Jack Kerouac

Unterwegs

Aus dem Englischen von Thomas Lindquist

erster teil

eins

Ich begegnete Dean das erste Mal nicht lange, nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten. Damals hatte ich gerade eine schwere Krankheit hinter mir, über die ich hier nicht weiter reden will, außer dass sie etwas mit der elend lästigen Trennung zu tun hatte und meinem Gefühl, dass alles tot war. Mit Dean Moriarty begann der Teil meines Lebens, den man mein Leben unterwegs nennen könnte. Davor hatte ich oft davon geträumt, in den Westen zu gehen und mir das Land anzusehen, hatte vage Pläne geschmiedet – und war nie losgekommen. Dean ist der perfekte Kumpel für unterwegs, zumal er tatsächlich unterwegs geboren worden ist, als seine Eltern 1926 mit ihrer alten Karre auf dem Weg nach Los Angeles durch Salt Lake City kamen. Erstmals hörte ich von ihm durch Chad King; er hatte mir ein paar Briefe von ihm gezeigt, die Dean in einer Besserungsanstalt in New Mexico geschrieben hatte. Ich war ungeheuer interessiert an den Briefen, weil er darin so naiv und nett darum bat, Chad möge ihm alles über Nietzsche beibringen und all die wunderbaren intellektuellen Sachen, die Chad wusste. Irgendwann sprachen Carlo und ich über die Briefe und fragten uns, ob wir diesen seltsamen Dean Moriarty wohl je kennenlernen würden. All das liegt weit zurück, als Dean noch nicht so war, wie er heute ist, als er ein junger, geheimnisumwitterter Knastvogel war. Dann kam die Nachricht, dass Dean aus der Besserungsanstalt entlassen war und zum ersten Mal in seinem Leben nach New York kam; außerdem hieß es, dass er kürzlich geheiratet hätte, ein Mädchen namens Marylou.

Eines Tages, als ich auf dem Campus herumhing, erzählten mir Chad und Tim Gray, dass Dean sich in einer Bude mit nur kaltem Wasser in East Harlem, dem spanischen Harlem, aufhalte. Dean war am Abend zuvor angekommen, das erste Mal in New York, mit seiner hübschen kleinen scharfen Mieze Marylou; sie stiegen an der 50th Street aus dem Greyhound-Bus und bogen um die nächste Ecke, auf der Suche nach einer Kneipe, wo man was essen konnte, und landeten direkt bei Hector’s, und von da an ist Hector’s Cafeteria für Dean immer der Inbegriff von New York gewesen. Sie gaben ihr Geld für wunderschöne Kuchen mit Zuckerguss und für Sahneteilchen aus.

Und dauernd erzählte Dean Marylou solche Sachen: «Also, Schatz, hier sind wir in New York und obwohl ich dir nicht alles gesagt hab was mir so durch den Kopf ging während wir durch Missouri rollten und besonders in dem Moment als wir am Jugendgefängnis von Booneville vorbeikamen was mich an meine Knastprobleme erinnerte, ist es jetzt absolut notwendig all die offengebliebenen Fragen hinsichtlich unseres privaten Liebeslebens zu vertagen und sofort an konkrete berufliche Pläne zu denken …» und so weiter, eben in der Art, die er in jenen frühen Zeiten an sich hatte.

