Roman unserer Kindheit

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2010

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Covergestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München

Coverabbildung Illustration: Anke Feuchtenberger

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00651-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00651-5

was ihr nur wollt; recht nach der Lust Gottes.

Schrecklich und lustig und weich.

Zweiflern versink ich zu nichts.»

HEINRICH VON KLEIST

Es blutet und blutet. Und weil diese Kinder – da mitten in meinem Sommer! – noch allesamt mit starken Augen geschlagen sind, so lange, bis ihnen die aufstrebenden Götter, bis ihnen der kleine Schrecken des Sex und das Schwarzweiß des Fernsehens den Blick lindern werden, sieht der Ältere Bruder das Blut von der Ferse auf den Asphalt tropfen, als liefe ihm eine Wabe seiner Seele aus. Noch tut es nicht weh. Unter der Saugglocke des Schocks spürt er nicht einmal, wie heiß der Granit des Bordsteins an seinen Ellenbogen bereits ist. Weicher als Bärendreck, weicher als die Lakritze, die er allen anderen Süßigkeiten vorzieht, wird der Teer der Fugen in den nächsten Stunden werden. Am Glanz kann man ihm dieses Erweichen schon ansehen. Bald lässt er sich ganz leicht aus seiner Rille heben und schwärzt die Hornhaut der Sohlen auf eine besonders nachhaltige Weise, wenn man barfuß in ihn tritt. Zwischen zwei Lidschlägen stellt sich der Ältere Bruder beides vor, das Herauspulen wie die klebrigen Flecken, kippt dann auf den Rücken, staunt ohne Eile über das Knallblau des Himmels, bis er den Oberkörper wieder aufrichtet, um sich die blutige Angelegenheit erneut genau anzuschauen, als ein Ganzes und in allen Einzelheiten: seinen rechten Fuß, der noch immer nicht schmerzt, obwohl ihn die rostigen Drähte so gründlich aufgefleischt haben.

Den Anhub des Missgeschicks hatte er in einem merkwürdigen Zusammenkrampfen im Bauch gespürt, tief unten, wo

Auch für den Wolfskopf kam ihr Sturz in Wahrheit nicht überraschend. Gleich sechs frische Bieruntersetzer hatte der schon früh am Morgen hinter die rostroten Stahldrähte des Hinter- und des Vorderrades geklemmt, weil er ein Unheil, irgendein Mordspech herannahen spürte. Alle sechs Pappdeckel waren, wie man den Gegenzauber machen muss, dreimal bespuckt worden, und jedes Mal hatte Wolfskopf den Speichel sorgfältig zu einem Kreuz mit vier gleich langen Balken verschmiert. Nun hat es doch nicht geholfen. Am Abend wird sich sein Vater, der unten am Rosenhang im Gaswerk arbeitet, das lädierte Hinterrad kopfschüttelnd anschauen und seinem Wolfgang noch eine zweite, nicht mehr allzu kräftige Ohrfeige geben, wird dann die zwei sauber gebliebenen und die eine blutig braune Scheibe aus den verbogenen Speichen rupfen und sich zusammen mit seinem

Jetzt im Mittagslicht tragen der Wolfskopf, der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille den Älteren Bruder schräg über die Einkaufsstraße der Neuen Siedlung. Der starke Wolfskopf hat die Hände unter die Kniekehlen des Verletzten geschoben. Der ist für sein Alter nicht gerade groß und ein rechtes Leichtgewicht. Dennoch kämen seine Freunde nie auf die Idee, ihn für zu klein oder für zu dünn zu halten. Nun, da das Blut aus ihm heraustropft und etwas Anderes, etwas Unsichtbares und Dichteres in ihn hineinströmt, tragen sie so schwer an ihm, dass sie keuchen. Aber weil auch das momentane Missgeschick, wie all das kommende Unglück meines Sommers, mit dem Gold des Günstigen verunreinigt ist, haben sie es nicht weit. Schon ruckt ihnen das weiße Emaille des Praxisschildes mit jedem Schritt ein mutmachendes Stückchen entgegen.

