Die Schatten von Montelupo
Commissario Soneri kommt ins Grübeln
Deutsch von Karin Rother
Für meinen Vater Aldo, genannt Fabio, der mich die Namen der Bäume gelehrt hat.
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten und lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Ich danke der Polizeiassistentin Simona Mammano für die ermittlungstechnischen Hinweise sowie dem gesamten Verlagsteam von Frassinelli für die wertvollen Anregungen und die großartige Professionalität.
Die Anschläge bezüglich Paride Rodolfi tauchten am Martinstag im Dorf auf. Darauf war zu lesen, dass er keineswegs verschwunden sei, sondern am Leben und bei guter Gesundheit. Den letzten mussten sie angebracht haben, kurz bevor der Commissario eintraf, als er davorstand, triefte das Papier noch vom Leim. Der Hinweis, der nach Ärger und Geheimniskrämerei roch, gefiel ihm nicht. Dabei wusste er noch nicht einmal von dem Gerücht, demzufolge die Rodolfis in Schwierigkeiten steckten. Neidisches Getuschel, nur gebremst von dem Respekt, den die eindrucksvolle Villa am Hang und die riesige Wurstwarenfabrik der Rodolfis einflößten. Ihr Name erinnerte Soneri an ein bekanntes Markenzeichen, das einen dicken Schlachter mit Schnauzbart neben einem gemästeten Schwein zeigte. Das Bild in dem bunten Oval hatte seine Phantasie von klein auf beschäftigt, seit er es zum ersten Mal auf den Banderolen der Schinken entdeckt hatte, die in den nach Schweineschmalz duftenden Metzgereien am Haken hingen. Mit der Zweideutigkeit dieser Anschläge hatte das allerdings nichts zu tun: Obwohl sie eine gute Nachricht verkündeten, konnten sie doch nicht verbergen, dass hier etwas ziemlich Nebulöses vor sich ging.
Die Neugier, die in ihm aufstieg, empfand er als lästig. Er richtete seinen Blick nach oben, auf die Bergkette, die aussah, als sei sie in zwei Hälften zerteilt worden von den tiefhängenden, mausgrauen Wolken. Er stellte sich vor, wie die zerklüfteten Gipfel in diesen Schoß aus Wasserdampf hineinragten wie ein altes Gebiss. Weiter unten wurden die Kastanienwälder im nassen Tau langsam kahl, erst mit dem Frost würden sie trocknen. Der Gedanke an die Feuchtigkeit hob seine Stimmung: Sie würde dafür sorgen, dass die Pilze wuchsen, deretwegen er hergekommen war, in das Tal, das er von Kindheit an kannte. Er hatte sich darauf gefreut, wieder einmal den kehligen Dialekt der Bergbewohner zu hören und zu wandern, getrieben allein von der Lust an der Bewegung. Der Sommer in der Stadt, den er schwitzend verbracht hatte, in der schwülen Hitze, die er so verabscheute, war anstrengend gewesen. Dann hatten ihm der Herbst und der neue Polizeipräsident mit Stapeln voller neuer Anordnungen, Rundschreiben und Richtlinien kaum Luft zum Atmen gelassen. Nach all den Jahren im Polizeipräsidium spürte er, wie er von Tag zu Tag unduldsamer wurde. Irgendwann hatte ihm Angela, seine Lebensgefährtin, beinahe befohlen, endlich einmal auszuspannen, und statt zwei Wochen an der Cote d’Azur zu verbringen, hatte er beschlossen, in die Pilze zu gehen.
Es wäre seine Chance gewesen, dem Nebel von Parma zu entkommen, doch stattdessen hatte er sich in dieses Tal im Apennin verkrochen, in das die tiefstehende Sonne in der kalten Jahreszeit so gut wie nie vordrang.
«Ich brauche einfach Ruhe», hatte er Angela erklärt, «ich habe genug von den ständigen Scherereien im Büro.»
