Reiner Matzker

Ästhetik der Medialität

Zur Vermittlung von künstlerischen Welten und ästhetischen Theorien

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Mittel des Medialen

Das Mediale

1. Die Wahrheit des Medialen – Aufklärungsästhetik

2. Leidenschaft, Luxus und Laster – französische Aufklärungskritik

3. Lust am Schönen – subjektiver Idealismus

4. Reine Medialität – Sturm und Drang

5. Kritik der subjektiven Ästhetik – der objektive Geist

6. Medialisierung des Subjekts – die Romantik

7. Das «Wesen» der Medialität – Naturästhetik

8. Der Geist der Musik und die Tragödie – Restauration

9. Kunst, Wirklichkeit und Photographie – das Problem des Realismus

10. Zwischen Impression und Expression – die Moderne

11. Bewusst gewollter Schein – Fiktionalismus

12. Distanzvergrößerung – soziologische und politische Ästhetik

13. Empathie – Expressionismus und Phänomenologie

14. Einbildungskraft und Verstand – Ansätze einer kritischen Ästhetik

15. Der Film – eine neue Darstellungsvariante

16. Leben, Ästhetik und Ideologie – medialer Fundamentalismus

17. Kunst als Revolte – Medialität der Existenz

18. Kapazität des Augenblicks – Existenzialismus und das Informel

19. Kunst und Kommerz – Pop-Art

20. Fernsehen und Kitsch – Massenmedialität

21. Krise und Kritik – Medialität des Protests

22. Struktur des Medialen – Semiologie knapp skizziert

Epilog

Jenseits der Medialität

Literatur

Namenregister

Vorwort

In den Religionswissenschaften wird gelegentlich zwischen profaner und sakraler, also weltlich-alltäglicher und heiliger Sphäre unterschieden. Diese Unterscheidung ist übertragbar auf das Verhältnis des Publikums zur Kunstsphäre, also zu jenem spezifischen Wirkungsfeld, das ähnlich wie die sakrale Sphäre zwar mit dem Alltagsleben in Verbindung steht, aber dennoch eigentümlich von ihm geschieden ist. Denn wenn Schauspielende oder Tanzende die Bühne betreten oder im Film agieren und dort ihren Beitrag leisten, sind sie gewöhnlich aus ihren alltäglichen Zusammenhängen herausgetreten. Sie haben eine mediale Funktion übernommen, agieren im Rahmen einer Inszenierung, einer Aufführung, einer Gestaltung. Sie agieren im Bereich der Medialität.

Die Vermittlung von künstlerischen Welten vollzieht sich wie die allgemeine Kommunikation zwischen Sendenden und Empfangenden. Entsprechend wird das Mediale etymologisch als das in der Mitte Befindliche definiert, als das dem Wortsinn nach Mitgeteilte oder die Mitteilung. Mediales, auch wenn es die Begrifflichkeiten nahelegen, ist in diesem Sinn nicht allein das durch Medien, also Zeitungen, Zeitschriften oder Apparate Vermittelte. Es ist das ebenso in gewöhnlicher alltäglicher Kommunikation, im Gespräch zwischen Menschen Mitgeteilte wie das in künstlerischer Absicht, aus besonderen Impulsen der kommunikativen Bereicherung Vermittelte. Die Grenzen zwischen dem Künstlerischen und Gewöhnlichen, und das ist ein Untersuchungsgegenstand ästhetischer Theorien, sind fließend. Ästhetische Theorien sind im weiteren Verständnis Wahrnehmungstheorien und im engeren Ansätze zur sinnfälligen Kunstauffassung wie zu den Hervorbringungen der Künste an sich. Die Vermittlung zwischen einer in der Antike gebildeten, seit der Renaissance veränderten und spätestens im 18. Jahrhundert neubelebten Ästhetik und den ja immer auch als Teile der Wirklichkeit zu verstehenden künstlerischen Welten ist in ihrem historischen Prozess zu verdeutlichen.

Das Mediale als das im Allgemeinen durch Bilder, Texte und Töne, aber selbstverständlich auch durch Geräusche, Gefühle und Gerüche Vermittelte ist in den ästhetischen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien der eigentliche Gegenstand. Eine Ästhetik der Medialität oder mediale Ästhetik ist orientiert an einer Unterscheidung zwischen «Medien» als den Instrumenten, Apparaten, Datenträgern oder sonstigen Informationsmaterialien und dem, was diese Medien und eben nicht nur diese Medien medial vermitteln. Dabei ist die Unterscheidung der Bestimmungen, «womit» (Körper, Instrumente, Apparate), «wodurch» (Bilder, Texte, Laute, Gestik) und «worüber» (Inhalte) ästhetische Kommunikation sich vollzieht, zwar erheblich; jedoch ist die Wechselwirkung dieser Bestimmungen im historischen Verlauf nicht zu übersehen.

Die das Mediale vermittelnden Instanzen sind nicht ohne Bedeutung für die mediale Ästhetik. Aber durch sie ist längst nicht hinreichend die ästhetische Dimension des Medialen erfasst. Die ästhetische Dimension des Medialen liegt im Medialen selbst, in der Art, wie in der Bildenden Kunst, in der Literatur, der Musik oder Darstellenden Kunst, im Film oder in den Massenmedien Dinge oder Gefühle wahrnehmbar werden. Das Mediale ist der im jeweiligen Medium und durch die jeweilige Darstellungsform vermittelte Inhalt: der Inhalt der Novelle, des gesungenen und gespielten Liedes, der Theaterdarbietung etc. Medial ist das, was wir «diesseits» der Darbietungen, der Bücher, Leinwände, Instrumente oder Apparate wahrnehmen, was die Photographie zeigt, der Film schildert, das Computerspiel ermöglicht, das, was im Bewusstsein «ankommt».

Diese Geschichte zur Vermittlung von künstlerischen Welten und ästhetischen Theorien sammelt Eindrücke und Überlegungen, die sich mit Fragen ästhetischer Erkenntnis, ästhetischer Kompetenz und ästhetischer Kritik befassen. Der historische Prozess einer Ideologisierung des Medialen wird speziell für die vergangenen drei Jahrhunderte nachvollzogen und analog die Veränderung, die Transformation der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und des Medialitätsverständnisses beschrieben.

 

Ich danke denjenigen, die mit ihrem Rat oder wichtigen Hinweisen zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben, im Besonderen Ronja Wiechern, Ulrich Enderwitz und Burghard König.

