Pulverfass Russland
Wohin steuert die Großmacht?
Vorwort |
Was treibt Putin an? |
Lehrjahre eines Meisters |
Die Entdeckung des Patriotismus |
Medien im Würgegriff |
Der Leviathan erwacht |
Die Gleichschaltung der Legislative |
Wo bleibt die Opposition? |
Die Reichen und die Macht |
Energie als Waffe |
Demokratie mit Adjektiven |
Annäherung durch Verflechtung? |
Literatur |
Dank |
Aufstieg und Niedergang, Hoffnung und Desillusionierung – wie in einem Mahlstrom wirbelt Russland zwischen den Polen der Extreme: Moskau als «Drittes Rom» oder eine Hölle auf Erden. Nach wirtschaftlichem Aufstieg während Putins Präsidentschaft, dem wahnhaften Streben nach dem Wiedererlangen von Stärke und Macht, hat auch Russland die weltweite Wirtschaftskrise erreicht. So selbstgewiss hatte sich die Führung im Kreml gewähnt als Herrscher über die weltgrößten Reserven an Energie. Damit schien das Land besser gerüstet für eine neue Weltmachtrolle als durch jede militärische Streitmacht. Das war der Ausgangspunkt für eine neue Etappe «des russischen Weges», wie der große Moskauer Historiker Juri Afanassjew die Politik der jüngeren Zeit beschreibt, ein Sendungsbewusstsein, gekennzeichnet durch einen «Messiaskomplex» und Expansionsdrang. Er nennt es eine Rückkehr zu alten Traditionen: «Tatsächlich bedeutet ‹zurückkehren› in Russland, dass wir uns an einem Ort wiederfinden, den wir genau genommen niemals wirklich verlassen haben.»
Nun taumelt die Wirtschaft zwischen Smolensk im Westen und Wladiwostok im fernen Osten des Landes. Und noch ist nicht ausgemacht, ob diese neuerliche Prüfung wie eine Kur gegen den Großmachtwahn wirkt oder zu tiefen sozialen und politischen Verwerfungen führt – gefährlich für Russland selbst und seine Nachbarn. Wer durch das Land reist, stößt immer wieder auf die Spuren lastender Geschichte, im Norden die im Schnee versunkene Welt der Straflager, Gastgeber in den Dörfern, die vom Schicksal ihrer Vorfahren im Gulag erzählen. Die Last dieser Geschichte wird nicht leichter, wenn in einer kosmetischen Operation die Maske des Grauens zu einem makellosen Antlitz hergerichtet wird. Es mag sogar sein, dass die Krise Russland viel schlimmer trifft als manch ärmeres Land, gerade weil die politische Führung Masken trägt, des Stolzes, des Ingrimms und ohne erkennbares Empfinden für die Tragik des Geschehens in vorangegangenen Jahrzehnten. Alexander Jakowlew, Weggefährte Gorbatschows und Mitarchitekt von Perestroika und Glasnost, Geburtshelfer eines neuen demokratischen Russlands, wehrte sich bis in seine letzten Tage gegen den Prozess des Verdrängens und Vergessens. Er erkannte darin eine fundamentale Gefahr für den neuen Staat. Bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte im Oktober des Jahres 2000 – Putin war gerade ein halbes Jahr Präsident – warnte er vor der für ihn absehbaren Entwicklung und erklärte: «Unsere Ermüdung hindert uns daran, klar zu erkennen, dass der Amtswalter die ganze Fülle der Macht erneut ergriffen hat und dabei die Verfassung, die Gesetze und den Menschen niederhält.» Nicht etwa die ausländischen Kommentatoren oder Korrespondenten erhoben als Erste die Stimme, sondern Wissenschaftler und Politiker in Moskau. Und unter ihnen waren es die Alten, jene, die die Zeit der Tyrannei noch in klarster Erinnerung hatten, die am eindringlichsten warnten. Sie erkannten, dass die Weichen gestellt wurden für einen neuerlichen Weg ins Abseits, als ob es die Geschichte nicht gegeben hätte.
Butowo war damals ein Dorf vor den Toren Moskaus. Am Rand der von Kiefern umstandenen Siedlung aus Holzhäusern lag der Schießplatz – den Widerhall von Gewehr- und Pistolenschüssen kannten die Anwohner. Doch seit dem 8. August 1937 drangen des Nachts und in den frühen Morgenstunden auch die Rufe von Frauen und Männern in die Hütten – Gebete und das Flehen, man möge doch um Gottes und der Kinder willen ein Einsehen haben. Es begann, was später Stalins «Großer Terror» oder die «Große Säuberung» genannt wurde, obwohl das vom Staat verordnete Morden längst schon zur Gewohnheit geworden war.
An jenem ersten Tag wurden 91 Menschen erschossen. Die nach dem Ende der Sowjetunion erstellten Listen der in Butowo Getöteten zählen insgesamt über zwanzigtausend Namen. Die Opfer, die Tag und Nacht in Lastwagen herangekarrt wurden, waren keineswegs, wie später offiziell behauptet wurde, in ihrer Mehrzahl Parteimitglieder. Zu den Erschossenen gehörte Tatjana Iwanowna, eine Frau in den Dreißigern. Man weiß von ihrem Schicksal, weil Verwandte später den Ort der Erschießung aufsuchten, wo die Leiche von Tatjana Iwanowna irgendwo unter der wuchernden Grasnarbe in einem Graben verscharrt worden war. Als Grund für ihre Verhaftung und Exekution reichte es, dass sie in ihrer Jugend mit einem deutschen Unternehmer in Moskau verheiratet war, der nach der Revolution sie und das Land verließ. Daraus konstruierte das NKWD, so hieß der Geheimdienst damals, den Vorwurf der Spionage.
Dass sich die Spuren ihres Lebens in jener Zeit nicht verloren, ist einfachen Kirchenleuten und der Menschenrechtsorganisation «Memorial» zu danken. Die einen bauten nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft am Rand der Erschießungsstätte eine Kirche aus Holz. Und gemeinsam trug man die Namen der Hingerichteten zu einem Totenbuch zusammen. Der Staat zeigte kein Interesse für das Gedenken an diesen Teil seiner Geschichte. Wer in späteren Jahren nach Butowo fuhr, durchquerte die Ödnis der Vorstadt, wo sowjetische Industriebrachen und grelle Reklamewände die Lust am Verdrängen spiegelten. Man hatte Mühe, das Ziel zu erreichen, weil es auf keinem Stadtplan verzeichnet war und keine Schilder den Weg wiesen. Endlich angekommen, traf man in einem Haus neben der Kirche die selbst ernannten Hüter des vergessenen Ortes. Dort hatten sie die Dokumente gesammelt, gewährten Einblick in die langen Listen, ein paar Menschen, die sich staatlicher Gewissenlosigkeit entgegenstemmen, wie man sie immer wieder in Russland trifft, so gradlinig und offenherzig in Mitgefühl und Gastfreundschaft, wo sie doch fast nichts zu teilen hatten.
