Ich gebe die Menschen nicht auf
Afghanistan, ein Land ohne Hoffnung?
Karte
Widmung
Prolog: Kabul – Oktober 2010
2002 – Ein Krieg, der einen Tag später anfängt
Krieg bedeutet immer Zerstörung
Der Westen kauft die Frauen
2003 – Der kleine Prinz im ISAF-Camp
Gewalt in der Nacht
US-Soldaten machen sich unbeliebt
«Du bist stämmig genug, lass dich sterilisieren»
Der Sommer der Mohnfelder
2004 – Garagen als Wahllokal für Frauen
Männer haben kein Aids
Die medizinische Partei
Auf den Spuren der Nordallianz
Verpanzerung – eine Form der Demokratie?
2005 – Explosionen, Entführungen und böse Geister
Die Männer vom Berg
Chak wird von den Amerikanern befreit
2006 – Die große Depression
Manche haben es eilig, ins Paradies zu kommen
Zur Bildung gehört Herzensbildung
Der König und der Orden
Die Taliban wandeln sich
Immer wieder Korruption
2007 – Mullahs beten nicht mehr für die Regierung
Aufschreie und Fanatiker
Eine Bombe im Druckkochtopf
Ein ermordeter Frauenheld
Frauenausflug ins Hospital
2008 – Flucht aus der Provinz
Einmal raus aus Kabul
2009 – Leben mit vielen Toten
Gefesselte Freiheit
Kunduz und die Extremisten
Der Stolz der Armen
2010 – Soldaten bedeuten Gefahr
Die einstigen Kriegsverbrecher kehren zurück
Epilog: Die Hoffnung geht immer vor mir her
Dank
Ihre Spende: Hilfe, die ankommt!
Über jeden Berg gibt es einen Weg.
Afghanisches Sprichwort
Ein Großvater mit seinem Enkel
Ein Gefängnis ist es, in dem ich sitze. Die Fenster meines Zimmers haben zwar keine Gitter, aber dennoch kann ich nicht dorthin, wo es mich hinzieht, wo ich gebraucht werde. Der kleine Fernseher läuft. Nicht leise, nein, laut genug, damit ich die Geräusche nicht hören muss, das schreckliche Abfeuern der Kalaschnikows, Detonationen, die Sirenen von Polizei- und Krankenhauswagen, die irgendwo in der Stadt einen Toten gefunden haben. AOG (Armed Opposition Group; bewaffnete Oppositionsgruppen) gegen ANP (Afghan National Police), Taliban gegen Taliban. So genau weiß man es nicht immer. Manchmal wird nur geschossen, weil eine Hochzeit gefeiert wird und es üblich ist, Freudenschusssalven abzufeuern.
Meine Ängste sind meine Kriegstraumen.
In den «Security Reports», die ich erhalte, kann ich nachlesen, welche Anschläge täglich verübt werden, in Kabul oder in der von Amerikanern kontrollierten Provinz Wardak, dort, wo ich vor über zwanzig Jahren ein Krankenhaus für die Menschen von Afghanistan aufgebaut habe, aber auch in anderen Regionen des Landes. Siebzehn sind es in einer Woche in der Hauptstadt, doppelt so viele in Wardak. Die Berichte mag ich kaum noch anschauen, sie werden länger und länger.
Afghanistan und seine Kriege sind in meinem Kopf, in meiner Seele, in meinem Herzen. Manchmal möchte ich einfach nur an etwas anderes denken, an Maulbeerbäume, unter denen man Tee trinken und süße Früchte essen kann. Diese Zeit gab es einmal, doch sie ist momentan für mich vorbei. Ich hoffe, nicht für immer.
Natürlich haben die Kriegsereignisse Schädigungen hinterlassen. Die Älteren unter den Afghanen erfuhren von Kindheit an nur Grausames. Flüchtlingsdasein, getötete Familienmitglieder, Folterungen, Vergewaltigungen, unbegründete Inhaftierungen, verbrannte Häuser. All das haben sie allein verarbeiten müssen. Sie wurden und werden nicht wie die ausländischen Soldaten, die am Hindukusch eingesetzt sind, psychotherapeutisch behandelt, man fliegt sie nicht in sichere Zonen aus. Sie müssen bleiben und selbst mit ihren Ängsten, Traurigkeiten, Aggressionen und Depressionen fertigwerden, ohne eine gezielte Betreuung – man schätzt, dass siebzig Prozent der Afghanen depressiv sind. Zerstörte Menschen aber kann man nicht wieder aufbauen wie ein zusammengefallenes Kartenhaus; ein amputiertes Bein oder ein mit allen Besitztümern verbranntes Wohngebäude. «Aufbauhilfe», das klingt in diesem Land der ewigen Kriege seltsam. Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg oder die Nachkriegszeit erlebt haben, werden vielleicht ahnen, wovon ich spreche.