Ich ging mit den Jungs zusammen zu dieser Kaltwasserwohnung, und Dean kam in Unterhosen an die Tür. Marylou hüpfte von der Couch; Dean hatte die Besitzerin der Wohnung in die Küche geschickt, anscheinend zum Kaffeekochen, während er sich um seine Liebesprobleme kümmerte, denn für ihn war Sex die einzige heilige und wichtige Sache im Leben, obwohl er sich plagen und schwitzen musste, um Geld zum Leben und so weiter zu verdienen. Das sah man schon daran, wie er dastand und mit dem Kopf wackelte, immer den Blick gesenkt und nickend wie ein junger Boxer, der sich Instruktionen anhört, sodass man meinen konnte, er lauschte jedem Wort, wenn er tausendmal sein «Ja ja» und «Richtig, richtig» einwarf. Mein erster Eindruck von Dean war der eines jungen Gene Autry – schmucker Bursche mit schmalen Hüften und blauen Augen und einem gewaltigen Oklahoma-Akzent –, ein kotelettengeschmückter Held aus der Schneewelt des Westens. Tatsächlich hatte er eben erst auf einer Ranch gearbeitet, bei Ed Wall in Colorado, bevor er Marylou heiratete und an die Ostküste kam. Marylou war eine hübsche Blonde mit einem gewaltigen Wuschelkopf, ein Meer von goldenen Locken; sie saß auf der Sofakante, ließ die Hände in den Schoß hängen und starrte mit ihren rauchblauen Naturkinderaugen vor sich hin, weil sie in einer dieser schlimmen grauen New Yorker Buden gelandet war, von der man ihr drüben im Westen erzählt hatte. Nun wartete sie wie eine dieser langgliedrigen, abgemagerten surrealistischen Modigliani-Frauen in einem düsteren Zimmer. Aber abgesehen davon, dass sie ein liebes nettes Mädchen war, war sie strohdumm und stellte die schrecklichsten Dinge an. An diesem Abend tranken wir alle Bier und zogen uns beim Armstemmen über den Tisch und redeten, bis der Tag anbrach, und am Morgen, als wir dumpf dasaßen und im grauen Licht eines trüben Tages Kippen aus den Aschenbechern rauchten, sprang Dean nervös auf, schritt nachdenklich im Kreis herum und fand dann, dass es angesagt sei, Marylou das Frühstück machen und den Fußboden fegen zu lassen. «Mit anderen Worten, Schatz, wir müssen uns jetzt ran am Riemen reißen, sonst kommen wir ins Schleudern und verpassen jede wahre Erkenntnis oder Kristallisierung unserer Pläne.» Das war der Augenblick, in dem ich wegging.

In der folgenden Woche vertraute er Chad King an, dass er unbedingt von ihm schreiben lernen müsse; Chad sagte, dass ich Schriftsteller sei, er solle mich um Rat fragen. Inzwischen hatte Dean Arbeit auf einem Parkplatz gefunden, hatte mit Marylou Streit in ihrer Wohnung in Hoboken bekommen – weiß Gott, warum sie dorthin gezogen waren –, und sie war so wütend und von so tiefer Rachsucht, dass sie zur Polizei lief und eine falsche, hysterisch aufgebauschte, verrückte Anzeige erstattete, und Dean musste aus Hoboken verduften. Er wusste also nicht, wo er bleiben sollte. Er kam direkt heraus nach Paterson, New Jersey, wo ich bei meiner Tante wohnte, und eines Abends, während ich dort büffelte, klopfte es an der Tür, und da stand Dean und sagte unter Verbeugungen und verlegenem Füßescharren im dunklen Flur: «Hal-lo, erinnerst du dich an mich – Dean Moriarty? Ich komme, weil ich dich bitten wollte, dass du mir das Schreiben beibringst.»

«Und wo ist Marylou?», fragte ich, und Dean sagte, sie hätte anscheinend ein paar Dollar zusammengehurt und sei zurück nach Denver gegangen – «die Hure!» Wir gingen also aus dem Haus und tranken ein paar Bier, weil wir vor meiner Tante, die im Wohnzimmer saß und ihre Zeitung las, nicht so reden konnten, wie wir wollten. Sie warf nur einen Blick auf Dean und fand, dass er ein Verrückter sei.

In der Bar sagte ich zu Dean: «Verdammt, Mann, ich weiß ganz genau, dass du nicht nur zu mir gekommen bist, weil du Schriftsteller werden willst, und überhaupt, was verstehe ich schon davon, außer dass du dranbleiben musst, mit aller Kraft, wie ein Benzedrin-Süchtiger.» Und er sagte: «Ja, klar, ich weiß genau, was du meinst, und tatsächlich bin ich schon selbst auf diese Probleme gekommen, aber was ich will, ist die Erkenntnis all dieser Faktoren, die, wenn man sich von Schopenhauers Dichotomie für ein innerlich Erkanntes leiten lässt …» Und so weiter, in dieser Art, Dinge, von denen ich keinen Schimmer hatte und er selbst auch nicht. In jenen Tagen wusste er selbst nicht, was er da redete; mit anderen Worten, er war ein junger Knastvogel, völlig fixiert auf die wunderbaren Möglichkeiten, ein richtiger Intellektueller zu werden, und redete gern in einem Ton und unter Verwendung von Wörtern, wenn auch kunterbunt durcheinander, wie er es von «echten Intellektuellen» gehört hatte – obgleich er, wohlgemerkt, in allen anderen Dingen nicht so naiv war und nur ein paar Monate mit Carlo Marx brauchte, um in dem Jargon und all den Begriffen völlig zu Hause zu sein. Trotzdem kamen wir auf anderen Ebenen des Wahnsinns gut miteinander klar, und ich war einverstanden, dass er bei mir wohnte, bis er einen Job fand, und im Übrigen machten wir aus, irgendwann in den Westen zu fahren. Das war im Winter 1947.

