die Wände haben Ohren
und in den Ohren schöne Ohrringe
Paul-Eerik Rummo
Ein Glossar mit den wichtigsten Personen und Begriffen befindet sich am Ende des Buches.
Alles ist Antwort, wüsste man nur die Frage
Paul-Eerik Rummo
Mai 1949
Für ein freies Estland!
Ich muss versuchen, ein paar Worte zu schreiben, damit ich einen klaren Kopf behalte und nicht den Verstand verliere. Ich verstecke mein Heft hier unter dem Fußboden des Kämmerchens. Sodass niemand es findet, selbst wenn ich gefunden werden sollte. Dies ist kein Leben für einen Mann. Der Mensch braucht einen Menschen und jemanden, mit dem er sprechen kann. Ich bemühe mich, viele Liegestütze zu machen, muss meine Muskeln betätigen, aber ich bin kein Mann mehr, sondern tot. Ein Mann erledigt die Arbeiten, die in seinem Hause anfallen, aber in meinem Haus werden sie von einer Frau verrichtet, und das ist für den Mann eine Schande.
Liide macht dauernd Annäherungsversuche. Warum lässt sie mich nicht in Ruhe? Sie stinkt nach Zwiebel.
Was hält die Engländer auf? Wo ist Amerika? Alles steht auf Messers Schneide, und nichts ist sicher.
Wo sind meine Mädels, Linda und Ingel? Meine Sehnsucht ist größer, als ich ertragen kann.
Hans Eerikssohn Pekk, estnischer Bauer
Die Fliege siegt immer
Aliide Truu starrte die Fliege an, und die Fliege starrte zurück. Ihre Augen standen hervor, und Aliide wurde übel. Eine Schmeißfliege. Ungewöhnlich groß, laut und fleißig beim Eierlegen. Sie lauerte darauf, in die Küche zu gelangen, und rieb sich auf der Gardine in der Stube Flügel und Beine, wie um sich auf eine Mahlzeit vorzubereiten. Sie war auf Fleisch aus, auf Fleisch und auf nichts sonst. Die Marmeladen und alles andere Eingemachte waren in Sicherheit, aber das Fleisch. Die Küchentür war zu. Die Fliege wartete. Sie wartete darauf, dass Aliide es satthaben würde, in der Stube Jagd auf sie zu machen, dass sie fortgehen und die Küchentür öffnen würde. Die Fliegenklatsche sauste auf die Stubengardine herab. Die geriet in Schwingung, die Spitzenblumen wurden knitterig, die Winternelken vor dem Fenster schimmerten auf, aber die Fliege entwischte, setzte sich auf die Fensterscheibe, direkt oberhalb von Aliides Kopf, und trippelte dort herum. Gelassenheit! Die brauchte Aliide jetzt, damit ihre Hand ruhig blieb.
Die Fliege hatte Aliide am Morgen geweckt, indem sie in Aliides Stirnfalten sorglos herumspaziert war wie auf der Landstraße und sie hochmütig geärgert hatte. Aliide hatte die Decke beiseitegeschleudert und sich beeilt, die Küchentür zu schließen; noch war die Fliege nicht so schlau gewesen, durch sie hindurchzuschwirren. Sie war dumm. Dumm und böse.
Aliides Hand hielt angestrengt den vom vielen Anfassen glatt gewordenen Holzstiel der Klatsche und schlug wieder zu. Das rissige Leder der Klatsche traf die Scheibe, die Scheibe erzitterte, die kleinen Halterungen klirrten, und die Baumwollschnur, die hinter dem Gardinenbrett die Gardinen hielt, gab nach, aber die Fliege entkam wieder, als wollte sie Aliide verhöhnen. Obwohl Aliide schon seit mehr als einer Stunde versuchte, die Fliege zu erschlagen, hatte die es geschafft, Aliide bei jedem Schlag zu besiegen, und jetzt flog sie, fett burrend, unter der Zimmerdecke herum. Eine ekelhafte, im Abwassergraben aufgewachsene Schmeißfliege. Aliide würde sie schon noch erwischen. Sie würde sich ein wenig ausruhen, die Fliege zerklatschen und sich dann aufs Radiohören und Einmachen konzentrieren. Die Himbeeren warteten, und die Tomaten, die saftigen, reifen Tomaten. In diesem Jahr war die Ernte außergewöhnlich gut gewesen.
Aliide zog die Gardinen zurecht. Der regnerische Hof schniefte grau, die Zweige der Hofbirken zitterten nass, die Blätter platt vom Regen, die Gräser schwankten, und von den Spitzen fielen Tropfen herab. Und da unter ihnen war etwas. Irgendein Bündel. Aliide zog sich hinter die Gardine zurück. Wieder spähte sie hinaus, zog die Spitzengardine vor sich, um vom Hof aus nicht gesehen zu werden, und hielt den Atem an. Ihre Augen übergingen die Fliegenkleckse an der Scheibe, konzentrierten sich auf den Rasen bei der von einem Blitz gespaltenen Birke.
Das Bündel rührte sich nicht und wies auch sonst nichts Erkennbares auf als seine Größe. Aino vom Nachbarhof hatte im Sommer über derselben Birke eine Lichterscheinung gehabt, als sie unterwegs zu Aliide war, und hatte es nicht gewagt, ganz bis zu Aliide zu gehen, sondern war nach Hause zurückgekehrt, hatte Aliide angerufen und gefragt, ob bei ihr alles in Ordnung sei, ob sie Besuch von einem Ufo gehabt habe. Aliide hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt, aber Aino war überzeugt gewesen, dass vor Aliides Haus Ufos gewesen waren, genau wie bei Meelis. Der hatte danach von nichts anderem mehr gesprochen als von Ufos. Das Bündel schien jedoch durchaus von dieser Welt zu sein, es war dunkel vom Regen, es passte in die Umgebung, es hatte die Größe eines Menschen. Vielleicht war einer von den Säufern aus dem Dorf auf ihren Hof gekommen, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Aber hätte Aliide es nicht gehört, wenn vor ihrem Fenster krakeelt worden wäre? Aliide hörte immer noch sehr gut. Den Gestank von altem Schnaps roch sie sogar durch die Wände hindurch. Die Saufkumpane des Nachbarn waren kürzlich mit dem Traktor und gestohlenem Benzin an ihrem Haus vorbeigefahren, und diesen Lärm konnte man gar nicht überhören. Ein paar Mal hatten sie den Graben überquert und dabei fast Aliides Zaun mitgenommen. Hier gab es nur noch Ufos, alte Leute und eine Horde schwachsinniger Hooligans. Ihre Nachbarin Aino war mehrmals für die Nacht zu ihr gekommen, als die jungen Kerle es allzu schlimm getrieben hatten. Aino wusste, dass Aliide keine Angst vor ihnen hatte, sondern sich ihnen bei Bedarf entgegenstellen würde.