Einleitung

Mittel des Medialen

In religiöser Kulthandlung werden Gesang, Sprechen, Tanz, Geste oder Darstellung mitunter als «Kraftträger» verstanden. Sie übernehmen die Funktion des Tragens oder Übertragens von «Kräften». Durch sie werden «Kräfte» verstärkt oder freigesetzt. Sie dienen der Bekräftigung von Erfahrungen. Doch nicht nur im Religiösen. Genauer betrachtet übernehmen sie im Alltäglichen eine vergleichbare Aufgabe. Sie verstärken Mitteilungen. Der Tanz kann religiös als Gebet verstanden werden, ekstatisch auch als Versuch der unmittelbaren Verbindung mit der Gottheit oder dem kosmischen Geschehen. Er kann als Kriegstanz, Liebestanz und Fruchtbarkeitstanz magischen Ansprüchen dienen. Als Totentanz die andere Seite des Lebens berühren. Oder einfach nur dem Vergnügen und der Unterhaltung dienen. Vergleichbar übernehmen Gesang, Geste oder theatralische Darstellung ebenso sakrale wie profane Funktionen, in schamanischen oder anderen Ekstasen, in kriegerischer oder beschwörender Absicht, im Requiem, der Totenmesse – und auch im Lustspiel oder Liebeslied.

Das Sprechen ist Teil der Beziehung des Menschen zum Sakralen, als Gebet, als Predigt, als Beichte. Die Sprüche Salomons vermitteln Weisheit. Die mythische Erzählung (Mythos: griech. «Rede») berichtet von den Anfängen und der Sphäre des Heiligen oder der Götter. – Und das Sprechen ist wesentlicher Teil des alltäglichen Miteinanders. Als «Kraftträger»? Wissenschaftler sprechen von den grundlegenden Kräften der Sprache, nicht nur der natürlichen, gesprochenen, sondern auch der künstlichen oder idiomorphen Sprache. Gesang, Tanz, Geste oder Darstellung sind ähnlich wie das Sprechen sprachliche Äußerungen. Sie übermitteln «Kräfte». Der Mensch als symbolisches Wesen (Cassirer) kommuniziert durch Zeichen. Sie bestimmen die Verständigung Einzelner, die Verständigung in Gruppen oder Gesellschaften und letztlich die weltweite Verständigung.

In der Sprachwissenschaft wird das Zeichen definiert als sprachliche Äußerung oder Teil einer sprachlichen Äußerung, die Sinn ergibt. Jedes sprachliche Zeichen habe ein Signifikat, das ist seine Bedeutung oder sein Wert (André Martinet). Und es habe einen Signifikanten, das, was seine Bedeutung bezeichnet. Das Zeichen ist ein so genanntes arbiträres Gebilde, das sich aus dem Bezeichneten und Bezeichnenden zusammensetzt. Es ist in gewisser Weise als Zeichen in sich gebrochen, eine «doppelseitige Einheit» (Martinet): Es verweist auf etwas, das es selbst nicht ist, aber medialisiert. Auch der Phänomenologe Edmund Husserl ist der Ansicht, dass jedes Zeichen ein Zeichen für etwas sei; aber dass jedes Zeichen einen «Sinn», eine «Bedeutung» habe, bestreitet er. Dennoch ist die Medialisierung die eigentliche Leistung des Zeichens: Es ist immer ein Zeichen für etwas. Indem das Zeichen auf etwas verweist, das es nicht ist, setzt es sich mit dem Bezeichneten in eine Beziehung. Die in kultischen Tänzen den Boden bestampfenden tanzenden Füße leisten einen symbolischen Akt. Die Tänze verbinden sich als magisches Handeln mit dem tatsächlichen Erwirken von Fruchtbarkeit. Der gesprochene Laut «ich» steht für die eigene Person, die im Lied miteinander verbundenen Töne für «Stimmungen». Im gesprochenen oder gesungenen Wort, in der getanzten Bewegung wird jeweils das Bezeichnete oder Gemeinte medialisiert. Das Bezeichnete oder Gemeinte erscheint medial oder – wer so will – auch virtuell als das, was es ist.

Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen Zeichen, die hervorgebracht werden, und Zeichenfunktionen, welche vorhandenen Wesen oder Gegenständen oder Handlungen zugeschrieben werden. Das Symbol ist wie das Zeichen arbiträr. Das griechische symbálein steht für das Zusammenfügen (von zwei Hälften). Das, worauf es verweist, wird medialisiert. Es wird versinnbildlicht.

Die Medialisierungen oder Zeichengebungen erfolgen jedoch nicht ausschließlich und direkt durch den menschlichen Körper oder vorhandene Gegebenheiten. Die Zeichen oder Zeichensysteme, die durch Instrumente, Maschinen, Apparate oder Geräte hervorgerufen werden, sind diesen Verständigungsformen hinzuzufügen. Medialisierungen durch Instrumente gehen in die älteste Geschichte der Menschheit zurück. Höhlenmalereien, Hieroglyphen, Rauchzeichen oder Schwirrhölzer sind hier nur einige wenige Beispiele. Visuelles wird festgehalten oder dient der Übermittlung. Schrift entsteht. Klänge und Töne erhalten kultische und kommunikative Bedeutung. Menschen erweitern ihre Verständigungsmöglichkeiten durch Instrumente. Die Geschichte dieser instrumentalen Erweiterung menschlicher Verständigung ist hinlänglich bekannt. Ihre systematische Erforschung ist durch die Verbindung von Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorien vorbereitet, aber längst nicht erschöpft. Das Problem der Zeichen, der Nachrichten oder der Information und ihrer Medialität ist in seiner Differenzierung kaum erfasst. Eine Grammatik des Medialen und ihr historischer Wandel ist weitgehend unerforschtes Terrain.