Eines Abends, als Dean zum Essen bei uns war – er hatte schon seinen Parkplatzjob in New York –, beugte er sich über meine Schulter, während ich munter drauflostippte, und sagte: «Komm schon, Mann, die Mädchen werden nicht warten, mach schnell.»

Ich sagte: «Einen Moment noch, ich bin gleich da, sobald ich dieses Kapitel fertig habe», und es war eines der besten Kapitel in dem Buch. Dann zog ich mich an, und wir sausten los nach New York, um ein paar Mädchen zu treffen. Während wir im Bus durch die unheimliche phosphoreszierende Leere des Lincoln-Tunnels rollten, heizten wir uns gegenseitig an, fuchtelten mit den Händen, schrien und redeten aufgeregt, und mich packte allmählich das gleiche Fieber wie Dean. Er war einfach jung und ungeheuer vom Leben begeistert, und obwohl er ein Schwindler war, schwindelte er nur deshalb, weil er so gern mit Leuten zusammen sein und zu tun haben wollte, die ihn sonst nicht beachtet hätten. Auch mich beschwindelte er, und ich wusste es (von wegen Kost und Logis und «Schreiben lernen» etc.), und er wusste, dass ich es wusste (dies ist die Grundlage unserer Beziehung gewesen), aber mir war’s egal, und wir kamen gut miteinander aus – kein Generve, keine Bemutterung; wir umkreisten einander auf Zehenspitzen, wie herzergreifend neue Freunde. Mit der Zeit lernte ich von ihm genauso viel wie er wahrscheinlich von mir. Und was meine Arbeit anging, sagte er: «Weiter so, alles, was du machst, ist phantastisch.» Er schaute mir über die Schulter, wenn ich meine Geschichten schrieb, und schrie: «Ja! Richtig! Toll! Mann!» und «Puuuh!» und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. «Mann, toll, es gibt so viel zu tun, so viele Sachen zu schreiben! Wie soll man auch nur anfangen, all das aufs Papier zu bringen, und das ohne künstliche Beschränkungen und alle Fesseln wie literarische Hemmungen und grammatikalische Ängste …»

«Genau, Mann, du sagst es.» Und eine Art heiliges Feuer sah ich aus seiner Begeisterung lodern, aus seinen Visionen, die er mit einem solchen Wortschwall beschrieb, dass die Leute im Bus sich nach dem «übererregten Irren» umdrehten. Im Westen hatte er ein Drittel seiner Zeit in Billardhallen verbracht, ein Drittel im Knast und ein Drittel in der öffentlichen Bücherei. Man hatte ihn eifrig durch die winterlichen Straßen hasten sehen, barhäuptig, mit Büchern unter dem Arm, die er in die Billardhalle mitschleppte, oder wie er über Bäume in die Dachbuden von Freunden hinaufkletterte, wo er tagelang blieb, um zu lesen oder sich vor der Polizei zu verstecken.

