tibor würde als Erster der beiden fortziehen. In den letzten drei Jahren hatte er als Verkäufer in einem Schuhgeschäft auf der Váci utca gearbeitet, Geld für das Studium zur Seite gelegt und nachts so verbissen über seinen medizinischen Lehrbüchern gebrütet, als stehe sein eigenes Leben auf dem Spiel. Als Andras ein Jahr zuvor bei Tibor eingezogen war, schien die Abreise des großen Bruders kurz bevorzustehen. Tibor hatte die Zulassungsprüfungen bereits bestanden und seine Bewerbung an die Medizinische Fakultät in Modena geschickt. Er vermutete, es würde etwa sechs Monate dauern, bis er angenommen wurde und sein Studentenvisum bekam. Doch dann hatte die Universität ihn auf eine Warteliste für ausländische Studenten gesetzt, und ihm war mitgeteilt worden, dass bis zu seiner Immatrikulation noch ein oder zwei Jahre vergehen könnten.
Seit der Nachricht von Andras’ Stipendium hatte Tibor noch kein Wort über seine eigene Situation verloren, nicht die Spur von Neid erkennen lassen. Stattdessen hatte er Opernkarten gekauft und Andras bei den Reisevorbereitungen geholfen. Als nun das Licht schwächer wurde und das Orchester mit dem Stimmen der Instrumente begann, schämte Andras sich insgeheim: Obwohl er wusste, dass er sich bei umgekehrter Ausgangslage auch für Tibor freuen würde, war ihm klar, dass er dennoch seinen Neid wohl nur schwer würde verbergen können.
Aus einer Tür neben dem Orchestergraben kam ein großer, spindeldürrer Mann mit flammender weißer Haarpracht ins Scheinwerferlicht. Begleitet von anerkennenden Rufen aus dem Publikum trat er ans Pult. Er musste sich noch dreimal verbeugen und kapitulierend die Hände in die Luft recken, ehe es ruhig wurde; dann drehte er sich zu den Musikern um und hob den Dirigentenstab. Nach einem Augenblick gespannter Stille brach das Brausen der Blechblas- und Streichinstrumente los, und ihr mächtiger Klang erfüllte Andras’ Brustkorb, dass ihm fast die Luft wegblieb. Der Samtvorhang hob sich und gab den Blick frei auf das Innere einer italienischen Kathedrale, perfekt wiedergegeben bis ins kleinste Detail. Durch Bleiglasfenster fielen bernsteingelbe und azurblaue Lichtstrahlen, und das halb fertige Fresko von Maria Magdalena leuchtete geisterhaft auf einer Gipswand. Ein Mann in gestreifter Häftlingskleidung schlich in die Kirche und versteckte sich in einer der dunklen Seitenkapellen. Ein Maler kam herein und arbeitete am Fresko, gefolgt von einem Mesner, der penibel darauf achtete, dass der Maler vor dem nächsten Gottesdienst seine Pinsel und Tücher wegräumte. Dann trat die Operndiva Tosca auf, das Modell für die Maria Magdalena. Die karmesinroten Röcke rauschten um ihre Knöchel. Gesang stieg empor und schwebte unter der bemalten Kuppel des Operaház: der klarinettengleiche Tenor des Malers Cavaradossi, der volltönende Bass des flüchtigen Angelotti, der aprikosenwarme Sopran der fiktiven Diva Tosca, verkörpert durch die ungarische Diva Zsuzsa Toronyi. Der Klang war so dicht, so greifbar, dass Andras das Gefühl hatte, ihn mit den Händen fassen zu können, wenn er sich über die Brüstung lehnte. Das Gebäude selbst war zu einem Instrument geworden, dachte er: Die Architektur weitete und perfektionierte den Klang, unterstrich und umschloss ihn.
»Das werde ich nie vergessen«, flüsterte Andras seinem Bruder zu.
»Das will ich dir auch geraten haben«, wisperte Tibor zurück. »Ich erwarte von dir, dass du mich in die Oper ausführst, wenn ich dich in Paris besuche.«
In der Pause tranken sie im Erfrischungssalon kleine Tassen schwarzen Kaffee und unterhielten sich über das, was sie gesehen hatten. Weigerte sich der Maler eher aus selbstloser Treue oder aus selbstherrlichem Wagemut, seinen Freund zu verraten? Sublimierte die Folter, die er deshalb über sich ergehen lassen musste, sein sexuelles Begehren, seine Fixiertheit auf Tosca? Hätte Tosca Scarpia auch dann erstochen, wenn ihr das Melodramatische durch ihren Beruf nicht in Fleisch und Blut übergegangen wäre? Dieser Gedankenaustausch hatte etwas Bittersüßes für Andras; stundenlang hatte er als kleiner Junge zugehört, wenn Tibor mit seinen Freunden über Philosophie, Sport oder Literatur diskutierte, und sich nach dem Tag gesehnt, wenn er eine Bemerkung machen würde, die Tibor geistreich oder zutreffend fand. Doch nun, da er dem großen Bruder ebenbürtig war, zumindest annähernd, ging er selbst fort, stieg in einen Zug, der ihn Tausende von Kilometern in die Ferne trug.
»Was hast du?«, fragte Tibor und legte Andras die Hand auf den Arm.
»Zu viel Rauch«, sagte er hustend und wich Tibors Blick aus. Er war erleichtert, als die flackernden Lampen das Ende der Pause ankündigten.
Nach dem dritten Akt und zahllosen Vorhängen – Tosca und Cavaradossi wunderbarerweise von den Toten auferstanden, der böse Scarpia süß lächelnd mit einem Armvoll roter Rosen – drängten Andras und Tibor auf den Ausgang zu und schoben sich die überfüllte Treppe hinunter. Draußen waren über dem fahlen Licht der Stadt nur schwach einige Sterne zu sehen. Tibor nahm Andras am Arm und führte ihn nach vorn zur Andrássy- Seite des Gebäudes, wo nach und nach die Stammbesucher vom ersten Rang und Parkett durch die drei Marmorbögen des Haupteingangs nach draußen traten.