Aliide legte die von ihrem Vater gemachte Fliegenklatsche auf den Tisch und schlich zur Küchentür, fasste nach der Klinke, aber da fiel ihr die Fliege ein. Die war still. Sie wartete darauf, dass Aliide die Küchentür öffnete. Aliide kehrte zum Fenster zurück. Das Bündel lag immer noch auf dem Hof, in derselben Stellung wie zuvor. Es sah aus wie ein Mensch, die Haare hoben sich hell vom Gras ab. War es überhaupt lebendig? Aliide verspürte Spannung in der Brust, ihr Herz pochte laut in seinem Beutel. Sollte sie hinausgehen? Oder war das dumm und unvorsichtig? War das Bündel ein Lockvogel der Ganoven? Nein, das konnte nicht sein. Niemand hatte sie ans Fenster gelockt, niemand an die Haustür geklopft. Ohne die Fliege hätte sie das Bündel gar nicht bemerkt, bevor sie hinausging. Trotzdem. Die Fliege war still. Aliide schlüpfte in die Küche und schloss flink hinter sich die Tür. Sie horchte. Das laute Brummen des Kühlschranks vertrieb die Stille des Kuhstalls, die durch die Speisekammer in die Küche sickerte. Das vertraute Burren war nicht zu hören, vielleicht war die Fliege in der Stube geblieben. Aliide machte Feuer im Herd, füllte den Warmwasserkessel und schaltete das Radio ein. Da war von den Präsidentschaftswahlen die Rede, und bald schon würde das Wichtigere kommen, das Wetter. Aliide wollte ihren gewohnten Tagesablauf beginnen, aber das vom Küchenfenster aus sichtbare Bündel störte ihr Gesichtsfeld. Das Bündel hatte die gleichen Umrisse wie von der Stube aus und wirkte immer noch wie ein Mensch, und anscheinend bewegte es sich von allein nirgendwohin. Aliide machte das Radio aus und kehrte ans Fenster zurück. Es war still, auf die Weise, wie es an einem Spätsommertag in einem verödenden estnischen Dorf still ist, der Hahn des Nachbarn krähte, sonst nichts. Die Stille in diesem Jahr war erstaunlich, zugleich abwartend und wie nach einem Sturm. Etwas Ähnliches wie in der Haltung des hochgewachsenen Grases, das an Aliides Fensterscheibe klebte. Es war nass und stumm, gelassen.
Aliide schabte an ihrem Goldzahn herum, ihr war zwischen den Zähnen etwas hängen geblieben. Sie polkte mit dem Fingernagel in den Löchern und horchte dabei, hörte aber nur, wie ihr Nagel über den Knochen kratzte, und plötzlich spürte sie das im Rückenmark. Sie hörte auf, sich in den Zähnen zu pulen, und konzentrierte sich auf das Bündel. Die Flecke auf dem Fenster störten sie. Sie wischte mit einem Mulllappen darüber, warf den Lappen in die Abwaschschüssel, nahm den Mantel vom Kleiderhaken und zog ihn an, dachte an ihre Handtasche auf dem Tisch und ergriff sie, sah sich um auf der Suche nach einem geeigneten Versteck und schob sie in den Geschirrschrank. Auf dem Schrank stand eine Flasche mit einem finnischen Deodorant. Sie stellte sie in dasselbe Versteck und setzte auch noch den Deckel auf die Zuckerdose, aus der Imperial Leather-Seife hervorsah. Erst danach drehte sie leise den Schlüssel im Schloss der Innentür und drückte die Tür auf. Sie blieb im Vorraum stehen, nahm den Stiel einer Mistgabel als Stock in die Hand, vertauschte ihn gegen ihren in der Fabrik hergestellten Stadtstock, legte auch den beiseite und wählte aus den Werkzeugen im Vorraum die Sense. Für einen Augenblick lehnte sie sie noch gegen die Wand, glättete die Haare, befestigte eine Haarnadel, strich die Stirnhaare sorgfältig hinter die Ohren, ergriff wieder die Sense, entfernte die Stange von der Außentür, öffnete das Schloss und trat auf den Hof hinaus.
Das Bündel lag an derselben Stelle unter den Hofbirken. Aliide ging näher heran und behielt es im Auge, beobachtete aber zugleich, ob sonst noch jemand zu sehen war. Das Bündel war ein Mädchen. Verdreckt, zerlumpt und ungepflegt, aber doch ein Mädchen. Ein völlig unbekanntes Mädchen. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, kein Zeichen des Himmels aus Richtung Zukunft. Auf den rissigen Nägeln Reste von rotem Nagellack. Über die Wangen waren Streifen von Wimperntusche gelaufen, und darauf lagen halb ausgewachsene Locken, der Haarlack darauf bildete winzige Kügelchen, und an denen waren ein paar Blätter der Silberweide haften geblieben. Aus dem Ansatz der grob gebleichten Haare drängten fettige, dunkle nach. Unter dem Schmutz war die Haut jedoch wie die Wange eines überreifen weißen Klarapfels, aus der trockenen Unterlippe waren Hautfetzen herausgerissen, dazwischen wölbte sich die Lippe tomatenrot, unnatürlich rein und blutvoll und ließ den Schmutz wie einen Film erscheinen, den man wegwischen müsste wie die Wachsschicht eines Apfels, der im Kalten gelegen hat. Violette Farbe hatte sich in den Falten der Lider gesammelt, und die schwarze, durchscheinende Strumpfhose hatte Laufmaschen. Die Knie waren nicht ausgebeult, das Gewebe war dicht und gut. Natürlich Weststrümpfe. Das Gewebe schimmerte trotz des Schmutzes. Von einem Fuß war der Schuh abgefallen. Es war ein Hausschuh, dessen Flanellfutter vom vielen Tragen grau und voller Knötchen und an der Ferse durchgescheuert war. An der Einfassung war eine Verzierung angebracht, die umgeknickt war: ein Zickzackrand aus Kunstleder sowie zwei vernickelte Nieten. Aliide hatte genau die gleichen besessen. Das Zierband war in neuem Zustand hellbraun und freundlich gewesen, das Futter zartrosa wie ein sauberes Ferkel. Der Hausschuh stammte aus sowjetischer Produktion. Das Kleid? Aus dem Westen. Der Trikotstoff war zu gut, als dass er von hier sein konnte. Und solche Gürtel bekam man nur im Westen. Als Talvi das letzte Mal aus Finnland zu Besuch gekommen war, hatte sie so einen gehabt, einen Stretchgürtel. Ihre Tochter hatte gesagt, der sei jetzt Mode, und in der Mode kannte sie sich ja nun aus. Aino hatte einen ähnlichen aus einem Hilfspaket der Kirche bekommen, obwohl sie damit nichts anfangen konnte, aber da sie ihn umsonst bekommen hatte – die Finnen konnten es sich leisten, auch neue Sachen in die Altkleidersammlung zu geben. Außerdem waren in dem Paket ein Anorak und T-Shirts gewesen, demnächst müsste sie gehen und noch mehr holen. Das Kleid des Mädchens war allerdings zu prächtig, als dass es aus einem Hilfspaket stammen könnte. Und das Mädchen war nicht von hier.