Wir fuhren nach New York – ich hab vergessen, worum es ging, zwei farbige Mädchen –, aber da waren keine Mädchen; sie sollten ihn in einem Imbiss treffen und kreuzten nicht auf. Wir liefen zu seinem Parkplatz, wo er einiges zu erledigen hatte – er zog sich hinten im Schuppen um und machte sich vor einem gesprungenen Spiegel fein und so –, und dann zogen wir los. Und das war der Abend, an dem Dean Carlo Marx begegnete. Etwas Ungeheuerliches passierte, als Dean Carlo Marx begegnete. Zwei schlaue Köpfe, die sie sind, flogen sie aufeinander. Zwei scharfe Augen blickten in zwei scharfe Augen – der heilige Schwindler mit dem hellen Verstand und der kummervolle Dichter-Schwindler mit dem düsteren Verstand, nämlich Carlo Marx. Von diesem Moment an sah ich Dean nur noch selten, und es tat mir sogar ein bisschen leid. Ihre Energien prallten frontal aufeinander, ich war im Vergleich dazu ein Tölpel, ich konnte nicht Schritt halten mit ihnen. Der ganze verrückte Wirbel der Dinge, die kommen sollten, begann damals; er sollte alle meine Freunde und alles, was mir von meiner Familie geblieben war, in einer riesigen Staubwolke über der amerikanischen Nacht aufmischen. Carlo erzählte ihm von Old Bull Lee, Elmer Hassel, von Jane: Lee in Texas, der dort sein Gras zog, Hassel im Knast auf Riker’s Island, Jane, die im Benzedrinrausch halluzinierend über den Times Square wandelte, ihr Baby im Arm, und in der Klapsmühle von Bellevue landete. Und Dean erzählte Carlo von unwahrscheinlichen Leuten im Westen wie Tommy Snark, dem hinkefüßigen Billardhallen- und Spielautomatenhai und Kartenzocker und komischen Heiligen. Er erzählte ihm von Roy Johnson und Big Ed Dunkel, seinen Kumpels aus der Kindheit und von der Straße, von seinen unzähligen Mädchen und Sex-Partys und pornographischen Bildern, von seinen Helden, Heldinnen, Abenteuern. Zusammen rannten sie durch die Straßen und fuhren auf alles ab auf die Art, wie sie das damals draufhatten und die später so viel trauriger wurde, vorsichtig und inhaltsleer. Aber damals tanzten sie durch die Straßen wie Kobolde, und ich stolperte hinterher, wie ich mein Leben lang hinter Leuten hergestolpert bin, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe funkensprühende Feuerwerksvulkane und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und aus der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen «Aaah!» Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland? Weil er so gern lernen wollte, so zu schreiben wie Carlo, stürzte sich Dean sofort auf ihn, mit einem großen und liebenden Herzen, wie nur ein Schwindler es haben kann. «So, Carlo, jetzt lass mich mal sprechen – also, was ich sage, ist …» Ich sah sie ungefähr zwei Wochen lang nicht, und in dieser Zeit zementierten sie ihre Freundschaft in den teuflischen Ausmaßen eines süchtigen Tag-und-Nacht-Gesprächs.

Dann kam der Frühling, die große Zeit der Wanderschaft, und jeder in der verstreuten Clique machte sich bereit für die eine oder andere Reise. Ich arbeitete fleißig an meinem Roman, und als ich in der Mitte angelangt war, nach einem Ausflug mit meiner Tante in den Süden, wo wir meinen Bruder Rocco besuchten, war ich bereit, zum allerersten Mal an die Westküste zu fahren.

Dean war schon aufgebrochen. Carlo und ich hatten ihn zur Greyhound-Station an der 34th Street begleitet. Oben gab es da einen Fotoautomat, wo man Bilder für einen Vierteldollar machen konnte. Carlo nahm seine Brille ab und machte ein finsteres Gesicht. Dean schoss eine Profilaufnahme und blickte sich schüchtern um. Ich machte ein en-face-Bild, auf dem ich aussah wie ein dreißigjähriger Italiener, der jeden umbringen würde, der ein Wort gegen seine Mutter sagt. Dieses Foto schnitten Dean und Carlo säuberlich mit einer Rasierklinge in der Mitte durch, und jeder verstaute seine Hälfte in seiner Brieftasche. Dean hatte sich für die große Heimfahrt nach Denver in einen echten Geschäftsanzug geworfen, wie er an der Westküste üblich ist; er hatte seinen ersten Auftritt in New York hinter sich. Ich sage Auftritt, aber er hatte bloß wie ein Hund auf Parkplätzen geschuftet. Er war der phantastischste Parkplatzwächter der Welt, er konnte ein Auto mit vierzig Sachen rückwärts in eine enge Lücke quetschen, knapp vor der Mauer bremsen, rausspringen, zwischen Kotflügeln durchrennen, in den nächsten Wagen springen, mit fünfzig Meilen in der Stunde auf einem kleinen Fleck wenden, schnell rückwärts rein in eine Parklücke, rrrums, die Handbremse reinknallen, dass man den Wagen hochschnellen sieht, während er raushechtet; dann schnell zur Kassenbude, im Sprint wie ein Hundertmeterläufer, den Parkschein aushändigen, in einen gerade angekommenen Wagen springen, bevor der Besitzer halb draußen ist, buchstäblich unter ihm durchtauchen, während er aussteigt, den Wagen mit klappernden Türen starten und losdonnern zum nächsten freien Platz, wenden, reinstoßen, bremsen, rausspringen, rennen; und diese Schufterei acht Stunden lang, ohne Pause, jeden Abend, in der täglichen Rushhour und in der Rushhour nach dem Theater, in speckigen Pennerhosen, einer zerschlissenen, pelzgefütterten Jacke und mit klatschenden kaputten Schuhen. Jetzt hatte er sich für die Fahrt nach Hause einen neuen Anzug gekauft; blau, Nadelstreifen, mit Weste und allem Drum und Dran – für elf Dollar an der Third Avenue, dazu eine Uhr mit Uhrkette und eine Reiseschreibmaschine, auf der er in einem möblierten Zimmer in Denver anfangen wollte zu schreiben, sobald er dort einen Job gefunden hatte. Unser Abschiedsessen bestand aus Frankfurtern mit Bohnen in einem Riker’s in der Seventh Avenue, und dann stieg Dean in den Bus, an dem Chicago stand, und brauste los in die Nacht. Da fuhr er hin, unser Hitzkopf. Ich schwor mir, den gleichen Weg zu nehmen, wenn erst der Frühling richtig blühte und das Land wachküsste.

