Die Pension in der Via Saffi
Commissario Soneri blickt zurück
Deutsch von Karin Rother
Für Ivana zur Erinnerung an jene Wette vor so vielen Jahren auf dem Domplatz
Ich danke der Polizeiassistentin Simona Mammano für die ermittlungstechnischen Hinweise sowie Ilde Buratti für ihre Unterstützung und die wertvollen Anregungen.
Der Nachmittag verstrich langsam in einer heimtückischen Stille. Keine Meldung von den Polizeistreifen, nichts als Gähnen in der Einsatzzentrale und keine Menschenseele im Ausländerbüro. Während Commissario Soneri durch die ausgestorbenen Flure lief, genoss er diese Mußestunden vor den Festtagen, in denen er sich endlich ganz den Gedanken überlassen konnte, die ihn seit Wochen beschäftigten. Unbezahlbare Momente in der Hektik der Vorweihnachtstage.
Er hörte, wie die Telefone in den Büros seiner Kollegen vergeblich klingelten, während im Stockwerk über ihm jemand tuschelte. Dort befand sich die Rauschgiftfahndung, doch um diese Jahreszeit waren selbst die Dealer in Urlaub gefahren. Von seinem Büro aus konnte man den Hof des Polizeipräsidiums sehen und dahinter das große Eingangsportal, das wie der Sucher einer Kamera einen Ausschnitt der Via Repubblica einfing, wo Frauen in Pelzmänteln die letzten Weihnachtseinkäufe tätigten. Er selbst brachte mit Weihnachten ein gemütliches Ofenfeuer und das Geräusch seines Löffels auf einem Teller mit Anolini in brodo in Verbindung. Doch er wollte sich nicht in melancholischen Gedanken verlieren und konzentrierte sich auf die reglosen, vom Nebel eingehüllten Tannen, unter denen jetzt eine alte Frau auftauchte. Sie ging gebeugt, stützte sich auf einen Stock und trug einen grünlichen Mantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Am Arm hatte sie eine große Tasche. Er hatte das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen. Als sie die Mitte des Hofes erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich um. Doch es war nicht klar, ob sie den Kreuzgang betrachten wollte, an dem sie offensichtlich noch nie gewesen war, oder ob sie überlegte, in welcher Richtung sie weitergehen sollte. Soneri beobachtete diese einsame Frau, ihre Unbeholfenheit, ihren mühsamen Gang. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Ein paar Minuten später klingelte das Telefon.
«Dottore, hier ist eine Frau, die mit Ihnen sprechen möchte», teilte der Pförtner ihm mit.
«Hat sie dir gesagt, was sie will?», fragte Soneri und dachte an die Alte.
Er hörte, wie der Polizist tuschelte.
«Es geht um eine Freundin. Sie sagt, ihr sei etwas Verdächtiges aufgefallen.»
«Und was ist ihr aufgefallen?», gab der Commissario ungeduldig zurück.
«Sie hat an ihrer Tür geklingelt, doch niemand hat aufgemacht. Auch ans Telefon …»
«Schick sie zu Juvara», unterbrach er ihn.
Es würde sich um einen der üblichen Todesfälle handeln. Eine alte, allein stehende Frau, ein plötzlicher Anfall von Übelkeit … «Einsam gestorben», hieß es dann immer in den Zeitungen. Soneri war nicht nur verärgert, sondern irgendwie auch ein wenig enttäuscht. Die Alte hatte bei ihm eine Neugier geweckt, die sich jetzt im Gewöhnlichen aufgelöst hatte. Und als er sich wieder hinsetzte, schien ihm die friedliche Stimmung dieses Nachmittags endgültig verdorben. Daher beschloss er, endlich die Protokolle fertig zu machen, die schon seit zwei Wochen auf seinem Schreibtisch lagen. Er hatte noch nicht damit begonnen, als er die Stimme der Alten aus Juvaras Büro hörte, das direkt neben seinem lag.