Neben seinem Kopf lag eine Taschenlampe. Und eine schmutzige Landkarte.
Sein Mund war leicht geöffnet, und als Aliide sich hinabbeugte, sah sie die Zähne des Mädchens. Sie waren allzu weiß. In den weißen Zähnen gab es eine lange Reihe grauer Plomben.
Unter den Lidern bewegten sich die Augen wie in nervösen Zuckungen.
Aliide stieß das Mädchen mit dem Sensenstiel an, aber es rührte sich nicht. Zurufe brachten die Lider des Mädchens nicht zum Vibrieren, und auch kein Zwicken. Aliide holte Regenwasser aus der Fußwaschschüssel und schüttete es auf das Mädchen. Es rollte sich in Embryonalhaltung zusammen und schützte mit den Armen den Kopf. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber heraus kam nur ein Flüstern:
»Nein. Kein Wasser. Nicht mehr.«
Nach dem Flüstern riss das Mädchen die Augen auf und setzte sich mit einem Ruck aufrecht hin. Zur Sicherheit trat Aliide einen Schritt zurück. Der Mund des Mädchens blieb offen stehen. Kein Ton kam heraus. Das Mädchen starrte in Aliides Richtung, aber sein panischer Blick fokussierte sich nicht auf sie. Er fokussierte sich auf nichts. Aliide fuhr fort mit ihren Versicherungen, es gebe keinen Grund zur Aufregung, und sprach dabei in demselben beschwichtigenden Tonfall wie zu unruhigen Haustieren. Im Blick des Mädchens erschien kein Anzeichen dafür, dass es verstanden hätte, aber der weit aufgerissene Mund hatte etwas Wohlbekanntes. Nicht der Mund selbst, sondern das Verhalten des Mädchens, das Mienenspiel unter seiner wächsernen Haut, das nicht bis an die Oberfläche gelangte, die Wachsamkeit seines Körpers, trotz des leeren Blicks. Ein Arzt war es, den das Mädchen brauchte, das war klar. Aliide wollte nicht selbst anfangen, diese obskure Unbekannte zu behandeln, sodass sie vorschlug, einen Arzt zu rufen.
»Nein!«
Die Stimme klang sicher, obwohl der Blick immer noch umherirrte. Auf den Schrei folgten eine Pause sowie plötzlich zusammenhängende Worte des Inhalts, sie habe nichts getan, ihretwegen brauche man niemanden zu rufen. Die Worte stießen aneinander, Wortanfänge klammerten sich an Wortenden, der Akzent war russisch.
Das Mädchen war eine Russin. Eine Estnisch sprechende Russin.
Aliide wich noch weiter zurück.
Aliide sollte sich einen neuen Hund anschaffen. Oder zwei.
Das frisch gedengelte Sensenblatt glänzte, obwohl das vom Regen stumpf gewordene Licht grau war.
Der Schweiß trat Aliide auf die Oberlippe.
Der Blick des Mädchens wurde bewusster und richtete sich zuerst auf den Boden, auf ein Blatt des Breitwegerichs, dann auf ein anderes Blatt, dann langsam auf einen weiter entfernt liegenden Stein in der Umrandung des Blumenbeets, auf die Wasserpumpe und die Schüssel unter der Pumpe. Der Blick kehrte zurück in den Schoß des Mädchens, wanderte zu den Händen, hielt dort inne, glitt zum Stiel von Aliides Sense, aber nicht höher hinauf, sondern kehrte zu den eigenen Händen zurück, zu den Narben auf den Handrücken, den rissigen Nägeln. Das Mädchen schien die Gliedmaßen seines Körpers zu prüfen, vielleicht zählte es sie, Arm und Handgelenk und Hand, alle Finger an ihrem Platz, ebenso ging sie den anderen Arm durch, dann die Zehen des unbeschuhten Fußes, den Fuß, das Gelenk, Unterschenkel, Knie und Schenkel. Ihr Blick wanderte nicht bis zur Hüfte, sondern glitt plötzlich zum anderen Fuß und zum Hausschuh. Das Mädchen streckte die Hand nach dem Hausschuh aus, ergriff ihn langsam und zog ihn an den Fuß. Der Hausschuh machte ein quatschendes Geräusch. Das Mädchen zog den Fuß mit dem Hausschuh zu sich heran und befühlte langsam den Knöchel, nicht so wie jemand, der vermutet, der Knöchel könnte verrenkt oder gebrochen sein, sondern wie jemand, der nicht mehr weiß, welche Form ein Fußknöchel überhaupt hat, oder wie ein Blinder, der einen Fremden betastet. Schließlich gelang es ihr aufzustehen, aber sie sah Aliide immer noch nicht in die Augen, sondern berührte, nachdem sie wieder auf den Beinen stand, ihr Haar und wischte es sich ins Gesicht, obwohl es feucht und schleimig war, sie zog sich die Haare vors Gesicht wie die zerlumpten Vorhänge in einem verödeten Haus, die kein Leben mehr zu verdecken haben.
Aliide fasste die Sense fester. Vielleicht war das Mädchen verrückt. Vielleicht ja irgendwo ausgerissen. Woher sollte sie das wissen. Vielleicht war das Mädchen nur verwirrt, vielleicht war etwas passiert, und das Mädchen war deshalb so. Oder vielleicht war das Mädchen doch der Lockvogel einer Bande russischer Ganoven.
Das Mädchen schleppte sich zu der Bank unter den Hofbirken und setzte sich. Der Wind ließ die Zweige über es schleifen, aber es wich ihnen nicht aus, obwohl es immer wieder zusammenzuckte, wenn die Blätter ihm ins Gesicht klatschten.
»Rutsch ein Stück weiter weg von den Zweigen.«
Verblüffung huschte über das Gesicht des Mädchens. Verblüffung, in die sich noch etwas anderes mischte – anscheinend erinnerte es sich an etwas. Dass man Zweigen, die einem ins Gesicht klatschten, ausweichen durfte? Aliide blinzelte. Eine Verrückte.
Langsam rückte das Mädchen von den Zweigen ab, Stück für Stück. Seine Finger umklammerten die Bank, so als versuchte es zu verhindern, dass es herunterfiel. Neben seiner Hand lag der Wetzstein. Hoffentlich war das Mädchen nicht von der Sorte, die leicht in Wut geriet und dann mit Wetzsteinen um sich warf. Vielleicht durfte man das Mädchen nicht nervös machen. Man musste vorsichtig sein.
