Wie Mr. Rosenblum in England sein Glück fand
Roman
Deutsch von Martin Ruben Becker
An seinem neunzigsten Geburtstag habe ich meinem Großvater versprochen, dass ich meinen ersten Roman ihm widmen würde. Und so ist dies also für Mr. P. E. Shields, 1910 – 2000.
Und für David, in Liebe.
Am Abend und in der Nacht ist es bewölkt und trüb, mit gelegentlichen Schauern. In vielen Landstrichen fällt mäßiger bis starker Regen, in höheren Lagen verbreitet Nebel, an der Südküste vereinzelt Nebelfelder. Morgen anhaltende und starke Niederschläge, die sich vom Südwesten her ausbreiten, bei Temperaturen um 14 Grad. Das war die Wettervorhersage. Die nächsten Nachrichten hören Sie um Viertel vor …
Jack Rosenblum schaltete das Radio aus und lehnte sich wieder entspannt in seinen Ledersessel zurück. Auf seinem Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln aus, er schloss die Augen. «Dann wird es also noch mehr regnen», sagte er in das leere Zimmer, streckte seine kurzen Beine aus und gähnte. Die trüben Wetteraussichten bekümmerten ihn nicht; es ging ihm vor allem darum, die Nachrichten zu hören, denn das war jedes Mal ein Genuss. Abend für Abend konnte er sich während der Wettervorhersage ausmalen, er sei Engländer. Als sie wegen des Krieges ausfiel, trauerte er im Namen der Briten, da er sich der Bedeutung dieses Verlusts durchaus bewusst war. Dann, als sie endlich wieder gesendet wurde, lauschte er ihr mit Inbrunst und dachte dabei an all die Engländerinnen und Engländer, die gleichzeitig mit ihm von «leichtem Nieselregen in höheren Lagen» erfuhren. Die täglichen Wetterberichte gaben ihm das Gefühl, Teil der Nation zu sein. Mochten sie auch Eisregen in Schottland und Sonnenschein im westlichen Mittelengland ankündigen, das Ritual der Vorhersage vereinte sie doch alle miteinander. Diese kollektive Sorge um das Wetter war zu Recht wieder ein Hauptanliegen Großbritanniens geworden, und Jack freute sich von ganzem Herzen darüber.
Er starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die Regentropfen an der Scheibe herabliefen. Dahinter erstreckte sich der verwahrloste Garten bis zu einem klapprigen Zaun, auf dessen anderer Seite die Heide lag. Bisher hatte sich niemand um den Zaun gekümmert: Seit 1940 war er immer mehr in sich zusammengefallen, aber es gab kein frisches Holz, um ihn zu reparieren. Jack hätte ohne Probleme etwas Holz auf dem Schwarzmarkt erstehen können, aber die schlichte Wahrheit war, dass er, wie jeder andere Bewohner Londons, aufgehört hatte, die Schäbigkeit überhaupt noch zu bemerken. Im Lauf der letzten zehn Jahre war die ganze Stadt allmählich heruntergekommen, selbst in den schönsten Fassaden zeigten sich Risse, aber die Menschen hier hatten sich inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass sie – wie der Bräutigam einer verblühenden Schönheit – den Verfall gar nicht mehr wahrnahmen. Es blieb jenen, die fort gewesen waren, überlassen, voller Bestürzung festzustellen, wie sehr die einst glänzende Hauptstadt einem trostlosen Niedergang anheimgefallen war. London war geschwärzt und voller Brandflecken, und überall klafften große Löcher, die mit Schutt gefüllt waren.
Jack war nicht wie die meisten anderen Flüchtlinge schon damit zufrieden, wenn er sein altes Leben mehr oder weniger weiterführen konnte wie bisher. Er teilte vielmehr die Ansicht seiner britischen Nachbarn, dass es die Rolle eines Juden war, nicht aufzufallen – im Grunde wie eine Parkbank: nützlich, aber unauffällig. Das Geheimnis war Assimilation. Assimilation. Jack hatte sich das Wort schon so oft aufgesagt, dass es sich für ihn nur noch wie ein Schibbolet, ein Zischen, anhörte. Er war es leid, anders zu sein, wollte nicht wie der Ewige Jude dazu verdammt sein, von Ort zu Ort zu wandern und nirgendwo dazuzugehören. Außerdem mochte er die Engländer und ihre Eigenheiten. Er schätzte ihren Stoizismus, den sie an den Tag legten, wenn sie in Bedrängnis gerieten. In seiner Fabrik hing ein Kriegsplakat an der Wand, auf dem die Krone König Georgs prangte, mit der Aufschrift: «Bewahren Sie Ruhe und machen Sie weiter.» Kein Zweifel, die Stadt war heruntergekommen, die Menschen trugen praktische Kleidung, in den Läden gab es nur schrumpeliges Gemüse, trockenes braunes Brot und erbärmlichen Bacon aus Argentinien, und dennoch rasierten sich die Männer zum Abendessen und zogen sich um, und ihre Frauen servierten ihnen das kümmerliche Essen auf ihrem besten Porzellan. Darin nämlich waren sich alle Briten ähnlich: Sie glaubten immer noch, sie seien der Mittelpunkt der Welt, selbst nachdem das Empire zerfallen war und das britische Pfund an Wert verloren hatte, und dass jeder, der hierherkam, es ganz offensichtlich tat, um etwas von ihnen zu lernen. Die Vorstellung, dass ein Besucher aus Indien oder Amerika vielleicht auch etwas Wissenswertes mitzuteilen hätte, kam ihnen einfach lächerlich vor. Erhobenen Hauptes standen die Briten mit ihren Trilbys oder Bowlern da und diskutierten über das Wetter.