Bild und Text sind in ihrer Medialität als visuelle Zeichenformationen zu betrachten. In seiner etymologischen Bedeutung zeigt sich der Text mit dem Bild als «Gebilde» verwandt. Das lateinische texere bedeutet «weben, flechten, kunstvoll zusammenfügen». Es steht in etymologischer Beziehung mit dem griechischen tékton («Zimmermann, Baumeister») bzw. téchne für «Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit». Schreiben bedeutet etymologisch nach lat. scribere «zeichnen», auch «einritzen» oder «reißen» (vgl. engl. write). Text wie Bild dienten in ältesten Zeiten als «kunstvolle Gebilde» vorwiegend kultischen, in späteren, fortgeschrittenen aber auch meditativen oder pädagogischen Zwecken. Die Bilderverehrung (Idolatrie) in magischer Annahme eines Wesensbezuges zwischen Bild und Abgebildetem korreliert mit Bilderverbot und Bildersturm (Ikonoklasmus). In germanischer, persischer, jüdischer und islamischer Anschauung und auch im Shintoismus wird Bilderverehrung abgelehnt. Im Alten Testament heißt es: «Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser und unter der Erde ist.» (5. Mose 5,8)

Das Verhältnis zum Bild charakterisiert den Unterschied der Kunstauffassungen von Platon und Aristoteles. Anders als Aristoteles, der das darstellende Bild von der dargestellten Wirklichkeit trennt, betrachtet Platon Kunst als Mimesis, als Nachahmung oder Darstellung bzw. vergängliche Nachbildung seiender Urbilder (Wirklichkeit): Durch Nachahmung wiederholt die Kunst den Schöpfungsvorgang der sinnlichen Dinge aus ihren Urformen. Medialisierung bedeutet daher im platonischen Sinn das Nachschaffen einer Wirklichkeit, die bereits an sich Bild respektive Urbild ist. Nach aristotelischer Auffassung bedeutet Medialisieren hingegen das Hinweisen auf Wirklichkeit an sich: Wirklichkeit ist gegeben und vermittelbar. Die aristotelische Medialität des Bildes ist Erinnern (Anamnese) an Wirklichkeit selbst. Bei Platon ist Medialität ein metaphysisches «Erinnern» an die direkte, präexistente Schau der Ideen 

Die möglichst perfekte Nachahmung war allerdings über Jahrhunderte eine wesentliche Triebfeder künstlerischen Engagements. Es wurden technische Hilfsmittel entwickelt, auch Apparate, um der Wiedergabe des Gegebenen höchste Perfektion zu verleihen. Leon Battista Alberti erwähnt das «Velum», ein durchlässiges Gitter, das zwischen Künstler und seinem Gegenstand eingesetzt wird, um den Bildausschnitt zu fixieren und systematisch zu erschließen. Die Camera obscura oder «Picture-box» ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt; sie wird im 18. Jahrhundert zur Camera lucida weiterentwickelt bis hin zur Entdeckung der Photographie von Joseph-Nicéphore Niepce, Louis-Jacques Daguerre und William Henry Fox Talbot. Die Erfahrungen der Künstler und die Erkenntnisse der Wissenschaftler sind kaum voneinander zu trennen. Die Perzeptionen der Künstler, ihre Wahrnehmungen am Gegebenen, werden von optischen Einsichten der Wissenschaftler begleitet. Johannes Kepler veröffentlicht 1604 seine «Paralipomena» – oder Isaak Newton 1704 seine «Optik». Das Auge produziert Bilder, die der Geist empfängt, speichert und bewusst verarbeitet. Die Zusammenhänge von Perzeption, Apperzeption (als bewusster Wahrnehmung) und Reflexion beschäftigen die Theoretiker in den folgenden Jahrhunderten, zu denken wäre an Berkeley, Hume oder Kant. Und die Künstler reagieren auf neuere Einsichten mit veränderter Produktion.

Erst die verstärkte ästhetische Betonung der Subjektivität relativiert die Bedeutung der Mimesis. Persönliche Tagebücher, Autobiographien, Bekenntnisse, Memoiren oder das Briefschreiben verdeutlichen den engeren Erfahrungszusammenhang von subjektivem Denken und künstlerischer Tätigkeit. Sie dienen der Vergegenwärtigung, der Dokumentation, der Reflexion, der Aufklärung. In der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts nehmen sie neben zahlreichen Briefromanen eine besondere Stellung ein. Sie haben selbstverständlich eine bis in das Altertum reichende Tradition, genannt seien Xenophon, Cäsar oder Augustinus. Sie erhalten jedoch durch Rousseaus «Bekenntnisse» oder Goethes «Dichtung und Wahrheit» eine neue Bestimmung. Rousseau will in einem beispiellosen Unternehmen einen Menschen in seiner «ganzen Naturwahrheit» zeigen. Goethe will die «inneren Regungen» und die «äußern Einflüsse» in allen theoretischen und praktischen von ihm «betretenen Stufen» der Reihe nach darstellen, den Menschen in seinen «Zeitverhältnissen» erfassen. Das Höchstpersönliche wird in den allgemeinen Erkenntnisprozess einbezogen.

Speziell die Medialität des Briefs ist weitgehend bestimmt durch die Mischung aus schriftlich niedergelegten sachlichen und persönlichen Informationen, aus möglichen Illustrationen und dem Wissen um die Distanz, welches das Schreiben begleitet: Ein Bote, ein Mittler zwischen den Bestimmungsorten, wird das Schreiben überbringen. Es wird eine Distanz überwunden, wenn nicht aufgehoben im Moment des Lesens selbst, das als antizipierende Vorstellung bereits den Schreibvorgang des Absenders beeinflussen kann. Man schreibt und liest, was der andere lesen wird. Es wird erahnt, was der andere empfinden mag. Wenn auch virtuell und nicht realiter, verflüchtigt sich beim Lesen wie beim Schreiben von Briefen das Gefühl der Ferne. Der briefliche Verkehr sei das Überbleibsel eines reizenden Vermögens, das man wie ein Geizhals sorgfältig sich zu erhalten bemühe, schreibt Abbé Ferdinand Galiani, ein wichtiger und amüsanter Denker der Aufklärung, im September 1773 an Frau von Epinay: Für ihn beinhaltet der Briefwechsel eine Verlängerung der Gespräche, die einst am Kamin geführt wurden. Interessante Briefe gäbe es nur zwischen Personen, die sich vorher genau gekannt haben. Das Persönliche des Briefschreibens wird gegen den rein rationalen Geist der Aufklärung gewendet. «Die Briefe der Gelehrten», sagt Galiani, «die einander schreiben, weil sie sich dem Rufe nach kennen, werden ihren Geist zieren, aber nicht ihr Herz rühren.»