Morgen, am zweiten Tag der großen Ferien, wird der Schniefer keck auftrumpfend behaupten, der Ältere Bruder habe absichtlich erst vor der Sparkasse den Fuß in die Fahrradspeichen gefädelt, weil am nächsten Eck der einzige Arzt der Siedlung, der alte Doktor Junghanns, seine Praxis betreibe. Zu diesem Scherz wird er sein extradoofes Grinsen aufsetzen und ausnahmsweise komplett hochschniefen, was ihm sonst als ein mehr oder minder erstarrter, perlmuttartig glänzender Tropfen unter dem linken Nasenloch zu hängen pflegt. So lustig darf es dann schon wieder, nach einer einzigen Nacht im Räderwerk der Traummühle, zwischen den Freunden zugehen. Noch aber klemmt der Arm des Schniefers unter der linken Achsel des Blutenden. Noch fällt weder ihm noch dem Ami-Michi, der auf der anderen Seite zugepackt

Während er sich zum dritten Mal an diesem Sprechstundenvormittag die Hände wäscht, beobachtet Ernst Junghanns, Arzt für Allgemeinmedizin, durch das Fenster des vorderen Behandlungszimmers drei Buben und ein Mädchen, die einen etwa Zehnjährigen Richtung Praxistür schleppen. Wie der Springteufel aus der Schachtel schnellt ihm ein anderer Sommertag vor dieses Bild. In einem ähnlich gleißenden, in einem vergleichbar mit seiner Reinheit protzenden Sonnenlicht wurde an einem Pariser Augustsonntag ein übel Verletzter quer über den Hof der weit offen stehenden Tür des Militärarztes Junghanns entgegengetragen. Zuvor hatte es von der Straße her mehr gepufft denn gekracht. Die französische Bombe, ein mickriges, dilettantisch zusammengebasteltes Ding, war von einem Motorrad aus auf die Wache am Portal geschleudert worden. Der Verwundete stand unter Schock, brachte keinen Ton heraus, zuckte nur spastisch mit den Gliedern. Einer seiner Kameraden stützte ihm den Kopf, ungefähr so, wie da draußen das Mädchen die Hände unter den Nacken des Knaben geschoben hat, der bloß am linken Fuß eine Sandale trägt.

Das Übereinander der Szenen, ihre historische Transparenz, nimmt den alten Arzt in den Würgegriff der Wehmut. Dieser Krieg, sein zweiter und vermutlich letzter, jene dreieinhalb Jahre in der Hauptstadt der Hauptstädte waren das edelsüße, das marzipangefüllte Stück seines Lebenskuchens. Für einen Moment kapiert Junghanns, dass es an

 

Am späten Nachmittag liegt der Ältere Bruder im Schlafzimmer der Eltern. Die Vorhänge sind zugezogen, die Tür zur Wohnküche ist angelehnt. Drüben strengen sich die Mutter und die Brüder an, ihn nicht zu stören. Sogar das Radio muss

«Dein Fuß, das ist nichts mehr für mich, für meine matten Augen und meine zittrigen Finger», hatte Doktor Junghanns ihm ins Ohr geflüstert, als sollte dies ein Geheimnis zwischen ihnen beiden bleiben, als dürften der Wolfskopf, der Ami-Michi, der Schniefer und die Schicke Sybille, als dürfte keiner seiner Freunde dieses Eingeständnis mitanhören. «Dein Fuß ist mir ein bisschen zu diffizil. Ich gebe dir bloß etwas gegen

Also wurde per Telefon ein Krankenwagen herbestellt, Junghanns versorgte noch den Wolfskopf, der sich bei ihrem Sturz die Knie aufgeschlagen hatte, und bevor der Ältere Bruder sich sicher war, ob es ihm lieber wäre, wenn die Sanitäter nun möglichst bald oder möglichst spät kommen würden, sah der Ami-Michi, der am Fenster Position bezogen hatte, schon den cremefarbenen Rotkreuz-Kombi, exakt so einen, wie ihn der Schniefer in seiner Sammlung aus streichholzschachtelkurzen, eisenschweren Modellen hat, vor den Praxiseingang rollen. Eine große Schwester oder ein großer Bruder dürfe mit nach Oberhausen hinunter, sagte der Krankenwagenfahrer, und da hielt der Wolfskopf die Schicke Sybille, die sich vorgedrängelt und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, sogleich als ältere Schwester ausgegeben hatte, am Rockbund fest und kletterte als ebenso falscher Bruder durch die weit aufstehenden Flügel der Hecktür, weil er ja in die Pedale getreten hatte und daher der erste aller Mitschuldigen war.