Jack lebte nun schon fünfzehn Jahre hier. Manchmal kam er sich vor wie einer dieser neumodischen Anthropologen, die im Auftrag von Meinungsforschungsinstituten Umfragen in der Bevölkerung durchführten. Aber während sie damit beschäftigt waren, die Gespräche der Kohlearbeiter in Pubs und Bussen, die der Hausfrauen und Earls in Lyon’s Corner House zu belauschen, interessierte sich Jack nur für eine besondere Unter-art: die englische Mittelschicht. Er wollte ein Gentleman sein, kein Lord. Er wollte Mr. J. M. Rosenblum sein.
Seitdem er im August 1937 in Harwich an Land gegangen war, war es Jacks größter Wunsch gewesen, Engländer zu werden. Noch benommen von der Reise und mit einem Koffer in jeder Hand, hatten sie sich den Weg die Gangway hinunter gebahnt und versuchten, in ihrem ersten englischen Nieselregen nicht gleich auszurutschen. Sarah ging etwas wackelig in ihren nagelneuen Schuhen, aber sie war entschlossen, ihr Gastland fein angezogen zu betreten und nicht etwa wie ein Schnorrer. Ihr dunkelblondes Haar war an den Ohren zu hübschen Zöpfen geflochten, und Jack fiel auf, dass sie ihre Augenringe sorgfältig mit Puder abgedeckt hatte. Sie trug ein schickes wollenes Kostüm, wobei der Rock an der Taille ein klein wenig locker saß. Elizabeth, kaum ein Jahr alt und sich der Bedeutung dieses Augenblicks nicht bewusst, schlief an der Schulter ihrer Mutter, und ihre winzigen Finger umklammerten Sarahs Zöpfe. Alle Flüchtlinge, mit ihren Bergen von Koffern, den Scharen schluchzender Kinder und blassgesichtiger, Jiddisch sprechender Großeltern, wurden wahllos zu Schlangen zusammengetrieben. Als er die anderen Menschen inmitten ihrer Eltern, Cousins und Schwäger erblickte, verspürte Jack heftige Schuldgefühle. In seiner Kehle stieg Magensäure auf, und er stieß leise auf. Er hatte einen Zwiebelgeschmack im Mund. Leise fluchte er auf Deutsch vor sich hin: Sarah hatte für die Zugfahrt nach Frankreich Brötchen mit gehackter Leber und Zwiebeln gemacht. Er hasste rohe Zwiebeln. Eigentlich hätte er sich während der ganzen Fahrt die weitreichende Bedeutung dieser Reise durch den Kopf gehen lassen müssen, stattdessen sah er mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit dabei zu, wie Deutschland an ihnen vorbeirauschte und verschwand – wusste der Himmel, ob sie das Land jemals wiedersehen würden. Heimat, dieses Gefühl von Zuhause und Zugehörigkeit, war verloren. Und doch konnte Jack, während der Zug durch Holland und Frankreich brauste, nur über den Geschmack von Zwiebeln nachdenken. Und prompt erreichte er England in seinem besten Anzug, in auf Hochglanz polierten Schuhen, mit sorgfältig gekämmtem Haar und Mundgeruch.
