Das Buch der Sünden
Historischer Roman
Für Gunnar,
der viel zu früh gegangen ist.
Ich bezeuge allen,
die da hören die Worte der Weissagung dieses Buches:
Wenn jemand etwas zu diesen Dingen hinzufügt,
so wird Gott zusetzen auf ihn die Plagen,
die in diesem Buch geschrieben stehen.
Und wenn jemand etwas wegnimmt
von den Worten des Buches dieser Weissagung,
so wird Gott wegnehmen seinen Teil vom Baum des Lebens
und von der heiligen Stadt,
und von den Dingen, die in diesem Buch geschrieben stehen.
Offenbarung des Johannes 22, 18 – 19
TEIL I
Ostern 845
Und ich hörte eine laute Stimme aus dem Tempel,
die sprach zu den sieben Engeln:
Geht hin und gießt die sieben Schalen
des Zornes Gottes auf die Erde!
Und der erste ging hin und goss seine Schale aus auf die Erde;
und es ward ein böses und schmerzhaftes Geschwür
an den Menschen, die das Malzeichen des Tieres hatten
und die sein Bild anbeteten.
Offenbarung des Johannes 16, 1 – 2
Die Normannen brachten den Tod nach Paris.
Odo hatte Angst – so große Angst wie niemals zuvor in seinem Leben. Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte der achtjährige Junge die Steintreppe zum Wehrgang hinauf.
Die Nachricht, dass der Däne Ragnar Loðbrœk mit einer Flotte von einhundertundzwanzig Drachenschiffen gegen die Seineinsel vorrückte, hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Auf den Stadtmauern drängten sich Hunderte Soldaten und Bürger. Hier oben stieß Odo endlich auf seinen Vater Siegfried von Lutetia, den Grafen der Stadt. Siegfried brüllte den Menschen Kommandos zu und verschaffte sich mit rudernden Armen Platz. Seine Soldaten, die mit Schilden, Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, wirkten ratlos und verunsichert.
Der Junge folgte seinem Vater, der mit versteinertem Gesicht durch die panische Menschenmenge stürmte. Viele Bürger hatten sich bereits für das Osterfest herausgeputzt, das die Stadt am morgigen Sonntag feiern wollte. Immer wieder war Odo versucht innezuhalten, um sich zum Rand der Mauer hochheben zu lassen. Er musste sehen, was sich am gegenüberliegenden Flussufer abspielte. Es schien grauenvoll zu sein.
Wortfetzen drangen an seine Ohren. «Heiden, Mörder, Gottlose, Brandschatzer», riefen die aufgebrachten Menschen.
Und immer wieder: «Tod! Tod! Tod! O Gott, Allmächtiger – die Normannen, die Pagani, die Heiden, sie bringen den Tod!»
Die Luft war erfüllt von Brandgeruch.
Odo rannte weiter. Er durfte nicht zurückbleiben und seinen Vater im Gewühl verlieren. Erst als der Graf den Eingang zum Turm oberhalb der südlichen Brücke erreichte, hielt er an, um nach ihm zu schauen. Er packte den Jungen am Handgelenk und zog ihn hinter sich her in das finstere Gemäuer. Über eine Wendeltreppe kamen sie auf das runde, von Zinnen umgebene Plateau des höchsten Wachturms der Stadt. Hier trafen sie auf Männer, deren Kleidung verriet, dass sie zu den Befehlshabern der Stadt gehörten.
Siegfried wandte sich sogleich an einen dicken, rotwangigen Mann, der das Eintreffen des Grafen scheinbar gleichgültig zur Kenntnis nahm. Der Mann mit dem kugelrunden Bauch hieß Ratpot. Er war Siegfrieds Stellvertreter, der zweite Befehlshaber der Stadt. Ein linkischer Kerl mit verschlagenem Blick, von dem man hinter vorgehaltener Hand sagte, er warte nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um Siegfried aus seinem Amte zu drängen.
Während die Männer beratschlagten, wagte sich Odo bis an den Rand des Turms. Der Ausblick raubte ihm den Atem. Von Osten her floss der große Strom, die Seine, an fruchtbaren Äckern und Weinbergen vorbei. Die Wasserfläche glitzerte geheimnisvoll im Widerschein der am Horizont blutrot untergehenden Sonne.
Da die Mauern hier oben niedriger waren als am Wehrgang, reckte Odo sich auf die Zehenspitzen und schob seinen Kopf über die Brüstung – und dann sah er den Grund für die Panik.