Im Josephinium hieß es, der Herr Professor Felsenbrecher operiere noch. Also begutachteten erst einmal zwei andere Weißkittel den lädierten Fuß, ganz junge Männer mit fast gleichen Brillen, die beide auch schon fertigstudierte Ärzte waren, es aber nicht für nötig hielten, dies dem Älteren Bruder auf die Nase zu binden. Es folgte eine kleine Prozession von Schwestern, die nacheinander ihre gestärkten weißen Hauben über seinem Fuß schüttelten, ihn alle zunächst «Du

Das ganze Wartebrimborium zog sich so lang hin, dass der Ältere Bruder irgendwann aufs Klo musste. Eine von den Ordensschwestern, eine sehr kleine, stramm dicke, hievte ihn, als er sich endlich durchgerungen hatte, damit herauszurücken, in einen uralten schwarzen Rollstuhl und schob das Gefährt, dessen hohe Räder geigenartig quietschten, den Gang hinunter. Auf dem Weg hat sie unserem großen Bruder dann mitten in diese Katzenmusik hinein verraten, wie sie selber heißt. Es ist ein Name wie aus einem Buch. Im Kopf hat er ihn gleich ein paarmal hintereinander aufgesagt, um sich nicht zu blamieren, falls seine Nennung auf dem Krankenhaus-Klo oder später noch einmal nötig sein sollte. Nun wird er das ganze Dreieck, das Quietschen des Rollstuhls, die reißnagelspitzen Schmerzen im Fuß und die fünf katholischen Silben, solang er denken kann, nicht mehr vergessen können. Im übernächsten Sommer, nach dem zweiten Jahr Gymnasium, wird sich unter den vielen lateinischen Vokabeln, die ihm dann bereits hinter die Stirn geknüpft sind, auch diejenige finden, die es braucht, um den Namen der dicken kleinen Schwester an eine Bedeutung zu fesseln. Auf dem Klo des Josephiniums war das katholische Wort indes noch glücklich unübersetzt und machte mit seiner Rätselhaftigkeit, mit seinem haltlosen Schweben über dem Netzwerk der deutschen Wörter ein bisschen weniger peinlich, dass ihn die Schwester während der ganzen, wegen seines Fußes arg umständlichen Pinkelprozedur nicht aus den Augen ließ.

Witz auf Witz feuerte Professor Felsenbrecher auf den Älteren Bruder ab, Elefanten-und-Mäuse-Witze, Cowboy-und-Indianer-Witze, Neger-im-Urwald-Witze, Irre-im-Irrenhaus-Witze, Lehrer-und-Pfarrer-Witze. Und als irgendwann der erste Witz-mit-dem-lieben-Gott in einer provokanten Pointe zündete, bekam die kleine dicke Schwester einen tütenspitzen Mund und Grübchen in den Backen, weil sie

Der Wolfskopf aber, den der Professor vor die Tür zu schicken vergessen hatte, hat alles, das ganze blutige Geschäft, bis in den kleinsten Handgriff für immer und ewig gesehen. Als die Mutter kam und ihn an der Wand, in der Lücke zwischen zwei weißen Blechschränken, entdeckte, erwiderte er ihren Gruß nicht, machte nicht den geringsten Mucks, als wollte er weiterhin unbemerkt bleiben. Der Mutter flößte diese Stummheit Angst ein. Und deshalb hat sie am Abend dem Vater genau beschrieben, wie starr, wie schocksteif dem Nachbarsjungen die dicken, aschblonden Haare, die er so lange wie keiner seiner Freunde vor dem Friseur zu retten versteht, vom Kopf weggestanden seien. Gleich einem in eine Ecke getriebenen Tier, still und panisch zugleich, sei der