Die Flüchtlinge hatten im Regen neben dem Kai gewartet, und niemand wagte es, sich zu beschweren (sie hatten es auf die harte Tour gelernt, sich vor den Launen der Bürokraten in Acht zu nehmen). Ein Mann ging die Schlangen entlang, blieb immer wieder stehen, um etwas loszuwerden, und verteilte dabei Broschüren. Jack sah fasziniert zu, wie der Mann näher kam. Er hielt sich gerade, wie es sich für einen Engländer gehört, und wirkte selbstsicher wie ein Schuldirektor inmitten einer Horde unruhiger Erstklässler – selbst der Grenzpolizist nickte respektvoll, als der Mann ihm eine Frage stellte. Schon immer hatte Jack die Eleganz anderer Männer mehr bewundert als beneidet. Er selbst war zierlich, hatte hellblaue Augen (die er hinter einer Drahtbrille verbarg) und sandfarbenes Haar, das rapide schütterer wurde. Seine kleinen Füße verwünschte er, denn sie drehten sich immer leicht einwärts. Wenn er ruhig dastand, musste er stets aufpassen, sie nach außen zu stellen, damit es nicht aussah, als würde er über den großen Onkel gehen.
Als der Mann endlich Jack erreichte, drückte er auch ihm eine dunkelblaue Broschüre in die Hand. Neu in England: Nützliche Informationen und freundliche Anleitung für jeden Flüchtling stand darauf geschrieben. Eine weitere, identische, gab er Sarah.
«Willkommen in England. Ich bin vom Deutsch-Jüdischen Hilfskomitee. Bitte lesen Sie sich das sorgfältig durch», sprach der Mann sie auf Englisch an.
Jack war so verblüfft, dass dieser Mann mit seinem gezwirbelten Schnurrbart sowohl Engländer als auch Jude war, dass er selbst – unfähig zu reagieren – zu stottern anfing. Der Mann seufzte müde und wechselte mühelos ins Deutsche.
«Willkommen in England. Ich bin …»
Jack gab sich einen Ruck. «Sank you, sehr freundlich. Ich werde sie Satz für Satz lesen.»
Der Mann strahlte anerkennend. «Das ist prima.» Dann zeigte er auf die Broschüre in Jacks Händen. «Regel Nummer zwei. Sprechen. Sie. Immer. Englisch. Selbst holpriges Englisch ist besser als Deutsch.»
Jack nickte stumm und prägte sich den Ratschlag genau ein.
«Und hier steht wahrhaftig alles drin, was ich wissen muss?»
Der Mann lächelte angestrengt und ungeduldig, da er weiterwollte. «Ja. Die Broschüre enthält alles, was Sie über die Engländer wissen müssen.»
Jack umklammerte das dünne Heft mit zitternden Händen, während er an den Reihen der Flüchtlinge entlangblickte, die auf ihren Schrankkoffern saßen, Äpfel knabberten und Zeitungen in den unterschiedlichsten Sprachen lasen. Begriffen sie denn nicht, dass man ihnen gerade eine Anleitung zum Glücklichsein gegeben hatte? Dieses Heftchen würde ihnen erklären, wie sie – Juden, Jiddische und Flüchtlinge – echte Engländer werden konnten! Die Broschüre öffnete sich von alleine an der Stelle mit der Liste der Regeln, und Jack las begierig, wobei seine Lippen die Worte formten: «Regel Nummer eins: Fangen Sie sofort an, die englische Sprache zu lernen …»
Seine ersten Monate in London verbrachte Jack damit, nach den Regeln zu leben, die in Nützliche Informationen dargelegt waren. Er nahm Englischunterricht, sprach nie Deutsch auf dem Oberdeck eines Busses und schloss sich auch keinen politischen Organisationen an. Er weigerte sich, seinen Namen auf eine Unterschriftenliste zu setzen, die für die Verschiebung einer Straßenbahn-Haltestelle eintrat, für den Fall, dass man das später als subversiv missdeuten könnte. Niemals kritisierte er die Regierungsbeschlüsse und erlaubte auch Sarah nicht, es zu tun, selbst als sie sich bei der Polizeiwache in ihrer Nähe als «feindliche Ausländer» registrieren lassen mussten. Er gehorchte den Regeln mit mehr Inbrunst als der glühendste Bar Mitzvah-Junge den Gesetzen der Kaschrut, und während er sie so befolgte, widerfuhr ihm ganz unerwartet ein großes Glück.