«Fahr, wohin du willst», hatte sie skeptisch erwidert, «momentan kann ich dich sowieso nirgendwohin begleiten, ich ersticke in Arbeit.»
So war er gut gelaunt und ohne Schuldgefühle aufgebrochen. Doch kaum setzte er seinen Fuß ins Dorf, stand ihm diese fiebrige Erregung im Wege, stieß er auf das laute Stimmengewirr in der scheinbaren Stille, als wäre hinter der ruhigen Fassade kalter Schweiß ausgebrochen.
Auch auf der Piazza gab es einen Aushang, auf der Informationstafel des Rathauses, und Soneri las den Text noch einmal aufmerksam durch, während er sich eine Toscano anzündete: «Wir möchten alle Einwohner davon in Kenntnis setzen, dass sich Doktor Paride Rodolfi bester Gesundheit erfreut und in der Lage ist, seinen beruflichen Pflichten uneingeschränkt nachzukommen. Wir danken allen Einwohnern für die zum Ausdruck gebrachte Besorgnis.»
Er versuchte, an die Pilze und die Baumstümpfe der Buchen zu denken, die in dem durchnässten Unterholz ausgetrieben haben mussten. Er konnte es kaum erwarten, hinaufzusteigen, sobald es ein bisschen aufklarte, und die prächtigen Steinpilze zu pflücken. Er wollte einfach nur alles weit hinter sich lassen, alles außer den Wäldern und den Pilzen.
Er dachte nicht mehr an die Anschläge, bis Maini, sein alter Freund aus Kindertagen, zu dem er noch immer Kontakt hatte, ihn wieder daran erinnerte.
«Einen besseren Moment hättest du dir für deinen Besuch gar nicht aussuchen können», rief er, «einen Commissario können wir hier gerade gut gebrauchen.»
«Ich möchte mit Ermittlungen welcher Art auch immer nichts zu tun haben», stellte Soneri sofort klar.
Sie saßen in der Bar Rivara und sahen auf die Piazza, auf der die Stände für den Markt am Sonntagvormittag aufgebaut waren. An den Verkaufstischen wurde ununterbrochen gemurmelt, die Stimmen verbreiteten Unruhe.
«Was hast du dir bloß dabei gedacht, ausgerechnet im November hier herauf zu kommen?», fragte ihn Maini.
«Du weißt doch, dass ich gerne in die Pilze gehe», erwiderte der Commissario und deutete vage in Richtung der nebelverhangenen Berge.
«Dieses Jahr hast du’s aber schlecht erwischt: Der Sommer war zu heiß, und sie sind schon beim Austreiben vertrocknet.»
«Das sagt ihr jedes Mal», sagte Soneri achselzuckend, «entweder war es zu trocken, oder es gab zu viel Regen oder irgendeine Krankheit … Davon lasse ich mich nicht abschrecken.»
Maini lachte, betrachtete die Tische, an denen die Alten saßen, und wechselte das Thema: «Was sagst du zu den Anschlägen?»
«Es handelt sich wohl um einen Streich», seufzte Soneri. «Heute ist doch Kirchweih, oder?»
In diesem Moment kamen auch Volpi, der Jagdaufseher, und der Vigile Delrio, der Polizist des Dorfes, herein. Wortlos nickten die beiden ihnen zu und setzten sich neben sie.
«Tatsache ist, dass niemand hier Rodolfi gesehen hat», insistierte Maini.
«Doch, gestern Abend schon», mischte sich Volpi ein. «Jedenfalls stand ein Auto, das aussah wie seins, vor der Apotheke.»
«Wer hat das gesagt?»
«Das wurde heute Morgen erzählt», antwortete der Mann ausweichend.
«Angeblich hat er vor einer Woche angekündigt, dass er wegfährt», erklärte Delrio. «Auf Geschäftsreise. Eine seiner Angestellten, die Tochter der Biavardis, hat das gehört.»
