Tod eines Kritikers
Roman
Mit einem Nachwort von Huang Liaoyu
Aus dem Chinesischen von Karin Hasselblat
Für die, die meine Kollegen sind
QUOD EST
SUPERIUS
EST SICUT
INFERIUS
Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlaßt fühle, nicht erwartet, muß ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint. Mystik, Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum –, das ist, wie Interessierte wissen, mein Themengelände. Tatsächlich unterbreche ich, um mich in ein täglich mit neuen Wendungen aufwartendes Geschehen einzumischen, die Arbeit an meinem Buch Von Seuse zu Nietzsche. Es sind eher die Vorbereitungen zu diesem Buch, die ich unterbreche, als die Arbeit an ihm. Inhalt: In die deutsche Sprache kommt der persönliche Ton nicht erst durch Goethe, von dem Nietzsche gierig profitierte, sondern schon durch Seuse, Eckhart und Böhme. Weil das bürgerlich Geschriebene unsere Erlebnis- und Fassungskraft besetzt hat, haben wir, das Publikum, nicht wahrnehmen können, daß die Mystiker ihre Ichwichtigkeit schon so deftig erlebt haben wie Goethe und wie nach ihm Nietzsche. Nur waren sie glücklich und unglücklich nicht mit Mädchen, Männern und Frauen, sondern mit Gott …
Ich muß das erwähnen, weil durch mein sonstiges Schreiben gefärbt sein kann, was ich mitteile über meinen Freund Hans Lach. Beide, Hans Lach und ich, sind Schreibende.
Ich war in Amsterdam, als es passierte. Bei Joost Ritman war ich, eingeladen, seine Sammlung anzuschauen. Mir ist kein Privater bekannt, der so viele Specimina der Mystik, Kabbala, Alchemie und des Rosenkreuzertums gesammelt hat wie Joost Ritman. Ich wohnte im Ambassade, wo ich in Amsterdam immer wohne, ich las beim Frühstück den NRC, den ich dort immer lese, und erfuhr, daß Hans Lach verhaftet worden ist. Mordverdacht. Obwohl es bei mir, sobald ich im Ausland bin, zu den Erholungsqualitäten gehört, nur die jeweils ausländischen Zeitungen zu lesen, besorgte ich mir sofort die Frankfurter Allgemeine. Da las ich nun, Hans Lachs neuestes Buch Mädchen ohne Zehennägel sei von André Ehrl-König in seiner berühmten und beliebten Fernseh-Show SPRECHSTUNDE unsanft behandelt worden. Der Autor habe den Kritiker, als der, wie es üblich sei, nach seiner Fernseh-Show in der Bogenhausener Villa des Ehrl-König-Verlegers Ludwig Pilgrim erschien, grob angepöbelt. Noch sei ungeklärt, wie es Hans Lach überhaupt gelungen sei, sich Zutritt zu der Party zu verschaffen, die Ehrl-Königs Verleger nach jeder SPRECHSTUNDE in seiner Villa veranstalte. Auf der Gästeliste sei Hans Lach nicht vorgesehen gewesen, weil es unüblich sei, Autoren, die unmittelbar davor in Ehrl-Königs SPRECHSTUNDE «dran» waren, nachher zur Party einzuladen. Hans Lach sei zwar selber Autor des PILGRIM Verlags, aber an diesem Abend hätte er nach den Regeln des Hauses nicht dabei sein dürfen. Hans Lach habe offenbar sofort gegen André Ehrl-König tätlich werden wollen. Als ihn zwei Butler hinausbeförderten, habe er ausgerufen: Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen. Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust. Auf dem Kühler von Ehrl-Königs Jaguar, der am nächsten Morgen immer noch vor der Villa des Verlegers stand, sei der berühmte gelbe Cashmere-Pullover, den der Kritiker in seiner Fernseh-Show immer um seine Schultern geschlungen trage, gefunden worden. Von André Ehrl-König fehle jede Spur. Es sei in dieser Nacht fast ein halber Meter Neuschnee gefallen. München im Schnee-Chaos. Hans Lach sei schon am Tag danach unter Verdacht gestellt und, da er kein Alibi nachweisen konnte und nicht bereit war, auch nur eine einzige Frage zu beantworten, verhaftet worden. Sein Zustand wird als Schock bezeichnet.
Ich konnte, als ich das las, gar nicht mehr richtig atmen. Aber ich wußte doch, daß Hans Lach es nicht getan hatte. So etwas weiß man, wenn man einen Menschen einmal mit dem Gefühl wahrgenommen hat. Und obwohl ich über seine Freundschaften nicht viel weiß, beherrschte mich, als ich das las, sofort eine einzige Empfindung: er hat außer dir keinen Freund.
Ich rief sofort Joost Ritman an und sagte, daß ich sofort zurück nach München müsse. Als ich noch sagen wollte, warum ich sofort zurück müsse, merkte ich, daß das gar nicht so leicht mitzuteilen sei. Ich sagte: Ein Freund ist in eine Not geraten. Manchmal spricht man, wenn man genau zu sein versucht, wie ein Ausländer.