Nun im Bett der Eltern, den verschwitzten Schopf im Kopfkissen der Mutter, versucht der Ältere Bruder sich an möglichst viele der Felsenbrecher’schen Witze zu erinnern. Seine kleinen Brüder, die Zwillinge, sind nämlich wie der Professor große Witzeliebhaber. Sie sammeln sie in ihrem gemeinsamen Gedächtnis, und sie behaupten, unendlich viele hintereinander erzählen zu können. Gelegentlich versucht ein Erwachsener, die beiden der Prahlerei zu überführen, doch bis jetzt hat noch jeder den Kürzeren gezogen und musste das Witzehören ermattet aufgeben, bevor die Zwillinge mit ihrem Vermögen an ein Ende gelangt wären. Gewiss würden sich die beiden über eine Handvoll neuer Witze freuen und sie bei nächster Gelegenheit auf ihre besondere Art zum Vortrag bringen. Aber obwohl er sich sein ganzes Josephinium genau gemerkt hat, vom schwimmbeckenblauen Ölfarbenanstrich der Notaufnahme bis zum Geruch der Lederliege, auf der das Fleisch seines Fußes gereinigt und wieder richtig zusammengenäht worden ist, wollen unserem großen Bruder die Eröffnungen der meisten Witze, in denen ja die ganze folgende Lustigkeit schon wie in einem Keim enthalten ist, partout nicht mehr in den Sinn kommen.

Im Fuß tobt die südamerikanische Schlacht. Und weil er endlich sicher herauszuspüren glaubt, dass die wollig runden Bienchen die Brutkammern ihres Zuhauses samt der süßen Fülle ihrer Vorräte erfolgreich gegen die kalte Gier der getigerten Hornissen verteidigen werden, weil er erleichtert ahnt, dass ihre furchtbaren Verluste zuletzt mit dem erlösenden Allglanz des Sieges abgeglichen werden können, wird der

 

Die Schicke Sybille ist gerade so dick, dass sich alles an ihr gleich angenehm, gleich gefällig rundet. Auf den Fotos, die ihre Mutter erst kürzlich, an ihrem elftem Geburtstag, im Hof zwischen dem erbsengrünen und dem kanariengelben Block von ihr geschossen hat, spannt sich ihr schönstes, das weiße, feingeblümte Kleid über den Hüften und über dem nach vorn gedrückten Bäuchlein. Auf diesen Bildern, die noch in der Drogerie Schümer ihre Abholung erwarten, ist das Kleid zum letzten Mal in Weiß und Grau zu sehen. Im Herbst wird Annabett Böhm für alle siebenundzwanzig Filme, die ihr

Ich sehe dieses Kleid, ich sehe sämtliche Blümchen in Farbe so gut wie in Schwarzweiß. Dergleichen bis in den kleinsten Fitzelkram, bis in die zarteste Schattierung oder ins feinste Farbenspiel hinein zu erkennen und wiederzuerkennen, fällt mir babyleicht. Ich weiß, dass die Schwester unserer Schicken Sybille im Recht sein wird. Ich weiß, wonach die aufgedruckten Blüten auch doppelt ausgelaugt noch riechen werden. Schon jetzt, in den Sonnen- und Regentagen meines Sommers, kann man es erschnuppern. Wer seine Nase in die Falten des geblümten Kleides drückt und sich dann wie ein Tier, wie Hund, Katz, Marder oder Bär, dem Schnüffeln überlässt, darf riechen, dass der Schicken Sybille unter dem festen Kleinmädchenspeck nichts Geringeres als ein Busen schwillt.

Geschickt und geschwind, ohne ein einziges Mal auch nur anzustupsen, hat die Mutter das geschiente Bein durch die vier unumgänglichen Türrahmen hinausbugsiert. Der Ältere Bruder hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch immer ruckzuck hochheben und wie ein kleines Kind auf ihren Armen durch die Wohnung und durch das Treppenhaus ins Freie tragen kann. Draußen hat sie ihn vor dem Küchenfenster mitten auf der Wiese abgesetzt, direkt neben der niedrigen, breiten Karre, die so wuchtig dasteht, als würde sie sein Gebrachtwerden bereits erwarten. Jetzt kitzeln ihn die Grashalme, die im Schatten des Wohnblocks länger morgenfeucht bleiben, in der nackten linken Kniekehle, und während er beobachtet, wie eine schwarze Ameise, die Fühler schlenkernd, über den glatten cremefarbenen Vollgummi des rechten Hinterrades irrt, schämt sich unser großer Bruder für beides, für seine Leichtigkeit und für die Fehleinschätzung der mütterlichen Stärke.