Sarah hatte ihn losgeschickt, um einen Teppich oder ein Stück Fußbodenbelag zu kaufen, denn sie wollte ihre Wohnung über Solly’s Stockings in der Commercial Road etwas gemütlicher machen. Jack schlenderte also durch die Brick Lane und lutschte genüsslich die Salzkristalle von einer Brezel. Ihm war bewusst, dass er eigentlich ein Rosinenbrötchen essen sollte, aber während er Regel Nummer neun herunterbetete: «Ein Engländer kauft, wenn möglich, immer ‹britisch›», tröstete er sich damit, dass in seinem Londoner Schtetl solche Brötchen schwer zu bekommen waren. Es war ein kühler Morgen, und der Dampf aus den Bagel-Stuben hing in der Luft wie ein nach Brot riechender Nebel. Jungen trugen Zeitungen aus, Busschaffner schrien nach Fahrgästen, die in die «Finchley-Straße» wollten, und Markthändler mühten sich hinter ihren Ständen, die sich auf dem holprigen Straßenpflaster erstreckten, um Kunden. Die Luft war voller Jiddisch, und Jack konnte sich beinahe vorstellen, wieder in Schöneberg zu sein. Er schüttelte den Kopf, um diesen Anflug von Heimweh zu verscheuchen, und suchte die Stände nach Teppichen ab. Er erblickte Stand- und Armbanduhren (tickend oder mit geradezu hervorquellenden Eingeweiden), Fässer mit Heringen, heimischen Gurken, Salat, einen kaputten Hut-Stand und schließlich ein Stück minzgrünen Teppich. Damit die Tauben sie sich schnappen konnten, warf er seine angebissene Brezel in die Gosse und zeigte auf die Teppichrolle.
«Der da. Der grüne Teppich. Ist der britisch?»
Der Markthändler runzelte verwirrt die Stirn, und sein normaler Verkaufsjargon versagte in diesem Moment.
Ungeduldig drehte Jack die Teppichrolle um, um die Rückseite zu untersuchen, und entdeckte zu seiner Freude einen Wilton-Stempel und das Patentemblem Seiner Majestät, des Königs.
«Großartig! Ich nehme die ganze Rolle, bitte – danke.»
«Guter Kauf! Ich hab noch mehr davon, wenn Sie wollen, Chef. Einen verdammten Anhänger voll.»
Jack dachte einen Augenblick lang nach. Auf der einen Seite besaß er nur zehn Pfund. Auf der anderen Seite witterte er die Chance, den restlichen Teppich weiterzuverkaufen, wenn es ihm gelang, einen guten Preis auszuhandeln. Er betrachtete noch einmal das königliche Patent – das war doch sicher ein Zeichen?
«Ja, in Ordnung. Ich nehme alles. Ich zahle zwei Pfund, und dann müsste ich mir mal Ihren Anhänger ausleihen.»
Sarah war entsetzt, als Jack mit zwanzig Teppichrollen in unterschiedlichen Farben, von Minzgrün über Senffarben bis zu Magenta, wieder nach Hause kam. Eine Woche lang kroch Elizabeth durch lauter Teppichtunnel, und alle hockten sie am Abend auf Teppichbänken, um Radio zu hören – aber diese Anhängerladung Teppiche war der Anfang von Rosenblums Teppichfabrik. Anfangs agierte Jack als Zwischenhändler und verkaufte Restbestände mit einem Aufschlag an andere Flüchtlinge weiter, die ihre heruntergekommenen Wohnungen etwas gemütlicher machen wollten, aber schnell begriff er, wie groß die Nachfrage war und dass es sich lohnte, dort im East End eine eigene Teppichfabrik zu eröffnen.
Mit einer Mischung aus Staunen und Besorgnis registrierte Sarah, wie ihr Mann ihr neues Leben aufnahm. Sie wusste, dass die Nachbarn hinter seinem Rücken über ihn tuschelten, ihn einen «glühenden Assimilanten» nannten. Als hätte er irgendeinen heimlichen Betrug begangen.
Sie selbst hatte das Gefühl, an diesem neuen Ort ihr Gleichgewicht zu verlieren. Nur ungern verließ sie das vertraute East End und überschritt selten die Grenzen der Finchley Road. Jack erklärte ihr, dass es nicht üblich war, Fremden im Bus oder in der Straßenbahn die Hand zu geben (was sie dankbar aufgriff, denn die feindseligen Blicke, die sie geerntet hatte, als sie jeden Fahrgast auf die aus Deutschland gewohnte höfliche Weise gegrüßt hatte, hatten sie irritiert). Da sie nun sicher war, dass sie die Umgangsformen verstand, war sie auch bereit, mit ihm zusammen den Bus ins West End zu nehmen. Es gab unten im Bus nur einen freien Platz, neben einer massigen Frau, deren teigiges Gesicht von einem riesigen Hut gekrönt wurde, der mit Schmetterlingen an Drähten verziert war. Jack bestand darauf, dass Sarah sich hinsetzte, und kletterte die Treppe zum Oberdeck hoch, um sich einen anderen Platz zu suchen. Als sie den Schaffner geschäftig hin und her laufen und Fahrkarten ausgeben sah, erstarrte Sarah: Es war immer Jack, der die Fahrkarten kaufte, sein Englisch war ja viel besser als ihres, und, was noch wichtiger war, er hatte das ganze Geld!