«Ich sage Ihnen doch, dass ich x-mal geklingelt habe, gestern Abend habe ich es auch versucht …»
Die Fragen des Inspektors kamen etwas gedämpfter bei ihm an, doch die Worte der Alten konnte er durch die Wand deutlich verstehen. «Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Sie fährt nie in Urlaub, und außerdem führt sie ja schließlich eine Pension … Ich weiß nicht, ob Sie den Namen schon einmal gehört haben … Die Pension Tagliavini. Sie heißt Giuditta Tagliavini und ist sehr bekannt in der Stadt: Alle nennen sie Ghitta, die Ghitta …»
Und jetzt war Soneri wieder bei seinen Gedanken von vorhin, kurz bevor er melancholisch zu werden drohte. Unglaublich, dass er eben noch an sie gedacht hatte. Wer kannte Ghitta nicht? Die halbe Universität hatte irgendwann mal eins ihrer möblierten Zimmer bewohnt. Viele waren inzwischen Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte oder Ingenieure. Und auch so manches Mädchen aus der Schwesternschule oder den Sekretärinnenkursen hatte sich bei ihr einquartiert.
«Nun, sehen Sie, normalerweise geht Ghitta am Tag mehrmals aus dem Haus, und wenn sie weggefahren wäre, hätte sie mir Bescheid gesagt …»
Er hörte den Bericht der Alten, immer wieder unterbrochen von Juvaras Stimme, und ihn überfiel die Erinnerung an jene Zeit vor dreißig Jahren, als er direkt vor der Pension Tagliavini von dem Lächeln eines Mädchens, das einen weißen, zusammengefalteten Kittel über dem Arm trug, wie vom Blitz getroffen wurde. Es war der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte. Und viele Jahre später, als sie bereits verheiratet waren, hatte er ihr gesagt, dass es im Grunde das Verdienst dieser Pension gewesen sei, dass sie sich gefunden hätten, denn ihr regelmäßiges Kommen und Gehen hatte den jungen, ehrgeizigen Polizeiassistenten magisch angezogen.
«Dottore, glauben Sie mir doch, sie verlässt sonntags nie das Haus. Ghitta geht immer am Donnerstag …»
Ada, Soneris Frau, war vor fünfzehn Jahren gegangen und hatte ihn allein gelassen mit der Vorstellung, wie es hätte sein können, zusammen alt zu werden und ihren Sohn großzuziehen, bei dessen Geburt sie gestorben war. Nicht einmal das Kind war ihm geblieben, es war tot zur Welt gekommen, ohne einen Schrei. Die Erinnerung an Ada war lebendig, doch von dem Kleinen hatte er kein Bild. Manchmal geisterte er unsichtbar um ihn herum, dann versuchte er, sich seine Gesichtszüge vorzustellen, die Farbe seiner Augen, sein Haar. Aber sein Schmerz hatte kein Gesicht, das man beweinen konnte.
«Nicht nur ich habe geklingelt, auch andere, müssen Sie wissen. Doch kein Mucks, absolute Stille …»
Stille: die gleiche unwiderrufliche Antwort, die auch er bekam, wenn ihn das Unterbewusstsein in seinen Träumen dazu brachte, nach der Frau und dem Sohn zu suchen, die er verloren hatte. Er hatte sich daran gewöhnt: Diese Stille war die einzige Stimme, beredt, klar und erbarmungslos.
Juvara war offenbar gerade dabei, die Anzeige aufzunehmen, denn die Alte diktierte ihre Adresse. Soneri verstand nur «Fernanda» und dann «Via Saffi». Genau dort befand sich die Pension Tagliavini, auch wenn sie von der Straße aus als solche nicht erkennbar war. Es gab lediglich ein Schild an der Klingel, unten neben der Eingangstür. Plötzlich kamen ihm auch die Spottreime wieder in den Sinn, die sich die Studenten ausgedacht hatten und die dann irgendein abgewiesener Liebhaber aus Rache unter den Fenstern der Pension gegrölt hatte: «Von allen Puffs in dieser Stadt, die Tagliavini den größten hat …»
Soneri erhob sich mit einem Ruck und begab sich ins Büro nebenan. Juvara und die Alte standen vor dem Schreibtisch und drehten sich wortlos um, als er das Zimmer betrat. Die Frau hatte ein weißes, weiches Gesicht, das aufgedunsen wirkte, doch er erkannte ihre Gesichtszüge: Fernanda Schianchi, Ghittas Nachbarin, die gelegentlich einen Untermieter bei sich aufnahm, wenn in der Pension kein Zimmer mehr frei war. Die Alte betrachtete ihn ihrerseits, ließ sich aber nichts anmerken, bis auf ein unmerkliches Zwinkern, wie man es manchmal bei Menschen sieht, die sich einmal geliebt haben. Dann hängte sie die Tasche über den Arm, griff nach ihrem Stock, den sie gegen den Schreibtisch gelehnt hatte, und ging langsam hinaus.