»Ich möchte, dass du dir das Foyer anschaust«, sagte er. »Wir sagen dem Platzanweiser einfach, wir hätten etwas vergessen.«
Andras folgte Tibor durch den mittleren Marmorbogen in die kronleuchterhelle Eingangshalle, wo eine Marmortreppe ihre Flügel bis zur Galerie spannte. Herren und Damen in Abendkleidung schritten herab, doch Andras hatte nur Augen für die Architektur: das Eierstabmuster entlang der Treppe, das Kreuzgewölbe darüber, die grau-goldenen korinthischen Säulen, die die Galerie trugen. Miklos Ybl, ein Ungar aus Székesfehérvár, hatte mit seinem Entwurf die internationale Ausschreibung für das Opernhaus gewonnen; Andras’ Vater hatte seinem Sohn zum achten Geburtstag ein Buch mit Ybls Zeichnungen geschenkt; viele Nachmittage hatte Andras damit verbracht, das Bauwerk zu studieren. Während das Publikum um ihn herum auf die Straße drängte, staunte er hinauf in das Deckengewölbe und war derart vertieft in den Vergleich dieser dreidimensionalen Version mit den filigranen Zeichnungen in seinem Gedächtnis, dass er kaum wahrnahm, wie jemand vor ihm stehen blieb und ihn ansprach. Er musste blinzeln und sich bewusst auf die Person konzentrieren, eine imposante Dame in aufgeplustertem Zobelmantel, der er offenbar im Weg stand. Andras verbeugte sich und trat beiseite.
»Nein, nein«, sagte sie. »Sie stehen genau dort, wo Sie sein sollen. Welch ein Glück, Sie hier zu treffen! Ich hätte nicht gewusst, wie ich Sie sonst hätte ausfindig machen sollen.«
Andras versuchte sich zu erinnern, wann und wo er diese Dame kennengelernt haben mochte. Eine Diamantkette funkelte um ihren Hals, unter ihrem fellgefütterten Mantel schaute der Rock eines rosenfarbenen Seidenkleids hervor; ihr dunkles Haar war zu einer Kappe eng anliegender Locken gesteckt. Sie führte ihn am Arm hinaus zur Eingangstreppe.
»Das waren Sie doch letztens in der Bank, oder?«, fragte die Dame. »Sie waren das mit dem Umschlag voller Francs.«
Jetzt erkannte Andras sie wieder: Es war Elza Hász, die Gattin des Bankdirektors. Andras hatte sie einige Male in der großen Synagoge auf der Dohány utca gesehen, wo Tibor und er gelegentlich freitagabends den Gottesdienst besuchten. Vor Kurzem war Andras in der Bank mit ihr zusammengestoßen, als sie die Eingangshalle durchquerte; sie hatte ihre gestreifte Hutschachtel fallen lassen, ihm war der Umschlag mit den Franc-Scheinen aus der Hand gerutscht. Der Umschlag hatte sich geöffnet, und die rosagrünen Banknoten waren wie Herbstlaub um ihre Füße geflattert. Andras hatte die Hutschachtel aufgehoben, sie Frau Hász zurückgereicht und beobachtet, wie sie durch eine Tür mit der Aufschrift PRIVAT verschwand.
»Sie sehen aus, als wären Sie ungefähr im Alter meines Sohnes«, sagte sie nun. »Und aus der Währung Ihres Geldes schließe ich, dass Sie auf dem Weg zum Studium nach Paris sind.«
»Morgen Nachmittag«, sagte Andras.
»Sie müssen mir einen großen Gefallen tun. Mein Sohn studiert an der Beaux-Arts, und ich möchte gerne, dass Sie ein Paket für ihn mitnehmen, eine kleine Kiste. Wäre das eine allzu schlimme Zumutung?«
Es dauerte eine Weile, ehe Andras antworten konnte. Die Zusage, ein Paket nach Paris zu befördern, bedeutete einzugestehen, dass er tatsächlich ging, dass er seine Brüder, seine Eltern und sein Land hinter sich lassen und in die unbekannte Weite Westeuropas aufbrechen würde.
»Wo wohnt Ihr Sohn denn?«, fragte er.
»Im Quartier Latin natürlich«, sagte sie lachend. »In einer Mansardenwohnung, nicht in so einer hübschen Villa wie unser Cavaradossi. Obwohl er schreibt, er hätte heißes Wasser und einen Blick aufs Panthéon. Ach, da kommt der Wagen!« Eine graue Limousine fuhr vor, und Frau Hász hob den Arm, um dem Chauffeur ein Zeichen zu geben. »Kommen Sie morgen Vormittag vorbei. Benczúr utca 26. Ich werde alles bereithalten.« Sie zog den Kragen ihres Mantels enger und hastete hinunter zum Wagen, ohne Andras noch eines Blickes zu würdigen.