«Wohin, meine Dame?», sagte der Schaffner, baute sich neben ihrem Platz auf und klimperte mit seinem Wechselgeld.
Sarah lächelte schüchtern und deutete auf die Decke. «Der Herr über uns» – sie sagte «The Lord above» –, «er wird bezahlen.»
Der Schaffner fing vor Wut an zu stottern und zu spucken, ihm fehlten die Worte, und Sarah spürte, wie sich die pummelige Frau neben ihr zu ihr drehte und sie anstarrte, wobei die Schmetterlinge auf ihrem Hut schwankten, als sie kicherte.
Als Jack ihr zu Hause das Missverständnis erklärte, dachte Sarah, dass die englische Sprache offenbar nur dazu geschaffen war, Ausländer zu verwirren. Den Rest des Nachmittags weigerte sie sich, noch ein einziges Wort in dieser verdammten Sprache mit ihm zu reden, und da er nicht auf Deutsch mit ihr plaudern wollte, schmollten sie schweigend vor sich hin, bis Jack die Wohnung verließ. Er bestand darauf, dass sie nur Englisch sprachen (mit Sicherheit hatte er das aus dieser verfluchten Broschüre), aber wenn sie mit ihrem Ehemann auf diese unbeholfene Weise redete, wie es ein Neuling in einer Fremdsprache nun mal eben tut, machte das ihn selbst für sie zu einem Fremden. Kein Zweifel, er sah immer noch genauso aus wie früher, aber die Leichtigkeit, mit der sie sonst miteinander umgegangen waren, war verschwunden. Als sie sich in ihn verliebt hatte, war er Jakob gewesen, und Jakob, als sie ihn heiratete; aber als ein Beamter «Jack» auf sein britisches Visum schrieb, betrachtete er das als ein Zeichen.
Sarah hockte auf dem unbequemen Sofa und trank eine Tasse schwarzen Kaffee. Ein Gemurmel ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Es war Elizabeth, die gerade aus ihrem Nickerchen erwachte und dann einen kleinen Ausruf von sich gab: «Mama. Mama!»
Sarah stellte ihre Tasse ab und vergoss ein paar Tropfen auf dem mauvefarbenen Teppich, als sie sich beeilte, ihre Tochter zu holen, und gab ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck, dass Jack ihrem Kind beigebracht hatte, sie «Mummy» und nicht mehr Mutti zu rufen. Wenn er heute Abend aus der Fabrik zurückkehrte und auf Elizabeth aufpasste, würde sie zu Kaffee und Kuchen, Hausfrauenklatsch und verbotenem Geplauder auf Deutsch zu Frieda Herzfeld gehen. Danach ging sie vielleicht noch in die Synagoge – den einzigen Ort in dieser Stadt, an dem sie sich zu Hause fühlte, denn das Hebräisch in der großen Schul in der Oranienburger Straße und dasjenige in dem hübschen Backsteingebäude hinter Stepney Green war haargenau das gleiche. Als sie die Augen schloss und dem dunklen Gesang des Kantors lauschte, sah sie sich wieder in Berlin in der Synagoge sitzen und ihre Mutter neben sich auf der Frauengalerie, die sich darüber erging, ob sich Emil unten wohl anständig benahm. Beinahe konnte Sarah hören, wie Papa, der sich durch den Gottesdienst nuschelte, bei den Gebeten und Gesängen immer leicht danebenlag.
Rosenblums Teppichfabrik musste bald raus aus der beengten Werkstatt und Räumlichkeiten am Hessel Street Market beziehen, schließlich war es die größte Teppichfabrik im Londoner East End und stattete einige der besten mittleren Hotels der Stadt aus. Die Hälfte der Männer in der Straße der Rosenblums waren mittlerweile fort, und wo, das wusste der Himmel: Kanada? Auf der Isle of Man? Vielleicht sogar in Australien, wenn die Gerüchte stimmten.
Die Polizei kam immer im Morgengrauen. Sie gingen völlig willkürlich vor, und manchmal kamen sie nie wieder, wenn man gerade nicht da war. Sarah machte sich Sorgen, dass Jack abgeholt werden könnte, daher gewöhnte er sich an, sich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg in die Fabrik zu machen. Er glaubte zu keinem Zeitpunkt, dass ihm wirklich etwas passieren könnte – schließlich war er ja schon ein Beinahe-Engländer und versuchte auf den passenden Kanälen dafür zu sorgen, dass er endlich eingebürgert wurde (und für das Kreuzworträtsel der Times brauchte er keine zwei Stunden, was er für rekordverdächtig hielt). An jenem Septembermorgen jedoch kam er in der Fabrik an und musste feststellen, dass er sein Frühstück vergessen hatte. Sarah packte ihm immer Matzen und eine Scheibe gummiartigen Käse in eine Papiertüte sowie eine Thermoskanne mit faulig riechendem Kaffee. Sein Magen knurrte. Mist, fluchte er in seiner Verzweiflung auf Deutsch. Er sah die braune Tüte auf dem Küchentisch stehen und beschloss, schnell die achthundert Meter nach Hause zurückzutraben.