Als ich im März 1980 zum ersten Mal nach Moskau kam, wagte kaum jemand von Butowo zu sprechen. Doch bei aller Tristesse in der Endphase der Herrschaft Leonid Breschnews, die rückblickend als die «Zeit der Stagnation» betrachtet wird, gab es Zeichen der Hoffnung. Angesichts des politischen und ökonomischen Niedergangs griff im Land die Erkenntnis um sich, dass die Zeit der Lügen nicht andauern konnte, dass hinter den Kulissen des sich pompös gebärdenden Gebildes von Staat und Partei etwas Neues entstehen musste, auch wenn noch niemand wusste, wie die Zukunft aussehen würde. So dachten nicht nur diejenigen, die damals von Amts wegen abfällig Dissidenten genannt wurden. Selbst im Zentralkomitee der Kommunisten regten sich unruhige Geister.
Valentin Falin, der frühere sowjetische Botschafter in Bonn, war auf interne Dokumente zu den Erschießungen polnischer Offiziere in Katyn 1940 gestoßen, die nach Lesart der Partei immer noch den Deutschen angelastet wurden. Falin, damals Berater des Generalsekretärs Juri Andropow, der Breschnew im Amt gefolgt war, drängte darauf, das Geheimnis zu lüften und zu bekennen, dass die Mörder dem NKWD angehörten und die Exekutionen auf Geheiß Stalins vollzogen worden waren.
Die Zeit war noch nicht reif für solche Wahrheiten. Falin wurde aus dem Zentralkomitee entlassen, und man traf ihn fortan im Redaktionshaus der Zeitung «Iswestija», wo er als Kommentator arbeitete. Auch dieses abrupte Ende einer Karriere war ein Beleg für die wachsende Unruhe im Apparat, in dem Falin keineswegs ein Einzelgänger blieb. Später gelangte er wieder zu Ansehen und Ehren, als Michail Gorbatschow ihn in sein Team berief.
Auf Ungeduld und Widerspruch konnte man auch fernab der Hauptstadt stoßen, etwa bei Fabrikdirektoren oder Kolchosvorsitzenden, die das Elend der Wirtschaft in ihren eigenen Betrieben erlebten. Der sowjetische Koloss war erstarrt, erschöpft nicht zuletzt von der Fixierung auf den Rüstungswettlauf mit den USA. Aber die Vorbeben der kommenden Veränderungen waren zu spüren. Die vagen Hoffnungen jener frühen achtziger Jahre schlugen um in Euphorie, als Gorbatschow die Stunde der Wahrheit einläutete. Er wies einen neuen Weg ohne Umkehr, wie es damals schien, einen Weg, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – so phantastisch das noch klingen mochte – keinesfalls ausschloss. In den Straßen Moskaus demonstrierten Bürger für ihre Rechte. Im August 1991 verteidigten sie die demokratischen Ansätze gegen jene Kräfte in Geheimdienst und Partei, die das alte System wiederherstellen wollten.
Kaum zwanzig Jahre sind seither vergangen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erscheinen so fern wie eh und je. Ohne Zweifel, die sowjetischen Zeiten sind endgültig vorüber. Das heutige Russland hat zwar manches gemein mit jenem untergegangenen Staatsmoloch, doch es ist ein anderes Land geworden. Die Grenzen sind offen, jedenfalls für alle, die das Geld haben, um zu reisen. Das wiedererblühte St. Petersburg erinnert an das «Palmyra des Nordens», wie die Dichter ihre Stadt einst genannt haben. Und wer heute durch Moskau fährt, mag sich zuweilen in Las Vegas wähnen. Andernorts ist der Wetteifer mit Manhattan unverkennbar.
Inmitten der Stadt liegt der Kreml. Er ist umkränzt von Baukränen, die die Silhouette des neuen Reichtums in den Himmel zeichnen. Das Machtzentrum des großen Landes steht wie seit Urzeiten in weißer, unschuldiger Reinheit am Ufer der Moskwa, als sei es ein Märchenschloss. Dabei ranken sich um den Palast grausame Mythen und Legenden von Machtintrigen und Herrscherwahn. Ein führender Politiker der nachkommunistischen Zeit empfahl einst, man möge die Festung als Museum zur Besichtigung freigeben, damit sich die Betrachter an den Kulissen düsterer Geschichte erbauen könnten. Der neuen Politik jedenfalls könne in diesen Mauern kein Glück beschieden sein.
Auch damals, als ich nach Moskau kam, war die Burganlage aus dem Mittelalter eine Bastion gegen Wahrheit und Aufklärung. Doch was zu Breschnews Zeiten unter den Herrschenden vorging, wer mit wem in Fehde lag, wer bei Hofe an Gunst verloren hatte oder im Aufstieg begriffen war, drang nach außen. Selbst das Erscheinen des späteren Predigers von Glasnost und Perestroika wurde schon Gegenstand von Diskussionen, als er noch weit von seinen Zielen entfernt war.
So merkwürdig es klingt, in jener Zeit der späten Sowjetunion existierte ein gewisses Maß an Transparenz und auch ein Minimum an Machtbalance. Es gab Kontrollgremien, deren Aufgaben in den Parteistatuten festgeschrieben waren und die diese wenigstens rudimentär erfüllten. Und es gab im Apparat eine ganze Reihe von abendländisch gebildeten Menschen, die längst die Defizite des Systems erkannt hatten, die empfindsam waren gegenüber den Lügen und Verbrechen der Vergangenheit. Manche von ihnen wurden später enttäuschte Zeugen, wie die junge russische Demokratie entgleiste.
Heute ist der Kreml als Symbol für die Herrschaft in Russland wieder in ein Mysterium gehüllt, das viel undurchdringlicher ist als zu jenen Zeiten, in denen die Beobachter der Kremlpolitik schmählich «Astrologen» genannt wurden. Was auf den Korridoren der Macht ausgehandelt wird, welche Interessen vertreten werden, wer die handelnden Akteure sind, ist allenfalls Stoff für Spekulationen – solange man nicht zum engsten Kreis der Eingeweihten gehört. Es war bezeichnend, dass sich wenige Monate bevor der damalige russische Präsident Putin aus seinem Amt schied, hartnäckig das Gerücht hielt, er würde trotz gegenteiliger Bekundungen seine eigene Nachfolge anstreben. Der Präsident pries die bevorstehenden Wahlen als Ausweis praktizierter Demokratie und stürzte gleichzeitig durch seine Vexierspiele mit möglichen Nachfolgern das Land in Verwirrung. Nicht nur die Auguren blieben ratlos. Viel schlimmer, sein Jonglieren mit Kandidaten zeugte von der Missachtung des Wählers – der sollte seine Stimme demjenigen geben, der ihm schließlich als Favorit präsentiert werden würde, vom staatlich kontrollierten Fernsehen ins Rampenlicht gerückt.