Weil ich zu hastig aufgebrochen war, prüfte ich erst auf dem Bahnsteig, ob nichts vergessen worden sei. Der Ausweis fehlte. Man hatte ihn an der Rezeption erbeten und, weil ich es beim Aufbruch so eilig hatte, vergessen, ihn mir wiederzugeben. Hintelephoniert. Ein junger Asiate brachte ihn sofort. Ich versäumte den Zug, den ich herausgesucht hatte, nicht. Aber nach einer Stunde Fahrt blieb der Zug stehen, auf freiem, holländisch weitem Feld. Und keine Erklärung. Als einige Reisende schon laut wurden, endlich die Ansage: Deze trein is afgehaakt. Wir mußten aussteigen, auf den Ersatzzug warten. Für mich hing das alles mit Hans Lach, Ehrl-König und München-Bogenhausen zusammen. Mir sollte Zeit gegeben werden zu überlegen, ob ich wirklich so überstürzt nach München zurückfahren sollte, mußte, durfte. Meine Empfindung war unmißverständlich. Aber da, wo in einem gerechnet, berechnet und geprüft wird, meldete sich die Gegenstimme. Sind Hans Lach und ich wirklich befreundet? Der bekannte, fast populär bekannte Hans Lach und der im Fachkreis herumgeisternde Michael Landolf? Vielleicht sind wir nur befreundet, weil wir keine fünf Minuten (zu Fuß) von einander entfernt wohnen. Er in der Böcklin-, ich in der Malsenstraße, also im Malerviertel des lieblichen Stadtteils Gern. Wir passen beide besser hierher als nach Bogenhausen, hat Hans Lach einmal gesagt. Er ist allerdings deutlich jünger als ich. Hält also noch mehr für möglich als ich. Wir haben einander fast ein bißchen schamhaft gestanden, daß wir ohne die Gerner Nachbarschaft kaum Freunde geworden wären. Er, immer mitten im schrillen Schreibgeschehen, vom nichts auslassenden Roman bis zum atemlosen Statement, ich immer im funkelndsten Abseits der Welt. Mystik, Kabbala, Alchemie. Aber nachdem wir uns bei dem auch aktuell tendierenden Philosophieprofessor Wesendonck in dessen Grünwalder Villa kennengelernt hatten, haben wir keinen Grund empfunden, uns nicht mit einem sorgfältig betonten Auf Wiedersehn zu verabschieden. Zeitgeizig sind wir beide. Wir sind keine sogenannten engen Freunde, vielleicht, weil wir beide vorsichtig geworden sind. Ich noch mehr als er. Draußen bei Wesendoncks haben wir uns zwar gleich bei unseren Vornamen genannt. Das heißt aber nur, daß wir beide in der Welt, besonders in der englisch-amerikanischen, herumgekommen sind. Er hat mich gleich bei der zweiten oder dritten Anrede Michel genannt. Das tun, nach meiner Erfahrung, nur die, die es gut meinen mit mir, oder, sagen wir, die Herzlichen. Hans Lach ist eine Herzlichkeitsbegabung. Das spürte ich sofort. Wir haben beide bemerkt und es auch nicht vor einander verheimlicht, daß wir nicht zum engeren Kreis der hier Eingeladenen gehörten. Beide in Gern wohnend, teilten wir nachher ein Taxi, auch bei der Bezahlung, weil keiner sich vom anderen einladen lassen wollte oder konnte. Daß wir da beide gleich kleinlich waren, war mir sympathisch. Und wir sagten uns auf dem Heimweg auch die Gründe auf, die uns diese Einladung beschert hatten. Mich hat Wesendonck über die Kabbala ausgefragt, weil er ein Buch Gershom Scholems für die Süddeutsche rezensieren sollte. Daß ich, als mir Wesendonck das mitteilte, den typischen Enttäuschungsstich verspürte, gestand ich natürlich nicht. Ich, in nichts so zu Hause wie in Mystik, Kabbala, Alchemie, wurde nicht um diese Buchbesprechung gebeten, wohl aber der doch ganz und gar aktuell tendierende Wesendonck. Aber er hatte, bevor er mich ausgefragt hatte, selber gesagt, daß ihm diese Besprechung nur angeboten worden sei und er sie nur angenommen habe, weil er mit Gershom Scholem befreundet gewesen sei.
Hans Lach führte sein Eingeladenwordensein darauf zurück, daß er in der Frankfurter Allgemeinen gerade ungut behandelt, ja sogar richtig beschimpft worden sei, als Populist. Und zwar von einem der Herausgeber persönlich. Dadurch sei er für Wesendonck einladbar geworden. Wesendonck habe ihn, Hans Lach, diesen Abend lang richtig geprüft, ob er in die Wesendonckphalanx passe. Ich müsse ja bemerkt haben, daß Wesendonck den Namen jenes Herausgebers immer mit dem Zusatz Faschist versehen habe. Diese Schmähfloskel stammte deutlich aus den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Aber die, die sie damals im Mund führten, konnten offenbar auch jetzt, obwohl selber deutlich gealtert, nicht darauf verzichten.