Die Polizei wartete schon auf der Schwelle auf ihn. Jack versuchte gar nicht erst, wieder umzukehren. Sie hatten ihn gefunden, und es wäre nicht britisch, wie ein Feigling einfach wegzulaufen.
Der Gestank von Pissoirs rief es ihm immer wieder ins Gedächtnis zurück – ein Hauch von Ammoniak und Mottenkugeln, und er war wieder im Jahr 1940, in einer behelfsmäßigen Zelle auf einer Londoner Polizeiwache mit fünf anderen Flüchtlingen, denen allen die Internierung bevorstand und die laut über kalte Bänke und Hämorrhoiden klagten. Jack hatte sich nicht am Gespräch beteiligt, er hatte dagesessen, den Kopf zwischen den Händen, und sich gefragt, wie es sein konnte, dass er, der vielversprechendste Engländer unter all seinen Bekannten, immer noch als «feindlicher Ausländer, Kategorie B». (mögliches Sicherheitsrisiko) eingestuft und festgenommen worden war. Bei all seinen Kenntnissen über Marmelade und die Geschichte der königlichen Familie, bis zurück zu den Tagen von Ethelred dem Unvorbereiteten, konnte es doch kaum möglich sein, ihn anders als in Kategorie C einzustufen (absolute Loyalität der britischen Sache gegenüber).
Wie hatte so etwas geschehen können? Er hatte sich strikt an die Regeln gehalten, und doch hatten sie ihn eingesackt – das hieß doch, dass die Punkte in Nützliche Informationen nicht ausreichten, um sicherzustellen, dass man einer der ihrigen wurde. Er fischte die Broschüre heraus und begann, seine allererste Ergänzung zu machen:
Betrachten Sie das Folgende als Pflichten, die Sie bei Ihrer Ehre einhalten müssen:
1. Beginnen Sie auf der Stelle damit, die englische Sprache und ihre korrekte Aussprache zu erlernen. Habe ich gemacht, ist aber nicht so leicht. Selbst Englischstunden reichen nicht aus. Verfluchten deutschen Akzent wird man einfach nicht los.
2. Vermeiden Sie es, auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlichen Orten wie Restaurants Deutsch zu sprechen. Sprechen Sie lieber holpriges Englisch als fließend Deutsch – und sprechen Sie nicht laut (außer Sie reden mit anderen Ausländern, die es gewohnt sind zu brüllen). Lesen Sie keine deutschen Zeitungen in der Öffentlichkeit. Lesen Sie sie ÜBERHAUPT nicht, oder Sie werden als Kategorie-A-Bedrohung und als Spion verdächtigt.
3. Kritisieren Sie keine Regierungsmaßnahmen und auch nicht die Art, wie Dinge in diesem Land geregelt werden. Sehr schwierig, sich in diesen Zeiten daran zu halten. Sie genießen jetzt die Freiheiten und die Liberalität Englands. Vergessen Sie das nie.
Jack schnaubte. Auch wenn er absolut loyal war, konnte er doch nicht umhin festzustellen, dass das eine recht merkwürdige Art von Freiheit war. Seufzend sah er ein, dass genau dieser Gedanke einer Kritik schon gefährlich nahekam, und wandte sich dem nächsten Punkt zu.
4. Beteiligen Sie sich an keinen politischen Organisationen.
Es waren die Punkte fünf und sechs, die Jack am meisten ins Grübeln brachten. Denn auch wenn sie für den gerade eingetroffenen Flüchtling nützlich sein mochten, so war klar, dass sie dringend ergänzt werden mussten.
5. Machen Sie sich nicht dadurch verdächtig, dass Sie laut sprechen, und auch nicht durch Ihr Benehmen oder Ihre Kleidung. Beim Reden sollten Sie nicht gestikulieren. Lassen Sie die Hände locker runterhängen, sonst denken die Engländer, Sie sind ein Ausländer und übertrieben gefühlsbetont. Dem Engländer missfällt jegliche übertriebene oder unkonventionelle Kleidung. Denken Sie daran: «Fad ist fein.» Der Engländer schätzt Zurückhaltung und Bescheidenheit im Gespräch weit mehr als Übertreibung. Er legt großen Wert auf gute Manieren. (Sie werden feststellen, dass er sich schon beim kleinsten Gefallen bedankt – sogar für eine günstige Busfahrkarte, die er selbst bezahlt hat.) Entschuldigen Sie sich immer, selbst wenn etwas gar nicht Ihre Schuld war. Rempelt Sie jemand auf der Straße an, entschuldigen Sie sich wieder und wieder.