Der persönliche Stil charakterisiert einen Wechsel innerhalb der künstlerischen und im Besonderen der Musiktradition Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die persönliche Auseinandersetzung mit der individuellen Konstitution und den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird in das Werk einbezogen. Die Virtuosität des Einzelnen wird als mögliche Antwort auf psychische und soziale Bedingungen ernst genommen. Das musikalische Kunstwerk wird als autonomes Gebilde der Gedankenarbeit des Komponisten betrachtet. Dessen Interpretationen orientieren sich an einem durchgängig eigenen, unabhängigen Modell von musikalischer Wertsetzung und Wirklichkeit. Die nicht zweckgerichtete und funktional festgelegte ästhetische Freiheit ist Zielsetzung einer sich neu entwickelnden und auf den autonomen ästhetischen Genuss hinarbeitenden Form, die musikalisch beispielsweise in den Werken von Mozart und Beethoven zur Vollendung gelangt. Die Komponisten suchen das persönliche musikalische Gespräch mit ihren Zuhörern. Die musikalische Gegenwelt, die sie formulieren, erwächst aus der Dialogsituation. Sie kann auch als musikalische Antwort auf die zeitgleich literarische Bedeutung der Briefwechsel und Briefromane verstanden werden. Die persönliche Form fordert geradezu die Begegnung mit einer ebenso freien und persönlichen Form der Rezeption heraus. Die Protagonisten öffnen sich, rücken das subjektive Verständnis der Lebensverhältnisse ihrer Zeit in den Vordergrund.

Was das menschliche Gehör als Musik erreicht, ist eine Darstellungsform menschlichen Denkens. Ohne Frage schlägt sich in der Musik Denken nieder, Reflexion, sei’s in spontaner, assoziativer Form, sei’s in bewussten musikalischen Konstruktionen. Es wird von musikalischen Phantasien gesprochen. Das Denken Mozarts, seine Einfälle, Ideen, seine Variationen charakterisieren seine Musik. Authentisch hält er an seiner besonderen, persönlichen Sprache fest. Seine Musik bleibt noch im kleinsten Detail unverkennbar.

Die Musik ist mit ihrer «sukzessiven Struktur» auf einen nichtmimetischen Charakter festgelegt (de Man). Unmittelbarer als die visuellen Künste erreicht die Musik den Menschen. Die Ohren schließen sich nicht wie das Auge von selbst. Und nicht allein die Ohren «hören». Töne und Klänge werden je nach Lautstärke und Empfindsamkeit mit dem ganzen Körper wahrgenommen. Wo sie «anrühren» und «ergreifen», lassen sie die besondere ästhetische Qualität der Musik deutlich werden, ihre Gefühlsnähe oder ihre Einladung zur Selbstvergessenheit. Musik bedeutet kunstvolles Hervorrufen von Tönen und Klängen. Der vorhandene Raum und die vorhandene Zeit werden musikalisch durchwirkt. Simultane Tongebilde, Tonfolgen, Tonfärbung, Rhythmus, Dauer und Dynamik bestimmen das musikalische «Gebilde». Es erwächst ein in Zeit und Raum unter besonderen Bedingungen vergängliches Phänomen. Die Vergänglichkeit ist ein Charakteristikum der Musik. Das Verklingen und Neuschaffen der Töne erklärt ihre Suggestivkraft. Gedankenbilder, Vorstellungen, Überlegungen werden erzeugt. Versuche, das festzuhalten, was ohne Aufnahmegeräte nicht festzuhalten ist.

Die für die Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins bedeutsame Bestimmung der Musik hat der Philosoph Edmund Husserl in seinen Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein hervorgehoben. Das innere, immanente Zeitbewusstsein des Menschen folgt nach Husserl nicht der objektiv wirklichen Zeit. Es habe seine eigene Zeit, die Zeit der Erinnerung, und diese liege im «Wie ihres Erlebens» und im «Wie ihres Erscheinens». Die Zeit, in der Erlebnisse und Gewesenes erinnert werden, unterscheidet sich ganz selbstverständlich von der Zeit, in der die Dinge tatsächlich erlebt wurden. Die Erinnerungen oder Vergegenwärtigungen haben ihre besondere Zeit, eben diese immanente Zeitbewusstseinszeit. Und wie diese Erinnerungen oder Vergegenwärtigungen hat auch die Musik ihre eigene Zeit. Diese ihr eigene objektive Zeit wird nach Husserl von dem menschlichen Bewusstsein allerdings nicht wahrgenommen. Das menschliche Bewusstsein reflektiert Musik in seiner Zeit, nicht in ihrer objektiven Zeit. Wenn ein Ton erklinge, so könne die objektivierende Auffassung sich den Ton, welcher da dauert und verklingt, zum Gegenstand machen, und doch nicht die Dauer des Tons oder den Ton in seiner Dauer. Dieser als solcher sei ein Zeitobjekt. Die Tatsache, dass Zeit vergeht, während der Ton zu hören ist, und der Ton zu jedem Zeitpunkt in einer anderen Zeit gehört wird, verhindert nach Husserl das Hören des ganzen Tons. Der ganze Ton in seiner Zeit könne nur durch Objektivierung im Bewusstsein rekonstruiert werden.

Das Mediale in der Musik ist gekennzeichnet durch die Art und Weise, wie mit einzelnen Tönen verfahren wird. Der Naturlaut wird im Ton gewissermaßen kultiviert. Der Ton ist gegenüber dem Naturlaut normiert. Er entspricht symbolischer Konvention, ist unabdingbares Element einer musikalischen Grammatik. Töne sind messbar, in Zahlen auszudrücken – oder in Noten. Die Unmittelbarkeit der Töne, jene irrationale Größe der Musikempfindung, ist mathematisch bestimmbar, errechenbar. Die Normierung von Tönen und Tongebilden und die Notierung ganzer Kompositionen entsprechen dem Versuch, die Wiederholung musikalischer Werke zu ermöglichen. Dennoch gleicht keine musikalische Darbietung einer anderen. Die Ästhetik der Musik entspricht der Ästhetik des Spiels. Sie ist, wo sie nicht in reproduzierter Form wahrgenommen wird, gebunden an die Live-Darbietung, an die Räumlichkeiten, die Akustik und die jeweilige Konstitution und Intention derjenigen, die sie hervorbringen.