»Wie sind wir denn eigentlich hierhergekommen?«
Das Mädchen öffnete ein paar Mal den Mund, ehe es ein Wort herausbrachte, stammelnde Sätze von Tallinn und einem Auto. Die Worte stießen aneinander, wie zuvor, zogen sich an den falschen Stellen zusammen, verbündeten sich vorzeitig, juckten Aliide in den Ohren. Das lag nicht an den Worten des Mädchens und auch nicht an seinem russischen Akzent, sondern an etwas anderem – das Estnisch des Mädchens klang auch sonst irgendwie seltsam. Obwohl das Mädchen selbst mit seinem schmutzigen jungen Fleisch ins Hier und Heute gehörte, waren seine Sätze steif und kamen aus der Welt mürbe gewordener Papiere und schimmliger, von Fotos entleerter Alben. Aliide zog eine Haarnadel heraus, schob sie sich in den Gehörgang und drehte sie dort, nahm sie heraus und steckte sie sich wieder ins Haar. Das Jucken blieb. Aliide kam ein Gedanke: Das Mädchen stammte nicht aus der näheren Umgebung, vielleicht nicht einmal aus diesem Land. Wer aber, der von woanders kam, würde die Sprache einer solchen Provinz sprechen? Der Hilfspfarrer des Dorfes war ein Finne, der Estnisch sprach. Er hatte die Sprache gelernt, nachdem er als Pfarrer hierhergekommen war, und er beherrschte sie gut, alle Predigten und Trauerreden schrieb er auf Estnisch, und man dachte gar nicht mehr daran, sich über den Mangel an estnischen Pastoren zu beklagen. Aber das Estnisch des Mädchens hatte eine andere Nuance, eine ältere, mottenzerfressene und vergilbte. Ihr haftete auf seltsame Weise Leichengeruch an.
Aus den langsamen Sätzen ging hervor, dass das Mädchen am Abend mit jemandem im Auto nach Tallinn unterwegs gewesen war, dass es mit diesem Jemand Streit gegeben und dieser Jemand das Mädchen geschlagen hatte und dass das Mädchen dann geflüchtet war.
»Wer wir?«, fragte Aliide schließlich.
Wieder bewegte das Mädchen die Lippen, bevor sie stammelte, dass sie mit ihrem Mann unterwegs gewesen war.
Mit ihrem Mann? Hatte sie einen Ehemann? Oder war sie doch ein Lockvogel der Ganoven? Für einen Lockvogel war das Mädchen seltsam konfus. Oder sollte es Mitleid erregen? Sodass niemand es wagen würde, das kleine Mädelchen in diesem Zustand von seiner Tür abzuweisen? Hatten die Ganoven es auf Aliides Sachen oder auf ihren Wald abgesehen? Alles Holz wurde in den Westen exportiert, und in Aliides eigenem Rechtsstreit um die Rückgabe ihres Landes war noch kein Ende abzusehen, obwohl es damit keine Probleme geben sollte. Der alte Mihkel aus dem Dorf war vor Gericht gekommen, weil er auf Männer geschossen hatte, die in seinem Wald Bäume fällten. Mihkel war bei dem Urteil glimpflich davongekommen, das Gericht hatte die Hintergründe durchschaut. Mihkels Prozess um die Rückgabe seines Landes war noch nicht abgeschlossen gewesen, da waren plötzlich finnische Forstmaschinen angerückt, um seine Bäume zu fällen. Auch die Polizei hatte sich nicht eingemischt, und wie hätte sie auch den Wald eines einzelnen Mannes bis in die Nacht hinein schützen können, zumal der Wald dem Mann offiziell noch gar nicht gehörte. Der Wald war einfach verschwunden, und schließlich hatte Mihkel einige der Diebe erschossen. In diesem Land und zu dieser Zeit war alles möglich, aber in Mihkels Wald wurden keine Bäume mehr ohne Erlaubnis gefällt.
Die Dorfhunde schlugen an, das Mädchen erschrak, versuchte durch den Maschendrahtzaun zu spähen, sah aber überhaupt nicht zum Wald hinüber.
»Wer wir?«, wiederholte Aliide.
Das Mädchen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah Aliide und den Maschendrahtzaun misstrauisch an und begann sich die Ärmel aufzukrempeln, und das tat es angesichts seiner Verfassung und seiner Sprechweise recht geschmeidig. Unter den Ärmeln wurden buntscheckige Arme sichtbar, und das Mädchen streckte sie Aliide entgegen wie als Beweis für seine Worte, und gleichzeitig wandte es das Gesicht dem Zaun zu, um es zu verbergen.
Es grauste Aliide. Ja, das Mädchen bemühte sich, Mitleid zu erregen, vielleicht wollte es ins Haus und sehen, ob es dort etwas gab, was zu stehlen sich lohnte. Die blauen Flecke waren jedoch echt. Dennoch sagte Aliide:
»Die wirken alt. Alte blaue Flecke.«
Die Frische und das Blutunterlaufene der Spuren trieben Aliide von Neuem den Schweiß auf die Oberlippe. Blaue Flecke bedeckt man und hält den Mund. So wurde es immer gemacht. Vielleicht bemerkte das Mädchen Aliides Unbehagen, denn mit unvermittelten, ruckartigen Bewegungen zog es den Stoff über seine Prellungen, so als wäre es erst jetzt darauf gekommen, sich für diese Entblößung zu schämen, und sagte heftig in Richtung Zaun, dass es dunkel gewesen sei und es nicht gewusst habe, wo es war, es sei nur gelaufen und gelaufen. Die kaputten, abgerissenen Sätze endeten damit, dass das Mädchen versicherte, es werde jetzt gehen. Es werde Aliide nicht länger stören.
»Warte hier. Ich gehe Baldrian und Wasser holen«, sagte Aliide. Sie wandte sich dem Haus zu und sah von der Tür her noch einmal zu dem Mädchen hin, das auf der Bank kauerte und sich nicht rührte. Das Mädchen hatte wirklich Angst. Man konnte seine Angst schon von Weitem riechen. Aliide bemerkte, dass es begonnen hatte, durch den Mund zu atmen. Wenn das Mädchen ein Lockvogel war, dann hatte es Angst vor der Person, von der es hierhergeschickt worden war. Vielleicht zu Recht, vielleicht sollte auch sie, Aliide, Angst haben, vielleicht sollte sie die zitternden Hände des Mädchens als Zeichen dafür deuten, dass sie die Tür verschließen und drinnen bleiben und das Mädchen draußen lassen sollte, mochte es doch sonst wohin gehen, nur fort von hier, wenn es nur sie, eine alte Frau, in Ruhe ließe. Wenn es nur nicht hierblieb und den widerwärtigen, wohlbekannten Geruch der Angst verbreitete. Vielleicht war eine Bande unterwegs, die alle Häuser durchkämmen wollte? Vielleicht sollte sie anrufen und sich erkundigen? Oder war das Mädchen eigens zu ihrem Haus gekommen? Hatte jemand erfahren, dass ihre Talvi aus Finnland zu Besuch kommen wollte? Aber das war jetzt keine so große Sache mehr wie früher.