Der Commissario sagte zunächst nichts. Er trat ans Fenster und beobachtete, wie die Alte durch den Hof auf das hintere Portal zulief, wo sie bald in der Menge der vorbeihastenden Passanten verschwinden würde. Die Via Saffi war nicht weit entfernt, doch warum war sie persönlich gekommen und hatte den Weg auf sich genommen, warum hatte sie nicht angerufen? Weil sie genau wusste, wer er war, und sich trotzdem noch einmal persönlich davon überzeugen wollte? Immerhin hatte sie ja nach ihm verlangt.
Er hob den Hörer ab und rief den Pförtner an. «Hat diese Alte dir wirklich meinen Namen genannt?»
«Dottore, sie hat mir gesagt, sie wolle mit Commissario Soneri sprechen. Sonst hätte ich Sie doch nicht gestört.»
Er sah sie unter dem Torbogen, ein schwarzer, langsamer Schatten. Dann bog sie um die Ecke, nachdem sie kurz neben der Portiersloge stehen geblieben war. Erst jetzt drehte sich Soneri mit einer fragenden Kopfbewegung zu Juvara um.
«Sie macht sich Sorgen um ihre Nachbarin: Sie macht die Tür nicht auf, obwohl sie ganz sicher nicht weggefahren ist. Sie heißt …»
«Ghitta Tagliavini», unterbrach ihn Soneri.
«Kennen Sie sie?»
Der Commissario deutete ihm mit einer Geste an, dass er sie sehr wohl kannte.
«Was hat sie dir sonst noch erzählt?»
«Dass sie geklingelt hat, geklopft …»
«Warum, glaubst du, ist sie persönlich gekommen?», unterbrach ihn Soneri erneut.
Juvara streckte das Kinn vor, er wusste nicht, was er antworten sollte.
«Kommt dir das nicht seltsam vor? Sie hätte doch auch einfach anrufen können.»
«Ich hatte den Eindruck …», begann der Inspektor und unterbrach sich dann, um nach den richtigen Worten zu suchen.
Der Commissario stand jetzt wieder vor dem Fenster, dann wandte er sich um. Durch eine Bewegung mit der Hand, in der er die erloschene Zigarre hielt, forderte er Juvara auf fortzufahren.
«Nun, das Erste, was sie zu mir sagte, als sie hereinkam, war: ‹Sie sind nicht der Commissario!›»
Soneri drehte sich um, machte ein paar Schritte auf Juvaras Schreibtisch zu und huschte dann ohne ein Wort zur Tür hinaus. Mit großen Schritten lief er über den Hof, unter dem Torbogen hindurch und verschwand jenseits des Portals.
Während er sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, dachte der Commissario über die eigenartige Koinzidenz zwischen den Gedanken, die ihm an diesem trägen Nachmittag im Kopf herumschwirrten, und der Realität, mit der er sich nun konfrontiert sah, nach. Die Vergangenheit, die glücklichen Jahre, in denen er seine Frau kennen gelernt hatte, die Pension Tagliavini … Und plötzlich, als wäre es eine logische Folge, hatte er Fernanda Schianchi im Hof entdeckt. Als wäre sie direkt seinen Gedanken entsprungen. Sie war seinetwegen gekommen. Sie war gekommen, um mit ihm zu sprechen. Und er war sich ganz sicher, dass sie ihn wiedererkannt hatte, obwohl ihr in den Jahren, in denen die Pension auf Hochtouren lief, jede Menge junger Männer unter die Augen gekommen waren.