Tausende Krieger waren auf Drachenschiffen von Norden her gekommen, um Tod und Verderben über die Stadt zu bringen, deren strategische Bedeutung darin lag, dass über Paris der für das westfränkische Reich lebenswichtige Nord-Süd-Verkehr abgewickelt wurde.
Die Schiffe hatten am gegenüberliegenden Ufer festgemacht. Die Krieger wüteten in der Vorstadt und erschlugen jeden Menschen – egal ob Mann, Frau oder Kind –, der ihnen vor die Schwerter und Äxte kam. Die Gassen waren mit Leichen übersät; die Schreie der Sterbenden drangen bis zu Odo hinauf.
Aus den Häusern quoll schwarzer Rauch. Flammen durchschlugen die Dächer.
Die Vorstadt, in der die arme Landbevölkerung lebte, war nicht wie die Insel durch Mauern geschützt. Daher konnten die angreifenden Horden ohne Gegenwehr eindringen. Die Außenposten des Heeres hatten sich auf die Seineinsel zurückgezogen, als sie die Flotte der Barbaren bemerkt hatten. Man hatte die Stadttore geschlossen und die Menschen jenseits der Mauern ihrem Schicksal überlassen.
Als der Junge ganz in der Nähe gellende Schreie vernahm, schob er sich weiter zwischen den Zinnen hindurch, bis er die Brücke im Blick hatte, unter der die Seine gurgelnd und glucksend die Felsen umspülte. Dutzende Vorstadtbewohner rannten wie eine von Wölfen gehetzte Schafherde über die Südbrücke – direkt in eine tödliche Falle. Immer mehr Menschen stürmten gegen das massive Eichenholztor an. Diejenigen, die als Erste das Tor erreichten, wurden von den nachrückenden Massen zerquetscht. Einige konnten rechtzeitig von der Brücke springen, doch sie wurden von den Fluten der Seine mitgerissen und ertranken. Der Angriff hatte eine Massenpanik ausgelöst, die mehr Opfer forderte als die Schwerter der wilden Horden.
Odo konnte nicht begreifen, was er sah. Der Anblick der Menschenmenge, die sich in Todesangst gegenseitig umbrachte, überstieg alles, was der Achtjährige bisher gesehen hatte.
Unterdessen trieben die Angreifer in der Vorstadt etliche Männer zusammen, die sie hinunter zum Flussufer drängten. Tatenlos mussten die Soldaten auf der anderen Flussseite vom Turm und den Wehrgängen aus beobachten, wie man die Gefangenen an eilig errichteten Galgen aufhängte. Unter dem Gejohle und höhnischen Gelächter der Angreifer starben Dutzende Männer.
Eine schwere Hand legte sich auf Odos Schulter. Siegfried zog seinen Sohn mit einem Ruck von der Brüstung fort. Er kniete vor ihm nieder und schaute ihm fest in die Augen. Das Gesicht des Grafen war von Sorgenfalten zerfurcht.
«Was sind das für Krieger?», fragte Odo.
Siegfrieds Blick wurde hart. «Sie stammen aus Ländern, die jenseits des großen Nordmeeres liegen. Man nennt sie Normannen, Männer des Nordens. Es sind blutrünstige Barbaren. Sie haben auch unsere Klöster Rouen und Jumièges geplündert. Aber …» Er schüttelte verbittert den Kopf. «Wir haben ihren Mut unterschätzt. Wir dachten, diese Heiden könnten sich nur an wehrlosen Mönchen vergreifen. Niemals hätten wir geglaubt, dass sie so tief ins Landesinnere eindringen und unsere Stadt angreifen würden.»
«Warum töten sie die Menschen?»
«Weil … weil sie uns Christen ihrem Gott opfern wollen.»
«Aber es gibt doch nur einen Gott, den Heiligen Vater.»
«Ja, sicher», erwiderte Siegfried aufgebracht. «Aber die Heiden glauben an einen Götzen.»
«An welchen?»
«Sie nennen diesen Teufel Odin.»
«Werden sie auch uns aufhängen für diesen Odin?», entgegnete Odo aufgeregt.
Siegfried presste die Lippen zusammen. «Nein. Unsere Wehranlagen werden dem Ansturm standhalten, ganz sicher.»
«Und unsere Soldaten sind sehr stark, oder?»
«Ja, die Soldaten unseres Königs sind die stärksten.»