Wladimir Wladimirowitsch Putin hatte in der Zeit seiner Präsidentschaft alle politischen Strukturen und Machtinstanzen auf seine Person ausgerichtet. Er hatte sich umgeben mit «Silowiki», wie die Klasse der aus Militär und Geheimdienst stammenden Uniformträger genannt wird. Die meisten von ihnen haben ihre biographischen Wurzeln im sowjetischen KGB, was nach eigenem Bekenntnis das Leben prägt: «Einmal Tschekist – immer Tschekist.» Putin und seine Mitstreiter entzogen sich jeglicher demokratischen Kontrolle. Denn jene Institutionen, auf die die Demokratie sich stützt – das frei gewählte Parlament, die unabhängige Justiz, die freien Medien –, deformierten zu ihrem Nutzen. Wenn es überhaupt je einen demokratischen Geist in der Verfassung von 1993 gab, so wurde er in Ketten gelegt, um die Macht zu zementieren.
War Putin nur die Galionsfigur dieser Machtstrukturen oder blieb er bis heute tatsächlich der alles bestimmende Steuermann am Ruder des Staates, der auch den Nachfolger wie eine Marionette führt? Und wenn es so wäre, wie stabil ist ein Staatswesen, das sich ohne institutionelle Absicherung auf die Weitsicht eines Einzelnen verlassen muss? Bis heute blieb Putins Popularität die einzige Legitimation seiner Herrschaft, denn die Wahlen zur Duma im Dezember 2007 und die nachfolgende Wahl von Putins Nachfolger Medwedjew dienten allenfalls dazu, den Schein einer Demokratie zu wahren. Bescheidet sich Putins langjähriger Mitarbeiter und Favorit auch weiterhin mit der Rolle des demütigen Knappen seines Herrn oder entzweit sich das Gespann von Präsident und Premier und es kommt in Russland zu einer Doppelherrschaft, die sich in Zwist und Zwietracht erschöpft? Die russische Geschichte bietet dafür unheilvolle Beispiele.
Vom Umgang der Herrschenden mit den Beherrschten hatte in den Präsidentenjahren Putins eine ganze Reihe von Ereignissen Zeugnis abgelegt: fragwürdige Gerichtsverfahren, die Knebelung der Opposition, die Übernahme unabhängiger Medien. Auch einige Morde sind zu verzeichnen, nicht nur die Fälle, die im Westen Aufsehen erregten. Sie sind in einer vom Kreml aufgeheizten Atmosphäre geschehen, wenn nicht sogar die Spuren direkt auf eine Mittäterschaft staatlicher Institutionen verweisen. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen Jahre als Ganzes und ruft sich auch scheinbar entrückte Details wieder in Erinnerung, bleibt nur der beklemmende Eindruck, dass die Weichen für Russlands nahe Zukunft gestellt sind, fort von den einst gewonnenen Ansätzen zur Demokratie hin zu autoritärer Herrschaft – ganz unabhängig davon, dass der neue Präsident mit seinem verbindlicheren Auftreten und gelegentlichen Äußerungen, in denen er «Rechtsnihilismus» und die um sich greifende Korruption beklagt, reformerische Akzente zu setzen trachtet. Das System, das Putin schuf, hat längst seine eigene Logik entwickelt, die den neuen Herrn im Kreml in ihr Netz eingesponnen hat. Der faktischen Annexion der georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien, der anhaltenden Okkupation georgischen Kernlands nach dem Ende des Kriegs begegnete Medwedjew in der Rolle des besiegelnden Notars. Im patriotischen Siegestaumel ließ er keine unabhängige Position erkennen.
Die Ereignisse im Südkaukasus weckten nicht nur bei den direkten Nachbarn nie überwundene Ängste vor althergebrachtem russischem Expansionsdrang. Doch längst hat die neue Machtelite erkannt, dass die Stärke des Landes nicht auf der Schlagkraft seiner Armeen beruht. Seine internationale Rolle wird zunehmend durch den Reichtum an Bodenschätzen bestimmt, vor allem Erdgas und Erdöl. Daran wird langfristig auch die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise nichts ändern. Russlands Nachbarn haben bereits erlebt, wie Energieressourcen als politische Waffe dienen können. Und aus der ökonomischen Dominanz leitet Russland einen Anspruch auf politische Vorherrschaft ab, auf den auch Westeuropa eine Antwort finden muss.
Das Kaleidoskop russischer Wirklichkeit schillert in vielen Farben: das Feuerwerk explodierenden Reichtums in den Städten, die graue Armut auf dem Land, die Pracht eines selbstbewussten Staates, die Düsternis der Geheimdienstwelten. Dieses Buch versucht ein Mosaik zusammenzusetzen, indem es an Vorgänge erinnert, ohne die die Gegenwart nicht zu verstehen ist. Und indem es in der Kette der Ereignisse die Zusammenhänge sichtbar macht.
Der Rückblick auf die Präsidentenjahre von Wladimir Putin mag wie eine chronique scandaleuse erscheinen. Doch was der westliche Zeitungsleser als einzelnes Ereignis wahrnimmt, fügt sich in ein System. In diesem System gilt das Recht des Stärkeren, der Machtanspruch des autoritären Staates. Er wird zusammengehalten von den Netzen des Geheimdienstes und von Machteliten, die sich um den Kreml gruppieren. Sie bemänteln ihre Interessen mit patriotischem Stolz, der sich innen- wie außenpolitisch als gefährlicher Nationalismus gebärdet.
Putin weckte Sehnsüchte nach einem starken Russland. Noch in den letzten Tagen vor den Dumawahlen im Dezember 2007 schürte er in hysterischer Weise die Ängste der Bürger, als stehe das Land unmittelbar vor einer Invasion durch die NATO. In der Stunde der Gefahr sollten die Wähler sich hinter der Partei des Kremls versammeln. Wunschgemäß erzielte «Einiges Russland» mit 64,1 Prozent der Stimmen einen demonstrativen Sieg – der nicht zu Unrecht Putins ungebrochener Popularität zugeschrieben wurde und seine Machtstellung unabhängig vom künftigen Regierungsamt untermauerte.
Die Erfahrung nicht nur des politischen Lebens lehrt, dass mehrere Betrachter denselben Gegenstand höchst unterschiedlich beurteilen können. So ist auch die Sicht des Verfassers von seinen persönlichen Erfahrungen geprägt. Es geht ihm nicht um die Frage, ob das Messglas für politische Reformen in Russland halbvoll oder halbleer ist. Sondern um die Feststellung, dass die Flüssigkeit im Glas nicht weniger ist als Gift für die Entwicklung eines demokratischen Gesellschaftssystems in Russland.