Obwohl ich nirgends dazugehöre – wer geschichtsträchtige Bücher schreibt, kann die Abende nicht verplaudern –, kriege ich, weil ich, wenn ich erschöpft bin, Zeitungen durchblättere, doch mit, wer gerade mit wem und wer gegen wen ist. Den Rest sagt mir Professor Silberfuchs im Kammerspiel-Foyer oder am Telephon. Er ist, wie er es selber fröhlich ausdrückt, mit Gott und der Welt befreundet, und ich gehöre zu seinen Telephonnummern. Er hat mein Mystik-Buch über alle Maßen gelobt. In der Zeitung und im Radio. Dann mich angesprochen im Foyer der Kammerspiele. Er habe damit wirklich gewartet, aber als er mich zum vierten Mal auf dem Platz zwei Reihen vor sich gesehen habe, habe er sich und dann auch mich darauf hinweisen müssen, daß wir dem gleichen Abonnement angehörten. Als er hörte, daß ich in Gern wohnte, sagte er sofort: Hans Lach auch. Und sagte gleich noch dazu, daß er seinen Spitznamen Hans Lach verdanke. Und er sei überhaupt nicht beleidigt. Er finde, der von Hans Lach für ihn gefundene Spitzname könnte auch bei Wagner in den Meistersingern vorkommen. Jetzt mußte ich doch gestehen, daß ich seinen Spitznamen nicht kenne. Ach, rief er, wie lustig. Sie sind der einzige in ganz München, der den nicht kennt. Und es mache ihm überhaupt nichts aus, seinen Spitznamen selber zu verbreiten. Silbenfuchs habe Hans Lach ihn genannt, nachdem er, Professor Silberfuchs, den vorvorletzten Roman von Hans Lach in irgendeiner Konversation ein Werk von grandioser Selbstbehinderung genannt habe. Was man in München irgendwo sage, sage man immer der ganzen Stadt. Zumindest in der Kulturszene. Die sei nirgends so tratschselig wie in München. Das alles rauschte im Foyer auf mich ein, weil ich, als er sich als Harlachinger ausgewiesen hatte, mich zu Gern bekannte. Und Gern heißt für einen Professor der Literaturwissenschaft Hans Lach. Hans Lach sei inzwischen, sagte er noch schnell, weil das Klingelzeichen mahnte, doch fast schon zu prominent für das liebe Kleinbürgerviertel. Der gehört längst nach Bogenhausen, sagte der Professor. Und Ton und Schmunzeln konnten bedeuten, der Satz sei auch ironisch gemeint gewesen. Daß ich nicht nach Bogenhausen, sondern eben doch nach Gern gehörte, hatte der Professor mit diesem Satz sicher nicht sagen wollen. Ich hatte nicht vermeiden können, das herauszuhören.
Keine Polizei der Welt würde mich eines Mordes verdächtigen. Hans Lach schon. Obwohl er den Mord so wenig begangen hat wie ich. Als ich las, was über Hans Lach in der Zeitung stand, überlegte ich nicht, ob er mich brauche oder nicht. Ich war nicht fähig, mir vorzustellen, daß es in München und in ganz Deutschland mehr als genug Menschen gäbe, die Hans Lach von diesem absurden Verdacht befreien würden. Gar nichts konnte ich mir vorstellen. Nicht einmal, daß ich aufdringlich wirken könnte. Er mußte Freunde haben, die viel ernsthafter seine Freunde waren als ich, der Zufallsnachbar. Mir ist sonst immer alles zu schnell peinlich. Und jetzt gar nicht. Hin mußte ich. Sofort. Nach München. Und hinaus nach Stadelheim.
Der Beamte, der mich an der Pforte abholte, sagte: Der Chef macht den Besuch selber. Wie lang, fragte ich. Er: Wenn ich den Besuch machen tät, könnte ich nur eine halbe Stunde erlauben, der Chef kann machen, so lange er will. Der Herr Oberregierungsrat wußte also immerhin, wer sein Untersuchungshäftling war. In einem polizeigrün gestrichenen Raum wurde ich an ein rundes Tischchen in der Ecke gesetzt, dann kam der Herr Oberregierungsrat mit seinem Häftling herein.
Hans Lach und ich am Tischchen in der einen, der Beamte an dem Schreibtisch in der anderen Ecke. Als wolle er uns zeigen, daß er unser Gespräch nicht überwache, fing der Oberregierungsrat sofort mit dem Aktenstudium an. Hans Lach sah mich an, zuckte mit den Schultern und sagte mehr zu dem Beamten als zu mir hin: Rauchen darf man. Der Beamte: Man darf. Der Herr Oberregierungsrat sei heute offenbar besonders gut aufgelegt, sagte Hans Lach. Ob er sich über ihn beklagen wolle, fragte der Beamte. Sie müssen wissen, sagte Hans Lach zu mir, der Herr Oberregierungsrat fliegt jedes Jahr in seinem Urlaub nach Nepal und bringt von dort Videos mit, die er dann den Insassen hier vorführt. Hinter dem Berg, den Sie hier sehen, sagt er dann, liegt ein englisches Hotel, in dem haben wir schwedisches Bier getrunken. Der Herr Lach hat sich schnellstens über mich informiert, sagte der Oberregierungsrat. Drückte aber durch den Ton, in dem er das sagte, aus, daß er weiterhin konzentriert sei auf seine Arbeit und an dem