«Aber die Jäger der Case Bottini haben am Freitag seine Hündin erkannt: Sie hat sich oben an der Costa Pelata herumgetrieben», widersprach ihm Volpi.
«Vielleicht ist jemand anderes mit ihr dagewesen», beschwichtigte Delrio.
«Er wird wieder mit seiner Frau aneinandergeraten sein», lachte Maini, «das weiß doch jeder, dass sie sich nicht mehr verstehen und dass er immer wieder mal hinaufgeht und in den Wäldern bei den Wildschweinen bleibt.»
«Und bei jemandem, der nachts auf sie schießt», bekräftigte Volpi ernst. «Man hat dort oben Schüsse gehört, und es hörte sich an wie eine Franchi-Doppelflinte.»
«Man hört so viele Schüsse», ergriff Delrio wieder das Wort, «und weiß nicht, wer da schießt. Aber es sind jedes Mal vereinzelte Schüsse aus dem Hinterhalt.»
«In diesen Bergen wimmelt es nur so von Wilderern», räumte der Jagdaufseher ein. «Um sie zu erwischen, bräuchte man eine ganze Armee.»
«Wenn einer geschickt ist, kriegst du ihn nicht. Dort oben haben nicht einmal die Deutschen die Partisanen erwischt», erinnerte Maini. «Aber sind es wirklich Wilderer?»
Die Frage stand im Raum und löste Schweigen aus. Soneri, der das Gespräch etwas widerwillig verfolgt hatte, hörte, wie die Stimmen in der Bar lauter wurden, während der Gestank von abgestandenem Rauch und Feuchtigkeit zu ihm herüberzog. Nach ein paar Sekunden hob Volpi eine Hand und ließ sie schwer auf den Tisch fallen. Die Geste einer stummen Beredtheit, die der Commissario nur allzu gut kannte. Auch die anderen verstanden und lächelten. Dann fuhr Maini fort: «Sieht so aus, als ob Rodolfi in letzter Zeit nicht mehr ganz …», und zeigte mit den Handflächen nach oben. «Erschöpfung.»
«Tja, einer, der Anschläge aufhängt …»
Rivara kam mit dem Malvasia. Er stellte die Gläser auf den Tisch und öffnete die Flasche. Seine großen Hände mit der ledernen Haut bewegten sich ruhig und routiniert. Dann verkündete er überraschend: «Man hat ihn heute Morgen gesehen.»
«Wo?», fragte Maini.
«Bei ihm zu Hause», erwiderte Rivara und deutete mit dem Kinn in Richtung Berge. «Er lief im Hof herum und schien sich Sorgen zu machen.»
«Wer hat ihn gesehen?», wollte Volpi wissen.
«Mendogni. Er fuhr auf dem Weg nach Campogrande mit seinem Traktor dort vorbei.»
«Jeder behauptet etwas anderes», stellte Soneri grinsend fest.
«Mir geben eher die Schüsse zu denken», fuhr Delrio fort. «Schüsse zu jeder Tages- und Nachtzeit, dabei ist die Wildschweinsaison schon lange zu Ende … Vielleicht macht da jemand Dummheiten.»
«Sagt es den Carabinieri», unterbrach ihn der Commissario.
«Die wissen davon. Außerdem hören sie es ja selbst», erwiderte Delrio.
Sie hoben ihre Gläser und stießen an.
«Ich gehe davon aus, dass ihr schon eine Runde gedreht habt», spielte Soneri lächelnd auf die Pilze an.
«Kaum welche da», untertrieb Volpi, «reine Glückssache.»
Die Wolken hingen jetzt nicht mehr so tief, und vor ihnen erkannte man den Passo della Duca und die dunklen Flecken der Kiefern.
«Ich wollte vielleicht am Nachmittag mal hinaufgehen», ließ der Commissario wissen.