Der Graf rief einen seiner Männer herbei und befahl ihm, Odo nach Hause zu begleiten. Bevor sie den Wachturm verließen, drehte Odo sich noch einmal nach seinem Vater um. Er sah, wie Siegfried erregt auf Ratpot und die anderen Heeresführer einredete.
Außer sich vor Wut, rief Siegfried: «Was haben diese Kerle vor? Sie erschlagen zahnlose Bauern und alte Frauen, von denen sie nicht mehr als rostige Spaten und Nägel rauben können. Warum greifen sie uns nicht an? Sie müssten doch wissen, dass die Schätze, auf die sie es abgesehen haben, in unserer Stadt sind.»
«Vielleicht wollen sie uns aushungern», warf einer der Soldaten ein.
«Diese Barbaren sind Feldkämpfer, keine Belagerer», entgegnete Siegfried. «Nein, da steckt etwas anderes dahinter.»
Am Morgen nach dem ersten Angriff trat Alexandra noch vor Sonnenaufgang mit einer Kerze an das Bett ihres einzigen Kindes. Sie strich Odo zärtlich über die Stirn. Als sie sah, dass er erwachte, küsste sie ihn auf die Wange und flüsterte: «Ich liebe dich, mein Junge.»
Odo öffnete die Augen. «Wo ist Vater?»
«Er hat die ganze Nacht mit seinen Männern beraten.»
«Werden diese Normannen uns alle töten?»
Alexandra bemühte sich um ein Lächeln und sagte: «Nein, ganz bestimmt nicht.»
Odo streckte eine Hand aus, um ihre im Kerzenschein schimmernden pechschwarzen Haare zu berühren. Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Aber die dunklen Augen seiner Mutter blieben undurchdringlich und geheimnisvoll.
Alexandra stammte aus einem Land, das weit entfernt im Süden lag. Dort lebten die Menschen in Häusern aus Sand, und es gab viel weniger Bäume als im westfränkischen Reich. Siegfried hatte Odo erzählt, dass man diese Menschen Sarazenen nannte und dass sie die schönsten seien, die es auf der ganzen Welt gab.
Und Alexandra war von all diesen Menschen die Herrlichste.
Sarazenen. Odo liebte den Klang dieses Wortes, denn in ihm schwang all das Herrliche mit, das er in seiner Mutter sah: Schönheit, Güte, Weisheit, Wärme, Vertrauen und Liebe – bedingungslose Liebe.
«Dein Vater möchte, dass du uns einen Gefallen tust», sagte Alexandra. «Er möchte, dass du in die Kirche gehst und für uns betest. Würdest du das tun?»
Odo kletterte aus dem Bett.
Sie stiegen die Treppe hinab, die in die untere Etage des Hauses führte. In der Küche setzten sie sich an den Tisch. Das Hausmädchen Allisa hatte ihn bereits mit frischem Weizenbrot und in Mandelmilch eingelegtem Hühnerfleisch gedeckt, das mit Speck und Honig verfeinert worden war. Nachdem sie das Frühstück schweigend zu sich genommen hatten, brachen Odo und Allisa auf. Alexandra begleitete sie nicht, da sie ungeduldig auf Nachricht von Siegfried wartete.
Der Himmel über dem Regierungsviertel graute bereits. Das Haus des Grafen stand unweit des Palais, in dem König Karl bisweilen zu residieren pflegte. Während seiner Abwesenheit – und das war eher die Regel als die Ausnahme – führte Siegfried die Geschicke der Stadt.
Odo und die vierzehnjährige Allisa, ein hübsches Mädchen mit langem braunem Haar und üppigem Busen, schlichen im frühmorgendlichen Zwielicht durch das Regierungsviertel. Hier standen die massiven Steingebäude, die bereits von den Römern errichtet worden waren.
An das Regierungsviertel schloss sich die Bürgerstadt an. Die Gassen waren trotz der frühen Stunde voller Leute, die auf dem Weg in die Kathedrale waren, wo sie auf den Schutz Gottes hofften, und so trieb ein steter Strom aus Menschen zwischen den aus Lehm und Holz erbauten Häusern hindurch, der aufgehenden Sonne entgegen.
Über der sonst so lebhaften und bunten Stadt lag eine bleierne Stille, die Odo erschauern ließ. Schweigend schleppten sich die Menschen voran. Der erste Schreck über den Angriff der Barbaren war der Sprachlosigkeit gewichen. Niemand fand mehr Worte für das Grauen, das jenseits der Mauern wütete. Inzwischen war bekannt geworden, dass die Angreifer genau einhundertundelf Menschen am Seineufer gehängt hatten. Die Zahl der Erschlagenen und Ertrunkenen konnte noch niemand abschätzen; aber es war schon jetzt sicher, dass es Hunderte Todesopfer gegeben hatte.