In der Küche schöpfte Aliide Wasser in einen Krug und gab Baldriantropfen hinein. Durch das Fenster konnte sie das Mädchen sehen, es hatte sich nicht gerührt. Aliide nahm selbst außer Baldrian auch einen Löffel von ihrer Herzmedizin, obwohl noch keine Essenszeit war, ging wieder hinaus und reichte dem Mädchen den Krug. Das Mädchen ergriff ihn, roch aufmerksam daran, stellte ihn auf die Erde, stieß ihn um und verfolgte mit starrem Blick, wie der Inhalt sich auf die Erde ergoss. Aliide spürte, wie sie sich ärgerte. »Ist das Wasser nicht gut genug?«
Das Mädchen versicherte das Gegenteil, wollte aber wissen, was Aliide da hineingetan hatte.
»Nur Baldrian.«
Das Mädchen erwiderte nichts.
»Warum sollte ich dich belügen?«
Das Mädchen sah Aliide an. In seiner Miene lag etwas Falsches. Das störte Aliide, aber trotzdem holte sie aus der Küche einen vollen Krug Wasser und die Baldrianflasche, gab sie dem Mädchen, das daran roch und sich davon überzeugte, dass es nur Wasser war, anscheinend auch den Baldrian erkannte und ein paar Tropfen ins Wasser gab. Aliide ärgerte sich. Wollte das Mädchen sie provozieren? Vielleicht war es einfach verrückt. Aus dem Krankenhaus entlaufen. Aliide erinnerte sich an eine Frau, die aus Koluvere ausgebüxt war und in einem Abendkleid, das aus einem Hilfspaket stammte, und ohne Schuhe im Dorf herumgewankt war und die Entgegenkommenden angespuckt hatte.
»Willst du das Wasser jetzt trinken?«
Die Flüssigkeit lief dem Mädchen über das Kinn von ihrem allzu gierigen Schlucken.
»Vorhin wollte ich dich wecken, und da hast du nur geschrien, kein Wasser.«
Offensichtlich erinnerte sich das Mädchen nicht daran, aber die Schreie von vorhin klangen Aliide immer noch in den Ohren, wurden von einer Seite ihres Schädels zur anderen reflektiert, rotierten hin und her und riefen ihr etwas viel Älteres in Erinnerung. Ein Mensch bringt überraschend ähnliche Töne hervor, wenn sein Kopf oft genug unter Wasser gedrückt wird. Es war diese gewisse Nuance gewesen, die in der Stimme des Mädchens gelegen hatte. Darin hatten Prusten, Ersticken und Verzweiflung gelegen. Aliide tat die Hand weh. Das kam von dem Verlangen, das Mädchen zu schlagen. Sei still. Verschwinde. Geh weg. Oder vielleicht irrte Aliide. Vielleicht war das Mädchen nur früher einmal beim Schwimmen beinahe ertrunken, vielleicht fürchtete es deshalb das Wasser. Vielleicht spielte Aliides eigener Kopf ihr einen Streich und kombinierte Dinge, bei denen es nichts zu kombinieren gab. Vielleicht war die vergilbte und von der Zeit angenagte Sprache der Grund dafür, dass sie sich etwas einbildete.
»Hunger? Hast du Hunger?«
Das Mädchen wirkte, als verstünde es die Frage nicht oder als habe man es das noch nie gefragt.
»Warte hier«, bestimmte Aliide, ging wieder ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf kehrte sie mit dunklem Brot und einem Teller mit Butter zurück. Was die Butter betraf, so hatte sie einen Augenblick gezögert, den Teller dann aber doch mitgenommen. So knapp hatte sie es nun doch nicht, dass von der Butter nicht auch ein Klümpchen für das Mädchen abfiel. Ein guter Lockvogel, wahrhaftig, das Mädchen beeindruckte mit Leichtigkeit auch jemanden wie sie, die schon alles gesehen hatte. Der Schmerz in Aliides Hand zog sich bis zur Schulter hinauf. Sie hatte den Butterteller allzu fest gepackt, um ihr Verlangen zu unterdrücken, die ungebetene Besucherin zu schlagen.
Die schlammbespritzte Landkarte lag nicht mehr auf dem Rasen. Wahrscheinlich hatte das Mädchen sie in die Tasche gesteckt.
Die erste Scheibe Brot verschwand als Ganzes im Mund des Mädchens. Erst bei der dritten nahm es sich die Zeit, Butter darauf zu tun, tat es aber hektisch, packte einen Klumpen in die Mitte und klappte die andere Hälfte der Schnitte darüber, drückte die Teile zusammen, sodass die Butter sich dazwischen ausbreitete, und biss ab. Eine Krähe krächzte auf der Gartenpforte, die Hunde bellten im Dorf, aber das Mädchen konzentrierte sich so auf das Brot, dass diese Geräusche es nicht zusammenzucken ließen wie zuvor. Aliide bemerkte, dass ihre Galoschen glänzten wie gut gewichste Stiefel. Aus dem nassen Gras kroch Feuchtigkeit an den Beinen hoch.
»Was nun? Dein Mann. Ist er hinter dir her?«, fragte Aliide und beobachtete, wie das Mädchen aß. Sein Hunger war echt. Aber diese Angst. Fürchtete das Mädchen nur ihren Mann?
»Er ist hinter mir her. Mein Mann.«
»Soll ich vielleicht deine Mutter anrufen, damit sie dich abholt? Oder damit sie weiß, wo du bist?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Na, dann eine Freundin. Oder jemanden von der Familie.«
Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf, noch heftiger.
»Na, dann jemanden, der deinem Mann nicht sagt, wo du bist.«
Erneutes Kopfschütteln. Das schmutzige Haar gab das Gesicht frei. Das Mädchen strich es zurück und wirkte jetzt eher vernünftig als verrückt, trotz des fortwährenden Zusammenzuckens. In den Augen fehlte der Glanz der Verrückten, obwohl es dauernd schräg unter den gesenkten Brauen hervorblickte.
»Ich kann dich nirgendwo hinbringen. Hier gibt es kein Benzin, selbst wenn man ein Auto hätte. Einmal am Tag könnte ein Bus vom Dorf fahren, aber das ist nicht sicher.«
Das Mädchen versicherte, es werde gleich aufbrechen.