Volpi sah ihn missbilligend an. «Um vier ist es bereits dunkel. Geh besser morgens und komm zum Mittagessen wieder ins Dorf.»
Seine Stimme klang irgendwie beunruhigt, doch Soneri achtete nicht weiter darauf, da Volpi hinzufügte: «Die Pilze treiben nachts, wenn es feucht ist. Entweder findest du sie am Morgen oder gar nicht.»
«Ich meine, wenn er alle davon in Kenntnis setzen wollte, dass nichts passiert ist, hätte es gereicht, mal kurz ins Dorf zu kommen. Warum hängt er diese Anschläge auf?», fing Delrio wieder an, dem die Geschichte einfach nicht aus dem Kopf wollte.
«Wann ist der denn schon mal ins Dorf gekommen?», gab Volpi zurück. «Es kommt doch nur sein Vater Palmiro, der seine Schweine auf dem Markt verkauft hat und hier geboren ist.»
«Rivara hat doch gerade gesagt, dass Mendogni ihn in seinem Hof gesehen hat …», gab Maini zurück.
Delrio sah ihn unschlüssig an: «Die Leute sehen ständig alle möglichen Dinge, die es gar nicht gibt … Und der Feldweg nach Campogrande verläuft weit ab von der Villa.»
«Sein Mercedes stand gestern Abend vor der Apotheke.»
«Das kann auch seine Frau gewesen sein, die die nächste offene Apotheke suchte. Sie soll sich ja quasi von Medikamenten ernähren», meinte Delrio.
Soneri zwang sich, an etwas anderes zu denken. Vor allem an die Waldwege. Und beobachtete in der Zwischenzeit die fahrenden Händler auf der Piazza, die begonnen hatten, ihre Stände abzubauen, während der Himmel nun seinerseits auch den letzten Blick auf die Berge versperrte. Einer der Händler, in dicken Stiefeln, kam in die Bar, um sich aufzuwärmen.
«Schon wieder am Aufbrechen?», fragte ihn Rivara.
«Was sollen wir denn hier noch? Wir verkaufen ja doch nichts. Die Leute scheinen ganz aus dem Häuschen zu sein.»
«Es ist Martinstag», rechtfertigte der Wirt.
Der Händler sah ihn wenig überzeugt an. «Die verschwenden doch keinen Gedanken an Sankt Martin», spottete er. «Die haben nur Rodolfi im Kopf. Was ist denn eigentlich passiert?»
«Sah so aus, als sei er verschwunden, aber dann wurde er gesehen. Und heute hat man Anschläge aufgehängt, um das Dorf darüber zu informieren, dass er gesund und munter ist», erklärte Rivara.
«Die hab ich gesehen», nickte der Händler und trank seinen Grappa in einem Zug. «Ich glaube, da ist was faul.»
Delrio wandte sich an die anderen: «Seht ihr? Selbst einer von auswärts kapiert sofort, dass hier etwas nicht stimmt.»
«Der Commissario ist extra deswegen hier raufgekommen», schaltete sich Rivara wieder ein und zeigte scherzhaft auf Soneri.
Der Händler starrte ihn ungläubig und verständnislos an. «Ist die Angelegenheit wirklich so ernst?», fragte er.
«Könnte durchaus sein …», warf Volpi zweideutig ein.
«Wir werden sehen, wie es ausgeht», ergänzte Delrio.
«Jedenfalls», sagte der Commissario kurz angebunden, «bin ich nur hier, um Pilze zu sammeln.»
Der Händler lachte, zahlte und ging.
Dabei stimmte das nicht ganz. Während er aufstand und zusah, wie die Piazza sich leerte, wurde ihm bewusst, dass auch ihn die Geschichte nicht mehr losließ, und diese Tatsache empfand er als so lästig wie einen Schnupfen.
«Sehen wir dich heute zur Torta Fritta?», fragte Maini.
Soneri sah in den immer finsterer werdenden Himmel, bevor er antwortete: «Ich denke schon.»