Er beschleunigte den Schritt, doch das Gedränge machte es ihm unmöglich, rasch vorwärts zu kommen. Im Geiste ging er den Weg zur Via Saffi, überlegte, wie weit die Alte mit ihrem schleppenden Gang wohl gekommen sein mochte, und erneut holten ihn die Bilder der Vergangenheit ein, die vereinzelt auftauchten, stumm wie Blitze in einem Sommergewitter. Als er die Via Repubblica verließ und den Weg zur Piazzale dei Servi einschlug, starrte er lange auf die Menschen vor sich, doch nirgendwo konnte er die Gestalt der Alten ausmachen. Auch in den Gassen, die von der Straße abzweigten, war keine Spur von ihr zu sehen. So gelangte er bis zum Eingang der Pension Tagliavini, wo er an der Sprechanlage das Schild mit dem Namen «Schianchi» entdeckte. Er drückte auf die Klingel, aber es meldete sich niemand. Er versuchte es noch einmal, dann gab er auf. Er ging auf die andere Straßenseite, um dort auf sie zu warten, während schlechte Laune in ihm hochstieg. Wie der Nebel, der sich unten in der Straße zu verdichten begann und von der Barriera Saffi heraufzog, um die Fialen des Baptisteriums zu verhüllen.
Als Fernanda nach einer halben Stunde noch immer nicht zurückgekommen war, griff er nach seinem Handy und rief Juvara an: «Hat die Schianchi dir eine Adresse hinterlassen?»
«Via Saffi 35», erwiderte der Inspektor.
Der Commissario beendete per Knopfdruck das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Er war wütend auf sich selbst und ließ es an seinem Inspektor aus. Der stellte nie genug Fragen, er besaß einfach nicht die Neugier, die für ihren Beruf erforderlich war. Doch im Grunde war es Soneris eigene Schuld: Er war abgelenkt gewesen und hatte nicht aufgepasst. Ein Commissario musste wissen, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat. Auch wenn neunundneunzig von hundert völlig belanglos waren: Man wusste erst, welche von ihnen interessant war, wenn man sie alle angehört hatte.
Er kehrte zurück und klingelte erneut. Dann versuchte er es bei den anderen Nachbarn, und schließlich öffnete sich die Tür. Soneri befand sich in einer Eingangshalle voller Fahrräder. Er fühlte sich benommen. Nichts hatte sich verändert, seit er damals in diesem Hausflur nach seinen Verabredungen mit Ada ein letztes bisschen Intimität ergatterte. Verwundert nahm er den muffigen Geruch der schattigen Mauern wahr. Eine Frau in einem Trainingsanzug, die sich ein Stockwerk höher über das Geländer beugte, riss ihn aus seinen Gedanken.
«Ich suche Fernanda Schianchi», sagte Soneri.
«Sie gegangen», antwortete die Frau in kümmerlichem Italienisch.
Der Commissario stieg die Treppen hinauf bis zu der offenen Galerie, von der drei Türen abgingen. «Wo ist sie hingegangen?», fragte er.
«Ich nicht weiß», entgegnete die Frau bedauernd. «Gestern gesagt, dass weggeht», fügte sie hinzu und hob die Schultern. Sie hatte blaue Augen und kurze blonde Haare. Sie musste Slawin sein.
Soneri rührte sich nicht. Er steckte sich die kalte Zigarre in den Mund, blieb nachdenklich stehen und betrachtete die Tür der Pension, auf der sich ein Messingschild mit dem Namenszug in schnörkeliger Kursivschrift befand. Ohne ein Wort zu sagen, zog sich die Frau zurück, dann hörte Soneri, wie die Tür ins Schloss fiel. Plötzlich kam es ihm vor, als ob Fernanda ebenso verschwunden war wie Ghitta. Während er sich an Ghittas Tür lehnte, hörte er, dass unten am Eingang geläutet wurde. Also rannte er die Treppe hinunter, genau in dem Moment, als das Licht ausging. Er musste umkehren, um es wieder einzuschalten, und stolperte in der Dunkelheit. Als er es geschafft hatte, klingelte es von neuem. Er stürzte nach unten, doch diesmal verlor er Zeit damit, den Türöffner zu finden, und in dem Moment, als er die Pforte aufstieß, sah er nur noch ein Mofa. Es verschwand im Nebel, der die Via Saffi nun gänzlich einhüllte.