Natürlich hat er den kugeligen, aus weißgebeizter Weide geflochtenen Korpus des alten Kinderwagens sogleich erkannt, hat auch sofort gesehen, dass ihm sein Dach abhandengekommen ist, aber noch immer begreift er nicht, wozu das enthauptete Gefährt nun gut sein soll. Der Schraubenzieher und die rostige Zange, die die Mutter zusammen mit einem kleinen Hammer und einer Schachtel Nägel als ihr Hausfrauenwerkzeug sonst in der Küchentischschublade

Der Kinderwagen hat, mit einer alten Tischdecke vor Staub geschützt, die letzten Jahre auf dem Dachboden gestanden. Unser großer Bruder weiß, das extrabreite Modell mit den dickbereiften Rädern wurde gebraucht erstanden, nachdem Doktor Junghanns der Mutter offenbart hatte, dass aus ihrem Bauch mit unbezweifelbarer Sicherheit ein doppelter Herzschlag herauszuhören sei. Monate später soll sie dann mit dem letzten Kraftquäntchen, das ihr die Arbeit des Gebärens gelassen hatte, «Oje, noch so ein Zipfelchen!» gerufen haben, als die Hebamme den zweiten der Witzigen Zwillinge vor ihren Augen in die Höhe stemmte. So hat sie es immer wieder neu erzählt und den Brüdern, dem großen wie den beiden kleinen, jedes Mal verschwiegen, welch schweren Seufzer dieser tapfer scherzhafte Ausruf nach sich zog. Denn schon damals, die Zwillinge an den Brüsten, musste sie sich mutterseelenallein entschließen, irgendwann, auf keinen Fall bald, aber auch nicht zu spät, einen weiteren, einen allerletzten Anlauf zur Zeugung der ersehnten Tochter zu unternehmen.

Nun klappt sie das Fußteil des Zwillingskinderwagens nach unten und legt eine Decke auf die verlängerte Liegefläche. Aber erst, als sie noch zwei Sofakissen aus der Wohnung herausgeholt hat und diese unter den Augen der herbeigelaufenen Hofkinder sorgsam als Lehne in den Wagen stopft, begreift unser großer Bruder endlich, was sie vorhat. Die Mutter bittet den Wolfskopf und den Schniefer, die Schiebestange festzuhalten, während sie ihn hineinhebt. Es wurmt ihn bis ins Mark, dass nun alle vollends erfassen, wie hilflos er ist, mit dieser Schiene, die übers Knie reicht, damit er das Bein möglichst ruhig hält, und dem mumiendicken Verband, unter dem es wild zu puckern anfängt, sobald der Fuß auch nur ein bisschen gehoben oder gesenkt wird.

Dann ist er mit den Freunden allein. Die anderen, die zweitrangigen Kinder, die für sie nur in Betracht kommen, wenn man für ein Spiel recht viele Mittuende braucht, haben sich wieder an den Sandkasten und unter die Teppichstangen verzogen. Durch das offen stehende Küchenfenster hört er die Mutter mit den Witzigen Zwillingen reden. Die würden jetzt, wo die Ferien begonnen haben, bis in den Nachmittag hinein schlafen, wenn man sie ließe. Aber die Mutter hat sie aus ihrem Doppelstockbett gescheucht, und nun werden sie gezwungen, ihre Haferflocken mit Milch und Honig zu essen und ihren Tee zu trinken. Die beiden klagen wie immer darüber, dass ihnen kotzschlecht sei, dass ein besonders wichtiger Traum nicht an sein Ende gefunden habe und dass ihnen