Und das war eigentlich der Anfang von meinen Erfahrungen unterwegs, und die Dinge, die kommen sollten, sind zu phantastisch, um sie hier nicht zu erzählen.

Ja, und nicht nur weil ich Schriftsteller war und neue Erfahrungen suchte, wollte ich Dean näher kennenlernen, und auch nicht nur, weil mein Herumhängen auf dem Campus einen Kreislauf vollendet hatte und eine Blamage war, sondern auch, weil er mir irgendwie, trotz aller Unterschiede zwischen uns, wie ein lange verlorener Bruder vorkam; der Anblick seines knochigen Schmerzensgesichts mit den langen Koteletten und des angespannten schwitzenden muskulösen Nackens erinnerte mich an meine Kindheit an den Färbereiabwassertümpeln und Badepfützen und Flussufern von Paterson und am Passaic River. Seine schmutzigen Arbeitsklamotten hingen mit solcher Anmut an ihm – bei keinem Maßschneider konnte man einen besseren Sitz kaufen, man konnte ihn sich nur beim «Naturschneider natürlicher Lebensfreude» verdienen, so wie Dean es getan hatte, bei all seiner Schufterei. Und in seiner aufgeregten Art zu reden hörte ich wieder die Stimmen alter Gefährten und Brüder unter der Brücke, zwischen den Motorrädern, in der von Wäscheleinen durchzogenen Nachbarschaft und auf schläfrigen Türstufen am Nachmittag, wo die Jungs Gitarre spielten, während ihre großen Brüder in den Textilfabriken arbeiteten. Alle meine anderen derzeitigen Freunde waren «Intellektuelle» – Chad, der Nietzscheaner und Anthropologe, Carlo Marx mit seinen bekloppten surrealistischen, leisen, ernsten, irren Reden, Old Bull Lee und seine kritische Motzerei gegen alles und jedes –, oder sie waren heimliche Kriminelle wie Elmer Hassel mit seinem gelangweilten höhnischen Grinsen; genauso Jane Lee, die sich auf ihrer Couch mit Orientdecke wälzte und über den New Yorker die Nase rümpfte. Aber Deans Intelligenz war in jeder Hinsicht genauso geschult, brillant und umfassend, nur ohne die öde Intellektualität. Und seine «Kriminalität» hatte nichts Schmollendes oder Spöttisches; sie war ein unbändiger, bejahender Ausbruch amerikanischer Lebensfreude; sie war der Westen selbst, der Westwind, eine Ode aus der Prärie, etwas Neues, lange Vorhergesagtes und lange Ersehntes (er knackte Autos nur zum Spaß für Spritztouren). Außerdem vertraten alle meine New Yorker Freunde den negativen, albtraumhaften Standpunkt, dass die Gesellschaft abzulehnen sei, und lieferten ihre müden, bücherschlauen oder politischen oder psychoanalytischen Gründe dafür, während Dean nur so durch die Gesellschaft raste, gierig nach Brot und nach Liebe; ihm war es egal, ob so oder anders, «solange ich nur an das nette Mädchen mit ihrem süßen Etwas zwischen den Beinen rankomme, Mensch» und «solange wir was zu essen haben, Mann, verstehst du mich? Ich bin hungrig, ich verhungere, lass uns sofort was essen!» – und schon stürzten wir los und aßen, wie es, so spricht der Weise Salomo, «dein Teil ist unter der Sonne».