Die Innen- und Außenpolitik eines Landes stehen naturgemäß in enger Beziehung zueinander. Insofern kann es Russlands Nachbarn nicht gleichgültig sein, was dort geschieht – umso weniger, wenn sie Zeugen werden, wie die Opposition im Land verfolgt wird und Kritiker sogar Mordanschlägen zum Opfer fallen. Und wenn sie erleben, wie Russland seine kleineren Nachbarstaaten unter Druck setzt. Vor vielen Jahren träumte der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow von einem «Haus Europa», in dem jede Nation für ein Leben in Wohlstand und Sicherheit ihren Platz finden werde. Wenn diese Vision heute entrückter erscheint als vor zwanzig Jahren, dann haben das auch die Architekten im Westen zu verantworten. Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme, die für die Zukunft wappnet.
1. Kapitel
Das kleine Seitengemach im Kreml, in dem ZDF und ARD ihre Kameras aufbauten, war mit Bedacht gewählt. Wenige Tage nach seiner Inauguration wollte der frischgekürte Nachfolger Jelzins zu seinem Antrittsbesuch nach Berlin aufbrechen. Es entspricht den Gepflogenheiten, sich vor einer solchen Visite Journalisten des Gastlandes zum Gespräch zu stellen, damit die Bürger erfahren, was sie von dem hohen Besuch zu erwarten haben. So waren Thomas Roth für die ARD und sein Kollege vom ZDF in den Kreml gebeten worden. Die Regie hatte als Kulisse nicht einen der prächtigen Säle vorgesehen, deren imperialer Glanz tradierten Herrschaftsanspruch verkündet. Für die Verhältnisse des Hauses war es ein dezent eingerichteter Raum: Die Wände waren mit freundlicher grüner Seidentapete ausgestattet, gedämpftes Licht fiel auf goldene Stuckatur. Ein zierlicher Stuhl und ein Tischchen waren als Platz für den Präsidenten vorgesehen. Es gab keine äußerlichen Attribute, um dessen Autorität und Amtswürde zu unterstreichen. Die Maßgabe war Bescheidenheit.
Keiner der Anwesenden, die emsig mit den technischen Vorbereitungen beschäftigt waren, hatte bemerkt, wie die schmale, im dunklen Anzug gekleidete Gestalt den Raum betreten hatte und sich unauffällig unter die aufgeregten Ausländer mischte, so unscheinbar, wie man es Wladimir Putin nachsagt: einer, dem es gelingt, in einem Raum nicht einmal einen Schatten zu werfen. In bescheidener Freundlichkeit begrüßte er jeden der Anwesenden mit Handschlag, als schmerze ihn, dass die Begegnung in einem so förmlichen Rahmen stattfinden müsse, das hohe Amt wie eine Verkleidung, in der sich der Amtsträger als Mensch zu behaupten versucht. Es weckte Erinnerungen an Begegnungen mit Olof Palme, den später ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten, der wie kein zweiter Regierungschef in Europa das Bild des bürgernahen Politikers geprägt hatte.
Der Auftritt war gelungen. Der Eindruck von Vertrautheit verfestigte sich im Vorgespräch, als man zwangsläufig auf die Jahre in Dresden zu sprechen kam, der Präsident mühelos wechselnd zwischen der russischen und der deutschen Sprache. Die beiden Korrespondenten fühlten sich von so viel freundschaftlicher Ausstrahlung fast in einen Rauschzustand versetzt. Wie sich später zeigte, blieben sie nicht die Einzigen, die diesem Charme erlagen. Lilia Schewzowa, die langjährige Beobachterin der politischen Szene Russlands und Autorin eines klugen Buches über die Präsidentschaft Putins, bemerkte: «Ich kenne viele Menschen, die ihm misstrauisch oder geradezu skeptisch gegenüberstanden, bis sie Putin trafen und dann seine aktiven Unterstützer wurden. Er wusste, wie man Freunde macht.»
Die beiden Korrespondenten, die an jenem Tag im Juni 2000 zum Interview in den Kreml gefahren waren – nicht durch den Dienstboteneingang am Spassky-Turm, sondern durch das Borowitzky-Tor, das sonst nur hohen Würdenträgern vorbehalten war –, hatten sehr wohl ernüchternde Bilder aus den vorangegangenen Monaten vor Augen. Unvergessen war der erste Auftritt des jungen Politikers Putin auf der Bühne der Weltpolitik. Im Herbst 1999 fuhr Putin, der gerade zwei Monate vorher zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, zu einem Treffen mit EU-Regierungschefs nach Helsinki, um die Partnerschaft Russlands mit der Europäischen Union zu untermauern.
Als Putin an der Tafel der Regierungschefs Platz nahm, hatten die Raketen ihr Ziel schon getroffen. Die Nachricht sickerte durch, dass der zentrale Markt in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny in den frühen Abendstunden – als Hochbetrieb herrschte – zerstört worden sei. Von dreihundert Toten wurde berichtet. Die Konferenz in Helsinki drohte als Debakel in die Geschichte der wechselhaften Beziehungen zwischen Ost und West einzugehen. Putin zog sich gegenüber den Regierungschefs der EU scheinbar ungerührt aus der Affäre. Würdelos konnte sein Abgang in Helsinki nur demjenigen erscheinen, der mit den Verhältnissen genauer vertraut war.
Auf der Pressekonferenz blieb ihm die Frage nach dem Raketenbeschuss von Grosny nicht erspart. Sein Gesicht nahm jenen kantigen und trotzigen Ausdruck an, dem man auch später immer wieder begegnete, wenn er mit unerfreulichen Themen konfrontiert wurde. Der Blick wird dann kalt und starr und verrät wenig Sympathien für das Gewerbe der Berichterstatter. «Ich möchte die Aufmerksamkeit der Presse darauf lenken», sagte er spitz, «dass es sich (in Grosny) nicht um einen gewöhnlichen Markt handelt, sondern um einen Platz für Waffenhandel.» Nicht die Streitkräfte seien für die Explosionen verantwortlich, sondern ein Streit zwischen tschetschenischen Fraktionen.
Den anwesenden westlichen Politikern verschlug es die Sprache. Wie sollte man auf solche Kaltblütigkeit reagieren? Schließlich antwortete der damalige EU-Kommissionschef Prodi, man habe andere Informationen und sei sehr besorgt über die Entwicklung im Kaukasus. Damals schien es, als habe der Mann, den Boris Jelzin zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, auf internationalem Parkett jedenfalls seine Glaubwürdigkeit verloren. Aber Putin hatte längst begriffen, dass die Zeit über solche Momente hinweggeht – wenn man nur kühn die Stirn bietet. Die Kühnheit sollte ihn später noch über ganz andere Klippen tragen.