6. Versuchen Sie, die Sitten, Gebräuche und Umgangsformen dieses Landes zu erkennen und zu befolgen, sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Umgang. Ja – aber was SIND denn nun die Sitten und Gebräuche? Hier müsste man doch wohl etwas ausführlicher werden.
7. Erwarten Sie nicht, dass man Sie sogleich zu sich nach Hause einlädt, denn der Engländer braucht eine Weile, bevor er sein Haus auch Fremden öffnet.
8. Vermeiden Sie Formulierungen wie: «Das wird sich auch in Ihrem Land noch so entwickeln.» Dem Briten widerstrebt die Verbreitung solch feigen Gedankenguts zutiefst.
Ein Polizist, der an die Gitterstäbe der Zelle hämmerte, unterbrach Jack in seinem Gekritzel. Erschrocken sah Jack auf und erblickte draußen seine Frau und seine kleine Tochter, was ihn vor Demütigung erröten ließ. Er wollte nicht, dass sie ihn eingesperrt in einer stinkenden Zelle sahen. In der ersten Woche, als er hierhergekommen war, hatten sie sich im Besuchszimmer treffen können, aber dank Mr. Churchills Appell «Schnappt den ganzen Haufen» waren alle Räume auf der Polizeiwache mit Flüchtlingen überfüllt, die auf den Abtransport in die Internierungslager warteten.
Sarah streckte die Hand zwischen den Gitterstäben hindurch und streichelte ihm die unrasierte Wange.
«Mein Liebling …»
«Auf Englisch, Schatz», murmelte Jack und blickte ängstlich zum Wärter.
«Die Kleine vermisst ihren Papa.»
Elizabeth spähte hinter ihrer Mutter hervor und machte Grimassen in Richtung eines der alten Männer im hinteren Teil der Zelle, der seinen langen Bart zu lauter Spitzen zwirbelte, um sie zum Lachen zu bringen. Jack drückte Sarah einen Kuss auf die Hand und gab sich alle Mühe, fröhlich zu erscheinen.
«So schlimm ist es gar nicht. Ich wurstele mich da schon durch. Moische hat mir Backgammon beigebracht. Hast du mit Edgar gesprochen?»
«Ja. Ich gehe in sein Büro, wie du gesagt hast. Lottie sagt, er geht jeden Tag zur Polizei, und er geht zum Richter und brüllt herum. Dann trinkt er Whisky.»
Jack versuchte zu lächeln, denn er wusste, dass sein Freund alles tat, was in seiner Macht stand. Wenn irgendjemand ihm helfen konnte, dann war es Edgar Herzfeld. Er war ein sanfter Mensch, und es musste viel geschehen, bis doch einmal etwas seinen Zorn erregte.
«Und Frieda, sie sagt mir, ich soll dir das geben.» Sarah beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf den Mund. «Siehst du? Es ist noch aufregender, wenn die Küsse nicht von deiner eigenen Frau stammen», sagte sie und tat ihr Bestes, um unbeschwert zu wirken.
Als sie ging, schob Sarah ein kleines Päckchen, das in ein Taschentuch gewickelt war, zwischen den Gitterstäben hindurch. Jack roch daran. Apfelstrudel. Sarah und Mutti, ihre Mutter, hatten in Berlin freitags immer Apfelstrudel gebacken. Also musste heute Freitag sein. Er nahm einen Bissen, und seine Zähne kribbelten angenehm von den Rosinen. Sarahs jüngerer Bruder Emil hingegen hasste Rosinen. Er pickte sie immer heraus und reihte sie hübsch auf seinem Teller auf, was Sarah wahnsinnig machte. «Denk an all die Rosinen, die du schon verschwendet hast!», sagte sie immer, «wenn du alle jene aneinanderreihst, die du nicht gegessen hast, dann reicht die Strecke bis zum Tiergarten.» Jack schloss die Augen und sah eine lange Reihe von Rosinen vor sich – jede einzelne, die Emil sich geweigert hatte zu essen – und fragte sich, wie lang diese Reihe wohl am Lebensende des Jungen sein würde. In diesem Augenblick merkte Jack, wie ihn eine tiefe Traurigkeit überkam. Er schluckte und versuchte, nicht zu weinen, aber eine Träne rollte doch hinab, tropfte auf seinen Strudel und verlieh ihm einen ungewohnt salzigen Geschmack. Er sorgte sich um Emil und Mutti und die anderen, die zurückgeblieben waren, aber dann hatte er doch nur Raum für sein eigenes Unglück. Er fror, die Zelle stank nach Urin, und er hatte Heimweh.