Die Menschenmassen erreichten den östlichen Teil der Stadt, den Sitz der geistlichen Macht. Außer der Kathedrale befanden sich hier auch das Bischofspalais und der Kapitelbezirk.
Die Kathedrale!
Odo legte staunend den Kopf in den Nacken. Er schaute hinauf zu Saint Etienne, dem dreihundert Jahre alten Gotteshaus, das das prächtigste seiner Art in König Karls Reich war.
Der imposante Anblick gab Odo immer wieder ein Gefühl von Ehrfurcht – und von Sicherheit. Eine Stadt, die eine solche Kathedrale besaß, würde niemals das Opfer von wilden, Gott verachtenden Menschen werden, wie es die Normannen waren.
Diese verfluchten Heiden!
Odo und Allisa tauchten in die unterhalb der beiden Türme gelegene Eingangshalle ein. Die mehr als fünfzig Schritt breite Basilika, deren Schiffe von gewaltigen grauen Marmorsäulen voneinander getrennt waren, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Als die Menschen den Sohn des Grafen anhand des Wappens auf seinem Mantel erkannten, ließen sie ihm und dem Mädchen den Vortritt. Denn auf dem Grafen ruhte all ihre Hoffnung: Die Menschen waren der festen Überzeugung, dass nur Siegfried von Lutetia in der Lage war, sie vor dem Bösen zu bewahren.
Odo und Allisa schoben sich vor bis in die erste Reihe, nur wenige Schritte entfernt von Priester Jakob, einem hochgewachsenen, hageren Mann mit durchdringendem Blick und strengen Zügen, der im Chor eine Schale mit Weihrauch schwenkte.
Odo quetschte sich zwischen Allisa und einen Mann mittleren Alters, der den Gestank von Zwiebeln ausdünstete. Der Junge erkannte in dem Mann den Gemüsehändler Ceparius. Er hatte das kantige Kinn vorgestreckt und beobachtete mit skeptischem Blick jede Bewegung des Priesters.
Das Gemurmel verebbte, als Jakob die Weihrauchschale auf dem Altar abstellte. Er breitete die Arme aus wie ein Adler seine Schwingen. In festliche Gewänder gekleidete Knaben traten daraufhin herbei, stellten sich im Chor nebeneinander auf und richteten die Blicke auf die in der Basilika versammelten Menschen.
Es wurde totenstill.
Die Osterfeier war der Höhepunkt einer arbeitsfreien Woche, die viele Stadtbewohner für die Vorbereitungen des Auferstehungsfestes genutzt hatten. Niemals zuvor waren die Messen so gut besucht gewesen, und niemals zuvor waren die Bitten um Gottes Gnade so inständig gewesen wie in den vergangenen Tagen.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres, dem Jahr des Herrn 844, hatte eine vom Südostwind herbeigewehte Heuschreckenplage das Pariser Umland heimgesucht. Binnen weniger Tage hatten die Tiere alles Getreide von den Feldern gefressen. Die verwesenden Insektenleichen hatten eine Seuche ausgelöst. Es kam zu einer Hungersnot, die in dem strengen Winter vielen geschwächten Menschen den Tod brachte.
Dieser Katastrophe hatten die Pariser am heutigen Ostersonntag gedenken wollen. Doch nun war eine neue Plage über sie hereingebrochen – eine Plage, deren Ausmaß das der Heuschrecken und der Hungersnot bei weitem zu übertreffen drohte.
«Et ecce terraemotus», rief Priester Jakob mit schnarrender Stimme. «Siehe, ein großes Erdbeben entstand. Denn ein Engel des Herrn stieg vom Himmel herab.»
Und die Knaben im Chor stimmten ein: «Erat autem aspectus – sein Anblick war wie der Blitz, sein Gewand aber wie Schnee.»
«Das ist Kuhscheiße», knurrte Ceparius. Er warf Odo einen verschwörerischen Blick zu und sagte: «Mit Psalmen wird der Pfaffe die Wilden nicht besiegen.»
Der Gemüsehändler ballte demonstrativ die Hand zur Faust. «Gewalt ist die Sprache, die sie verstehen. Diese Pagani, diese Heiden!»