Der Ort, von dem Putin in Helsinki behauptet hatte, er sei Schauplatz eines innertschetschenischen Kampfes gewesen, bot noch drei Tage später ein Bild des Grauens. Die Marktstände waren ausgebrannt, die Dächer hingen zerfetzt von den Gestellen. Der Markt war verlassen. Aber am Rand traf man Menschen, die erregt von den einschlagenden Raketen berichteten, von der Panik und von den Toten und Verletzten. Getroffen hatte der Raketenangriff die Bevölkerung, es war nichts anderes als ein ferngesteuertes Massaker. Die örtlichen, noch vom ersten Tschetschenienkrieg gezeichneten armseligen Krankenhäuser waren völlig überfordert. Die Verwundeten, darunter viele Frauen und Kinder, lagen in den Fluren auf dem Boden. «Zu viele Opfer», sagte resignierend ein junger Arzt, «wir haben zu wenig Verbandsmaterial und Medikamente. Wir haben keinen Platz, kein Licht, nicht einmal Wasser.»
Der neue Krieg werde die Zivilisten schonen, hatte Moskau versprochen. Doch bereits der erste, der im Dezember 1995 durch Jelzin vom Zaun gebrochen wurde, hatte Verderben über das kleine Volk am Kaukasus gebracht. Damals war die russische Öffentlichkeit noch empört über so viel sinnlose Grausamkeit. Putin hatte gelernt aus der Erfahrung des fehlgeschlagenen Feldzugs, der 1996 in – nach Moskauer Lesart – demütigende Friedensverhandlungen mündete. Er wusste, wie man sich als Oberbefehlshaber in Szene setzen konnte.
Es ist nicht zu leugnen, der zweite Krieg im Kaukasus, der diesmal unter Putins Befehl geführt wurde, hatte das Bild des jungen Präsidenten geprägt, dessen Sanftmut die beiden Korrespondenten an jenem Junitag des Jahres 2000 fast erlegen wären. Eigentlich hätten sie es besser wissen müssen. Denn der Krieg hatte sie zu Zeugen von Begebenheiten werden lassen, die im Drehbuch eines erfolgreichen Feldzugs nicht vorgesehen waren. Gelegentlich wurden sie sogar zu Gejagten. Für ausländische Journalisten wurde die Region zu einer verbotenen Zone erklärt. Die russischen Kollegen hingegen nahm man an die kurze Leine. Keine verstörenden Bilder vom Ort des Geschehens sollten die patriotisch getönte Stimmungslage verunsichern, keine Meldungen von Übergriffen und Fehlern der Armee, die ausgezogen war, um den schmachvollen Abzug von 1996 zu rächen.
Um unserer Pflicht zur Berichterstattung nachzukommen, reisten wir westlichen Journalisten auf Schleichwegen über die Berge nach Tschetschenien. Wir gelangten bis zum tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der 1997 in demokratischen, von der OSZE kontrollierten Wahlen ins Amt gewählt worden war und die Einstellung der Kampfhandlungen forderte. Die Journalisten wurden Zeugen, wie die Stadt Grosny nach sechswöchigem Bombardement in Schutt und Asche lag – so mochte Dresden nach dem Feuersturm 1945 ausgesehen haben. Sie erlebten in einem von der russischen Armee umzingelten Dorf, wie ganze Familien durch Raketenbeschuss ausgelöscht wurden.
Das waren die Bilder, die Putin der russischen Öffentlichkeit und auch dem Rest der Welt vorenthalten wollte. Die Korrespondenten, die sich während des ersten Krieges hatten frei bewegen können, waren im zweiten Krieg ständig bedroht. Die Streitkräfte hatten den Auftrag, sie festzunehmen, wo immer man ihrer habhaft wurde, und sie dem Geheimdienst auszuliefern. Man kann den Armeeoffizieren zur Ehre anrechnen, dass sie nicht überall diesem Befehl folgten. Sie sahen darüber hinweg, dass vorgezeigte Dokumente nicht echt waren, oder sie empfahlen, nur Seitenwege zu benutzen, um den nächsten Kontrollposten zu umgehen. Manche boten sogar eine Unterkunft an. Andere drohten, demonstrierten ihre Missachtung gegenüber Journalisten. Dazu kamen Rachegefühle, weil man fürchtete, die Grausamkeiten der russischen Soldateska würden offengelegt. Das war das Vorspiel zu den Verfolgungen, denen später Anna Politkowskaja in Tschetschenien ausgesetzt war.
Die Journalisten sollten begreifen, dass man sie und ihre Arbeit geringschätzte. Und wenn schon nicht eigene Erfahrung, dann lieferte das Schicksal des Kollegen Andrej Babitzki ein Beispiel für das skrupellose Vorgehen des Kreml. Im Februar 2000 ging die Nachricht von seinem spurlosen Verschwinden um die Welt. Babitzki, ein russischer Staatsbürger, arbeitete für den amerikanischen Rundfunksender «Radio Free Europe – Radio Liberty», der in sowjetischen Zeiten das Land mit unabhängigen Informationen versorgt hatte und nach der Wende in Moskau ein renommiertes Büro unterhielt. Dem jungen Journalisten hatte es während des Krieges nie an Mut gefehlt, um für die Wahrheit sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Zerstörung Grosnys hatte er in den Kellern der Stadt verfolgt und von dort auch berichtet. Wie die Obrigkeit mit ihm verfuhr, erweist sich im Rückblick als ein Lehrstück für den Umgang mit Kritik.
Babitzkis Kritik am Krieg war fundamental. Doch sie war zugleich glaubwürdig, weil sie auf eigenen Erlebnissen und Beobachtungen beruhte. Er überschritt damit eine Linie, die Putins Regime gezogen hatte – sie trennt die Freunde von den Feinden. Der stellvertretende Stabschef im Kreml Wladislaw Surkow, auch unter dem neuen Präsidenten Medwedjew blieb ihm die Rolle als politischer Vordenker in der Hierarchie erhalten, sagte einer russischen Journalistin damals: «Babitzki ist ein Feind. Schau dir doch seine Reportagen an! Er hat geschrieben, dass er nach den ‹gewaltsamen Säuberungsaktionen› gegen die ‹friedliche tschetschenische Bevölkerung› verstehen kann, warum die Tschetschenen zu den Waffen greifen. Babitzki ist ein Feind des russischen Staates und ein Provokateur.» Surkow schlug einen Ton an, der aus alten Zeiten vertraut ist – als Begleitmusik für Exekutionskommandos. Dass diese Art zu denken wieder Schule macht, wurde erst später deutlich. Aber der Zynismus war schon damals nicht zu übersehen.