Er stieg die Treppen wieder hinauf bis zum Absatz, und während er keuchend nach oben lief, wurde ihm plötzlich klar, dass Eile geboten war. Schlagartig wurde aus dem Verdacht eine Gewissheit. Wieder ging er zu Ghittas Tür und versuchte diesmal, sie aufzubrechen, indem er fest an den beiden Türgriffen rüttelte. Einer der Flügel vibrierte im Schloss, ein Zeichen dafür, dass die Tür nur eingeschnappt war, nicht abgeschlossen. Also zog er eine Telefonkarte hervor und schob sie in Höhe des Schlüssellochs in den Türspalt – das hatte er vor vielen Jahren einmal von einem Einbrecher gelernt. Beim fünften Versuch gab das Schloss nach.
In der Pension empfing ihn die Wärme eines Gasofens, in dem eine blaue Flamme tanzte. Auch hier hatte sich nicht viel verändert. Er erinnerte sich an den langen Flur, von dem auf beiden Seiten die Zimmer abgingen. Jetzt befand sich hier ein Wandtelefon, darunter eine Ablage für Notizen, das Telefonbuch und der Zähler. Neben der Garderobe hingen Bilder mit Darstellungen des alten Parma und ein hoher Spiegel, in dem man noch einmal sein Aussehen kontrollieren konnte, bevor man die Wohnung verließ. Alles war still und wirkte gleichzeitig so, als seien die Bewohner nur kurz weggegangen. Durch die Fenster fiel der Widerschein einer Straßenlaterne auf die gläsernen Tropfen einer Lampe, die das matte Licht widerspiegelten. Hier war Soneri unzählige Male gewesen, um auf das Mädchen zu warten, das dann seine Frau geworden war. Doch jetzt kam er sich vor wie ein Einbrecher. Er machte kein Licht, und eine unerträgliche Anspannung trieb ihn dazu, weiter durch den Flur zu gehen, bis die angelehnte Tür eines der Zimmer seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Es war das Zimmer, in dem Ghitta schlief, das einzige, das immer abgeschlossen gewesen war. Mit dem Handrücken stieß er die Tür auf und wickelte sich kurz ein Taschentuch um die Fingerspitzen, bevor er auf den Lichtschalter drückte. Noch als er die Bewegung ausführte, wurde ihm bewusst, dass er dem Geschehen bereits einen Sinn gegeben hatte. Tatsächlich fiel das Licht auf ein Doppelbett, auf dem der Inhalt einer Schublade ausgeleert worden war. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Er starrte auf die Ansammlung von Erinnerungen: billiger Schmuck, Ansichtskarten, Fotos, Heiligenbildchen, ein eingetrockneter Füllfederhalter und ein kleines Notizbuch mit kariertem Papier und einem mostfarbenen Einband. Dann kehrte er in den Flur zurück, um nach Ghitta zu suchen. Er fand sie in der Küche, zwischen dem Tisch und der Spüle; in dem spärlichen Licht erkannte er ihre kleine Gestalt, die auf dem Boden lag. Noch im Halbdunkel war sie für ihn die Frau, an die er sich lebhaft erinnerte, doch als er schließlich das Neonlicht einschaltete, das grell war wie in der Gerichtsmedizin, war sie nur noch eine Leiche. Steif lag sie auf dem eiskalten Marmorfußboden. Doch schien ihm der Körper, als er ihn mit geschultem Blick genau musterte, unversehrt, ohne Wunden oder Verletzungen. Auf der Ablage der Spüle standen noch zwei Tassen, auf dem Tisch zwei Fläschchen und eine Dose mit Medikamenten. Er fasste die Alte an den Schultern und hob sie ein wenig an, ihr Körper war ganz leicht, wie vertrocknet. Nirgends war Blut zu entdecken. Er konnte sich keinen Reim auf das machen, was er bis jetzt gesehen hatte, es gab eine ganze Reihe von Widersprüchen: die Tür, die lediglich eingeschnappt war, ohne jedes Anzeichen von Gewaltanwendung. Die Leiche, die auf einen einsamen Tod hindeutete, die ausgeleerte Schublade, die an Diebstahl denken ließ. Und die beiden Tassen, in denen sich noch ein Rest von Kaffee befand und die auf eine Verabredung mit einer guten Bekannten hinwiesen.