»Na!«, sagte Tibor und gesellte sich zu Andras auf der Treppe. »Du erzählst mir bestimmt, was das gerade war.«
»Ich soll mich als internationaler Kurier betätigen. Madame Hász möchte, dass ich ihrem Sohn in Paris ein Paket übergebe. Sie hat mich letztens in der Bank gesehen, als ich Geld gewechselt habe.«
»Hast du zugesagt?«
»Ja.«
Tibor seufzte und blickte hinüber zu den gelben Straßenbahnen, die den Boulevard entlangfuhren. »Es wird hier bestimmt schrecklich langweilig ohne dich, Andrácska.«
»Blödsinn! Ich wette, es dauert keine Woche, und du hast eine Freundin.«
»Na klar! Die Mädchen sind ganz verrückt nach einem armen Schuhverkäufer.«
Andras grinste. »Na endlich, ein wenig Selbstmitleid! Ich bin schon langsam verzweifelt, weil du so großherzig und verständnisvoll bist.«
»Ganz und gar nicht. Ich könnte dich umbringen. Aber was würde das nützen? Dann würde keiner von uns beiden ins Ausland kommen.« Tibor grinste, doch seine Augen hinter dem silbernen Brillengestell waren ernst. Er hakte sich bei Andras unter und führte ihn, einige Takte der Ouvertüre summend, die Stufen hinab. Es waren nur drei Querstraßen bis zu ihrem Haus auf der Hársfa utca; vor der Tür blieben sie stehen und sogen noch einmal die Nachtluft ein, ehe sie zu ihrer Wohnung hinaufstiegen. Der Himmel über dem Operaház hinter ihnen war blassorange vom Streulicht, das Echo der Straßenbahnglocken klang vom Boulevard herüber. Im Halbdunkel fand Andras Tibor so schön wie einen Filmstar, keck, wie er den Hut auf den Kopf gesetzt und sich den weißen seidenen Abendschal über die Schulter geworfen hatte. In diesem Moment sah sein Bruder aus wie ein Mann, der ein aufregendes, unkonventionelles Leben vor sich hatte, ein Mann, der viel besser als Andras geeignet war, in einem fremden Land aus einem Eisenbahnwaggon zu steigen, um dort sein Glück zu machen. Dann zog Tibor zwinkernd den Schlüssel aus der Tasche, und einen Augenblick später jagten sie die Treppen hinauf wie Schuljungen.
Frau Hász wohnte in der Nähe des Városliget, des Stadtparks mit seiner Märchenburg und der weitläufigen Badeanstalt. Das Haus auf der Benczúr utca war eine Villa im italienischen Stil mit cremefarbenem Stuck, auf drei Seiten von einem verborgenen Garten umgeben; hinter einer weißen Steinmauer erhoben sich die Wipfel von Spalierbäumen. Andras konnte das schwache Plätschern eines Springbrunnens ausmachen und das Kratzen eines Gärtnerrechens. Er fand es schwer vorstellbar, dass hier Juden lebten, doch am Eingang war eine Mesusa an den Türrahmen genagelt – ein von goldenem Efeu umrankter silberner Zylinder. Als Andras auf die Klingel drückte, erklang im Haus ein fünftöniges Geläut. Dann näherten sich klappernd Absätze auf Marmor, schwere Riegel wurden zurückgeschoben. Eine weißhaarige Haushälterin öffnete die Tür und bat Andras herein. Er trat in einen Eingangsbereich mit Kuppeldecke und rosafarbenem Marmorboden, in dessen Mitte ein Intarsientisch mit einer chinesischen Vase voller Callas stand.
»Madame Hász ist im Wohnzimmer«, sagte die Frau.
Andras folgte ihr durch die Eingangshalle und einen Gang mit gewölbter Decke hinunter. Sie blieben vor einer Tür stehen, durch die er das Crescendo und Decrescendo von Frauenstimmen hörte. Andras konnte die einzelnen Worte nicht verstehen, aber es war ganz offensichtlich ein Streit: Eine Stimme wurde immer höher und schriller, dann wieder schwächer; die andere war anfangs ruhig, erhob sich, setzte nach und verstummte schließlich.
»Warten Sie kurz«, bat die Haushälterin und ging hinein, um Andras’ Ankunft zu verkünden. Es folgte abermals ein kurzer Wortwechsel, als hätte der Streit etwas mit Andras zu tun. Dann kam die weißhaarige Frau wieder heraus und geleitete ihn in einen großen, hellen Raum, in dem es nach Blumen und gebuttertem Toast roch. Auf dem Boden lagen rosa-goldene Perserteppiche, darauf standen weiße Damastsessel, zwei lachsfarbene Sofas; auf einem niedrigen Tisch eine Schale mit gelben Rosen. Frau Hász hatte sich von ihrem Stuhl in der Ecke erhoben. An einem Sekretär am Fenster saß eine ältere Dame in schwarzer Witwentracht, das Haar mit einem Spitzentuch bedeckt. Sie hielt einen wachsversiegelten Brief in der Hand, den sie unter einen gläsernen Briefbeschwerer auf einen Bücherstapel legte. Frau Hász durchquerte das Zimmer, um Andras zu begrüßen. Ihre Hand war fest und kalt.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Das ist meine Schwiegermutter, die ältere Frau Hász.« Sie wies mit dem Kinn auf die Dame in Schwarz. Die Frau war zierlich und hatte tiefe Falten im Gesicht, das Andras trotz seiner kummervollen Aura schön fand; die großen grauen Augen strahlten stillen Schmerz aus. Er deutete eine Verbeugung an und grüßte förmlich: Kezét csókolom, ich küsse Ihre Hand.
Die ältere Dame nickte zur Erwiderung. »Sie haben sich also bereit erklärt, József ein Paket zu bringen«, sagte sie. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Es gibt sicherlich schon genug, an das Sie denken müssen.«
»Nicht der Rede wert.«
»Wir werden Sie nicht lange aufhalten«, sagte Frau Hász. »Simon packt gerade die letzten Dinge ein. In der Zwischenzeit werde ich eine Kleinigkeit zu essen bringen lassen. Sie sehen halb verhungert aus.«
»Nein, bitte machen Sie sich keine Umstände!«, sagte Andras. Tatsächlich hatte ihn der verlockende Toastgeruch daran erinnert, dass er noch nichts gegessen hatte, doch er befürchtete, dass selbst die kleinste Mahlzeit in diesem Haus eine längere Zeremonie mit ihm unbekannten Regeln erforderlich machen würde. Und er hatte es eilig: Sein Zug ging in drei Stunden.
»Junge Männer haben immer Hunger«, sagte Frau Hász und rief die Haushälterin zu sich. Sie gab ihr einige Anweisungen und schickte sie wieder davon.
Die ältere Dame erhob sich von ihrem Stuhl am Schreibtisch und machte Andras Zeichen, neben ihr auf einem der lachsfarbenen Sofas Platz zu nehmen. Er setzte sich, besorgt, seine Hose könne einen Fleck auf der Seide hinterlassen. Die ältere Frau Hász faltete ihre schmalen Hände im Schoß und fragte Andras, was er in Paris studieren werde.