Babitzkis Spuren hatten sich im Kriegsgebiet verloren. Seine Redaktion und seine Familie blieben viele Tage ohne Nachricht. Da auch sein Leichnam nicht gefunden wurde, hielt sich in Moskau hartnäckig die Vermutung, der Journalist sei in die Hände des russischen Geheimdienstes gefallen. Die Sorge um sein Leben rüttelte das Moskauer Journalistenkorps so sehr auf, dass sich mehr als fünfzig von ihnen in einem offenen Brief an den damals noch amtierenden Präsidenten wandten: «Nie seit dem Beginn der Perestroika», schrieben sie, «haben sich die Regierenden einen solchen Akt von unverfrorener Gesetzlosigkeit und von Zynismus gegenüber Mitarbeitern der Massenmedien erlaubt.» Es war die letzte kollektive Auflehnung dieser Art. Sie blieb nicht ohne Wirkung.
Elena Tregubowa, die damalige Kreml-Korrespondentin der angesehenen Zeitung «Kommersant», schilderte im Rückblick auf die Zeit mit Putin, welche Wirkung der Vorstoß der Journalisten im Kreml zeigte. Der Präsident habe eine Kollegin, die gerade zu einem Interview bei ihm war, angeherrscht, es würde bald ein Videoband veröffentlicht, auf dem die Unversehrtheit des Vermissten klar zu erkennen sei. So wurde offenbar, dass der erste Mann im Staat in die Affäre involviert war. Die Fernsehbilder gingen um die Welt, die damit zum Zeugen einer mysteriösen Transaktion wurde: Uniformierte Russen übergeben Babitzki auf einer Landstraße an Unbekannte, die wie tschetschenische Kämpfer gekleidet sind. Er sei wie ein Kriegsgefangener gegen russische Gefangene ausgetauscht worden, hieß es. Einige Zeit später kam Babitzki frei. Den ursprünglich erhobenen Vorwurf, er habe gegen Russland Spionage getrieben, ließ man fallen. Der Austausch, berichtete Babitzki nach seiner Rückkehr nach Moskau, sei eine stümperhafte Inszenierung des Geheimdienstes gewesen, denn er sei auch danach dessen Gefangener geblieben. Babitzki hat mittlerweile Russland den Rücken gekehrt. Die Politologin Lilia Schewzowa bezeichnete den Fall als «Syndrom des Totalitarismus in einer pluralistischen Gesellschaft». Damals war dies noch eine angemessene Beschreibung für eine Gesellschaft, die solche Vorgänge als empörend und bizarr verstand und von den kommenden Verstümmelungen von Pluralität und Öffentlichkeit nichts ahnte.
Vor diesem Hintergrund hätten die beiden deutschen Putin-Befrager im Kreml doch gewappnet sein können. Dieser Staat begann von seinen erklärten demokratischen Zielen abzuweichen. Und sein Präsident verfügte über ein beeindruckendes Repertoire im Rollenspiel. Dennoch hinterließ er im Gespräch einen entspannten, gewinnenden Eindruck. Geduldig erläuterte der junge Präsident, weshalb es zwingend sei, sieben «Super-Gouverneure». (im Volksmund bald die «sieben Samurai» genannt) zu installieren, um die zentrifugalen Kräfte im Riesenreich zu bändigen und die «Vertikale der Macht» zu stärken. «Vertikale der Macht» – das wurde das Schlüsselwort für die Ausrichtung aller politischen Machtstrukturen im Land auf den Kreml. Die Zentrierung aller Staatsgewalt sollte dem erklärten Ziel dienen, den «starken Staat» zu schaffen, eine Formel, die in absehbarer Weise dazu führte, dass sich die rasch wachsende Heerschar der Bürokraten wie eine Prätorianergarde diesem Ziel verschrieb, weil sie sich hinfort bevollmächtigt fühlte, des Staates Willen auf höchst eigenwillige Weise zur Geltung zu verhelfen, die Möglichkeiten der eigenen Bereicherung nicht außer Acht lassend. In der Rückschau erscheint allen Beschwörungen des «heiligen Russlands» zum Trotz das irdische Gemeinwesen eben doch als profanes Gebilde, das im Guten wie im Bösen den diesseitigen Gewohnheiten menschlichen Zusammenlebens folgt.
Nur fünf Tage nach seiner Inauguration hatte Putin mit verheißungsvollen Formeln in aller Unschuld das Fundament für den zentralistischen Staat gelegt, der Russland heute prägt. Dass von den sieben Bevollmächtigten für die Großregionen fünf aus der Welt des Militärs oder des Geheimdienstes stammten, sei Zufall, so der Präsident. Das seien nun einmal vertrauenswürdige Menschen. Für empfindliche Gemüter mochte das ein bisschen anrüchig klingen. Vor dem späteren Absturz des Staatswesens in die Fegefeuer der Korruption hat ihn die Umgebung von «vertrauenswürdigen Menschen» jedenfalls nicht bewahrt.
Eine andere Wendung im Dialog machte uns sprachlos. Wir befragten Putin zum Tschetschenienkrieg: Warum er nicht mit dem gewählten Präsidenten der Tschetschenen, Aslan Maschadow, Verhandlungen aufnehme – Maschadow, ein ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee, sei doch unter demokratischen Bedingungen gewählt worden. Putin, der die Tschetschenen stets als «bewaffnete Banditen» und «Terroristen» bezeichnete, musste diese Frage als Provokation auffassen. Dass sie gestellt werden musste, war gleichwohl allen Beteiligten schon vorher klar. Üblicherweise lautete die Antwort, mit bewaffneten Banditen gebe es keine Basis für Verhandlungen.
Doch der Präsident reagierte mit verständnisvollem, friedfertigem Lächeln. Er würde ja gern mit Maschadow verhandeln, entgegnete er zur Überraschung seiner Zuhörer. Nur gebe es da ein Problem – Maschadow entsende immer wieder Unterhändler, die unverhüllt antisemitisch eingestellt seien. Und wir, als deutsche Korrespondenten, könnten doch nicht im Ernst verlangen, dass er, Putin, mit Antisemiten verhandele. Nie wieder war dieses Argument aus seinem Mund zu hören. Aber um im Interview zu punkten und den deutschen Zuschauern seine sanfte Rechtschaffenheit zu demonstrieren, kam es mehr als gelegen.
In den zehn Jahren, in denen ich seit 1991 die kleine Kaukasusrepublik in Kriegs- und Friedenszeiten immer wieder besuchte, bin ich nie auf die geringste Spur von Antisemitismus gestoßen. Fünf Jahre nach dem Interview wurde Maschadow in einem tschetschenischen Dorf von einem russischen Spezialkommando erschossen. Es war der 8. März 2005, der Internationale Frauentag, der mit dieser Heldentat geschmückt wurde. Sein Leichnam wurde nach Moskau geflogen, seine Asche verstreut. Die Sitte, noch einen Toten zu strafen, ihm und seiner Familie die Würde einer letzten Ruhestätte zu verweigern, ist seit den Zeiten Kreons, des Herrschers von Theben, den Tyrannen eigen. Das ist die Sprache des unauslöschlichen Hasses, den Maschadow wohl gerade deswegen auf sich zog, weil er allen, die ihn jemals trafen, als zugänglich und gemäßigt galt – der einzige Repräsentant des kleinen Landes, der als Verhandlungspartner überhaupt in Frage gekommen wäre.