Gespräch dort am Tischchen nicht teilzunehmen gedenke. Das konnte nur heißen, Hans Lach und ich sollten nicht glauben, er höre unser Gespräch ab. Beamte sind viel fleißiger, als man denkt, sagte Hans Lach. Dann sagte er nichts mehr. Wenn der Beamte noch etwas gesagt hätte, hätte er sicher auch noch etwas gesagt. Er sah mich zwar an, aber nicht so, daß ich hätte fragen können: Wie geht es Ihnen. Er sah mich kein bißchen erwartungsvoll an oder neugierig. Er gähnte. Wollte das Gähnen aber höflich verbergen. Je länger ich ihn anschaute, desto weniger war es mir peinlich, daß ich nicht wußte, wie ich das Gespräch beginnen sollte. Ich war gekommen, um ihm zu sagen, daß ich wisse, er sei es nicht gewesen. André Ehrl-König hat sich durch seine Art, über Schriftsteller zu urteilen, sicher viele zu Feinden gemacht. Warum sollte sich ausgerechnet Hans Lach so vergessen! Es gab andere, die viel schlechter weggekommen waren. Durch Professor Silberfuchs hatte ich aus dieser Szene immer viel mehr erfahren, als ich wissen wollte. Ich hoffte, Hans Lach begriff, warum ich gekommen war. Ich wollte etwas tun für ihn. Daß ich gekommen war, war ein Angebot. Er mußte darauf reagieren. Er sah mich ruhig an, vollkommen ruhig. Er erwartete nichts von mir. Wahrscheinlich hatte sein Verleger schon die besten Anwälte zusammengespannt. Wahrscheinlich empfing er an diesem Tischchen täglich seine Freunde und Freundinnen. Ich kam mir plötzlich ganz überflüssig vor. Ich hätte wirklich in Amsterdam bleiben sollen, Joost Ritmans Kabbala-Blätter anschauen, vergiß München, morgen wird das Feuilleton der Republik Hans Lach feiern, er wird Interviews und Interviews geben, das arme Schwein, der wirkliche Mörder, wird sein Geständnis herausstottern, die Mutter eine Prostituierte, er aufgewachsen im Waisenhaus, vom Kaplan vergewaltigt, seit dem siebzehnten Lebensjahr straffällig, mit achtundzwanzig – grade wieder mal aus dem Knast entlassen – schreibt er sein Leben auf, schickt das Manuskript André Ehrl-König, der läßt ihm durch seine Sekretärin mitteilen, daß er keine Anlaufstation sei für verpfuschte Biographien, also keimt in dem Knastheini eine Wut, er sieht Ehrl-König im Fernsehen, er fragt sich durch, ein Pförtner verrät ihm, wo gefeiert wird, nichts wie hin, gewartet im fallenden Schnee, bis der Star kommt, zugestochen …
Entschuldigen Sie, bitte, daß ich gekommen bin. Das konnte ich auch nicht sagen. Es war übereilt. Ein Gefühl eben. Gefühle sind immer übereilt. Gefühle dürfen übereilt sein. Gefühle müssen übereilt sein. Basta. Zum Glück brauchte er mich nicht. Was hätte ich denn tun können für ihn? Aber er sah mich nicht an, als wollte er sagen: Was wollen denn Sie hier. Er sah mich ruhig an. Tendenzlos. Fast ohne jede Stimmung. Er kratzte mit einer Hand auf dem Handrücken der anderen. Er nahm mir nichts übel. Daß wir beide so sitzen konnten, ohne etwas zu sagen, daß dieses Nichtssagen überhaupt nicht peinlich war, das empfand ich als eine Art Übereinstimmung mit ihm. Er fand, daß ich gekommen war, nicht aufdringlich. Mit wem hätte ich eine Stunde lang so sitzen können, ohne etwas zu sagen! Mit wem hätte er … ach, er schon eher, er war es vielleicht gewohnt, daß man, wenn er nichts sagte, auch nichts sagte. Wenn ich, obwohl er so deutlich nichts sagen wollte, doch angefangen hätte, etwas zu sagen, irgendeinen Verlegenheitsquatsch, dann hätte ich die Situation verfehlt. Die Prüfung nicht bestanden. Das ist eben so. Der Prominente kann sich benehmen, wie er will, er benimmt sich richtig. Nur du kannst etwas falsch machen. Selbst wenn du dieses Ritual überhaupt nicht anerkennst, du verhältst dich doch genau so, wie es von einem wie dir erwartet wird. Aber jetzt sei zufrieden, daß du einer Schweigestunde verlegenheitsfrei standgehalten hast. Mensch. Freibleibend. Was soll das jetzt? Weiß nicht. Einfach das Wort, das mich jetzt anzieht. Freibleibend …
Es war der Beamte, der sagte, es sei Zeit. Ich fand es erstaunlich, daß er das Schweigen nicht kommentierte. Er hätte doch sagen können, er wisse es zu schätzen, daß die beiden Herrn ihn so gar nicht bei seinem Aktenstudium gestört hätten. Aber daß er das Schweigen gar nicht erwähnte, war noch besser. Niveau, dachte ich, der Herr Oberregierungsrat hat Niveau. Beide gingen mit mir bis zum Pförtner. Da ich nicht jetzt noch etwas durch banalen Sarkasmus oder halbgare Ironie verderben wollte, verabschiedete ich mich sozusagen so stumm, wie ich bis dahin gewesen war. Aber ich vermied es, das Nichtssagen pathetisch werden zu lassen.