An der Tür, die immer offen steht, höre ich ein Räuspern. Es ist Dr. Eesan, der medizinische Direktor unseres Krankenhauses in Chak-e-Wardak. Er gehört zum Führungsteam des Hospitals, und zusammen mit Ghulam Mohammed und Matiullah, die in der Verwaltung tätig sind, und dem Oberapotheker Mohammed Isaak ist er aus der Provinz angereist, um mich in meiner Kabuler «Zelle» aufzusuchen. Zu gefährlich wäre es, würde ich vor Ort sein, in Wardak. Dennoch soll das Hospital weiterexistieren, andernfalls wäre die jahrelange Arbeit umsonst gewesen, und die Menschen in dieser Region hätten keine medizinische Versorgung mehr.
Dr. Eesan, der am häufigsten zu mir kommt, ist müde von der dreistündigen Fahrt. Dennoch gehen wir konzentriert alle anliegenden Fragen durch: Welche Medikamente müssen bestellt werden? Gibt es Personalprobleme? Werden alle Patienten richtig behandelt? Sind darunter Kriegsverletzte? Und immer wieder hoffen wir, dass wir keine Zerstörungen verbuchen müssen, die zwangsläufig von den Taliban verursacht werden, wenn US-Soldaten unter den Patienten des Krankenhauses nach Extremisten suchen. Zu meinen eigenen Schutzmaßnahmen gehört auch mein unfreiwilliges Exil, mein Zimmer in Kabul. In den vergangenen zwei Jahrzehnten habe ich in der afghanischen Provinz Pionierarbeit geleistet, ohne dass ich in Wardak in großer Gefahr war. Das hat sich fundamental geändert.
Ich kam aus Pakistan, hatte in den Flüchtlingslagern gearbeitet, hatte als Frau keine Probleme mit den Dorfältesten, arrangierte mich mit den Mudschaheddin, sogar mit den Taliban. Als diese 2001 entmachtet wurden und die Amerikaner das Land besetzten, begann eine Entwicklung, die gut hätte verlaufen können, sich aber unheilvoll gestaltete, weil insbesondere in den Provinzen vieles falsch gemacht wurde. Nach dem Sturz der Taliban waren die Erwartungen zu hoch, in Afghanistan hätte man nicht nur kleine Schritte gehen müssen; sondern die allerkleinsten.
Die Fehlentwicklung führte dazu, dass ungefähr seit Mitte 2007 etwas begann, was es vorher in dem Land nicht gab. Dazu gehört das Kidnapping, die Entführung von Personen, um Geld zu erpressen, dazu zählen Selbstmordattentate und ferngesteuerte Minen.
Als Frau aus Deutschland, aus einem NATO-Land, das mit den USA verbündet ist, bin ich ein prädestiniertes Opfer. Die deutsche Botschaft in Kabul bat mich in einem Schreiben, der Provinz Wardak fernzubleiben oder dorthin nur in Begleitung von Soldaten zu fahren, französischen oder türkischen. Dies lehnte ich ab, da NATO-Soldaten erst recht Gefahren auf sich zogen.
Vorausgegangen war diesem Schreiben ein Überfall auf Angestellte der deutschen Botschaft, die nach Chak kommen wollten. Sie waren mit zwei gepanzerten Autos unterwegs gewesen, ein Fehler. Ich hatte ihnen angeboten, unseren Pickup zu schicken, der weniger Aufmerksamkeit erregen würde, das erschien ihnen aber zu unsicher. Damit dennoch alles gut verlief, sollten Security-Leute von unserem Krankenhaus die beiden gepanzerten Wagen begleiten, und zwar von dem Moment an, wo sie sich auf freiem Feld befanden. Plötzlich wurden unsere Sicherheitsmänner beschossen, die Botschaftsfahrer, die das mitbekommen hatten, konnten gerade noch rechtzeitig umdrehen und flüchten. Unsere Leute sprangen aus ihrem Pick-up, der kurz darauf von einer Panzerfaust getroffen wurde. Das Gefährt war nicht mehr zu gebrauchen, ein ausgebranntes Gerippe blieb zurück.
Da es früher keine Handys gab, konnten Überfälle strategisch nicht in der Weise geplant werden wie heute. Sichtet ein Extremist auf den Ausfallstraßen von Kabul ein Auto, das in seinen Augen verdächtig ist, kann er übers Mobiltelefon sofort mit anderen in der nächsten Ortschaft kommunizieren und entsprechende Maßnahmen organisieren. Etwa einen Anschlag, einen Überfall, einen Mord planen. Ein solches Opfer wollte ich nicht werden. Und noch weniger wollte ich meine Begleiter gefährden, da ich nie allein unterwegs bin.