Der Wolfskopf und der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille sind Schulter an Schulter vor den Doppelkinderwagen getreten und schauen sich stumm das Bein an. Der Ältere Bruder ist nach vorn gerutscht, die untere Kante der Schiene liegt im Gras. Weil es ihm schwerfällt, stillzusitzen, hat er sich schon einen grünen Schmierer in das Weiß des Verbands gerieben. Er sieht, wie tapfer seine Freunde mit der drohenden Erschlaffung ihrer Mienen, mit dem Ausdruck endgültiger Enttäuschung kämpfen. Das ganze ungeheure Imperium der Sommerferien liegt vor ihnen. Sie ahnen alle, nur noch einmal, ein letztes und deshalb besonderes Mal darf sich die Grenze dieses Reichs hinter einem Horizont aus weißgolden gleißendem Sonnenlicht verlieren. Danach, im Herbst, wird einer der großen Gelenk-Omnibusse, die die kleineren Kinder Ziehharmonikabusse nennen und die im Frühjahr die letzten Fahrzeuge mit Anhänger ersetzten, den Älteren Bruder jeden Schultag, also sechsmal die Woche, aus der Siedlung hinein in die Stadt, ins Gymnasium verschleppen.

Er muss jetzt Zeit gewinnen. Also greift er sich in die rechte Kniekehle, schwenkt das steife Bein in die Höhe, legt es auf den Rand des Wagens. Dann weist er den Wolfskopf an, die Bremsen zu lösen. Als der nicht gleich kapiert, was damit gemeint ist, springt ihm Sybille bei und tritt auf die beiden Blechklappen, die bis jetzt die Vorderräder blockiert haben und nun, weil die Mutter sie mit reichlich Nähmaschinenöl geschmiert hat, bereitwillig nach unten schnappen. «Ab zum Spielplatz!», lautet die Parole des Älteren Bruders. Schon sind die drei Jungen hinter ihn getreten, drängeln sich an der Stange und schieben ihn auf den Teer des Zufahrtswegs hinaus. Die Kinder nennen den Weg nur «die Runde», vielleicht, weil er zwischen den beiden Wohnblöcken wie vor den Rängen einer kleinen, aber maximal steilen Arena seine ovale Bahn zieht. Frau Böhm, die gerade ihr Küchenfenster putzt, und die Mutter des Ami-Michi, die vis-à-vis im gelben Block die Federbetten in die Sonne hängt, sind Zeuge, wie der Zwillingskinderwagen Fahrt aufnimmt. «Mit Karacho!», befiehlt der Ältere Bruder, und der Wolfskopf, der Schniefer und der Ami-Michi bringen die frisch geölten Kugellager zum Surren.

Die Schicke Sybille aber bleibt noch ein klitzekleines Momentchen stehen. Sie trägt ihr Drachenkleid, das so heißt, weil sein Himbeerrot mit vielen großen Drachen bedruckt ist, aus deren grinsenden Mäulern orange Flammen züngeln.

Auf dem Weg den Drosselgrund hinunter treffen sie ein halbes Dutzend Mütter und mehr als doppelt so viele Kinder. Der Ältere Bruder schweigt, wenn man ihn nach seinem Bein fragt, weist nur mit dem Daumen über seine Schulter auf den Wolfskopf, der ihren gemeinsamen Unfall so tollpatschig, wie es ihm aus dem Mund kommt, erzählen darf. Bis hinter die Doppeltür des Rotkreuz-Kombis und dann auch noch in die Notaufnahme hinein lässt unser großer Bruder ihn gewähren. Erst den Professor Felsenbrecher übernimmt er selbst. Er macht ihn größer als groß. Er malt die Nase, die an den Wunden schnuppert, fleischwurstfarben und lässt die Wangen des Professors, sobald er über die eigenen Witze lacht, beben wie Wackelpudding, wenn man diesen aus seiner Schüssel auf einen Teller stürzt. Der Ältere Bruder sieht, dass es nicht nur die Kinder, sondern weit mehr noch die mitfühlenden Frauen erquickt und erleichtert, den mächtigen Hautvernäher recht komisch geschildert zu bekommen.