Hans Lach zog ganz zuletzt noch ein paar Seiten, von Hand beschriebene, aus seiner Jackentasche und übergab sie mir. Sein Blick dazu war nichts als sachlich. Draußen in der beglückend kalten Winterwelt merkte ich erst, wie warm es da drinnen gewesen war. Wie oft bei Behörden, überheizt. Auf der Heimfahrt wurde mir (wieder einmal) bewußt, wie wenig man von sich braucht, um ein Auto durch eine Stadt zu lenken, die man kennt. Ich dachte nur an ihn, sah nur ihn vor mir, wurde nicht fertig mit ihm, weil, was mir dort als Ruhe vorgekommen war, jetzt gar nicht mehr so vorkam. Tendenzlos, ja. Aber ruhig? Sein Bild in meiner Vorstellung, sein immer ungeschützt wirkender Blick, die rötlichen Haare, kurze, sich gleich wieder dem Kopf zubiegende Haare, rötlich grau. Würde er sie wachsen lassen, gar nicht vorstellbar, daß das je lange Haare wären. Eine zu hohe, zu runde Stirn. Flache Augenhöhlen. Ach, Hans Lach. Ich schaute und schaute ihn an. Und wußte doch, daß er mir nicht ruhig gegenübergesessen hatte, sondern … Rauchend. Nicht einmal die von ihm gerauchten Zigaretten hatte ich gezählt. Und hätte wirklich Zeit gehabt. Na ja. Hans Lach. Ich mußte durchprobieren, wie dieser Name in den mir geläufigen europäischen Sprachen klingen würde. Suchte ich eine Fluchtmöglichkeit? Ich hoffte, nicht.
Am meisten ist Gern noch das, was es einmal gewesen sein muß, wenn der Schnee alles zudeckt, alles neuerdings Dazugebaute. Und das gelingt dem Schnee fast jeden Winter ein-, zweimal. Wenn dann die Straßen nicht geräumt werden, die schwarzen Menschen, Gleichgewicht suchend, durch die Luft rudern, dann kann ich arbeiten. Hätte ich arbeiten können, wenn ich nicht in dieses Geschehen hineingeraten wäre.
Ich kam heim und merkte, daß ich immer noch nicht wußte, wie es Hans Lach ging. Dieses Schweigen. Ach was, Schweigen. Da lernt man Wörter kennen! Wenn sie nicht taugen! Dieses Voreinandersitzen und Nichtssagen. Das kann man doch nicht Schweigen nennen. Er tat mir leid. Das war es. Jetzt erst gestand ich es mir ein: er tat mir leid, weil ich glaubte, daß er es getan haben könnte. Für mich war es immer die fürchterlichste Vorstellung überhaupt: jemanden umgebracht zu haben. Manchmal – sehr selten zum Glück – träumte ich das: du hast jemanden umgebracht, man ist schon auf deiner Spur, du siehst deiner Überführung entgegen, du mußt, um das zu verhindern, noch jemanden umbringen. Die Tage nach solchen Träumen sind immer die glücklichsten Tage überhaupt. Den ganzen Tag könnte ich summen vor Glück: du hast keinen umgebracht, Halleluja.
Ich war von Amsterdam so jäh weggefahren, ich mußte sofort hinaus nach Stadelheim, weil ich glaubte, er könnte es doch getan haben. Und fürchterlicher konnte nichts sein. Also hin zu ihm. Dann sitzen und nichts sagen. Einfach weil man, wenn jemand jemanden umgebracht hat, nichts mehr sagen kann. Jetzt merkte ich, daß mir der Tote kein bißchen leid tat, nur der Täter. Der Tote leidet doch nicht mehr. Aber der Täter … der kann keine Sekunde lang an etwas anderes denken als an die Sekunde der Tat. Ich müßte mich, wenn mir das passierte, sofort selber umbringen. Nicht, um mich zu strafen, nicht, um zu sühnen. Nur weil es nicht auszuhalten wäre, dieses ewige, unablässige Drandenkenmüssen. Und der saß mir gegenüber, sah mich an, ruhig. Das habe ich mir eingeredet. Ruhig. Er war erledigt, zerquetscht, er hatte sicher immer noch keinen ruhigen Schlaf gefunden. Die Augen. Jetzt erst verstand ich diesen Blick. Dieses vollkommen Tendenzlose. Keine Gesellschaft, bitte. Keine Teilnahme. Achten Sie, bitte, mein Nichtinfragekommen für alles. Ich komme in Frage nur noch für nichts. Und diesen Ausdruck hatte ich für ruhig gehalten. Halten wollen. Etwas Unwiderrufliches getan haben.
Ich konnte nicht sitzen bleiben, mich nicht vom Winterbild draußen einwiegen lassen, ich rannte im Zimmer hin und her, bis mir Lachs Handgeschriebenes einfiel. Und las. Es waren Seiten eines DIN-A5-Blocks. Mit Linien, an die sich der Schreiber, weil sie ihm zu weit auseinander standen, nicht gehalten hat. Die Handschrift war schwer lesbar.
Lieber Michel Landolf, las ich, hier ein paar Notate aus der Ettstraße. Zwei Tage und zwei Nächte. Bitte, aufbewahren für was auch immer. Herzlich Ihr Ex-Nachbar Lach.