Die Begegnung im Kreml war weniger eine Sternstunde journalistischen Handwerks als ein früher Beweis strategischen Denkens auf Seiten des Gastgebers der Begegnung. Später, in der Neige seiner Präsidentenjahre, wünschte Wladimir Putin seinen Nachfolgern auf dem Präsidententhron – zu denen er sehr wohl auch selbst wieder gehören kann – eine längere Amtsperiode als vier Jahre, weil das erste Jahr im Kreml als Einarbeitungszeit abzubuchen sei und schon zwei Jahre später der Wahlkampf für die Wiederwahl beginne. Medwedjew hat ihm diesen Wunsch einer Verfassungsänderung in einer parlamentarischen Hauruck-Aktion erfüllt.
Doch hat Putin selbst demonstriert, wie sich mit festem Blick aufs Ziel und wohlüberlegter Taktik auch in kürzerer Amtszeit die demokratischen Grundstrukturen eines Staates demontieren lassen. Und dass man sich schon in den ersten Amtstagen als Meister des politischen Geschäfts erweisen kann. Davon zeugt nicht nur unsere Begegnung. Aber schon hier wurde deutlich: Er hatte seine Lehrjahre längst erfolgreich absolviert. Das Interview bot einen Beleg für sein handwerkliches Geschick, mit dem er selbst auf Gipfeltreffen souveräne Überlegenheit demonstriert. Das schlichte Geheimnis seiner Taktik ist die sorgfältige Vorbereitung und die Fähigkeit, keine Gesprächswendung dem Zufall zu überlassen.
Putins kalkulierte Unwahrheit im Gespräch mit den Korrespondenten mag in Zeiten des Krieges als lässliche Sünde erscheinen. Die Vorgeschichte des Irak-Krieges konfrontierte die Weltöffentlichkeit mit ganz anderen Dimensionen von Lug und Trug. Dennoch erlaubt jene Episode aus der frühen Zeit seiner Präsidentschaft einen Blick in die Trickkiste des neuen Herrschers, deren reicher Ausstattung auch andere Beobachter später Anerkennung zollten. Der russische Philosoph und Essayist Michail Ryklin lobte in Anbetracht des «verheerend dahinschmelzenden Wortschatzes» von Vorgänger Jelzin die Eloquenz des Nachfolgers. Aber er kam im Mai 2000, wenige Wochen nach dem geschilderten Interview, zu dem Schluss: «Es ist wohl eher so, dass Worte für den neuen Präsidenten keine Rolle spielen. Es genügt, wenn sie den jeweiligen Umständen entsprechen … Man kann lediglich hoffen, dass sich der neue Präsident, wenn er politische Erfahrung gesammelt haben wird, auf die Vorzüge der Aufrichtigkeit besinnen wird.» Wie spätere öffentliche Ausbrüche Putins bezeugen, erfüllte sich zuweilen der Wunsch Ryklins. Dann allerdings bezog die Wahrhaftigkeit ihre Kraft aus dem Vulgären.
Lilia Schewzowa, die subtilste Beobachterin des Geschehens bei Hofe, beschreibt, wie Putin in seiner zweiten Amtszeit ausländische Korrespondenten davon überzeugen wollte, wie sehr ihm an der Stärkung des demokratischen Systems in Russland gelegen sei – während zeitgleich sein stellvertretender Stabschef Surkow Thesen äußerte, die ihr wie eine «aktualisierte Stalin-Doktrin» erschienen. Auch die gewiss schärfste Kritikerin Putins, Anna Politkowskaja, zeigte sich von seiner «ausgeprägten Fähigkeit zur Mimikry» beeindruckt.
Die Bewertung der Rolle Putins in Russlands jüngerer Geschichte führt – zumal in Deutschland – nicht selten zu einem Dissens, der mit der Wucht weltanschaulicher Konflikte ausgetragen wird. Kritiker Putins werden gern als verblendete «Feinde Russlands» gebrandmarkt. Mindestens trifft sie der Vorwurf, sie beurteilten die Politik des Landes mit den falschen, westlich geprägten Maßstäben. Das muss schon deshalb in die Irre führen, weil das Urteil von Stimmen aus Russland bekräftigt wird. Eine westliche Kritik am Herrschaftsgebaren im Kreml wäre wohlfeil, gäbe es nicht die Bezeugungen aus dem Land selbst. Und dann sind da noch jene, die nichts mehr bezeugen können, weil ihre Ermordung zu einem grauenvollen Zeugnis ganz eigener Art geworden ist. Wie kann man antirussisch gescholten werden, wenn man deren Argumente aufgreift? Zeigen nicht vielmehr diejenigen eine versteckte antirussische Haltung, die behaupten, angesichts seiner Größe und seiner Geschichte brauche das Land eine «starke Hand»? Reden sie damit nicht einer angeblich wohlmeinenden Diktatur das Wort? Die aber hat es in der Geschichte noch nie gegeben, weil sich die angemaßte Benevolenz stets als trügerisch erwies. In Wahrheit zielt sie auf die Effizienz eines autoritären Staatswesens, dessen Opfer um des höheren Zwecks willen in Kauf genommen werden.
Besonders in ausländischen Wirtschaftskreisen wird der «strengen Hand» gehuldigt und am Rande bemerkt, «der Russe» bedürfe solchen Reglements, weil er eben zur Demokratie – quasi genetisch – unfähig sei. Da keimt in der angeblichen Fürsorge gegenüber dem Land ein versteckter Rassismus, dem freilich manche aus der Gefolgschaft Putins zuarbeiten – etwa die Gouverneurin von St. Petersburg Valentina Matwienko, die erklärt, ein autoritärer Regierungsstil sei dem Wesen ihrer Landsleute gemäß. Auch ausländische Geschäftsleute erbauten sich an der Illusion, die vorgebliche Stabilität und Ordnung eines autoritären Regimes würden die Geschäftsreisenden zu einer Promenade des Wohlergehens laden. Manch einer, auch Vertreter weltweit operierender Unternehmen, landete stattdessen in einem Drahtseilakt über den Abgründen einer machtbesessenen und profitgierigen Bürokratie. Denn wo die Gewaltenteilung ausgehebelt ist und demokratische Prozesse zu einem Ritual verkommen, bleiben die Entscheidungen der Willkür eines selbst ernannten Kreises weniger Mächtiger überlassen. Präsident Medwedjew machte sich später zum Kronzeugen für den Verfall der Rechtskultur im Land und beklagte öffentlich den Niedergang – ohne freilich auf die Zusammenhänge zwischen Rechtsstaat und Demokratie einzugehen.