Als sie an der alten Nagelbuche auf den Kiesweg in den Spielplatz abbiegen, scheint ihm dessen Gelände aus dem von der niederen Karre erzwungenen Blickwinkel groß wie nie zuvor. Hundert, nein tausend Kinder könnten hier auf diesen riesigen Wiesen und im Dickicht der Hecken, die sie säumen, ihre Spiele spielen, viel mehr Buben und Mädchen, als es in der Neuen Siedlung gibt, doch zusammen mit zwei Knirpsen, die schon im vorderen der beiden Sandkästen wühlen, sind er und seine Freunde an diesem Vormittag die Einzigen, die diesen ungeheuren Freiraum nutzen. An den Kettenschaukeln und an den Wippen vorbei lässt sich unser großer Bruder bis zur Turnstangen-Bank kutschieren. Deren grünlich verfärbtes Holz macht zwar Flecken in die Hosen und Kleider, aber von allen Bänken ist sie am schönsten zugewachsen. Schatten ist jetzt wichtig. Während die Jungen den Kinderwagen gut festhalten, schiebt er zunächst das geschiente Bein auf die Bank und schafft es dann, sich ganz hinaufzuziehen. Sybille hat indessen an der mittleren der drei stufenförmig aufsteigenden Querstangen zu turnen angefangen. Kopfüber hängt sie am Eisen, holt mit dem Rücken und den Armen Schwung und schaukelt. Und so wird, verborgen unter ihren dicken braunen Knien, die Stange, auf der sich, befördert vom Tau, ein Hauch von frischem Rost gebildet hat, nach und nach wieder stahlblank gewienert. Ihre Finger ziehen Rillen durch den Sand, der Saum des Drachenkleids hängt bis an ihre Nasenspitze, sie hat die Augen zu, als müsse

«Erzähl schon!», sagt sie schließlich, und es klingt merkwürdig dumpf, vielleicht weil ihr der Magen gegen die Lungen drückt. Dann streicht sie das Drachenkleid nach oben, klemmt es zwischen die Oberschenkel und verschränkt die Arme vor der Brust, als wollte sie die ganze kommende Geschichte so hängen bleiben, obwohl ihr Gesicht schon von der Stirn bis an die Wangen, die die Schwerkraft komisch verbeult, dunkelrot angelaufen ist. Der Wolfskopf und der Schniefer haben sich rechts und links vom Älteren Bruder auf die Außenkanten der Bank gesetzt. Das wehe Bein beansprucht den meisten Platz. Mit gesenkten Lidern, so brav und aufmerksam, wie sie es in der Schule nie und nimmer sein könnten, warten sie, dass er mit einer Geschichte anfängt. Der Ami-Michi hat im Kinderwagen Platz genommen. Jetzt lehnt er sich zurück, wälzt sich auf die Seite, krümmt den Rücken und zieht die nackten Knie bis an den unteren Rand der Kissen. Der Ältere Bruder aber hebt den Kopf und guckt über die Büsche und Baumspitzen in den weißbetupften Himmel.

Er weiß nicht, dass man das gesamte Gehölz erst im Geburtsjahr der Neuen Siedlung, das auch sein Geburtsjahr ist, auf einer weiten Heuwiese und einem breiten Streifen Acker angepflanzt hat. Wild sind seitdem nur ein paar Ahornbäumchen im Unterholz und am Rand des Gebüschs hinzugekommen. Die Eschen ragen am höchsten. Wie die Spitzen von Masten piksen sie ins weiche, noch nicht von der kommenden Hitze ausgehärtete Blau, und damit ist unserem Älteren Bruder offenbar, dass er für seine Freunde heute als Erstes eine Piratengeschichte erfinden wird. Weil ihm der

 

Kanonenkugelschnell zurück, heim in die leibeigene Welt, dorthin, wo alle Schmerzen säuberlich separat, Körper für Körper, auszuhalten sind, befördert unsere Kinder erst wieder das Auftauchen des Kikki-Manns. Der Kikki-Mann kommt nie verkehrt. Auch jetzt nehmen die Freunde sein Gespür für den richtigen Augenblick so sinngläubig hin wie andere Geschenke ihrer Sommer, wie das Loch im Maschendraht, das genau dort klafft, wo man auf die verbotene Seite hinüberschlüpfen will, wie die Münze, die einem fünf Schritte vor dem Kaugummi-Automaten aus dem Straßendreck entgegenglänzt. Blind und stumpf für das Talent des