«Mach dir keine Hoffnungen», sagte der andere mit Blick auf das Wetter, «heute ändert es sich nicht mehr.»
Der Commissario breitete die Arme aus, grüßte und machte sich auf den Weg zur Pension Scoiattolo, wo er ein Zimmer reserviert hatte. Als er eintrat, duftete es nach mit Maronen gefüllten Tortelli und Steinpilzsoße, was Kindheitserinnerungen in ihm wachrief, die unter dem faden Geschmack allzu vieler Schnellimbisse verschüttet gewesen waren.
Sante Righelli, der Inhaber, empfing ihn mit jener spröden Zurückhaltung der Bergbewohner, die an Unhöflichkeit grenzt. Soneri musterte ihn und fand, dass er dem Metzger von Rodolfis Markenzeichen ziemlich ähnlich sah.
«Sie haben sich ja nicht gerade gutes Wetter ausgesucht», bemerkte der Mann.
«Es ist eben November …», verteidigte sich der Commissario. «Wenigstens wachsen die Steinpilze bei der Feuchtigkeit gut.»
Der andere schüttelte den Kopf. «Auch dafür haben Sie sich nicht den richtigen Zeitpunkt ausgesucht.»
«Im schlimmsten Fall ruhe ich mich eben einfach aus.»
Sante ging voran und machte ihm ein Zeichen, ihm in die Gaststube zu folgen, in der bereits viele Leute zu Mittag aßen, blieb dann aber auf der Schwelle stehen.
«Ich hoffe, Sie können sich tatsächlich erholen», murmelte er zweideutig.
«Meinen Sie, dass ich nicht gut schlafen werde?»
«Nein, nein», erklärte Sante, «ums Schlafen geht’s nicht, Sie werden wunderbar schlafen, aber hier im Dorf herrscht ziemliche Aufregung.»
«Ich weiß, die Anschläge …»
«Nun», bestätigte der Wirt mit einem etwas besorgten Gesichtsausdruck, «hoffen wir, dass es dabei bleibt.»
Hinter seinen Andeutungen schien sich noch etwas anderes zu verbergen, doch Soneri hatte sich geschworen, sich nicht in die Sache hineinziehen zu lassen, und wandte seine Aufmerksamkeit Ida, der Frau seines Wirts, zu, einer Veteranin am Kochtopf, korpulent und verschwitzt. Eine Frau aus den Bergen mit breiten Hüften, die so unverwüstlich wirkte wie ein Bahnwärterhaus.
«Ihren Düften kann man einfach nicht widerstehen», lobte der Commissario.
«Schön wär’s …», erwiderte die Frau. «Die Zeiten sind vorbei!» Und warf einen enttäuschten Blick auf ihren Mann, der dazu nichts sagte.
«Sie verführen eben die Gaumen», scherzte Soneri.
«Mir bleibt ja nichts anderes übrig», stellte sie fest. «Aber ich habe den Eindruck, dass ich damit Erfolg habe. Die Leute kommen in Scharen, sogar von der Bundesstraße, Reisende, die unterwegs sind, LKW-Fahrer auf dem Weg zur Autobahn. Meine zahlreichen Verehrer kommen von überall her», kicherte sie.
«Und heute ist ja auch noch Feiertag.»
«Heutzutage ist jeder Tag ein Feiertag. Ob Sonntag oder Montag, das Menü geht immer gut. Abwechslung finden Sie da draußen …», bemerkte die Frau.
«Beim Essen liebe ich alte Gewohnheiten», lenkte Soneri ab und ging auf einen freien Platz zu.
«Sie wollen also nicht das Menü?», fragte Sante.
«Das würde ich gerne der Köchin überlassen.»