Auch das Kino ist ein Raum, in dem Musik, nun aber kombiniert mit Bildeindrücken, Bedeutung annimmt. Die Medialität des Films ist wie die des Theaters charakterisierbar durch ihre audiovisuelle Beschaffenheit. Dass der Film dennoch der Musik oder dem Roman näherstehe als dem Theater, wird von verschiedenen Filmwissenschaftlern mit durchaus überzeugender Argumentation behauptet. Die Sukzession der filmischen Einstellungen, das Verhältnis von Nahaufnahmen, Halbtotalen und Totalen, neben der Funktion der Musik im Tonfilm, unterscheiden den Film deutlich vom Theater, das im Allgemeinen stets nur einen Blick auf das Ganze liefert. Jean-Paul Sartre hat sich zu der vergleichbaren Sprache von Film und Roman in der Aufsatzsammlung «Mythos und Realität des Theaters» geäußert. Er betont die in Film und Roman gleichermaßen erwirkte Solidarität, ja Komplizenschaft mit gewissen Figuren. Es komme zur Übertragung von Bewusstseinsvorgängen. Zur Zweideutigkeit der Medialität des Films erwähnt er die Bedeutung des Kameraauges, das sich zwischen den Zuschauer und den gesehenen Gegenstand schiebe. Es schaffe zugleich Distanz und Nähe. Man könne die agierenden Personen sehen und im nächsten Augenblick in einer anderen Kameraeinstellung direkt die Dinge aus der Sichtweise eines Agierenden selbst. Es komme zu einem Hin und Her, und für einen Moment identifiziere man sich mit der Person, die im Film sieht.

Der Roman beschreibt und erzeugt Vorstellungen, um deren Visualisierung sich der Film mit eigener Sprache bemüht. Siegfried Kracauer hat dieses Sichtbarmachen von Vorstellungen, die «enthüllende Kraft» als eine der wichtigsten Kapazitäten des Films hervorgehoben. Dem «seelisch-geistigen Kontinuum» (Kracauer) des Romans kann sich der Film jedoch nicht unmittelbar angleichen. Das Darstellungsmittel der Literatur ist die geschriebene Sprache. Sie hat ihre eigenen Zeiten und Stile. Transportiert werden Erfahrungen, Handlungen, Gedanken und Gedankenwelten. Im Film waltet das «Kameraauge». Die Darstellungsmittel des Films sind zunächst die bewegten photographischen Bilder, hinzu kommen Musik und gesprochene Sprache, manchmal auch Text. In gewisser Weise ist der Film in der Lage, die Vorstellungen, die beim Lesen oder Schreiben erzeugt werden, zu realisieren. Die vielzitierte Kamera-Realität hat demnach weniger zu tun mit den äußeren als mehr mit den inneren Gegebenheiten, den vom Text erzeugten Bildern oder den irgendwie das tatsächlich Erlebte oder Erfahrene nachlebenden, vergegenwärtigenden Vorstellungen. Jede Kameraeinstellung entspringt mehr oder weniger bewussten gedanklichen Entscheidungen des Subjekts.

Wie die Literatur und die Musik hat auch der Film seine «eigene», von herkömmlicher Zeiterfahrung geschiedene Zeit. Auffällig ist die selektive Form der Präsentation von Zeiten, die im Film, aber auch in der Literatur an bestimmte Szenen und Ereignisse geknüpft sind. Szenen können einander abwechseln, ohne tatsächlich zeitlich aufeinander folgen zu müssen. Zeitsprünge erhalten im Film ein besonderes ästhetisches Gewicht. Sie bestimmen seinen Rhythmus. Aber sie schaffen auch Vorstellungslücken, die der Rezipient «auffüllen» muss, um wesentliche Handlungsstränge nicht außer Acht zu lassen. Dabei sind die Zeitunterschiede zwischen einzelnen Szenen manchmal beachtlich. Der Film erstellt eine Zeitcollage von vorgegebenen zeitlichen Abläufen und ist in der Regel darum bemüht, diese Collage als in sich geschlossenes, kontinuierliches Ganzes vorzuführen. Ernst Iros in «Wesen und Dramaturgie des Films» fordert, dass ein «zeitliches Kontinuitätsgefühl» ausgelöst werden müsse. Das heißt, die kollagierten Szenen sollten einer ihnen eigenen Kausalität oder Kohärenz folgen. Die Handlung werde dadurch mit Blick auf das Ganze dynamisch vorangetrieben. Das atmosphärische Gefühl, das durch sie vermittelt wird, sei ein Bewegungsgefühl. Selbst in langen Einstellungen ohne Bewegung könne das Medium dieses Bewegungsgefühl bewirken, als ein Gefühl der Erwartung, der inneren Spannung auf das, was kommt.

Filmkunst ist für Iros epische Kunst, deren Aufgabe es ganz im Sinne Hegels sei, Geist und Seele in aller Deutlichkeit an der Oberfläche zur Erscheinung zu bringen. Was die Einfühlungslehren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ihrem theoretischen Gegenstand erklärt haben, die Virtualität des «einsamen Seelenlebens», soll offensichtlich filmtechnisch in Bilder und Töne verwandelt werden. Das ist weniger ein impressionistischer denn ein expressionistischer Vorgang. Weniger die dokumentierende Wiedergabe des Gegebenen als Gegebenem ist in der Filmkunst von Bedeutung. Vordringlich sind es Vorstellungen, Gedanken, Träume und Phantasien, die in den Filmkunstwerken zur Erscheinung gebracht werden.

Wer sich mit Wirklichkeit befasst, nimmt gestaltend auf sie Zugriff und medialisiert sie, in den Vorstellungen wie in allen Darstellungsvarianten. Die Dramaturgie dieser Gestaltung des Wirklichen folgt im Allgemeinen den Ansprüchen der Objektivierung oder Fiktionalisierung. Die Dramaturgie des Medialen ist angelegt in fast allen Formen der Vermittlung oder Übermittlung. Wird Geschehenes, Erlebtes, Gedankliches wiedergegeben, geschieht dies allgemeiner mit Rücksicht auf die den Erlebnissen oder Geschehnissen eigene Struktur. Auch die Nachricht von bestimmten Ereignissen oder der Bericht über das, was sich ereignet hat, sind in sich bestimmt durch die Relevanz oder die Dramatik des Wiedergegebenen. Die Zuspitzung, die das Geschehen zum Ereignis macht, oder das Besondere des Erlebnisses sind von dramaturgischer Bedeutung. Dramaturgische Vorgänge zu analysieren bedeutet, die schematische Konstruktion und das vorhandene Kalkül ästhetischer Prozesse zu erörtern. Es gilt, den transzendentalen Bereich des ästhetischen Gefüges zu erschließen bzw. die in der Konstruktion des ästhetischen Ganzen angelegten Merkmale generativ zu ermitteln, nicht unähnlich im Übrigen den «grammatischen Transformationen», wie sie schon Noam Chomsky vorgesehen hat.