Er griff zum Handy, wählte die Nummer der Einsatzzentrale und verlangte nach Nanetti, dem Chef der Spurensicherung. Nach ein paar Sekunden war der Kollege am Apparat. Der Commissario gab ihm die Adresse durch, und Nanetti fragte: «Dort, wo die Pension Tagliavini ist?»
Alle kannten diesen Ort. Im Vergleich zu den neuen Hotels mit Fähnchen, Drehtüren und Teppichböden mit falschen Persermustern wirkte diese alte Pension wie ein archäologischer Ausgrabungsort. Und darin würde Soneri nun lange herumgraben müssen. Er verließ die Küche und ging zurück ins Schlafzimmer. Vorher öffnete er jedoch die Türen zu den übrigen vier Zimmern. Alle wirkten ordentlich, es machte allerdings den Eindruck, als seien sie unvermietet. Nur in einem entdeckte er einen Rollkoffer. Er versuchte, ihn anzuheben: Er musste voll sein. In Ghittas Zimmer bemerkte er, dass die Kommode, aus der die Schublade herausgezogen worden war, von der Wand gerückt war. Es handelte sich um ein einfaches Möbelstück, nussbaumfurniert, mit einem Kern aus Weichholz, Tanne oder Pappel. Die Rückwand war aus Sperrholz. Soneri warf einen Blick dahinter und entdeckte, dass die Alte einen Nagel eingeschlagen hatte, an dem eine Schnur befestigt war, eine von der Art, wie man sie zum Aufhängen von Bondiolawürsten benutzt. Als er daran zog, kam ein kleiner Stoffbeutel zum Vorschein, kaum größer als eine Handfläche. Er öffnete ihn und fand darin Ghittas bescheidene Schätze: einige Goldringe, ein Kettchen mit einer Jesusmedaille, Ohrringe, ein Armband, eine Uhr und, in einem kleinen Etui, einen Weißgoldring, in den Lapislazuli gefasst war. Es war offenkundig, dass dies die einzigen Wertgegenstände in der Wohnung waren. Doch selbst wenn es weitere gegeben hätte: Derjenige, der hier eingedrungen war, hatte nicht danach gesucht, er hatte ja sogar diese hier gelassen.
Ein paar Minuten später stand Soneri Nanetti gegenüber. Sie begrüßten sich nicht einmal, Soneri wies lediglich mit einer Kopfbewegung auf die Küche, wo das Licht noch brannte, und ging hinter seinem Kollegen her. Dieser führte die gleichen Handgriffe aus wie vorher der Commissario, dem plötzlich bewusst wurde, wie rigoros doch die alte Polizeischule gewesen war, die sie beide durchlaufen hatten.
«Sieht nach einem natürlichen Tod aus», schloss Nanetti nach diesem kurzen Vorspiel, während sich um sie herum schon die Beamten zu schaffen machten, von denen einer fotografierte.
Soneri schaute ihn prüfend an und kaute auf seiner kalten Zigarre herum. «Scheint so, ist es aber nicht.»
Der andere rührte sich ein paar Sekunden lang nicht, verwundert über die Behauptung. Dann streifte er sich, ohne ein Wort zu sagen, die Gummihandschuhe über. Die beiden kauerten nebeneinander auf den Fersen. Erst jetzt, aus dieser kurzen Distanz, bemerkten sie in dem Kleid der Alten einen kleinen Riss, genau zwischen den Brüsten. Eine präzise Öffnung, die man für ein Knopfloch hätte halten können. Sie knöpften das Kleid auf, schoben das Hemd hoch und entblößten den Busen. Mitten zwischen den beiden schlaffen Brüsten zeigte sich ein Schnitt, nicht länger als zwei Zentimeter, mit violetten, leicht ausgefransten Rändern. Nur die Klinge musste beim Kontakt mit der verletzten Haut etwas blutig geworden sein.
«Eine gut ausgeführte Laparoskopie», stellte Nanetti fest.
«Von wegen Laparoskopie», gab der Commissario zurück, «die haben sie abgestochen wie ein Schwein.»