»Architektur«, erwiderte er.
»Tatsächlich? Dann werden Sie ja ein Kommilitone von József an der Beaux-Arts sein, nicht?«
»Ich gehe auf die École Spéciale«, sagte Andras. »Nicht auf die Beaux-Arts.«
Die jüngere Frau Hász nahm auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz. »Die École Spéciale?«, wiederholte sie. »Von der hat József noch nie gesprochen.«
»Das ist eher eine Handwerksschule als eine Hochschule wie die Beaux-Arts«, sagte Andras. »So habe ich es wenigstens verstanden. Ich habe ein Stipendium von Izraelita Hitközség. Eigentlich war es ein glücklicher Zufall.«
»Ein Zufall?«
Und Andras erzählte: Der Chefredakteur von Vergangenheit und Zukunft, der Zeitschrift, bei der er arbeitete, hatte Andras’ Umschlagentwürfe für eine Ausstellung in Paris eingereicht – eine Werkschau junger mitteleuropäischer Künstler. Seine Arbeiten waren ausgewählt und ausgestellt worden; ein Professor von der École Spéciale hatte die Ausstellung gesehen und Erkundigungen über Andras eingeholt. Der Chefredakteur hatte dem Professor erklärt, dass Andras Architekt werden wolle, es aber für jüdische Studenten in Ungarn schwierig sei, einen Studienplatz zu bekommen: Ein längst überholter Numerus clausus, der die Zahl der jüdischen Studenten seit den Zwanzigerjahren auf sechs Prozent beschränkte, schwebte immer noch unheilvoll über den Universitäten. Der Professor von der École Spéciale hatte Briefe geschrieben und die Zulassungsstelle schriftlich ersucht, Andras einen Platz in einer Anfängerklasse zu geben. Der jüdische Gemeindeverband von Budapest, Izraelita Hitközség, hatte das Geld für Unterricht, Unterkunft und Logis aufgebracht. Es war alles innerhalb weniger Wochen über die Bühne gegangen, auch wenn es immer wieder ausgesehen hatte, als würde das Unternehmen doch noch ins Wasser fallen. War es jedoch nicht; Andras würde fahren. Sein Unterricht begann in sechs Tagen.
»Aha«, erwiderte die jüngere Frau Hász, als er zu Ende berichtet hatte, »was für ein Glück! Und dann auch noch ein Stipendium!« Doch bei den letzten Worten senkte sie den Blick, und Andras wurde von einer Empfindung aus seiner Schulzeit in Debrecen heimgesucht: eine unerwartete Scham, als sei er bis auf die Unterwäsche entkleidet. Nur wenige Male hatte er damals unter der Woche den Nachmittag bei Mitschülern verbracht, die in der Stadt wohnten, deren Väter Anwälte oder Bankiers waren und die keinen Schlafplatz bei armen Leuten hatten – Jungen, die nachts allein in ihrem Bett schliefen, die in gebügelten Hemden zur Schule kamen und jeden Tag zu Hause Mittag aßen. Einige Mütter dieser Jungen hatten Andras beflissen mitleidig, andere angewidert distanziert behandelt. In ihrer Gegenwart hatte er sich nackt gefühlt. Jetzt zwang er sich, Józsefs Mutter anzuschauen und zu sagen: »Ja, es ist ein großes Glück.«
»Und wo werden Sie wohnen?«, fragte sie.
Andras rieb sich mit den feuchten Handflächen über die Knie. »Im Quartier Latin vermutlich.«
»Aber wo werden Sie schlafen, wenn Sie ankommen?«
»Ich muss mich vor Ort noch um ein Zimmer kümmern.«
»Unsinn!«, sagte die ältere Dame und legte ihre Hand auf die von Andras. »Sie werden zu József gehen, das werden Sie tun.«
Die jüngere Frau Hász hüstelte und betastete ihr Haar. »Wir sollten keine Zusagen in Józsefs Namen machen«, sagte sie. »Vielleicht hat er keinen Platz für einen Gast.«
»Ach, Elza, du bist furchtbar hochnäsig«, sagte ihre Schwiegermutter. »Herr Lévi erweist József einen Dienst. Da wird er bestimmt ein Sofa für ihn erübrigen können, zumindest für ein paar Tage. Wir werden ihm heute Nachmittag telegrafieren.«
»Da kommen die Sandwiches«, sagte die Jüngere, sichtlich erleichtert über die Ablenkung.
Die Haushälterin schob einen Teewagen ins Zimmer. Neben dem Teeservice stand eine gläserne Kuchenplatte mit einem Berg von Sandwiches, so blass, als seien sie aus Schnee geformt. Am Fuß der Platte lag eine scherenähnliche Silberzange, wie zur Ermahnung, dass die Brote nicht für die Berührung von Menschenhand gedacht waren. Die ältere Dame griff zu der Zange und stapelte mehr Sandwiches auf Andras’ Teller, als er selbst zu nehmen gewagt hätte. Als die jüngere Frau Hász sich ohne die Hilfe von Silberbesteck oder Zange ein Sandwich nahm, traute Andras sich auch, in eines hineinzubeißen. Es war mit Dill-Rahmkäse bestrichen, die Krusten waren abgeschnitten worden. Hauchdünne Scheibchen gelber Paprika waren der einzige Hinweis, dass das Sandwich von einem Ort innerhalb der Grenzen Ungarns stammte.
Während die jüngere Frau Hász Andras eine Tasse Tee einschenkte, ging ihre Schwiegermutter an den Schreibtisch und zog ein weißes Kärtchen hervor, auf das sie Andras bat, seinen Namen und seine Anreisedaten zu notieren. Sie wollte József telegrafieren und ihn bitten, am Bahnhof auf Andras zu warten. Sie reichte ihm einen gläsernen Füllhalter mit einer filigranen zarten Goldfeder. Andras beugte sich über den niedrigen Tisch und schrieb die Angaben in seiner kantigen Druckschrift nieder, voller Angst, die Feder zu zerbrechen oder Tinte auf den Perserteppich zu tropfen. Stattdessen beschmierte er seine Finger, was er jedoch erst bemerkte, als er auf sein letztes Sandwich hinabsah und das Brot violette Flecke hatte. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis dieser Simon, wer auch immer das war, mit der Kiste für József auftauchte. Von weit hinten im Flur war ein Hämmern zu hören. Andras hoffte, dass der Deckel jetzt zugenagelt wurde.