Ich las:
Versuch über Größe. Zuerst das Geständnis, daß Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Denken ist großartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht. Nach meiner Erfahrung, der ich neuestens bis zur Unerträglichkeit ausgesetzt bin. In einem Satz gesagt: Immer öfter merke ich, daß Menschen, mit denen ich spreche, während wir mit einander sprechen, größer werden. Ich könnte auch sagen: Ich werde, während wir sprechen, kleiner. Das ist eine peinliche Erfahrung. Und am peinlichsten, wenn das öffentlich vor sich geht. In einem Restaurant. Oder – am allerschlimmsten – im Fernsehstudio. Katastrophal … Aber – und das ist die neueste Erfahrung überhaupt – auch wenn andere Leute in einer gewissen Art über mich sprechen, werde ich kleiner. Und das, ohne daß ich mit diesen Leuten zusammen bin oder auch nur weiß, daß die gerade über mich sprechen. Ich sitze zu Hause an meinem Arbeitstisch, und wenn ich aufstehen will, reichen meine Füße nicht mehr auf den Teppich hinab, auf dem mein Schreibtischstuhl steht. Das ist nicht so schlimm, weil ich auf meinem Keshan, wenn ich vom Stuhl hinunterspringe, weich lande. Und – das ist bei dieser Erfahrung das Wichtigste und eigentlich auch das Schönste – nachts regeneriere ich mich. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, habe ich wieder meine alte Größe. Bis jetzt. Einszweiundachtzig. Seit ich diese Erfahrung des Schrumpfens und Wiederwachsens mache, messe ich mich jeden Tag. Tatsächlich genügt es, um wieder die Normalgröße zu gewinnen, nicht, wach im Bett zu liegen. Ich muß schon schlafen. Und nicht jeder Schlaf bringt gleich viel Regeneration. Inzwischen messe ich mich abends und morgens. Wenn mir abends öfter mal zehn Zentimeter fehlen, fehlen mir nach nicht ganz störungsfreiem Schlaf doch noch zwei oder drei Zentimeter. Ich habe von Schuhen gehört, die so geschaffen sind, daß man in ihnen zwei bis drei Zentimeter größer ist, und man erkennt von außen nicht, daß es sich um eine Schuhkonstruktion handelt. Nach so etwas werde ich jetzt auf jeden Fall suchen. Nach traumlosem Schlaf, in den die Welt also nicht hineinwirkt, habe ich immer meine einszweiundachtzig. Ich glaube noch nicht, daß das Ganze ein Problem für den Psychiater oder Psychotherapeuten ist. Ich werde dieser Erfahrung mit Aufzeichnungen folgen, sie dadurch anschaubar und vielleicht sogar überwindbar machen. Allerdings: Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken. Durch Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen hilft. Das ist auch eine Erfahrung.
So weit war ich gerade, als das Telephon läutete. Kriminalhauptkommissar Wedekind vom K III. Der Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte, jetzt beauftragt mit den Ermittlungen im Fall Ehrl-König/Lach. Von meinem Schweigebesuch hat er gehört, er bittet mich, trotzdem nicht aufzugeben. Ich sei immerhin der einzige von allen, die um Besuchserlaubnis gebeten hätten, den Herr Lach empfangen habe. Mich und seine Frau Erna, alle anderen habe er abgelehnt. Er müsse seinen Schweigestreik beenden. Das sei überhaupt keine Taktik, die Erfolg haben könne. Wahrscheinlich spekuliere Lach darauf, daß wir ohne Leiche keine Anklage zustande bringen. Da täuscht er sich. Wir haben den blutgetränkten Pullover des Opfers. Die Schneemassen in der Mordnacht begünstigen momentan den Täter, und in einem Poeten kann das die Illusion fördern, der Schnee werde, was er in dieser Nacht begrub, im Frühjahr mit sich nehmen. Vielleicht ist die Leiche über die Thomas-Mann-Allee hinüber und dann die steile Böschung hinunter und noch übers Ufergelände bis zur Isar geschleppt und dann der Isar anvertraut worden. Der Täter hat wirklich Glück gehabt. Fast fünfzig Zentimeter Neuschnee in dieser Nacht. Vielleicht hat er den Wetterbericht gekannt. Aber wer weiß, was die Schneeschmelze dann entblößen wird. Das alles hat sich Herr Lach von mir schon sagen lassen, und hat dazu geschwiegen. Aber Ihnen hat er Schriftliches mitgegeben. Verzeihen Sie einem Polizisten, wenn er neugierig fragt: Haben Sie’s schon gelesen?
Ich war gerade durch, als Ihr Anruf kam.
Und? fragte KHK Wedekind.
Aufzeichnungen aus der Ettstraße.
Da haben wir ihn für achtundvierzig Stunden untergebracht, sagte Herr Wedekind.