»Wohin würdest du gehen? Zu deinem Mann?«
»Auf keinen Fall!«
»Wohin dann?«
Der Hausschuh des Mädchens stieß gegen einen Stein in dem Blumenbeet, das sich vor der Bank befand, das Kinn lag ihm fast auf der Brust.
»Zara.«
Aliide wunderte sich. Das war ja eine Art, sich vorzustellen!
»Aliide Truu.«
Das Mädchen hörte auf, gegen den Stein zu stoßen. Nach dem Essen hatten seine Hände wieder den Rand der Bank umklammert, jetzt ließen sie ihn los. Der Kopf hob sich leicht.
»Angenehm.«
Zara sucht eine passende Geschichte
Aliide. Aliide Truu. Zaras Hände lösten sich vom Rand der Bank. Aliide Truu war am Leben und stand vor ihr. Aliide Truu wohnte in diesem Haus. Die Situation erschien ihr ebenso fremd wie die Zunge in ihrem Mund. Zara erinnerte sich dunkel, wie sie es geschafft hatte, den richtigen Weg und die Silberweiden am richtigen Weg zu finden, aber nicht daran, ob sie überhaupt begriffen hatte, dass sie das richtige Haus gefunden hatte, ob sie in der Nacht vor der Haustür gestanden hatte, ohne zu wissen, was sie tun sollte, ob sie daran gedacht hatte, den Morgen abzuwarten, damit man im Haus nicht vor dem nächtlichen Besuch erschrak, ob sie versucht hatte, im Stall einen Schlafplatz zu finden, ob sie in die Küche gespäht und nicht gewagt hatte, an die Tür zu klopfen, ob sie überhaupt erwogen hatte, an die Tür zu klopfen, oder ob sie überhaupt irgendetwas gedacht hatte. Wenn Zara versuchte, sich zu erinnern, bekam sie schneidende Kopfschmerzen, sodass sie sich auf den gegenwärtigen Moment konzentrierte. Sie hatte keine weiteren Pläne für den Fall, dass sie ans Ziel gelangen würde, geschweige denn dafür, dass sie auf dem Hof des gesuchten Hauses auf Aliide Truu treffen würde. So weit hatte sie gar nicht denken können. Jetzt musste sie versuchen voranzukommen, sie musste ihre Panik in den Griff kriegen, obwohl die nur auf den Augenblick wartete, sie wieder anzufallen, sie musste den Gedanken an Pascha und Lawrenti verdrängen und es wagen, im Hier und Jetzt zu leben und Aliide Truu zu begegnen. Sie musste sich zusammenreißen. Mutig sein. Sich daran erinnern, wie man sich Menschen gegenüber verhielt, und die richtige Einstellung zu der Frau finden, die vor ihr stand. Deren Gesicht war voller kleiner Runzeln und feinknochig, jedoch ausdruckslos. Die Ohrläppchen waren langgezogen, daran baumelten an Haken Steine, die in rötlich schimmerndes Gold gefasst waren. Aliides Augen wirkten grau oder blaugrau, in den Augenwinkeln saß anscheinend etwas wässriger Eiter. Zara wagte es nicht, sie oberhalb der Nase anzusehen. Aliide war kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, geradezu mager. Der Wind trug Knoblauchgeruch von Aliide herüber.
Sie hatte nicht viel Zeit. Pascha und Lawrenti würden sie finden, daran bestand kein Zweifel. Aber hier war Aliide Truu, und hier war das Haus. Würde die Frau bereit sein, ihr zu helfen? Sie würde Aliide ihre Lage sehr schnell klarmachen müssen, aber Zara wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Kopf war Leerlauf, obwohl er von dem Brot klarer geworden war. Die Wimperntusche brannte ihr in den Augen, die Strumpfhose war kaputt, sie selbst stank. Es war dumm von ihr gewesen, ihre blauen Flecke vorzuzeigen, jetzt hielt die Frau sie für ein Mädchen, das sich in Unannehmlichkeiten bringt oder geprügelt werden will. Für jemanden, der etwas auf dem Kerbholz hat. Und was, wenn die Frau so eine war wie die Babuschka, von der Katja erzählt hatte, die so ähnlich war wie Oksanka, die für Männer wie Pascha arbeitete und Mädchen in die Stadt schickte zu Männern wie Pascha? Woher sollte sie das wissen? Irgendwo in ihrem Hinterkopf erscholl Paschas Hohngelächter, und das erinnerte Zara daran, dass ein so dummes Mädchen mit keiner Situation allein zurechtkommt. Ein so dummes Mädchen verdient es, für sein Stottern, seine Unsauberkeit und sein Stinken geschlagen zu werden, ein so dummes Mädchen verdient es, im Waschbecken zu ertrinken, weil es hoffnungslos dumm und hoffnungslos hässlich ist.
Aliide Truu sah sie unangenehm direkt an, stützte sich auf die Sense und plapperte von der Abschaffung der Kolchosen, so als wäre Zara eine alte Bekannte und vorbeigekommen, um über dies und das zu plaudern.
»Hier kommen kaum jemals Fremde vorbei«, sagte Aliide und zählte die Häuser auf, aus denen die jungen Leute fortgegangen waren. »Von den Kokas sind welche nach Finnland gegangen, um da Häuser zu bauen, und die Kinder der Roosnas sind nach Tallinn gezogen und Geschäftsleute geworden. Der Sohn von Voorel hat sich für Politik begeistert und nach Tallinn abgesetzt. Den sollte ich direkt mal anrufen und ihm sagen, sie sollen ein Gesetz machen, dass man vom Land nicht einfach so weggehen kann. Wie soll man denn hier sein Dach repariert kriegen, wenn es keine Arbeiter gibt? Und was ist daran verwunderlich, dass die Männer nicht hierbleiben, wo es doch keine Frauen gibt? Und Frauen gibt es nicht, weil hier keine Geschäftsleute sind. Und wenn alle Frauen Geschäftsleute und Ausländer wollen, wer will dann noch ein ordentlicher Arbeiter sein? Der Fischereikolchos Lääne Kalur hat sein eigenes Varieté in Finnland auftreten lassen, in der Partnerstadt Hanko, und die Reise war ein Erfolg, die Finnen haben Schlange gestanden nach Karten. Als die Gruppe zurückkam, hat der Leiter sogar in der Zeitung alle jungen und schönen Mädchen aufgerufen, für die Finnen Cancan zu tanzen. Cancan!«
Zara nickte, war ganz derselben Meinung und kratzte sich dabei Lack von den Nägeln. Ja, alle liefen den Dollars und der Finnmark hinterher, und ja, früher gab es Arbeit für alle, und ja, alle waren heutzutage Ganoven, angebliche Geschäftsleute. Zara fröstelte, die Steifheit breitete sich bis in Wangen und Zunge aus, was ihr ohnehin langsames und tastendes Sprechen noch erschwerte. Sie bibberte in den feuchten Kleidern und wagte es nicht, Aliide direkt anzusehen, schaute nur in ihre Richtung. Was wollte sie? Sie plauderten, als wären die Umstände vollkommen gewöhnlich. Im Kopf schwindelte es sie nicht mehr ganz so schlimm. Zara strich sich die Haare hinters Ohr, wie um besser zu hören, hob das Kinn, die Haut fühlte sich klebrig, die Stimme klamm an, die Nase bebte, Schmutz rührte sich unter den Achseln und in den Leisten, aber ein leichtes, kurzes Lachen gelang ihr dennoch. Sie versuchte, die Stimme nachzuahmen, die sie vor Zeiten verwendet hatte, wenn sie im Geschäft oder auf der Straße einer alten Bekannten begegnet war. So eine Stimme erschien ihr fern und fremd und völlig unpassend zu dem Körper, aus dem sie kam. Sie erinnerte sie an die Welt, zu der sie nicht mehr gehörte, und an ihr Zuhause, in das sie nicht mehr zurückkehren konnte.