Die ältere Frau schien sich darüber zu freuen, dass Andras seinen Teller leer gegessen hatte. Sie schenkte ihm ein warmes, zugleich aber auch kummervolles Lächeln. »Dann werden Sie also das erste Mal in Paris sein.«
»Ja«, bestätigte Andras. »Das erste Mal im Ausland.«
»Lassen Sie sich nicht von meinem Enkel kränken«, sagte sie. »Er ist ein lieber Junge, wenn man ihn besser kennt.«
»József ist ein perfekter Gentleman«, fuhr die jüngere Frau Hász dazwischen und errötete bis unter die Haarwurzeln ihrer dicht gesteckten Locken.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, ihm zu telegrafieren«, sagte Andras.
»Aber nicht doch«, gab die Ältere zurück. Sie schrieb Józsefs Adresse auf eine andere Karte und reichte sie ihm. Kurz darauf betrat ein Mann in einer Butlerlivree den Salon mit einer riesigen Holzkiste in den Armen.
»Danke, Simon«, sagte die jüngere Frau Hász. »Sie können das hier hinstellen.«
Der Mann setzte die Kiste auf dem Teppich ab und zog sich zurück. Andras warf einen kurzen Blick auf die goldene Uhr über dem Kaminsims. »Vielen Dank für die Sandwiches«, sagte er. »Ich gehe jetzt besser.«
»Bleiben Sie doch noch einen Moment, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte die Dame in Schwarz. »Ich möchte Sie bitten, noch etwas mitzunehmen.« Sie ging zum Schreibtisch und zog den versiegelten Brief unter dem Briefbeschwerer hervor.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Lévi«, sagte die jüngere Frau Hász peinlich berührt. Sie erhob sich, ging durchs Zimmer und legte ihrer Schwiegermutter die Hand auf den Arm. »Wir haben doch darüber gesprochen.«
»Dann werde ich mich nicht wiederholen«, gab die Ältere zurück und senkte die Stimme. »Nimm bitte deine Hand weg, Elza.«
Józsefs Mutter schüttelte den Kopf. »György wäre auch meiner Meinung. Es ist unklug.«
»Mein Sohn ist ein guter Mann, aber er weiß nicht immer, was klug ist und was nicht«, sagte die ältere Frau Hász. Vorsichtig entzog sie ihren Arm dem Griff der Schwiegertochter, kehrte zum lachsfarbenen Sofa zurück und reichte Andras das Kuvert. Darauf geschrieben waren der Name C. MORGENSTERN und eine Adresse in Paris.
»Das ist eine Nachricht für einen Freund der Familie«, sagte sie und sah Andras fest in die Augen. »Vielleicht halten Sie mich für übervorsichtig, doch aus gewissen Gründen möchte ich mich nicht so recht auf die ungarische Post verlassen. Es könnte etwas verloren gehen oder in die falschen Hände geraten, wissen Sie.« Sie wandte den Blick nicht von Andras ab, schien ihn zu bitten, nicht zu hinterfragen, was sie damit meinte oder was heikel genug sein mochte, um dieses Maß an Vorsicht notwendig zu machen. »Wenn Sie so freundlich sind, wäre es mir lieber, wenn Sie mit niemandem über den Brief sprächen. Insbesondere nicht mit meinem Enkel. Kaufen Sie einfach nur eine Marke und werfen Sie das Kuvert in einen Briefkasten, wenn Sie in Paris sind. Sie würden mir einen großen Gefallen tun.«
Andras schob den Brief in seine Brusttasche. »Keine Ursache«, sagte er.
Die jüngere Frau Hász stand steif neben dem Schreibtisch, die Wangen trotz des Puders gerötet. Eine Hand ruhte noch immer auf dem Bücherstapel, als könne sie den Brief durch den Raum an seinen vorherigen Platz zurückbeordern. Aber es war nicht mehr zu ändern, das war offensichtlich; die Ältere hatte gewonnen, die Jüngere musste nun so tun, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Sie fing sich und glättete ihren grauen Rock, dann kehrte sie zu dem Sofa zurück, wo Andras saß.
»Nun«, sagte sie und faltete die Hände. »Dann haben wir unsere Geschäfte jetzt wohl abgeschlossen. Ich hoffe, mein Sohn wird Ihnen in Paris eine Hilfe sein.«
»Danke für alles«, sagte Andras. »Ist das die Kiste, die ich mitnehmen soll?«
»Ja, das ist sie«, sagte Józsefs Mutter und führte ihn darauf zu.
Die Holzkiste war groß genug für zwei Picknickkörbe. Andras hob sie an und machte einige schwankende Schritte auf die Tür zu.
»Du liebe Güte«, sagte Frau Hász. »Schaffen Sie das?«
Andras nickte stumm.
»Oh, nein! Sie dürfen sich nicht so anstrengen!« Sie drückte auf einen Schalter an der Wand, und kurz darauf erschien erneut Simon. Er nahm Andras die Kiste ab und marschierte durch die Haustür nach draußen. Andras folgte ihm, und die ältere Frau Hász begleitete ihn bis zur Auffahrt, wo der lange graue Wagen wartete. Offenbar wollten sie ihn darin nach Hause bringen. Es war eine englische Marke, ein Bentley. Andras wünschte, Tibor könne ihn sehen.
Józsefs Großmutter legte ihm eine Hand auf den Arm. »Vielen Dank für alles«, sagte sie.
»Ist mir ein Vergnügen.« Andras verbeugte sich zum Abschied.