Die Theoriebildung einer universellen Grammatik natürlicher oder «künstlicher» Sprachen reicht in das 17. Jahrhundert zurück. Der Phänomenologe Edmund Husserl erweitert sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts generell durch eine Grammatik der Erscheinungen. Er entwickelt eine Theorie der Bewusstseinsmedialität, von der aus parallele Untersuchungen der Wort-, Bühnen- und Filmkunst, der Musik, der Bildenden Künste und letztlich auch der Computerkünste methodisch ableitbar werden. Im Zentrum der «Logischen Untersuchungen» steht die «Erlebniseinheit von Zeichen und Bezeichnetem», von Ausdruck und Bedeutung oder auch von Bedeutung und gegenständlicher Beziehung. Phänomenologische «Einheitsmomente» vermitteln zwischen der Differenz von Gegebenem, Ausdruck und Bedeutung. Die Verständnisleistung des Bewusstseins (Apperzeption), in der sich das Bedeuten eines Zeichens vollzieht, wird vordringlicher Untersuchungsgegenstand. Um verstanden zu werden, müssen die Gegenstände oder Vorgänge im Bewusstsein offenbar werden. Sie ‹manifestieren› sich im Bewusstsein, ähnlich wie sie die Künste medialisieren, davon abgesehen, dass die Manifestationen im Bewusstsein wiederum auch die Medialisierungen der Künste mitbestimmen.

Die universelle Grammatik intendiert die Untersuchung des Apriorischen der Sprache. Das Apriorische der Sprache setzt sich als kulturell Allgemeines in seinen Bestimmungen über sämtliche individuellen, sozialen oder nationalen Eigenheiten und Grenzen hinweg. Insoweit wird seine Untersuchung übertragbar auf sämtliche sprachliche Äußerungen, also auch die der Künste und vielleicht auch die der Wissenschaften. Der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure hatte einen entscheidenden Anstoß dazu formuliert, den Identitätscharakter eines existenten «Wesens» zu studieren, eines Buchstabens, eines Worts oder einer «mythischen Person». Er hat damit nicht nur der ästhetischen Theorie des 20. Jahrhunderts, sondern auch der komplexen Problematisierung des Medialen einen bedeutsamen Impuls gegeben.

Der grundlegende Aspekt der Problematisierung wird nach aristotelischer Auffassung als Hylemorphismus bezeichnet. Gemeint ist eine Untersuchung des Medialen, die davon ausgeht, dass all das körperlich Gegebene wesenhaft aus Stoff und Form besteht. Die Herausbildung von Ideen wie die Schaffung von Kunstwerken gehorcht dieser wesenhaften Bestimmung der Hyle, des Materiellen, dass es, wie es auch jeweils erscheint, immer auch in Formen erscheint. Diese Verbindung von Form (eidos) und Materie (hýle) charakterisiert auch den uranfänglichen, «vorprädikativen» oder primordialen Zustand der Erzeugung von Ideen. In seiner Kunsttheorie hat Herbert Read die Bedeutung der Formen des Unbekannten für die Kunst und mithin für die Ideenbildung erörtert. Den Veränderungen von Materie und Form sind die Veränderungen der Ideen angepasst. Aristoteles sagt: «Indem aber das Seiende (ón) zweierlei ist, so geht alles aus dem, was nur dem Vermögen nach (dynámei) ist, in das der Wirklichkeit nach (energeía) Seiende über, z. B. aus dem Weißen dem Vermögen nach in das Weiße der Wirklichkeit nach.» (Metaphysik)

Die Idee ist selbstverständlich ganz im Sinne der aristotelischen Kritik nicht die Ursache der sinnlichen Dinge. Doch es ist von alters her nicht anders zu betrachten, als dass Menschen mit ihren Ideen ihre Umwelt und ihr Leben gestalten, ob nun zweckfrei oder zweckbestimmt. Die Gestaltung der Verhältnisse sagt im Detail wie im Ganzen etwas aus über die Verhältnisse selbst. Die Ideen können nach Aristoteles als Wesenheiten der Dinge nicht getrennt von diesen existieren. Sie setzen sich nicht ontologisch der sinnlichen Welt voraus. Die Idee ist Ausdruck der im menschlichen Körper vollzogenen Geistesbewegung. Sie ist das Produkt geistiger Tätigkeit. Und auch in jenen Momenten, in denen sie tatsächlich unverhofft als Idee in Erscheinung tritt, wissen wir, dass ihre Entstehung nicht unabhängig ist von vorhergegangenen Wahrnehmungs- und Reflexionsvorgängen, von Entscheidungen, die sie wie auch immer hervorgebracht haben. Die Idee ist in den Veränderungen des Gegebenen angelegt – in den möglichen und nicht möglichen Veränderungen. Die Idee ist Teil der Entscheidung zur Formung eines zweckfreien oder zweckbestimmten, realisierten oder nicht realisierten, immer aber möglichen und mit Bedeutung versehenen Produkts.

In gewisser Weise sind fast sämtlichen Naturdingen oder Vorgängen Bedeutungen beizumessen. Nicht erst in den als animistisch bezeichneten Verhältnissen der Menschheitsentwicklung findet Sinndeutung des Gegebenen statt. Der Wind in den Zweigen, Wolkenformationen am Himmel oder das Rauschen des Bachs erlangen Bedeutungen. Allgemeiner gesehen kann alles, was dem Menschen begegnet, was er hört, sieht, riecht, schmeckt oder fühlt, gedeutet, als Information begriffen und in Mitteilungen umgewandelt werden. Und selbstverständlich können diese Mitteillungen und ihre Umwandlung in erneuten Mitteilungen technisch verstärkt und betrieben werden. Ohne Frage hat für das 20. Jahrhundert die Elektrizität im Bereich kommunikativer Prozesse der Übermittlung von Informationen eine exklusive Stellung eingenommen. Und gewiss haben die photographischen Bilder menschliches Denken und ästhetisches Denken auf entscheidende Weise verändert: Sie sind zu betrachten als dokumentierende sprachliche Information im Hinblick auf das Gegebene. Aber sie sind auch zu betrachten als ein ästhetischer, subjektiver Zugriff auf mögliche Sichtweisen des Gegebenen, als eine mehr oder weniger zufällige Auswahl von Rahmenbedingungen eines festgehaltenen Blicks auf das Sichtbare. Die Selektion bestimmt ihre Aussage, ihre Stimmung, ihre «Bedeutung».