Er sprach mit mir, als wisse er sicher, daß ich, wie die Polizei, an der raschen Aufklärung dieses Falls interessiert sei und, so gut ich könne, mitarbeiten werde. Daß Hans Lach der Täter sei, der nur noch überführt werden müsse, schien festzustehen. Herr Wedekind war gerade dabei, Hans Lachs Bücher zu lesen, da werde er Herrn Lach genauer kennenlernen, als dem lieb sein könne. Ich möge bitte nicht meinen, er habe etwas gegen Herrn Lach oder Herr Lach sei ihm auch nur im mindesten unsympathisch. Es gebe natürlich für den Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte auch Fälle, die den Beamten zum engagierten Verfolger des Täters machten, Delikte, in denen das Opfer grausam oder bestialisch und aus niedrigsten Motiven hingemordet worden sei, dergleichen liege hier ja überhaupt nicht vor. Und trotzdem liege Mord vor. Aber eben ein Mord der feineren, wenn nicht der feinsten Art überhaupt. Der Täter ein Künstler. Und so viel verstehe er, der KHK, auch von Kunst, insbesondere auch von Literatur – er sei ein Leser, wenn auch, bisher wenigstens, kein Lachleser, aber das ändere sich ja gerade –, daß er einen Schriftsteller durchaus auch als ein Opfer zu sehen im Stande sei. Wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinn. Im Augenblick lese er, ja, durchforsche er geradezu Lachs vorletztes Buch Der Wunsch, Verbrecher zu sein. Der autobiographische Anteil sei unübersehbar. Er habe aber zuerst Lachs letztes Buch lesen müssen, Mädchen ohne Zehennägel. Seine bisherigen Ermittlungen – bitte, ohne auch nur die geringste Mitwirkung Lachs – könnten ihn vermuten lassen, dieses Buch, das heißt, die Art, wie André Ehrl-König in der SPRECHSTUNDE damit umgegangen ist, habe alles, was sich in Lach gegen Ehrl-König angesammelt haben kann, in den Zustand einer jähen Entzündung versetzt, dann habe er eben seine Fassung verloren und so weiter. Die Party in der Verlegervilla in Bogenhausen, die nach der Sendung immer stattfinde, wenn man die rekonstruieren könnte, wäre der Fall gelöst, man könnte ihn Herrn Lach sozusagen als Manuskript vorlegen, er müßte nur noch unterschreiben. Er, KHK Wedekind, wolle mit diesen Andeutungen nur eins erreichen: Herrn Landolf bitten, dranzubleiben, sich durch keine Reaktion Lachs abschrecken zu lassen. Jeder Mordfall sei eine Tragödie. Und zwar im vollen historischen Sinn dieses Wortes. Aber es sei uns einfach nicht gestattet, eine solche Tragödie geschehen zu lassen, ohne zu versuchen, ihr gerecht zu werden, was soviel heiße wie, seine Stimme wurde jetzt ganz leise: Wir müssen sie aufnehmen, in unsere Sprache, in unsere ganze darauf vorbereitete Tradition, wir müssen sie uns zu eigen machen, durch Teilnahme, werter Herr, und den, dem sie passiert ist, aus seiner entsetzlichen Isolierung erlösen. Glauben Sie mir, so etwas kann einer allein nicht tragen. Dafür gibt es uns. Die sogenannte Menschheit. Entschuldigen Sie, bitte. Ich sagte: Ich bitte Sie. Dann schaltete er wieder um. Ihm sei berichtet worden, daß sich Herr Lach in der Gemeinschaftszelle in der Ettstraße ausschließlich mit einem Benedikt Breithaupt beschäftigt habe, der zur Zeit fast täglich von Stadelheim dorthin zu Vernehmungen überstellt werde. Seine, Wedekinds, Frage nun: Geben die handgeschriebenen Seiten über dieses intensive Miteinanderreden irgendeine Auskunft. Mit uns, Sie, Herr Landolf, eingeschlossen, kein Wort, mit einem iksbeliebigen Untersuchungshäftling stundenlanges Getuschel.
Ich wußte nicht, warum, ich wußte nur, daß ich das mir Anvertraute jetzt nicht weitergeben sollte. Genau so sagte ich es. Der KHK zeigte oder heuchelte Verständnis. Aber da wir doch sicher noch mit einander zu tun hätten, lade er mich ein, einmal zu ihm in die Dienststelle zu kommen. In die Bayerstraße, wo die Mordkommission logiere. Er hoffe nicht, daß das Wort Mordkommission mich abschrecke. Also.
Ja, sagte ich, warum nicht.
Na ja, warum dann aber nicht gleich, sagte er. Nach seiner Erfahrung altere alles, was mit einem Fall auch nur entfernt zu tun habe, ungeheuer rasch. Dabei bleiben, dranbleiben, das sei nicht nur sein Rezept, sondern sein Bedürfnis. Er würde, solange so ein Fall noch ein blühendes Rätsel sei, die Dienststelle am liebsten überhaupt nicht mehr verlassen. Also: Wann seh ich Sie. Am Nachmittag, sagte ich. Er wiederholte fast singend: Am Nachmittag! So kann sich nur ein Freischaffender ausdrücken. Aber er finde das ansteckend. Dienststellendienstzeit sei von siebenuhrfünfzehn bis fünfzehnfünfundvierzig. Käme ich um halb vier, dann hätten er und ich Ruhe und könnten gründlich reden.