Sie drückte seinen Arm und ging dann ins Haus; die Tür fiel lautlos hinter ihr ins Schloss. Als der Wagen anfuhr, sah Andras sich unvermittelt noch einmal nach dem Haus um. Er suchte die Fenster ab, ohne genau zu wissen, was er zu sehen erwartete. Dort rührte sich nichts, weder ein Vorhang noch der Schemen eines Gesichts hinter einer Scheibe. Andras stellte sich vor, wie die jüngere Frau Hász schweigend enttäuscht in den Salon zurückkehrte, während die ältere sich in die Tiefen hinter der butterfarbenen Fassade zurückzog und einen Raum betrat, dessen prall gepolsterte Möbel sie zu ersticken drohten, ein Zimmer mit Fenstern, die einen trostlosen Ausblick boten. Andras drehte sich um und legte einen Arm auf die Kiste für József, dann nannte er zum letzten Mal seine Adresse auf der Hársfa utca.
Natürlich erzählte er Tibor von dem Brief; ein solches Geheimnis hätte er ihm nicht vorenthalten können. In ihrem gemeinsamen Schlafzimmer nahm sein Bruder den Umschlag und hielt ihn gegen das Licht. Er war mit rotem Siegelwachs verschlossen, in das die ältere Frau Hász ihr Monogramm gedrückt hatte.
»Was hältst du davon?«, fragte Andras.
»Romantische Verwicklungen«, sagte Tibor und grinste. »Die Marotten einer betagten Dame, dazu eine fixe Idee über die Unzuverlässigkeit der Post. Ein ehemaliger Liebhaber, dieser Morgenstern auf der Rue de Sévigné. Würde ich sagen.« Er reichte Andras den Brief zurück. »Jetzt bist du auch Teil dieser Liebesgeschichte.«
Andras schob den Brief in ein Fach seines Koffers und nahm sich vor, ihn nicht zu vergessen. Dann ging er zum fünfzigsten Mal seine Liste durch und stellte fest, dass es nichts anderes mehr zu tun gab, als nach Paris aufzubrechen. Um das Geld fürs Taxi zu sparen, lieh er sich mit Tibor einen Karren vom Lebensmittelhändler nebenan, und gemeinsam schoben sie Andras’ Koffer und die riesige Kiste für József bis zum Nyugati-Bahnhof. Am Schalter gab es eine kurze Unstimmigkeit wegen Andras’ Reisepass, der offenbar zu neu aussah, um echt zu sein; ein Ausreisebeamter musste konsultiert werden, dann ein noch höherer Beamter, schließlich sogar ein Ober-Beamter in einem mit goldenen Knöpfen verzierten Mantel, der ein kleines Zeichen an den Rand von Andras’ Reisepass machte und die anderen Beamten tadelte, ihn von seiner Arbeit abgehalten zu haben. Wenige Minuten, nachdem die Sache mit den Papieren erledigt war, hantierte Andras in seinem Lederranzen herum und ließ den Reisepass in den schmalen Spalt zwischen Bahnsteig und Zug fallen. Ein verständnisvoller Herr bot seinen Regenschirm an; Tibor schob den Schirm in den Spalt und bugsierte den Pass an eine Stelle, wo er ihn mit der Hand erreichen konnte.
»Ich würde sagen, jetzt sieht er benutzt aus«, sagte er, als er ihn herauszog und Andras reichte. Der Reisepass war verdreckt und an einer Ecke eingerissen, wo Tibor ihn mit dem Regenschirm aufgespießt hatte. Andras verstaute ihn diesmal sorgfältig, und die beiden gingen den Bahnsteig hinunter bis zur Tür des Waggons dritter Klasse, wo ein Schaffner mit rot-goldener Mütze die Reisenden in den Zug bugsierte.
»Nun«, sagte Tibor, »du gehst jetzt wohl besser auf deinen Platz.« Seine Augen hinter der Brille waren feucht, er legte Andras die Hand auf den Arm. »Pass von jetzt an gut auf deinen Ausweis auf.«
»Das werde ich«, sagte Andras, ohne Anstalten zu machen, in den Zug zu steigen. Die große Stadt Paris wartete; plötzlich war ihm schwindelig vor Angst.
»Alles einsteigen!«, rief der Schaffner und warf Andras einen Blick zu.
Tibor küsste Andras auf beide Wangen und drückte ihn lange Zeit an sich. Wenn sie als Kinder zur Schule gegangen waren, hatte ihr Vater ihnen immer die Hände auf den Kopf gelegt und das Reisegebet gesprochen, ehe er sie in den Zug steigen ließ; jetzt flüsterte Tibor die Worte leise vor sich hin: Möge Gott deine Schritte zum Frieden leiten und dich vor aller Gefahr behüten. Er bewahre dich vor allem Unheil dieser Welt. Möge Gott bei allen, die dir begegnen, Freundlichkeit walten lassen. Dann gab er Andras noch einen Kuss. »Du wirst als Mann von Welt zurückkommen«, sagte er. »Als Architekt. Dann kannst du mir ein Haus bauen. Ich verlass mich darauf, hörst du?«
Andras brachte kein Wort hervor. Er seufzte schwer und blickte auf den glatten Beton des Bahnsteigs, wo sich Reiseaufkleber ungezählter Nationen sammelten. Deutschland. Italien. Frankreich. Er fühlte sich mit seinem Bruder über die Gefäße, über das Gewebe verbunden, so als seien sie an der Brust zusammengewachsen; die Vorstellung, dass Andras in einen Zug steigen würde, um von seinem Bruder fortgebracht zu werden, erschien ihm so falsch wie das Einstellen der Atmung. Der Schaffner pfiff.