Virtuosität als die Kunstfertigkeit im Umgang mit ästhetischen Gebilden ist geprägt durch die Marke der Veränderung. Eine womöglich schöne Landschaft als schön zu empfinden bedarf bereits eines kleinen Moments des ästhetischen Zugangs, der veränderten Wahrnehmung des Gegebenen, indem es mit subjektivem Empfinden verbunden und als schön erfahren wird. Die zeichnerische Wiedergabe dieser Landschaft ist bestimmt durch die subjektiven Techniken, die Fertigkeit und den besonderen Blick für das als schön Empfundene. Auch die photographische Wiedergabe beinhaltet einen Zugriff, eine verändernde Bestimmung auf das beispielsweise als Landschaft Gegebene. Festgehalten wird das Attribut des Besonderen als das Schöne an dieser Landschaft. Virtuosität beinhaltet in diesem Fall den besonderen ästhetischen Blick auf das Gegebene und selbstverständlich die technische Befähigung. Es ist – so gesehen – von Virtuosität in zweifacher Hinsicht zu sprechen: von der bereits vorhandenen Virtuosität des Blicks auf das Gegebene, einer eher ideell inhaltlichen Bestimmung der Virtuosität – und von formaler Virtuosität.

Virtuosität entsteht durch Verarbeitung von Ideen und Empfindungen. Indem, um beim Landschaftsbeispiel zu bleiben, die Landschaft als schön empfunden wird, ist sie durch die subjektive Idee des Schönen geprägt. Auch das Bild einer Landschaft, die nicht in der Umgebung des Subjekts vorhanden ist, sondern in seinen Vorstellungen, kann von dieser Virtuosität der Idee des Schönen angerührt sein. Sie scheint eine Grundbedingung der ästhetischen Wahrnehmungen in inneren und äußeren Verhältnissen zu sein. Die Art und Weise, wie die äußeren Gegenstände und Personen betrachtet werden oder wie sie im Bewusstsein zur Vorstellung gelangen, bestimmt ihren ästhetischen Wert, auch unabhängig von den in ihnen bereits angelegten ästhetischen Formationen. Somit scheint jede Ästhetik entscheidend durch Prozesse der Wertsetzung bestimmt – und zwar der als objektiv geltend gemachten Wertsetzung des als schön Gegebenen oder der als subjektiv geltend gemachten Wertsetzung des als schön Empfundenen. Die Wertsetzung der Veränderung, der Virtuosität, ist als ebenso objektiv wie subjektiv erfahrbare Wertsetzung eines ästhetischen Vorgangs zu verstehen. Sie verdeutlicht, dass eine andere Lust als die der Veränderung selbst in der Ästhetik des Verweilens am Schönen ruht, ein Moment des Festhaltens an dem unvermeidlich in jedem Moment Verlorenen, ein Moment des Festhaltens an Unvergänglichkeit selbst.

Die Sprache des Eigentlichen ist die Sprache der Unvergänglichkeit. Wer das «Eigentliche» eines Bildes erkannt zu haben glaubt, will es zugleich bestimmbar machen für das Ewige. Der Charakter des ästhetischen Produkts wird festgelegt als etwas Unveränderliches oder gar Unabänderliches. Das interesselose Wohlgefallen am Ästhetischen ist jedoch niemals wirklich interesselos. Sophistisch betrachtet bekundet schon die Behauptung der Interesselosigkeit Interesse. Kants unmittelbare Ästhetik ist metaphysisch in dem Sinn, dass sie objektive Bedingungen ästhetischer Rezeption formuliert. Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche. Etwas Regel- und Prinzipienloses bestimmt Kants ästhetische Auffassung. Sie ist ohne Begriff, befreit von Verstand – und vielleicht sogar von Vernunft. Der Protest gegen die Aufklärung durch den Sturm und Drang schimmert auch in dieser Ästhetik durch. Es ist zugleich ein Protest gegen die rational verwalteten Verhältnisse und eine rein rational bestimmte Kunst. Aber er scheint jeder Irrationalität des Gefühls ausgeliefert. Zwar wird die ästhetische Urteilskraft in einem entscheidenden Punkt von Regeln und Prinzipien, die sie verwalten, befreit. Die Conditio sine qua non der ästhetischen Wahrnehmung und Produktion jedoch scheint etwas zu sein, von dem das ästhetische Subjekt nichts wissen kann.

Die Entwicklung ästhetischer Techniken und des ästhetisch Medialen ist von dieser ambivalenten Denkposition betroffen. Der Lustgarten als medialästhetisches Gebilde ist gegenüber der urwüchsigen Landschaft ein bereits künstlicher Raum, ein virtuelles Gebilde des Amüsements. Er entspringt einer Operation, einem Zugriff auf Naturverhältnisse. Doch selbst als durchweg ästhetisch organisiertes Gebilde ist nicht allein die Lust an seiner Komposition das ästhetische Ziel, sondern die Lust am ästhetischen Erleben selbst, am Entdecken von Details, an Einfühlung, an Inspiration. Die Virtuosität der Komposition erscheint zu verschiedenen Jahreszeiten, an Sonnen- oder Regentagen in einem anderen Licht. Das begehbare Kunstwerk ist ganz der Naturwahrnehmung zugedacht, die in ihm die unterschiedlichsten Wirkungen und Gefühle zu erzeugen vermag. Auch der verdunkelte Raum des Kinos lockt die wahrnehmungsbereiten Einzelnen in künstlich zusammengestellte und wiedergegebene Naturverhältnisse. Von passivem Zuschauerverhalten kann im Grunde kaum gesprochen werden. Allerdings werden sie vorrangig, anders als im Lustgarten, wenig in ihrer Körperbewegung angeregt, sondern ganz in ihrer Bewusstseinshaltung. Der Film zielt auf das Bewusstsein, das dem Zuschauer die Körperlichkeit suggeriert durch Identifikation mit Akteuren und durch alle möglichen Formen des Fürwahrhaltens.

Es ist nicht anders zu verstehen: Medien sind im heutigen Wortsinn weitgehend als Massenmedien bestimmt durch die Wirkung der technischen Apparate, die das Massenpublikum mit ganz unterschiedlichen Darstellungsgehalten versorgen. Zwar sind klassisch gesehen auch Kunst und Sprache Medien, nämlich Mittel der Herstellung von Medialität. Doch haben eben diese Medien, wo sie ohne Anwendung der Apparate zur Geltung gelangen, eine andere als die durch technische Distributionsmedien erzeugte Ästhetik. Ästhetik ist in ihrem Sinn gebunden an ihre jeweilige Produktionsform. Ein Foto wird anders produziert als ein Ölgemälde, ein Film anders als ein Roman, eine Zeitungsseite anders als ein Fernsehprogramm, ein Werbeprospekt oder eine Website. Dabei ist das «Medium» per se noch keine Kunst. Es ist Teil der Kunstproduktion oder technischen Kommunikation. Die operationale Kapazität als Kunst wird im Werk sichtbar, dem medialen Produkt. Und die Medialität dieses Produkts ist dadurch bestimmt, dass in ihr etwas zur Aussage gelangt. Das Kunstwerk erlangt durch seine spezifische Medialität seine Bedeutung. Die Zielsetzung der Virtuosität in jenem Sinn, wie sie spätestens die Kunst seit der Renaissance prägt, gilt dem Hervorbringen der künstlerischen Idee als Bedeutung, in deren Dienst letztlich auch die Verfeinerung der Vermittlungstechniken tritt, von den körperbezogenen Darstellungstechniken, frühesten kalligraphischen Mitteilungen oder den ersten Drucktechniken, den Stichen und Radierungen, bis hin zu den neuesten und im Weiteren vorstellbaren technologischen Entwicklungen.