Aliide wies mit der Sense nach Norden und fuhr fort mit den Dachschindeldieben. Tag und Nacht musste sie aufpassen, dass ihr wenigstens das Dach auf dem Hause blieb. Dem Gutshof hatte man die Treppe, der Eisenbahn die Schienen gestohlen, Holz war das einzige brauchbare Reparaturmaterial, weil alles andere gestohlen wurde. Und dann die Teuerung! Nach Ansicht von Kersti Lillemäe waren solche Preise ein Anzeichen für den Weltuntergang.
Und mitten in diesem Getratsche die überraschende Frage: »Wie ist es mit dir, hast du Arbeit? Oder zu welcher Branche gehört die Arbeitskleidung, die du trägst?«
Wieder geriet Zara in Panik. Sie verstand, dass sie eine Erklärung für ihr abgerissenes Äußeres brauchte, aber was könnte das sein? Warum hatte sie sich nicht auch das vorher zurechtgelegt? Die Gedanken hoppelten mit langen Beinen davon, und sie konnte sie nicht einholen; die langohrigen Wahrheiten, die kurzbeinigen Lügen ließen sie im Stich, leerten ihr den Kopf, leerten ihr Augen und Ohren. Verzweifelt stoppelte sie ein paar Worte zu einem Satz zusammen, dass sie Kellnerin gewesen sei, und nach einem Blick auf ihre Beine wurde sie sich ihrer westlichen Kleidung bewusst und fügte hinzu, sie habe in Kanada gekellnert. Aliide hob die Brauen.
»So weit fort. Hast du gut verdient?«
Zara nickte und versuchte, sich noch mehr auszudenken. Während sie nickte, begannen ihr die Zähne zu klappern. Im Mund hatte sie nur Schleim und schmutzige Zähne, kein einziges vernünftiges Wort. Die Frau sollte aufhören zu fragen. Aber Aliide wollte wissen, was Zara dann hier tat.
Zara holte tief Luft und sagte, sie sei mit ihrem Mann nach Tallinn in Urlaub gefahren. Der Satz kam glatt heraus. Er folgte demselben Rhythmus wie Aliides Rede. Den konnte sie allmählich schon nachahmen. Aber die Geschichte, was wäre die passende Geschichte für sie? Der Anfang der Geschichte, die sie vorhin erfunden hatte, wollte sich schon losreißen und davonmachen, und Zara packte deren flüchtige Pfoten. Bleib da. Und hilf. Wort für Wort, Satz für Satz, werd eine Geschichte. Werd eine gute Geschichte. Werd eine so gute Geschichte, dass ich hierbleiben darf. Dass Aliide niemanden anruft, um sie abholen zu lassen.
»Dein Mann, war der auch in Kanada?«
»Ja.«
»Und jetzt wollt ihr hier Urlaub machen?«
»Ja.«
»Und von hier aus, wo willst du da hin?«
Zara sog die Lunge voll Luft und schaffte es mit einem Ausatmen zu sagen, dass sie das nicht wisse. Und dass ihre Mittellosigkeit die Sache etwas schwierig mache. Das hätte sie nicht sagen sollen. Jetzt dachte Aliide natürlich, dass sie hinter Aliides Geldbeutel her war. Die Falle schnappte auf. Die Geschichte entwischte. Der gute Anfang entglitt ihr. Aliide würde sie niemals einlassen, und nichts würde ihr gelingen. Zara versuchte, sich etwas auszudenken, aber alle Gedanken verflüchtigten sich, sobald sie entstanden waren. Etwas musste sie sagen – wenn sie keine Geschichte hatte, dann etwas anderes, egal was. Sie suchte etwas, was sie sagen konnte, in den Maulwurfshaufen, von denen sich vor dem Giebel eine ganze Reihe hinzog, unter den mit Teerpappe gedeckten Überdachungen der Bienenkörbe, die zwischen den schweren Apfelbäumen hervorlugten, sie suchte eine Geschichte bei dem Schleifstein, der jenseits des Gartentors stand, und bei dem Breitwegerich unter ihrem Fuß, suchte etwas, das sie sagen konnte, wie ein hungriges Tier die Beute, aber an ihren stumpfen Zahnstummeln glitt alles ab. Gleich würde Aliide ihre Not bemerken, und wenn das geschah, dann würde Aliide denken, dass dieses Mädchen ungute Absichten hatte, und dann wäre alles aus, alles wäre missglückt, Zara war genauso dumm, wie Pascha gesagt hatte, sie würde alles verderben, das dumme Mädchen, die ewige Idiotin.
Zara sah Aliide an, obwohl sie nicht einmal die Haare als Vorhang vor den Augen hatte. Aliide taxierte ihren Körper. Schmutz und Schlamm hafteten an Zaras Haut, die dringend nach Seife verlangte.
Aliide bereitet ein Bad
Aliide forderte das Mädchen auf, sich auf den wackeligen Küchenstuhl zu setzen. Das Mädchen gehorchte, sein Blick schweifte umher und blieb an der Salzdose hängen, die vom vergangenen Winter zwischen den Fensterscheiben stehengeblieben war, als wäre das wer weiß was für ein Wunder.