Tibor nahm die Brille ab und drückte sich mit den Fingern in die Augenwinkel. »Genug jetzt«, sagte er. »Wir sehen uns bald wieder. Los mit dir.«
Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit stellte Andras fest, dass er durch das Fenster eine kleine Stadt sah, in der alle Straßenschilder und Geschäfte auf Deutsch beschriftet waren. Der Zug musste über die Grenze gehuscht sein, ohne dass Andras es bemerkt hatte; während er schlief, ein Buch mit Petőfi-Gedichten auf dem Schoß, hatten sie die landumschlossene Keimzelle Ungarns verlassen und die große weite Welt erreicht. Andras legte die Hände wie ein Fernglas an die Scheibe und suchte in den schmalen Straßen nach Österreichern, konnte aber keine entdecken; die Häuser wurden immer kleiner und lagen immer weiter auseinander, dann ging die Ortschaft in Landschaft über. Österreichische Scheunen, schummrig im Mondlicht. Österreichische Kühe. Ein österreichischer Karren, beladen mit silbrigem Heu. In weiter Ferne unter dem nachtblauen Himmel das dunklere Blau der Berge. Andras öffnete das Fenster ein paar Zentimeter; die Luft draußen war kühl und roch nach brennendem Holz.
Er hatte das sonderbare Gefühl, nicht zu wissen, wer er war, als hätte er die Landkarte seiner eigenen Existenz verlassen. Es war das genaue Gegenteil der Empfindung, die er immer hatte, wenn er von Budapest ostwärts nach Konyár fuhr, um seine Eltern zu besuchen; auf jenen Fahrten zu seinem Geburtsort hatte er das Gefühl, tiefer zu seinem Selbst vorzudringen, sich einem wesentlichen Kern zu nähern wie der reiskorngroßen Miniatur in der Mitte der russischen Matrjoschkapuppe, die bei seiner Mutter in der Küche auf der Fensterbank stand. Doch was sollte er jetzt in sich sehen, in diesem Andras Lévi, der mit dem Zug durch Österreich nach Westen fuhr? Vor der Abreise in Budapest hatte er kaum darüber nachgedacht, wie schlecht vorbereitet er für ein Abenteuer wie dieses war, ein fünfjähriges Studium an einem Architekturkolleg in Paris. Wien oder Prag hätte er vielleicht gemeistert; er hatte immer gute Zensuren in Deutsch gehabt, die Sprache seit dem zwölften Lebensjahr gelernt. Aber es waren Paris und die École Spéciale, die ihn haben wollten, und jetzt würde er mit seinen zwei Schuljahren halb vergessenem Französisch zurechtkommen müssen. Andras kannte nur wenig mehr als ein paar Essensbezeichnungen, Namen von Körperteilen und lobende Adjektive. Wie alle Jungen an seiner Schule in Debrecen hatte er sich die französischen Wörter für die Sexstellungen gemerkt, die auf einem Satz alter Fotografien abgebildet waren, weitergereicht von einer Schülergeneration an die nächste: croupade, les ciseaux, à la grecque. Die Postkarten waren so alt und so gründlich betastet worden, dass die Abbildungen ineinander verschlungener Paare nur noch als silberne Geister sichtbar waren, und das auch nur, wenn die Karten in einem bestimmten Winkel zum Licht gehalten wurden. Was wusste Andras darüber hinaus vom Französischen – oder auch von Frankreich? Er wusste, dass das Land mit einer Seite ans Mittelmeer und mit einer anderen an den Atlantik grenzte. Er wusste ein wenig über die Truppenbewegungen und Schlachten im Großen Krieg. Natürlich kannte er die großen Kathedralen von Reims und Chartres; er kannte Notre-Dame de Paris und Sacré-Cœur, den Louvre. Aber das war alles, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. In den wenigen Wochen, die ihm zur Vorbereitung auf die Reise geblieben waren, hatte er einen altmodischen Sprachführer durchgearbeitet, billig erstanden in einem Antiquariat auf der Szent István körut. Das Buch musste aus der Zeit vor dem Großen Krieg stammen; es bot Übersetzungen für Sätze wie Wo kann ich ein Pferdegespann mieten? Oder Ich bin Ungar, aber mein Freund ist Preuße.
Am vergangenen Wochenende war Andras heim nach Konyár gefahren, um sich von seinen Eltern zu verabschieden. Bei einem Verdauungsspaziergang durch den Obstgarten hatte er plötzlich seinem Vater all seine Ängste gestanden. Er hatte eigentlich gar nichts sagen wollen; zwischen den Söhnen und ihrem Vater herrschte das stillschweigende Einverständnis, dass man sich als Ungar keinerlei Schwäche anmerken ließ, auch nicht in Krisenzeiten. Doch als sie zwischen den Apfelbäumen umhergingen und das kniehohe Gras zur Seite traten, war es aus Andras herausgebrochen. Warum, fragte er sich laut, sei ausgerechnet er unter all den Künstlern in der Pariser Ausstellung ausgesucht worden? Wie war das Zulassungsgremium der École Spéciale zu dem Schluss gekommen, dass gerade er diese Gunst verdient hatte? Selbst wenn seine Arbeiten gewisse Qualitäten besaßen – wer wollte denn sagen, dass er jemals wieder so etwas schaffen würde oder, wichtiger noch, dass er erfolgreich Architektur studieren könnte, ein völlig anderes Fach als alles, mit dem er sich bisher beschäftigt hatte? Bestenfalls, sagte er seinem Vater, sei er der Nutznießer falscher Hoffnungen, schlimmstenfalls ein schlichter Schwindler.
Sein Vater warf lachend den Kopf in den Nacken. »Ein Schwindler?«, sagte er. »Du, der mir mit acht Jahren Miklós Ybl vorgelesen hat?«
»Etwas zu mögen heißt noch lange nicht, auch gut darin zu sein.«
»Es gab eine Zeit, da studierten Männer Architektur, nur weil es ein edler Zeitvertreib war«, gab sein Vater zurück.