«Psst!» Eine ältere Frau tippte dem Mann von hinten auf die Schulter. Daraufhin schwieg er und wandte sich mit mürrischem Gesicht wieder dem Priester zu.
Jakob zitierte mit beschwörender Stimme aus der Offenbarung des Johannes: «Ich sah einen Stern, der vom Himmel auf die Erde herabgestürzt war. Diesem Stern wurde der Schlüssel zu dem Schacht gegeben, der in den Abgrund hinunterführt. Als er den Schacht zum Abgrund aufschloss, quoll Rauch heraus wie aus einem riesigen Schmelzofen und erfüllte die Luft; sogar die Sonne wurde davon verdunkelt. Aus dem Rauch kamen Heuschrecken hervor, denen die Fähigkeit gegeben war, wie Skorpione zu stechen. Sie schwärmten über die ganze Erde aus …»
«Kuhscheiße!», wiederholte Ceparius, dieses Mal so laut, dass Jakob seine Predigt unterbrach und fassungslos in die Menge sah. «Niemand interessiert sich für deine verfluchten Heuschrecken, Priester.»
«Er hat recht», rief ein junger Kerl, «die Heuschrecken sind Vergangenheit – der Priester soll etwas zu den Normannen sagen!»
Irgendwo in der Basilika warf ein Mönch die Arme in die Höhe und brüllte: «De furore Normanorum libera nos, Domine – Befreie uns, Herr, von der rasenden Wut der Normannen!»
Jakob hob beschwichtigend die Hände. «Bitte, bitte – Ruhe! Bitte!»
Als die Aufregung sich nach einer Weile gelegt hatte, fuhr er in seiner Predigt fort: «Die Heuschrecken hatten lange Haare wie Frauen und Zähne wie die eines Löwen. Ihr Rumpf war wie mit Eisen gepanzert, und ihre Flügel machten einen Lärm, als würde ein ganzes Heer von Pferden und Streitwagen in den Kampf ziehen. Der König dieser Heuschrecken ist der Engel aus dem Abgrund; er heißt: der Verderber …»
Der Gemüsehändler an Odos Seite drohte erneut mit der Faust. «Halt endlich dein Maul, Priester! Wir wollen wissen, wie wir die Barbaren vernichten können!»
Sofort lebten die Gespräche wieder auf. Ein Teil der Kirchenbesucher stellte sich auf Ceparius’ Seite, die anderen wollten die Predigt hören.
Odo hing wie gebannt an den Lippen des Priesters, der mit immer leiser werdender Stimme sagte: «… das erste Unheil, das der Wehruf angekündigt hat, ist vorüber; das zweite und das dritte stehen noch bevor …»
Odo war fasziniert von Jakobs Worten: Vor seinem inneren Auge sah er Heuschrecken, in deren Mäulern riesige, spitze Zähne steckten und die in goldbeschlagenen Streitwagen durch die Lüfte sausten.
Und er sah Dämonen, deren König der Verderber war. Der Teufel!
Plötzlich wurde die Kirchentür aufgerissen.
Jakob verstummte.
Allisa stieß einen schrillen Schrei aus.
Ein Mann stürzte in die Kirche. Er öffnete den Mund, als wolle er den Menschen etwas zurufen. Doch anstatt der Worte quoll ein Blutstrom zwischen seinen Lippen hervor und ergoss sich über sein Leinenhemd.
Männer, Frauen und Kinder drängten kreischend beiseite.
Der Mann taumelte drei, vier Schritte vorwärts, dann stolperte er über seine eigenen Füße und schlug der Länge nach hin. Zwischen den Schulterblättern steckte eine Axt. Sie war tief in den Rücken eingedrungen. Der Körper zuckte noch zwei-, dreimal, dann erschlaffte er inmitten einer Blutlache.
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Niemand in der Kathedrale wagte es, sich zu rühren. Auf den Gesichtern der Menschen zeichnete sich sprachloses Entsetzen ab; dann, nach einer Weile, begann jemand zu schreien, und sofort breitete sich Panik aus.
Der Verderber, schoss es Odo durch den Kopf. Der Engel aus dem Abgrund, er kommt …
Da hastete ein zweiter Mann durch das Kirchentor. Es war ein Markthändler, bei dem Odo und Alexandra hin und wieder getrockneten Fisch kauften. Er hielt sich den Oberarm, Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch.
Der Mann schaute sich um, Todesangst im Blick, und rief: «Die Normannen! Sie sind in der Stadt. Sie sind überall!»
«Schließt die Tür!», befahl Jakob.