Eines Tages wurde das Gefängnis im Morgengrauen geräumt, und er wurde in der Waterloo-Station in das Zweite-Klasse-Abteil eines extralangen Personenzuges verfrachtet. Als er eingequetscht zwischen zwei ältlichen Herren aus Wien saß, wusste Jack, dass er sich Gedanken darüber machen sollte, wohin man ihn brachte. Stattdessen verspürte er das erste aufgeregte Kribbeln im Bauch, nachdem er drei Wochen lang in eine feuchte Zelle mit einem hohen Fenster eingesperrt gewesen war.
Der Zug ratterte durch die Stadt, ein endloses Labyrinth aus Straßen mit Backsteinhäusern und grauem Himmel. Vom nächtlichen Messerschmidt-Angriff schwelten überall noch Rauchwolken. Er sah, wie Menschen über die Trümmer eingestürzter Häuser krochen, und schloss vor Abscheu die Augen. Das rhythmische Ruckeln des Zuges schläferte ihn ein. Sein Kopf schlug ans Fenster, und er träumte von seltsamen Sachen, einem Himmel voller Lerchen, smaragdgrünen Glühwürmchen in der Nacht und schwarz-weiß karierten Flaggen an einem Abhang.
Dann rüttelte ihn einer der Wiener Herren wach und bot ihm ein Stück altes Brot an, das er dankend ablehnte. Er wandte sich wieder zum Fenster und begriff, dass er in einem anderen England aufgewacht war. Genau so hatte er sich das Land immer vorgestellt, als sie noch in Berlin waren. Alles hier war grün. Jack lächelte – dann war England also doch Weiden und Schafe, reetgedeckte Dächer und silbern schimmernde Flüsse!
Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein, und Jack wurde von der Menge auf den Bahnsteig geschoben. Die Luft roch salzig, er konnte das Meer hören. Die Nachmittagssonne schien so grell für seine ans Gefängnis gewöhnten Augen, dass er blinzeln musste, und er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass jemand seinen Namen rief.
«Jack! Jack Rosenblum!»
Jack spähte in die Menge und entdeckte eine Gestalt, die wie wild mit einem Bündel von Papieren wedelte.
«Edgar?»
Ein schmaler Mann mit zerzaustem grauem Haar eilte auf ihn zu, schob die widerstrebenden Körper der anderen zur Seite und schloss Jack so fest in die Arme, dass er ihn fast erdrückte.
«Ich hab’s geschafft! Du bist in Sicherheit, Jack. Ich kann dich nach Hause zu Sarah bringen.»
Jack schluckte und starrte Edgar an, während seine Knie anfingen zu zittern, wie bei einer Säuferin vor ihrem ersten morgendlichen Gin.
«Ich bin zu einem Richter und sage zu ihm: ‹Dieser Mann, dieser Rosenblum von Rosenblums Teppichfabrik, ist ein wahrer Verbündeter im Kampf gegen die Nazis.›»
Edgar breitete die Arme aus, um der Sache Nachdruck zu verleihen, und stieß dabei gegen die Männer, die an beiden Seiten an ihnen vorbeiströmten. Doch er weigerte sich, sich bei seinem Bericht unterbrechen zu lassen, und fuhr fort.
«Ich sage zu dem Richter in seiner komischen, langhaarigen Perücke: ‹An dem Tage, an dem der Krieg erklärt wird, wird dieser Mann seine profitable Fabrik für die Kriegsproduktion zur Verfügung stellen. Jack Rosenblums Loyalität sollten Sie nicht in Frage stellen!›»
Jack nickte stumm, unfähig, ein Wort zu sagen.
«Der Richter hat zugestimmt. Du bist jetzt als Ausländer der Kategorie C eingestuft und kannst wieder nach Hause.»
Jacks Zunge klebte an seinem Gaumen fest. «Dieser Ort hier? Wo bin ich?»
Edgar zuckte mit den Schultern. «Dorsetshire.»
«Hübsch», sagte Jack, als ein winziger Vogel mit gesprenkeltem Gefieder auf dem Griff seiner ledernen Aktentasche landete und ihn mit runden schwarzen Augen anstarrte. Er schlug mit den Flügeln und flog, in Gesang ausbrechend, davon.