Das rote Licht des Mondes
Historischer Kriminalroman
In Erinnerung an Katharina Maria Kaffke, geb. Römer – meine Oma Käthe
28. Oktober 1854
Der helle Tag war längst zu Ende gegangen, erwärmt von der Spätherbstsonne. Vom Rhein und von der Ruhr her zog feuchte Luft auf, und nun, einige Stunden nach Sonnenuntergang, wurde es so kühl, dass man den nahen Winter erahnen konnte. Die Arbeiter der Kohlenlager, Packhäuser und Speditionsbetriebe waren längst nach Hause gegangen oder vergnügten sich in den zahlreichen Kneipen der Altstadt, ihre Arbeitgeber trafen sich in der vornehmen Gesellschaft Erholung bei Zigarren und Wein. Nur nördlich der Stadt erhellte dann und wann ein roter Schimmer die Dunkelheit, und laute Schläge waren zu hören. Das Phoenix-Werk, obwohl noch nicht fertiggestellt, hielt seine Schmelzöfen auch in der Nacht unter Feuer.
Die Altstadtstraßen waren belebt, Gruppen von Männern waren auf dem Heimweg aus den Gasthäusern oder suchten sich einen neuen Platz zum Trinken. An vielen Ecken boten sich ihnen Frauen an, wer noch Lohn in der Tasche hatte, ging vielleicht auch in eines der Bordelle.
Niemand bemerkte die beiden kleinen Mädchen, die von Norden her in die Altstadt gekommen waren. Sie waren gerannt, den ganzen langen Weg vom Neuen Hafen um die obere Schleife des Inselhafens herum, aber nun, beim letzten Schlag der Kirchturmglocke, hielt die Ältere die Kleine zurück.
«Es ist zu spät», sagte sie, völlig außer Atem. «Acht Schläge. Die Türen sind zu.»
«Das kommt davon, weil du so langsam bist, Lene.» Auch die Kleine rang nach Atem. Die Türen des Armenhauses wurden pünktlich um acht Uhr geschlossen, dies sollte verhindern, dass die Insassen sich nachts draußen herumtrieben, tranken oder Schlimmeres taten. Der Vorsteher würde zwar öffnen, wenn sie anklopften, aber sie und ihre ganze Familie würden bestraft. Und da es nicht das erste Mal war, riskierten sie, auf die Straße gesetzt zu werden.
«Mir ist kalt», jammerte die Kleine.
Lene überlegte. Sie hatten einmal ein geschütztes Plätzchen bei den Kohlenlagern auf der Mühlenweide gefunden. Damals war es Sommer gewesen, da hatten sie die Nacht unter freiem Himmel gut überstanden. Jetzt würden sie wohl auch dort bitterlich frieren. Aber sie hatten keine Wahl. «Komm, Hanna», sagte sie und zog die Kleine hinter sich her.
Sie waren in die Kasteelstraße eingebogen, eine der wenigen breiteren Straßen, die durch die Altstadt führten. Trotzdem mussten sie sich eng an eine Hauswand drängen, um einer Kutsche Platz zu machen. Der Kutscher hielt. «So spät allein unterwegs?», fragte er.
Lene nickte. «Wir können nicht heim.»
«Heim?», fragte der Mann und sprang vom Kutschbock. «Das Armenhaus, was?»
«Ja.»
Er lächelte. «Wie wäre es mit einem warmen Plätzchen zum Schlafen?»
Hanna zupfte Lene zaghaft am Kleid. «Keine Kutschen», erinnerte sie ihre Schwester. «Denk dran, was Mutter gesagt hat.»
«Willst du weiter hier frieren?», sagte Lene nur.
«Ich bringe euch nicht von Ruhrort weg, versprochen.» Er zog etwas aus seiner Tasche und beugte sich lächelnd zu Hanna hinunter. «Schau, was ich hier habe! Ich schenke es dir, wenn du einsteigst.»
Er gab Hanna eine kleine Puppe, nicht größer als eine Kinderhand, nur ein Stückchen Holz mit einem Kopf, das mit weißem Stoff umwickelt war. Verzückt sah sie das Spielzeug an.
«Können wir jetzt einsteigen? Es ist kalt!» Lene wurde ungeduldig.
«Sicher.»
Er öffnete die Wagentür und hob erst Hanna, dann Lene in den Wagen.
«Guten Abend, meine Hübschen.»
Die Kinder zuckten zusammen. In der Dunkelheit hatten sie den Mann in der Kutsche gar nicht bemerkt. Doch die Stimme klang freundlich.
Langsam fuhr die Kutsche los. Hanna kuschelte sich an Lene und wiegte das Püppchen in ihrem Arm.
Schon kurze Zeit später hielten sie wieder an, und der Kutscher öffnete die Tür. «Sind die richtig?», fragte er.
«Die sind genau richtig», sagte der Mann, dessen Gesicht im Dunkeln blieb.
3. November 1854