Ein westlicher Verwandter der Sonne – das war Dean. Obwohl meine Tante mich warnte, er würde mich in Schwierigkeiten bringen, hörte ich einen neuen Ruf und sah einen neuen Horizont und glaubte daran, jung, wie ich war; und ein paar kleine Schwierigkeiten oder auch, dass Dean mich als Kumpel abwies, mich hängenließ, wie er es später tun sollte, verhungernd am Straßenrand und auf dem Krankenbett – was machte das schon? Ich war ein junger Schriftsteller und wollte abheben.

Irgendwo unterwegs, das wusste ich, gab es Mädchen, Visionen, alles; irgendwo auf dem Weg würde mir die Perle überreicht werden.

zwei

Im Monat Juli 1947, nachdem ich etwa fünfzig Dollar von meinem Veteranensold gespart hatte, war ich so weit, dass ich an die Westküste fahren konnte. Mein Freund Remi Boncœur hatte mir einen Brief aus San Francisco geschrieben und gesagt, ich solle kommen und mit ihm auf einem Rund-um-die-Welt-Dampfer in See stechen. Er schwor, er könne mir einen Job im Maschinenraum verschaffen. Ich schrieb zurück und sagte, ich wäre schon mit irgendeinem alten Frachter zufrieden, solange ich ein paar längere Südseereisen unternehmen und genügend Geld mit heimbringen könne, um mich im Haus meiner Tante über Wasser zu halten, bis ich mein Buch fertig hätte. Er sagte, er habe eine Hütte in Mill City, und dort hätte ich alle Zeit der Welt zum Schreiben, während wir die lästige Suche nach dem Schiff hinter uns brächten. Er lebte mit einem Mädchen namens Lee Ann zusammen; sie sei eine wunderbare Köchin, schrieb er, und alles werde klargehen. Remi war ein alter Schulfreund von mir, ein Franzose, aufgewachsen in Paris und ein wirklich verrückter Typ – wie verrückt, das wusste ich damals noch nicht. Er erwartete meine Ankunft also in zehn Tagen. Meine Tante war einverstanden mit meiner Reise nach Westen; es werde mir guttun, sagte sie, ich hätte den ganzen Winter so hart gearbeitet und sei kaum an die Luft gekommen; sie lamentierte nicht einmal, als ich ihr sagte, dass ich ein Stück weit trampen müsse. Sie wünschte sich nur, dass ich heil und ganz wiederkäme. Also ließ ich mein dickes, halbfertiges Manuskript auf dem Schreibtisch liegen, zog eines Morgens zum letzten Mal meine gemütliche Bettdecke glatt, nahm meinen Segeltuchsack, in dem ich ein paar wichtige Dinge verstaut hatte, und machte mich auf den Weg zum Pazifischen Ozean, mit fünfzig Dollar in der Tasche.