»Es gibt edlere Zeitvertreibe. Heilkunst beispielsweise.«
»Darin hat dein Bruder mehr Talent. Du hast ein anderes. Und jetzt hast du die Zeit und das Geld, um ihm nachzugehen.«
»Und was ist, wenn ich versage?«
»Ach was! Dann wirst du viel zu erzählen haben.«
Andras hob einen Ast vom Boden auf und schlug damit ins lange Gras. »Es kommt mir selbstsüchtig vor«, sagte er. »Auf Kosten von anderen in Paris zu studieren.«
»Glaub mir: Wenn ich es mir leisten könnte, würdest du auf meine Kosten fahren. Ich möchte nicht, dass du das als selbstsüchtig empfindest.«
»Was ist, wenn du dieses Jahr wieder eine Lungenentzündung bekommst? Das Sägewerk läuft nicht von allein.«
»Warum nicht? Ich habe einen Vorarbeiter und fünf gute Männer an den Sägen. Und Mátyás ist nicht weit, wenn ich noch mehr Hilfe brauche.«
»Mátyás, diese kleine Krähe?« Andras schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du ihn zu fassen bekommst, kannst du von Glück sagen, wenn er einen Handschlag tut.«
»Oh, ich könnte ihn schon ans Arbeiten bekommen«, sagte sein Vater. »Obwohl ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird. Der kleine Taugenichts wird genug Mühe mit seinem Schulabschluss haben bei all den Torheiten, die er im letzten Jahr angestellt hat. Wusstest du, dass er sich einer Art Tanztruppe angeschlossen hat? Er tritt nachts in einem Klub auf und verpasst morgens den Unterricht.«
»Ich hab’s gehört. Noch mehr Grund für mich, nicht so weit weg zu studieren. Wenn er nach Budapest zieht, wird jemand auf ihn aufpassen müssen.«
»Es ist nicht deine Schuld, dass du nicht in Budapest studieren kannst«, sagte sein Vater. »Es sind die Umstände. Davon kann ich ein Lied singen. Aber man macht, was man kann mit dem, was man hat.«
Andras verstand, was sein Vater meinte. Er hatte das jüdische theologische Seminar in Prag besucht und wäre möglicherweise Rabbiner geworden, wenn sein eigener Vater nicht so früh gestorben wäre; zwischen zwanzig und dreißig war Andras’ Vater von einer Kette von Schicksalsschlägen heimgesucht worden, die gereicht hätten, so manchen zur Verzweiflung zu bringen. Dann hatte das Schicksal eine so grundlegende Kehrtwendung vollführt, dass jeder im Dorf der Ansicht war, Andras’ Vater müsse vom Allmächtigen ganz besonders bedauert oder begünstigt worden sein. Doch Andras wusste, dass alles Gute, was seinem Vater widerfahren war, das Ergebnis seiner harten Arbeit und schlichten Sturheit war.
»Es ist ein Segen, dass du nach Paris gehen kannst«, sagte sein Vater. »Besser, du kommst raus aus diesem Land, wo Juden sich wie Männer zweiter Klasse fühlen müssen. Ich kann dir allerdings versprechen, dass es nicht besser wird, wenn du fort bist, auch wenn wir hoffen wollen, dass es nicht schlimmer wird.«
Als Andras jetzt in einem verdunkelten Eisenbahnwaggon Richtung Westen fuhr, hallten diese Worte in seinem Kopf wider; er merkte, dass es noch eine andere Angst hinter den Ängsten gab, die er ausgesprochen hatte. Unwillkürlich dachte er an eine kürzlich gelesene Zeitungsmeldung über einen schrecklichen Zwischenfall einige Wochen zuvor in der polnischen Stadt Sandomierz: Mitten in der Nacht hatten Unbekannte Schaufenster im jüdischen Viertel eingeschlagen und in Papier gewickelte kleine Päckchen in die Geschäfte geworfen. Als die Ladeninhaber die Wurfgeschosse auspackten, entdeckten sie abgesägte Ziegenhufe. »Judenfüße« stand auf dem Papier.
In Konyár war noch nie etwas Vergleichbares geschehen; Juden und Nichtjuden lebten dort seit Jahrhunderten friedlich nebeneinander. Aber der Same war auch dort gesät, wie Andras wusste. In seiner Grundschule in Konyár nannten ihn seine Klassenkameraden Zsidócska, kleiner Jude; als sie gemeinsam zum Schwimmen gegangen waren, hatte er sich wegen seiner Beschneidung geschämt. Einmal hatten sie ihn festgehalten und versucht, ihm eine Scheibe Schweinewurst zwischen die zusammengebissenen Zähne zu schieben. Die älteren Brüder dieser Jungen hatten Tibor gequält, und als Mátyás zur Schule kam, lagen ihre jüngeren Geschwister bereits auf der Lauer. Wie würden diese Burschen aus Konyár, herangewachsen zu jungen Männern, die Nachrichten aus Polen aufnehmen? Was für Andras eine Gräueltat war, mochten sie als Gerechtigkeit oder Bestätigung auffassen. Er lehnte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe, blickte hinaus in die unbekannte Landschaft und war erstaunt, wie sehr sie der Tiefebene glich, wo er geboren war.
Der Bahnhof in Wien war großartiger als alles Vergleichbare, was Andras kannte. Die zehn Stockwerke hohe Fassade bestand aus Glasscheiben in einem Gitterwerk aus vergoldetem Eisen; die Träger waren mit Schnörkeln, Blumen und Engeln auf eine Weise verziert, die besser zu einem Boudoir als zu einem Bahnhof gepasst hätte. Andras stieg aus dem Zug und folgte dem Geruch von frisch gebackenem Brot bis zu einem Wägelchen, wo eine Frau mit einem weißen Häubchen salzbestreute Brezeln verkaufte. Doch sie wollte weder Pengő noch Franc annehmen. In ihrem eindringlichen Deutsch versuchte sie Andras zu erklären, was er tun müsse, und schickte ihn zum Geldwechselschalter. Die Schlange am Schalter wand sich bis um die Ecke. Andras schaute auf die Bahnhofsuhr, dann auf den Stapel Brezeln. Es waren acht Stunden vergangen, seit er die leckeren Sandwiches im Haus auf der Benczúr utca gegessen hatte.
La Revue du Cinéma