Als ich aufgelegt hatte, ging ich an mein rundbogiges, von Sprossen schön eingeteiltes Großfenster und sah hinaus auf die die Straße säumenden Schneebäume, auf die hohen Schneeborten, die alle Zäune und Autos zierten. Verschneit kann es das Viertel, was Stille angeht, mit jedem Winterwald aufnehmen. Hans Lach hat wirklich Glück gehabt. Und hat immer noch Glück. Oft genug folgt auf einen solchen ausgiebigen Schneefall in München ein Wärmeeinbruch, der Föhn schmilzt in ein paar Stunden alle Schneelasten weg, die ganze Stadt rauscht nur so vor nicht schnell genug abfließen könnendem Schneewasser. Jetzt aber, nach wie vor kalt, die Schneedecke hält sich. Ich unterstellte Hans Lach also auch schon, daß er es getan habe. Ich holte aus dem Regal: Der Wunsch, Verbrecher zu sein. Ich hatte in dieses Buch, als es vor zwei Jahren erschienen war, zwar manchmal hineingeschaut, aber nie lange darin gelesen. Der Untertitel: Flüchtige Notizen hatte mich abgeschreckt. Dann auch die … ja, die Tonart dieser Notizen. Ich hatte gedacht: Er nimmt sich wichtiger, als er ist. Als ich das Buch jetzt wieder aufschlug, dachte ich, daß das doch menschenüblich sei, sich wichtiger zu nehmen, als man ist. Gewissermaßen lebensnotwendig. Also verständlich, wenn schon nicht verzeihlich. Ich fragte mich, ob man auch noch schriftlich bezeugen müsse oder dürfe, daß man sich wichtiger nehme, als man sei. Jetzt aber hatte ich soviel Anlaß, das Buch aufzuschlagen, wie der KHK.
Ich las quer durch:
Ein Tag, an dem die Maske verrutschte. Jetzt hast du zu tun, sie wieder zurechtzurücken. Das gelingt nur mit Verletzung der Maske und des Gesichts. Paß also auf das nächste Mal, wenn du wieder an deiner Maske zerrst. Hände weg von der Maske.
Es gibt nicht wenige, die achte ich mehr als sie mich. Ich verharre gern bei dieser Differenz. Es tut mir geradezu gut, sie mehr zu achten, als sie mich achten. Wahrscheinlich glaube ich, daß ich schon deswegen ihre Achtung, die sie mir vorenthalten, verdient hätte.
Er kann sich nicht wegwenden von sich, solange er so schwach ist. Der Verlierer ist unersättlich mit sich selbst beschäftigt. Der Sieger wendet sich neuen Aufgaben zu.
Wenn du ein bißchen herausgehst aus dir, bist du sofort unmöglich.
Mein Feind läßt am Horizont die Waffen blitzen. Es gibt nichts, das ihm nicht diente.
Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) mit dem Notieren ihres Alibis beschäftigt.
Gestern nacht vom Mord geträumt, wieder vom längst geschehenen. Nichts vom Opfer. Nur die Angst, entdeckt zu werden. Diesmal das Opfer im eigenen Haus vergraben. Einzige Chance, nicht entdeckt zu werden: ausgraben und irgendwo weit weg loswerden. Das ist doch vorstellbar. Das muß geben. Aber eben dabei kann man, muß man entdeckt werden. Die Angst quält so, daß man sich wünscht, das Entdecktwerden endlich hinter sich zu haben. Aufwachen. Wie immer, froh, weil es doch nur ein Traum war.
Du bist froh, daß Deutschland aus der Fußball-WM ausscheidet im Viertelfinale gegen Bulgarien, weil du einen Gegner hast, der fanatisch auf den deutschen Sieg hofft. Den trifft die deutsche Niederlage mehr als dich, deshalb bist du glücklich über die deutsche Niederlage.
Er hat sich lange genug beherrscht. Immer hat er statt andere sich selber verletzt.
Er muß in Träumen jetzt öfter Leichen verstecken, und wo immer er eine Leiche hinbringt (unter das Hotelbett zum Beispiel), liegt immer schon eine andere Leiche, die nicht von ihm stammt.
Als er sich hineinfühlte in seine Verbrecherhaftigkeit, fühlte er sich wohl. Solange er es nicht gewagt hatte, Verbrecher zu sein, hatte er sich Vorwürfe gemacht, hatte sich überspannt gefühlt, gespalten. Seit er sich annahm als Verbrecher, war er einig mit sich selber. Vielleicht könnte er jetzt sogar wieder etwas genießen. Vorher war ihm immer alles durch Vorwürfe, die er glaubte, sich machen zu müssen, verdorben worden. Als anständiger Mensch durfte er ja an allem, was er tat, keinen Gefallen finden.
Alles, was er tat, war vorwerfbar, schlecht. Als Verbrecher mußte er sich keine Vorwürfe machen.
Ich wurde gestört.
Das Kommissariat III, eine Frauenstimme, Herr Kriminalkommissar Meisele wolle mich sprechen, sie verbinde. Dann Herr Meisele im heitersten Ton. Tut ihm leid, wenn er mir eine Nachricht verklickern muß, die mich sicher nicht nur erfreue. Sein großer Kollege Wedekind könne mich heute nicht mehr empfangen, müsse das Gespräch, an dem ihm gelegen, sehr viel gelegen sei, verschieben. In der Hoffnung auf mein Verständnis bitte sein großer Kollege Wedekind um eben dieses Verständnis und melde sich wieder. Ob die Botschaft angekommen sei. Das bestätigte ich. Dann sei es ja gut. Das sei mehr, als er, der KK Meisele, seinerseits habe erhoffen können. Dann fast schroff: Guten Tag. Und aufgelegt.
Na ja, ob mir der KHK wirklich das hätte erzählen können, worauf es mir angekommen wäre? Ich würde mich selber auf den Weg machen müssen. Im Wunsch, Verbrecher zu sein wollte ich jetzt nicht weiterlesen.