Monatelang hatte ich in Paterson über Landkarten der Vereinigten Staaten gebrütet, hatte sogar Bücher über die Pionierzeit gelesen und mir Namen wie Platte und Cimarron und so weiter auf der Zunge zergehen lassen, und auf der Straßenkarte war eine lange rote Linie eingezeichnet, die Route 6, die von der nördlichen Spitze von Cape Cod direkt nach Ely, Nevada, führte und dort abbog, runter nach Los Angeles. Ich würde einfach den ganzen Weg bis Ely auf der 6 bleiben, sagte ich mir, und zog zuversichtlich los. Um auf die 6 zu kommen, musste ich zum Bear Mountain hinauf. Voller Träume, was ich in Chicago, in Denver und schließlich in San Francisco machen würde, stieg ich an der Seventh Avenue in die Subway und fuhr bis zur Endstation an der 242nd Street und nahm dort einen Trolley-Bus nach Yonkers hinein; im Zentrum von Yonkers stieg ich um in einen Bus nach Außerhalb und fuhr bis zum Stadtrand am Ostufer des Hudson River. Wenn du eine Rose in den Hudson wirfst, an seinem geheimnisvollen Ursprung in den Adirondacks, stell dir nur vor, wo sie überall vorbeikommt, während sie für immer ins Meer hinausschwimmt – stell dir nur das wunderschöne Hudson-Tal vor. Ich fing also an mit der Tramperei. Fünf verschiedene Wagen brachten mich zu der erwünschten Bear-Mountain-Brücke, wo die Route 6 im Bogen aus Neuengland hereinschwenkt. Als ich dort endlich ausstieg, fing es an, in Strömen zu regnen. Nicht nur dass es dort keinen Verkehr gab, es schüttete wie aus Eimern, und weit und breit war nichts, wo ich mich unterstellen konnte. Ich musste rennen und unter ein paar Fichten Deckung suchen; das nützte nichts; ich fing an, zu heulen und zu fluchen, und schlug mich vor den Kopf, dass ich so ein verdammter Esel war. Ich war gute sechzig Kilometer nördlich von New York; den ganzen Weg hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass ich an diesem meinem ersten großen Tag immer nur nach Norden fuhr, statt in den heißersehnten Westen. Jetzt saß ich an der nördlichsten Ecke meiner Wegstrecke fest. Ich lief einen halben Kilometer bis zu einer hübschen aufgegebenen Tankstelle im englischen Cottage-Stil und stellte mich unter das tropfende Dach. Hoch über mir schickte der mächtige borstige Bear Mountain Donnerschläge durch die Gegend, die mich Gottesfurcht lehrten. Ich sah nichts als dampfende Bäume und schaurige Wildnis, bis in den Himmel hinauf. «Was, zum Teufel, mache ich hier?», fluchte ich und schrie jammernd nach Chicago. «Die anderen haben jetzt alle den größten Spaß, sie machen dies, machen das, und ich bin nicht dabei, wann werde ich endlich dort sein!» – und so weiter. Schließlich hielt ein Auto vor der verlassenen Tankstelle; der Mann und die zwei Frauen darin wollten die Landkarte studieren; ich trat vor und gestikulierte im Regen; sie berieten sich, ich sah aus wie ein armer Irrer, klar, mit meinem klatschnassen Haar und meinen triefenden Schuhen. Meine Schuhe, verdammter Idiot, der ich bin, waren mexikanische Huaraches, geflochtene Sandalen wie ein Sieb und für die Regennacht über Amerika und die rauen Nächte auf der Landstraße ungeeignet. Aber die Leute ließen mich einsteigen und nahmen mich weiter nach Norden mit, bis nach Newburgh, was mir immerhin besser schien, als die ganze Nacht in der Wildnis am Bear Mountain festzusitzen. «Außerdem», sagte der Mann, «gibt es keinen Durchgangsverkehr auf der 6. Wenn Sie nach Chicago wollen, sollten Sie lieber in New York den Holland-Tunnel nehmen und weiter Richtung Pittsburgh», und ich wusste, der Mann hatte recht. Mein Traum aber war in die Binsen gegangen, diese blöde, am häuslichen Herd ausgeheckte Idee, dass es wunderbar sein müsse, einer einzigen großen roten Linie quer durch Amerika zu folgen, statt es auf verschiedenen kleineren und größeren Straßen zu versuchen.

In Newburgh hatte der Regen aufgehört. Ich lief hinunter zum Fluss, und ich musste nach New York mit dem Bus zurückfahren, zusammen mit einer Delegation von Schullehrern, die von einem Wochenende in den Bergen zurückkamen – plapper-plapper blah-blah. Ich fluchte, dass ich so viel Zeit und Geld vergeudet hatte, und sagte mir immer wieder: Ich wollte doch nach Westen, und jetzt bin ich den ganzen Tag und bis in die Nacht hin und her gefahren, nach Norden, nach Süden, wie einer, der nicht richtig in Gang kommt. Ich schwor mir: Morgen werde ich in Chicago sein. Und um sicherzugehen, stieg ich in einen Autobus nach Chicago, gab den größten Teil meines Geldes aus – und scherte mich einen Dreck darum, Hauptsache, ich würde morgen in Chicago sein.