Man könnte Kunst generell als eine Form des subjektiven «entweder – oder» mit Bezug auf die Bedeutung begreifen. Wie deutlich wurde, sind selbst die mimetischen Künste und auch die Photographie von den subjektiven Selektionsvorgängen des Bewusstseins nicht zu lösen. Allein die Wahl des Bildausschnitts und die Komposition entsprechen einem bewussten Zugriff auf die vorhandenen Verhältnisse. Ob dieser Zugriff auf die Verhältnisse immer gelungen ist, ist eine andere Frage. Entscheidend in jedem Fall eines künstlerischen Zugriffs auf die Verhältnisse ist im Grunde jene kleine Differenz, durch die Marcel Duchamp seine Readymades zu Kunstwerken erklärte: Christian Kellerer hat in seiner Kunsttheorie das Beispiel des Objet trouvé verglichen mit dem kindlichen Sammeln. Kinder sammelten alles, was ihnen auffällt. Und würde man sie nach dem Wert dieser Dinge fragen, bekäme man zur Antwort: weil es so schön glänzt, weil es so rund ist, weil es so spitz ist oder so komisch aussieht. Das Kind übereignet dem Gegenstand einen anderen Charakter. Er wird zu etwas Kunstschönem erklärt. Die ästhetisierende Idee entsteht im Augenblick der Relevanz, in dem Augenblick, in dem der Gegenstand sich gedanklich für das Subjekt in einen besonderen Gegenstand verwandelt, das Subjekt für ihn eine besondere Vorliebe entwickelt.

Die besondere Vorliebe für eine Sache ist einem ästhetischen Impuls gleichzusetzen, einer Wertschätzung. Diese Wertschätzung löst im Falle der Readymades das Gewöhnliche aus seiner gewöhnlichen Verankerung. Der favorisierte Gegenstand wird vom Subjekt mit einer wie auch immer gearteten anderen Bedeutung aufgeladen. Als Andy Warhol 1964 seinen berühmten Film «The Empire» – wer so will – als filmisches Readymade herstellte, war die kleine ästhetische Idee dieses Films schließlich die außergewöhnliche Wiedergabe eines ganz gewöhnlichen Vorgangs. Indem er seine Kamera auf ein Stativ vor sein Fenster stellte und im Morgengrauen auf das Empire State Building ausrichtete, schuf er in naturalistischer Echtzeit tatsächlich ein ebenso romantisches wie impressionistisches Filmwerk, als dessen dramaturgische Zuspitzung in erster Hinsicht die Veränderung der Lichtverhältnisse anzusehen ist. Wenngleich bereits die Beschreibung der filmischen Idee von der Betrachtung dieses Films in seiner ganzen Länge gegebenenfalls Abstand nehmen lässt, so bringt Andy Warhol mit diesem Filmwerk doch etwas brisant Künstlerisches zum Ausdruck. In jenem ganzen Film wird durchgängig und ohne Schnitte die ästhetische Differenz eines kameratechnisch inszenierten Blicks vorgeführt.

Es ist keine Frage, dass virtuose Ideen durch neue Technologien und technische Erfindungen im Kunstbereich angeregt und in vielleicht bahnbrechender Form ausgestaltet werden können. Jedoch sollte nichts darüber hinwegtäuschen, dass hochtechnologische Kunstprodukte immer auch an aus Traditionen abgeleitete und individualgeschichtlich entwickelte Fähigkeiten geknüpft sind. Der Regisseur Andrej Tarkowskij hat es in seinen Aufzeichnungen bedauert, dass in den ersten Jahren der Kinematographen die eigentlich künstlerische Qualität dieses damals neuen Mediums nicht erkannt wurde. Man habe im Verlauf von zwei Jahrzehnten so ungefähr die gesamte Weltliteratur und eine große Menge von Theaterstoffen verfilmt. Eine spezifisch auf den Film ausgerichtete Kunst – Tarkowskij spricht von «Autorenfilmkunst» – hat sich tatsächlich erst viel später entwickelt. Wobei, anders als Tarkowskij es betont, diese eigenständige Herausbildung der Filmkunst nicht ohne Rücksicht auf die Prinzipien der angrenzenden Künste vorangekommen ist. Das gilt sicherlich auch für die Produkte neuester Technologien, die im Übrigen zurzeit immer noch hauptsächlich auf Bildschirmen oder Projektionen, also weitgehend auf Bildern, Texten und Tönen basieren. Das Internet und so genannte virtuelle Realitäten sind in diesem Sinn nicht tatsächlich neue technische Entwicklungen wie seinerzeit die Photographie und das Kino. Der moderne Computer ist in der Folge eher ein Verarbeitungs- und Verbreitungsmedium früherer Errungenschaften der Medientechnik. Photographien, Filme, Texte, Töne und Graphiken lassen sich beliebig verarbeiten und neu gestalten, ebenso wie auf der Basis photographischer und filmischer Erfahrungen vollkommen animierte Bild- und Filmwelten geschaffen werden können. Diese Form der Bearbeitung hat bisher in einem eher bescheidenen Maß wiederum das Kino verändert wie auch die Videokunst und das Fernsehen. Aber es wurde, abgesehen von den Möglichkeiten des Netzes, bislang keine geeignete Präsentationsform für die in den digitalen Medien angelegten künstlerischen Perspektiven entwickelt. Und wenn dann tatsächlich eines Tages die virtuellen Körper und Gestalten in den menschlichen Lebensräumen unabhängig von Bildschirmen und Leinwänden zur Erscheinung gelangen, wäre man, wie einst Béla Balázs mit aller Berechtigung lakonisch bemerkt hat, künstlerisch ja auch wieder auf der Stufe des Theaters.