Einmal noch wagte ich mich nach meinem Umzug vor zwei Jahren ins Hospital. Ich hatte den Kommandanten der Provinz Wardak gefragt, ob er mir helfen könne, von Kabul nach Chak zu gelangen. Er ließ vermelden, dass ich sagen solle, wie seine Hilfe auszusehen habe. Ich erinnerte mich an die Mudschaheddin-Zeiten, in denen man auch nur in bewaffneter Begleitung reisen konnte. Und so saß ein afghanischer Polizist in Zivil neben mir, die Kalaschnikow in einer Decke versteckt. Während der gesamten Fahrt hatten wir immer wieder Telefonkontakt zum Polizeizentrum der Region. Probleme gab es keine, ich gelangte ebenso gut zurück. Doch kurz nach unserer Reise änderte sich die Lage. Die Terroristen fingen an, jedes Auto zu durchsuchen. Wir konnten also auch nicht mehr mit einem Zivilpolizisten reisen.
Seit 2001 ist viel Geld nach Afghanistan gekommen. Geld, mit dem die wechselnden Taliban-Anführer ihre Macht zementieren wollten. Geiselnahmen sind für sie eine Möglichkeit, sich zu bereichern. Es gibt noch andere Maßnahmen. Zwei Kriminelle überfielen mich nachts, ich sollte den Safe öffnen. Als sie in diesem kein Geld vorfanden, mussten sie mich demütigen. Sie hätten mich erschießen können, aber sie wählten eine andere brutale Form: Mir wurde Gewalt angetan.
Es passierte in der Dunkelheit. Nie zuvor hatte ich Angst vor ihr, jetzt fürchte ich mich vor ihr. Noch in Chak ließ ich danach jede Nacht, wenn der Strom ausgeschaltet war, eine Notleuchte brennen, um mit ihrem diffusen Licht die bedrohliche Finsternis erträglicher zu machen. Hier, in Kabul, kann ich auch nur bei Licht schlafen. Wenn ich wach liege, muss ich oft an ein Erlebnis aus meiner Kindheit denken, es erscheint mir in meinem «Gefängnis» wie aus einer anderen Welt. Ich hatte etwas ausgefressen, was genau, weiß ich nicht mehr, und zur Strafe sperrte mich meine Mutter in den dunklen Keller unseres Hauses ein. Für mich bedeutete es aber keine Strafe, allein in dem düsteren Raum zu sein, nicht eine Sekunde fühlte ich mich unwohl oder gruselte mich gar. Stattdessen bestrafte ich meine Mutter und steckte Hobelspäne, von denen ich wusste, dass sie zusammen mit Staub und Dreck in einer Ecke zusammengekehrt lagen, durchs Schlüsselloch.
So mutig werde ich nie wieder in der Dunkelheit sein. Ich ertrage sie nicht mehr.
«Warum gehst du überhaupt noch nach Afghanistan?» Freunde stellen mir immer wieder diese Frage. «Es ist doch sowieso alles hoffnungslos.»
Nein, das ist es nicht. Die Menschen, für die wir das Krankenhaus gebaut haben, sie leben und träumen von einer besseren Welt. Meine Mitarbeiterinnen freuen sich über jeden Lippenstift, den ich ihnen aus den Sachspenden übergeben kann. Sie machen sich zurecht, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen, schminken sich, tragen Pumps, auch wenn die Absätze schon längst abgelaufen sind. Die Männer putzen jeden Tag ihre Schuhe. Nie käme es ihnen in den Sinn, mit schmutzigen Stiefeln das Hospital zu betreten. Und die Patienten nehmen weite Wege auf sich, um zu uns zu kommen, weil sie wissen, dass hier ihre Traditionen respektiert werden, dass sie für einen stationären Aufenthalt nicht bezahlen müssen. Wäre es anders, würden sie zu keiner Behandlung gehen können, weil sie nicht das nötige Geld haben. Gäbe ich auf, würde sich dies zuerst ändern. Das Krankenhaus würde weiter existieren, aber anders.
Hinzu kommt, dass es nicht meinem Verständnis von Hilfe entspricht, einmal Begonnenes aufzugeben. Nicht nach so vielen Jahren, selbst wenn es aussichtslos erscheint. Man kann nicht einfach verschwinden, nur weil es zu kompliziert oder zu gefährlich wird.
Vor einigen Monaten fragte mich ein Türke, der lange in Afghanistan lebte, was ich denn von US-Soldaten halte. «Gar nichts», antwortete ich. Woraufhin er sagte: «Ja, das sehe ich genauso. Die kennen die Menschen dort nicht, vielleicht haben sie ein oberflächliches Verständnis, aber sie kennen die Mentalität der Afghanen nicht. Sie wissen nichts über ihre Traditionen. Und dennoch wollen sie sie verändern.»
Ich konnte ihm nur zustimmen. Seit dem Sturz der Taliban erlebte ich dies Jahr für Jahr.