»Salz saugt die Feuchtigkeit auf. Wenn es kalt wird, beschlagen die Scheiben nicht so leicht.«
Aliide sprach langsam. Sie war sich nicht sicher, wie gut der Kopf des Mädchens funktionierte. Obwohl das Mädchen draußen munterer geworden war, war es sehr vorsichtig ins Haus getreten, so als wäre der Fußboden aus Eis, zu dessen Tragfähigkeit man kein rechtes Zutrauen hatte, und als es beim Stuhl angelangt war, hatte es sich noch mehr zusammengekrümmt als auf dem Hof. Der Instinkt hatte Aliide gesagt, sie sollte das Mädchen nicht ins Haus lassen, aber Zaras Verfassung wirkte so schlecht, dass Aliide nicht anders konnte. Jetzt schrak das Mädchen wieder zusammen; es hatte sich zurückgelehnt, und der Küchenvorhang hatte seinen bloßen Arm gestreift. Davon erschreckt beugte es sich vor, sodass der Stuhl schwankte und es um sein Gleichgewicht rang. Der Pantoffel zischte über den Fußboden. Als der Stuhl sich beruhigt hatte, fand auch das Bein wieder Halt, und das Mädchen umklammerte die Stuhlkanten. Die Füße drehte es einwärts und umfasste dann mit den Armen seinen Oberkörper und die abfallenden Schultern.
»Ich hol dir was Trockenes zum Anziehen.«
Aliide ließ die Tür der vorderen Stube offen und kramte aus dem Kleiderschrank ein paar Kittelschürzen und einen Unterrock hervor. Das Mädchen rührte sich nicht, hockte nur da und biss sich auf die Unterlippe. Seine Gesichtszüge waren herabgerutscht und hatten wieder denselben Ausdruck wie zu Anfang. Aliide spürte Widerwillen in sich aufsteigen. Das Mädchen müsste bald gehen, wenn nur erst klar würde, wo man es hinschicken konnte, und wenn es ein wenig verarztet wäre. Aliide würde nicht warten, bis auch noch der Mann des Mädchens zu ihr zu Besuch kam. Oder wer auch immer hinter dem Mädchen her sein mochte. Wenn das Mädchen nicht von den Ganoven als Lockvogel ausgesandt worden war, von wem dann? Von den Kerlen aus dem Dorf? Würden sie etwas so Kompliziertes tun, und warum? Ihr zum Tort, oder steckte etwas anderes dahinter? Die Dorfburschen würden freilich kein russisches Mädchen schicken, niemals.
Als Aliide in die Küche zurückkehrte, hob das Mädchen Schultern und Kopf und wandte ihr das Gesicht zu. Ihre Augen sahen zur Seite. Die Kleider nahm das Mädchen nicht an, sie sagte, sie wolle nur Hosen.
»Hosen? Ich hab nur Trainingshosen, und die müssten wohl erst gewaschen werden.«
»Das macht nichts.«
»Die hab ich bei der Arbeit im Freien getragen.«
»Das macht nichts.«
»Na gut!«
Aliide holte von der Garderobe im Vorraum Marat-Hosen und zog dabei ihre eigenen Schlüpfer hoch. Davon hatte sie zwei an, wie gewöhnlich, wie an jedem einzelnen Tag nach jener Nacht im Haus der Gemeindeverwaltung. Irgendwann hatte sie auch die Stiefelhosen ihres Mannes ausprobiert und sich damit gleich sicherer gefühlt. Besser geschützt. Aber zu jener Zeit hatten Frauen keine langen Hosen getragen. Später waren Frauen in Hosen auch im Dorf aufgetaucht, aber sie hatte sich schon so an ihre zwei Schlüpfer gewöhnt, dass sie kein Verlangen mehr nach langen Hosen hatte. Aber warum wollte ein Mädchen in einem Westkleid Marat-Hosen haben?
»Diese hier haben wir immerhin damals besorgt, als Marat schon die Maschinen zum Wirken von Japan-Trikots angeschafft hatte«, lachte Aliide, als sie in die Küche zurückkam. Das Mädchen kicherte nach einer winzigen Pause. Es war ein kurzes Kichern, und das Mädchen verschluckte es sofort, so wie jemand, der den Witz nicht verstanden hat, aber nicht wagt, das zuzugeben, oder es nicht zugeben will, sondern mitlacht. Das heißt, eigentlich war dies ja gar kein Witz gewesen. Vielleicht war das Mädchen so jung, dass es nicht wissen konnte, von welcher Beschaffenheit die Trikots von Marat vor dem Kauf der neuen Maschinen gewesen waren. Oder vielleicht hatte Aliide recht mit der Annahme, dass das Mädchen gar nicht aus Estland stammte.
»Wir werden dein Kleid später waschen und ausbessern.«
»Nein!«
»Warum nicht? So ein teures Kleid.«
Das Mädchen entriss Aliide die Hosen, schälte sich aus der Strumpfhose, zog die Marat an, zerrte sich das Kleid vom Leibe, streifte sich stattdessen die Kittelschürze über, und ehe Aliide es verhindern konnte, warf es Kleid und Strumpfhose in den Herd. Bei dieser Hektik fiel die Landkarte auf den Flickenteppich. Das Mädchen schnappte sie sich und warf sie den Kleidern nach ins Feuer.
»Zara, du brauchst keine Angst zu haben.«
Das Mädchen stand vor dem Herd, wie um das Verbrennen der Kleider zu sichern. Die Kittelschürze war schief geknöpft.
»Was hältst du von einem Bad? Ich mache jetzt Badewasser warm«, sagte Aliide. »Sei ganz ruhig.«
Aliide näherte sich langsam dem Herd. Das Mädchen rührte sich nicht. Die Lider seiner wild blickenden Augen flatterten. Aliide schöpfte den Wasserkessel voll, nahm das Mädchen bei der Hand und veranlasste es, sich zu setzen, schob ein Glas heißen Tee vor es hin und kehrte zum Herd zurück. Das Mädchen folgte mit den Augen ihrem Tun.
»Sollen sie verbrennen«, sagte Aliide.
Die Brauen des Mädchens zuckten nicht mehr, es fing an, sich den Lack von den Fingernägeln zu kratzen, und konzentrierte sich jeweils auf einen. Hatte es sich beruhigt? Aliide holte aus der Speisekammer eine Schale mit Tomaten und stellte sie auf den Tisch, warf einen Blick auf die Mausefalle, die sie neben dem Kürbisstapel aufgestellt hatte, studierte ihr Rezeptheft und prüfte die gestern eingemachten Gläser mit Mischgemüse, die sie zum Abkühlen auf den Geschirrschrank gestellt hatte.
»Die Tomaten muss ich bald einmachen. Und die Himbeeren von gestern. Siehst du mal nach, was es im Radio gibt?«
Das Mädchen ergriff die Zeitung und raschelte laut damit auf dem Wachstuch. Das Teeglas kippte auf die Zeitung, das Mädchen erschrak, sprang vom Tisch fort, starrte abwechselnd das Glas und Aliide an und entschuldigte sich wortreich für seine Ungeschicklichkeit, verhaspelte sich in seinen Worten, wurde nervös und wollte den Tisch abwischen, suchte einen Lappen, wischte den Fußboden, das Glas und die Tischbeine ab und tupfte den ohnehin schmutzigen Flickenteppich trocken.
»Das macht nichts.«