Es war beileibe kein Fehler, Ida freie Hand zu lassen: dreierlei Tortelli, gefüllt mit Maronen, Kartoffeln und Kräutern, dreierlei Fleisch, Kaninchen, Wildschwein und Kapaun, als Beilage Polenta, als Finale Zabaionecreme und dazu ein rubinroter Bonarda. Nach dem Essen war der Commissario vom üppigen Mahl, dem Wein und den plätschernden Unterhaltungen im Restaurant so schläfrig, dass er sein Handy erst nach langem Klingeln hörte.
«Bist du gut angekommen?», fragte Angela, deren Stimme wegen der schlechten Verbindung mal lauter und mal leiser klang.
«Der Empfang ist hier ganz schlecht», sagte er und ging nach draußen.
«Bist du im Scoiattolo?»
«Ja.»
«Das hätte ich mir denken können.»
«Was soll ich sagen? Hier fühle ich mich eben heimisch, ich kenne die Wirtsleute …»
Er hörte am anderen Ende ein Seufzen. «Stell dir nur einmal vor, wie viele schönere Orte es wohl gibt, die du gar nicht kennst.»
«Aber warum sollte ich woanders hingehen, wenn ich mich hier wohl fühle?»
«Ich komme das in den nächsten Tagen mal kontrollieren», drohte sie scherzend. «Aber was ist los mit dir? Du kommst mir genervt vor.»
«Nein, ich bin nicht genervt …», brummte Soneri, nicht sonderlich überzeugend. «Die erzählen mir nur ständig von einem, der angeblich verschwunden, dann wieder aufgetaucht ist … Keiner versteht, was eigentlich passiert ist, und daher gibt es jede Menge Gerüchte. Und wegen meines Berufs wenden sie sich alle an mich.»
«Könnte es vielleicht sein, dass du einfach neugierig bist?»
«Na ja, ein bisschen schon», gab der Commissario zu. «Ich würde mich gerne über die Pilze unterhalten, aber alle, denen ich über den Weg laufe, wollen immer nur über dieses eine Thema sprechen.»
«Wer ist denn überhaupt verschwunden? Jemand Wichtiges?»
«Paride Rodolfi, der Besitzer der Wurstwarenfabrik.»
«Donnerwetter!», kommentierte Angela. «Das ist ja nicht irgendwer. Ich kenne den Rechtsanwalt seiner Firma: einen Zivilrechtler. Das glaube ich gern, dass darüber geredet wird. Die haben doch alle irgendwie mit den Rodolfis zu tun, entweder weil sie dort arbeiten oder weil sie mit ihnen Geschäfte machen.»
«Ich weiß, es ist nun aber so, dass …» Der Commissario unterbrach sich, weil er plötzlich seinen Faden verloren hatte. Dann wurde ihm bewusst, dass auch er nicht sagen konnte, warum ihm die Geschichte so seltsam vorkam.
«Dass was?», drängte Angela.
Also erzählte Soneri die Fakten der Reihe nach, um sie auch für sich selbst zu ordnen: «Überall hängen Anschläge, auf denen mitgeteilt wird, dass Rodolfi am Leben und gesund ist. Dabei hatte ihn überhaupt niemand für tot gehalten, alle hatten angenommen, dass er eine Zeitlang verreist wäre.»
«Wenn einer verschwindet, kommt immer der Verdacht auf, dass er tot sein könnte», versuchte Angela zu erklären.
«Sicher. Aber auch jetzt, wo es diese Anschläge gibt, sind sie sich nicht sicher, dass er lebt. Einige behaupten, ihn gesehen zu haben, doch keiner kann es beschwören.»
«O Gott, Commissario», murmelte Angela, «so konfus habe ich dich noch nie erlebt. Ich hoffe, das liegt an dem schweren Essen. Mach einen Spaziergang, um den Kopf wieder frei zu kriegen, und ruh dich aus.»
«Ich habe den Eindruck, dass alle viel mehr wissen, als sie sagen, aber da ich keine anderen Anhaltspunkte habe, komme ich selbst ganz durcheinander, ich kann nicht logisch darüber nachdenken», erklärte der Commissario.