Jetzt hüpft der Kikki-Mann, just als der Ältere Bruder das Piraten-Abenteuer abgeschlossen hat, wie ein sehr großer und nervöser Vogel, vom zweiten Sandkasten des Spielplatzes, wo er schon ausgiebig zu den Kleinen gesprochen hat, an ihre Bank herüber. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört, hat das Ganze wieder auf dem Fundament des Anfangs Fuß gefasst. Die Lösung des Geheimnisses, das gesuchte Medaillon mit dem Bild des verschollenen Mädchens, ist die ganze Zeit im linken, hohlen Holzbein des Kapitäns verborgen gewesen. Leider hat unseren großen Bruder unter dem Triumphbogen der Spannung, als der Schniefer mit offenem Mund die Luft anhielt und die Schicke Sybille beide Fäuste zwischen die Oberschenkel presste, wieder einmal die übliche Versuchung, die schlimme, schlimme Sucht gepackt. Außer dem Medaillon, das alle Ungewissheit aufhob und den dinglichen Beweis bedeutete, der noch zum endgültigen Sieg der Guten über die Bösen fehlte, hat er seinen Helden, der, erst jetzt kam es ans Licht, gar kein Schiffsjunge ist, sondern die verkleidete, einst als winziges Kindchen entführte Tochter des Admirals, noch einen merkwürdig geformten und mit uralten Diamanten verzierten Schlüssel in der Höhlung der anderen, der rechten Prothese entdecken lassen.

Prompt hat der Schniefer das frische hellblaue Taschentuch, das ihm seine Mutter jeden Morgen in die Hosentasche

«Dü! Dü! Dü!», jodelt der Kikki-Mann und wedelt mit seinem einmalig langen und dürren Zeigefinger vorwurfsvoll vor der Nase des Älteren Bruders. Alles am Kikki-Mann ist lang und dünn. Die Zwillinge haben Frau Böhm einmal zur Mutter sagen hören, eigentlich sei der Taubstumme ein mehr als passabler, ein sogar ziemlich gut aussehender Vertreter seines Geschlechts, aber durch seine schaurige Magerkeit und durch die schrille Höhe seiner Stimme würde sein Mann-Sein doppelt durchgestrichen. Jetzt denken die Buben,

Dann zündet sich der Kikki-Mann eine Filterzigarette an und erzählt ihnen selbst etwas. Es geht wie meistens, wenn er zu anderen Menschen spricht, um seine Vögel, um die Wellensittiche und Kanarienvögel, die er züchtet. Irgendwann im Verlauf seiner Geschichten beginnt er immer, ihren Gesang nachzumachen, und was er durch spitzen Mund hinausflötet, ähnelt wirklich Kanarienvogelgezwitscher oder Sittichgeschrei, nur dass der Taubstumme wie beim Sprechen die Tonhöhe verfehlt und selbst den schönsten Triller zuletzt ins Quietschige verzieht. Die Freunde nicken und sagen «Ja, ja!», «Ach, was?» und altklug «Schön, sehr schön!», so wie sie es den Erwachsenen abgehorcht haben, die nicht anders als ihre Kinder zumeist nur einen Bruchteil der Erzählungen des Kikki-Manns verstehen. Vorhin allerdings, am Sandkasten, ist ein Knirps aus dem Loch, das er sich zum Hinheinhocken gewühlt hatte, aufgestanden, hat stehend noch ein Weilchen zugehört, dann mit der Spitze seiner Blechschippe an das linke Knie des Kikki-Manns getippt und zu ihm gesagt: «Du musst richtig sprechen, sonst lernen es deine Wellensittiche genauso verkehrt, wie du es ihnen vormachst!»

Der Ältere Bruder versteht den Taubstummen am besten, wenn er dessen Lippen fixiert, und noch ein Quäntchen besser, wenn er ihm von unten in den auf- und zuschnappenden Mund hineinlinst. Das geht meist gut, denn der Taubstumme