Gerne wird in diesem Zusammenhang im Ausland auch darauf verwiesen, dass Russland über keine demokratische Tradition verfüge, mit Ausnahme der kurzen turbulenten Zeit zwischen Februar- und Oktober-Revolution 1917. Gewiss gab der Weg aus der Autokratie des Zarenreiches in die bolschewistische Diktatur, die Tyrannei Stalins bis hin zum Siechtum der Sowjetunion einer politischen Evolution wenig Raum. Aber an demokratischen Vordenkern hat es in Russland zu keiner Zeit gemangelt. Besonders die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts lehnten sich auf gegen die Autokratie. Manche von ihnen, wie Alexander Herzen, mussten wegen ihres bekundeten Freiheitswillens im Ausland leben.
Der Schriftsteller Vladimir Nabokov, der mit seiner Familie den Bolschewisten entkommen war, schildert in seiner Autobiographie «Erinnerung sprich», wie sehr demokratisches Denken in seinem – zudem adeligen – Elternhaus verankert war. Sein Vater bekämpfte den zaristisch sanktionierten Antisemitismus und landete sogar im Gefängnis, weil er sich der durch Zar Nikolai II. erzwungenen Auflösung der Duma nicht beugen wollte. In Sowjetzeiten waren es die Dissidenten, die dem Regime die Stirn boten. Allein die Tatsache, dass viele von denen, die damals für ihren Widerstand mit Gefängnis und Lagerhaft bestraft wurden, heute wieder als Dissidenten gelten, sollte alarmieren. Es war keineswegs von der Geschichte determiniert, dass aus den Ruinen der Sowjetunion keine Demokratie erwuchs.
Schließlich wird in Moskau, aber auch im Westen, im Disput über die gegenwärtigen Verhältnisse eine Haltung vertreten, der zufolge die Kritik am System als unangemessene Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes gilt. Doch falsche Zurückhaltung würde einen Rückfall in die Zeit vor den siebziger Jahren bedeuten, als sich das östliche und westliche Lager im Kalten Krieg zaghaft um «Wandel durch Annäherung» bemühten. Auf der Konferenz von Helsinki 1975, wo sich die Regierungschefs und Staatspräsidenten Europas versammelt hatten, wurde eben nicht nur über ein System der gemeinsamen Sicherheit und die Verbesserung des Handels diskutiert, sondern auch über Menschenrechte. Teile der russischen Zivilgesellschaft fanden schon damals zusammen und beriefen sich auf die Beschlüsse dieser großen Ost-West-Konferenz.
Das Prinzip der Nichteinmischung ist damals wie heute ein Verrat an jenen Kräften in Russland, die Leib und Leben riskieren, weil sie das Land auf einem Irrweg sehen. Einmischung muss also erlaubt sein, nur eines ist deplatziert: deutscher Hochmut. Denn ungeheuer ist das Leid, das die Deutschen den Völkern der Sowjetunion zugefügt haben.
Selbst nach Putins Präsidentenjahren und nunmehr im Amt des Ministerpräsidenten ist der Streit über die Frage, welche Rolle im Staat der einstige Geheimdienstler verkörpert, welche Ziele seine Politik verfolgt und was sein politisches Erbe darstellt, keinesfalls zu Ende. Die Freunde Putins bezichtigen seine Kritiker der Russophobie und würden doch ihrerseits den Vorwurf des Anti-Amerikanismus zurückweisen, den sie sich wegen ihrer Kritik an der Außenpolitik von George W. Bush einhandelten. Für sie verkörpert Putin die Hoffnung auf ein besseres Russland. «Putin denkt abendländisch» – so bilanziert Altkanzler Gerhard Schröder seine Gespräche mit dem russischen Präsidenten. Er erkennt «Putins klaren Willen, sich und sein Land in die westliche Wertegemeinschaft zu integrieren». Diese wohlwollende Betrachtungsweise, so könnte man mit Bosheit behaupten, ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass der Held seines Russlandbildes auch gleichzeitig seine wichtigste Informationsquelle ist. Immerhin spricht Putin Deutsch und hat unter den Deutschen eine Reihe von Jahren nicht als feindlicher, sondern «eingebetteter» Agent gelebt.
Unter welcher Anspannung der Streit auch in Deutschland ausgetragen wird, zeigt der Eklat um eine Fernsehdiskussion zum Thema Russland im Dezember 2006. Damals wurde dem russischen Botschafter in Berlin unterstellt, er habe hinter den Kulissen Regie geführt und dafür gesorgt, dass missliebige Diskussionsgäste wieder ausgeladen wurden. Denn auch an den ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow, der in Moskau zu den Führungspersonen der Oppositionsbewegung zählt, war eine Einladung ergangen. Sein Erscheinen wäre umso wünschenswerter gewesen, da wenige Tage zuvor in einer Polizeiaktion sein Büro durchsucht worden war. Das warf immerhin ein Schlaglicht auf die Situation in Moskau, jede Redaktion hätte sich über solch einen Gesprächspartner glücklich schätzen können. Zu seinem Nichterscheinen in der Sendung gab es widersprüchliche Erklärungen. Das Moskauer ARD-Studio, aus dem Kasparow zugeschaltet werden sollte, wies den Vorwurf, die Schaltung sei aus technischen Gründen nicht zustande gekommen, jedenfalls entrüstet zurück. Auch Klaus Bednarz, ein guter Kenner Russlands und bekannt als nüchtern denkender Fernsehjournalist mit der Fähigkeit zu unbestechlicher Analyse, wurde wieder ausgeladen. Die Leitung der Redaktion bestritt, dass es eine Einflussnahme gegeben habe.
Schon in den neunziger Jahren war die Bewertung des Reformkurses in Russland ein umstrittenes Thema. Zumal die Regierenden im Westen Jelzin bejubelten und alle Einwände ignorierten, Russland treibe dem Abgrund entgegen. Putin führte das Land aus jener «Zeit der Wirren» heraus. Und als Legitimation seines Kurses dient der Verweis auf das zurückliegende Chaos. Was aber ist im Verlauf dieser Metamorphose entstanden? Welche Chancen haben Rechtsstaat und Demokratie? Geht es, um ein Wort aus der Propagandasprache des «real existierenden Sozialismus» aufzugreifen, um ihre «Vervollkommnung»? Wie verlässlich wird Russland als Partner und Nachbar sein? Oder ist das Land weiter denn je von den Traditionen und Gepflogenheiten westlicher Demokratien entfernt, weil es in die Hände eines Clans von Geheimdienstlern geraten ist? Wer in die Zukunft sehen will, muss auf die Vorgeschichte zurückblicken.