«Willst du einen Rat? Misch dich nicht ein. Geh auf deine Berge, und lass sie allein nach Rodolfi suchen, falls er sich tatsächlich verlaufen hat», schloss Angela.
Um halb drei hing noch immer der Dampf von Fleischbrühe in der Luft, und das Dorf döste vor sich hin. Soneri ging auf sein Zimmer, zog Gummistiefel an und schlüpfte aus dem Haus, ohne dass Sante ihn sah. Hin und wieder befolgte er Angelas Ratschläge. Und außerdem waren ihm diese Wälder vertraut, er kannte sich darin aus wie in seiner Westentasche. Er schlug den Weg zum Montelupo ein, um erst ein paar Kilometer der Straße nach oben zu folgen und dann durch den Buchenwald zu streifen. Er würde sich die Füße vertreten, um seine Lungen zu testen. Mit gleichmäßigem Schritt lief er los und sah sich von Zeit zu Zeit nach dem kleiner werdenden Dorf um. Erst beim Trinkwasserspeicher, wo es eine Quelle gab, richtete er den Blick nach oben zum Berg. Der Nebel befand sich nun nur noch knapp oberhalb von ihm: zehn Minuten Fußmarsch. Die erste Dunstschwade erreichte ihn in Boldara, wo der asphaltierte Weg endete. Dann wurde es abwechselnd hell und wieder dunkel, willkürlich trieb der Wind die Wolken vor sich her. Erst als er auf dem Weg in den Buchenwald war, zog es sich vollständig zu. Die Bäume und das Gehölz, der dichte Nebel, der von oben herabdrückte, und die schwarze Erde unter seinen Füßen ließen ihn frösteln. Mit leichtem Unbehagen ging er weiter und drang immer tiefer in diesen dunklen Tunnel ein. Er spürte, dass er nicht allein war. Vogelgezwitscher und das Rascheln der Kastanienschalen wechselten sich ab mit dem Getrappel eines großen Tieres, das sich irgendwo im Wald herumtrieb. Nebel und Wind lenkten die Geräusche trügerisch in unbestimmte Richtungen.
Er war ein ganzes Stück aufgestiegen, als ihm heiß wurde. Sein Herz raste, und er atmete keuchend. Das war die Quittung für die Zigarren. Dann fiel sein Blick auf seine Stiefel, die voller Schlamm waren, und er begriff: Er schleppte mindestens zwei Kilo Erde mit sich herum. Er streifte sie am Moos ab. Ihm wurde bewusst, dass es in weniger als einer Stunde dunkel sein würde. Daher kehrte er um und blieb erst nach einer Weile stehen, als er das Knacken brechender Zweige hörte. Er vermutete ein Wildschwein auf der Flucht, und einen Moment lang hatte er Angst, dass es hinter ihm her war. Doch das Tier kürzte durch eine Rinne ab, die als schräger Einschnitt am Hang verlief, es setzte sich nicht ungeschützt dem Weg aus, sondern suchte die Deckung des Waldes.
Er war gerade wieder losgelaufen, als ein Schuss durch die Luft fuhr und durch das Echo im Tal widerhallte, als hätte es gedonnert. Die Kugel war keine zehn Meter an ihm vorbeigeflogen, er hatte das Pfeifen gehört und das Splittern der Zweige, die sie gestreift hatte. Sofort duckte er sich in das feuchte Gras und wartete auf einen zweiten Schuss, der nicht kam. Während er eine Zeitlang in dieser Haltung verharrte, fragte er sich, ob der Schuss dem Wildschwein oder ihm gegolten hatte, bis er beschloss, dass es unsinnig war, darüber nachzudenken. Zwanzig Minuten später erreichte er die asphaltierte Straße, und noch bevor er aus dem Nebel trat, hörte er die Musikkapelle auf der Piazza spielen.