Er versuchte, die Gemeinde zu beruhigen. Aber es war aussichtslos. Sofort versuchten einige, aus der Kirche zu fliehen. Sie trampelten über den Körper des erschlagenen Mannes hinweg. Gleichzeitig drängten andere Menschen von draußen in das Gotteshaus. Während die einen auf den göttlichen Schutz in den festen Mauern der Kathedrale hofften, befürchteten die anderen, Saint Etienne könne zu einer tödlichen Falle werden. Man rempelte und schubste, stieß und schlug zu.
Allisa, die einen Kopf größer war als Odo, krallte sich an ihm fest. Tränen strömten aus ihren weit aufgerissenen Augen.
Jakob bekreuzigte sich. «Bleibt hier», rief er laut. «Die Heiden werden es nicht wagen, unsere Kirche anzugreifen.»
Odo erinnerte sich jedoch an die Worte seines Vaters. Die Normannen hatten die Mönche in den Klöstern Rouen und Jumièges getötet. Warum also sollten sie Saint Etienne verschonen? Kurz entschlossen ergriff er Allisas Hand und zog das weinende Mädchen hinter sich her. Sie drängten sich durch die kreischende Menge – aber die Eingangshalle war versperrt. Eine undurchdringliche Wand aus Menschenleibern verstopfte das Portal. Männer und Frauen prügelten aufeinander ein, um sich den Weg in die jeweilige Richtung freizukämpfen.
Odo und Allisa waren gefangen, sie konnten weder vor noch zurück. Der Druck der sich immer dichter zusammenschiebenden Meute schnürte Odo den Atem ab, als plötzlich Bewegung in die Menge kam. Ceparius, der neben ihm gestanden hatte, schob die Menschen mit brachialer Gewalt wie eine Bugwelle vor sich her.
«Ihr Feiglinge!», brüllte er. «Los, raus mit euch – kämpft!»
Andere Männer schlossen sich ihm an. Mit vereinten Kräften drückten und schoben sie. Als ziehe man den Korken aus einer Weinflasche, löste sich der Stau in der Eingangshalle auf. Odo, Allisa und alle anderen Menschen, die sich im Gang vor dem Portal aufgehalten hatten, wurden mit aus der Kirche geschwemmt.
Auch auf der Straße herrschte ein heilloses Durcheinander. Einige Leute waren hingefallen, Nachkömmlinge purzelten über sie hinweg. Ein undefinierbares Knäuel aus Köpfen, Armen und Beinen wälzte sich auf der staubigen Straße.
Odo konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, um nicht ebenfalls über die Menschen zu stolpern. Er zog Allisa hinter sich her und kam atemlos neben dem Eingang zum Stehen.
Kurz darauf erschien Ceparius in der Tür. «Kommt her, ihr Barbaren», brüllte er und schaute sich siegessicher um. Dann entdeckte er etwas, das ihn verstummen ließ. Sein Gesicht verklärte sich zu einem Grinsen.
Odo folgte dem Blick, und zum ersten Mal in seinem Leben sah er einen leibhaftigen Normannen aus nächster Nähe.
Der Anblick war irritierend. Odo hatte einen kräftigen Krieger erwartet, an dessen Gürtel die Schädel geköpfter Mönche baumelten. Aber dieser strohblonde Normanne, der ihnen Worte in einer fremden Sprache entgegenschleuderte, war kaum größer als Allisa. Er war höchstens fünfzehn Jahre alt, und auf seinem Kinn spross anstatt eines dichten, wilden Bartes nur ein zarter Flaum. Auch das kurze Schwert, das er fest umklammerte, war kaum das eines todbringenden Kriegers.
Ceparius hatte mit einem Mal eine blutverschmierte Axt in der Hand. Mit einem Schaudern begriff Odo, dass es die Waffe war, die im Rücken des Getöteten gesteckt hatte. Die Axt schwenkend, kletterte der Mann über den Menschenberg hinweg und bewegte sich auf den Jungen zu, der jedoch keinerlei Anstalten machte zurückzuweichen.
«Fahr zur Hölle, Abschaum», zischte der Gemüsehändler und holte aus.
Der Junge zuckte zurück. Doch das Beil traf sein Gesicht und schlug eine Wunde, die von der Stirn bis zum Kinn reichte. Als Ceparius erneut ausholen wollte, um dieses Mal einen tödlichen Schlag auszuführen, fiel ihm die Axt plötzlich aus der Hand. Er sackte mit einem gurgelnden Laut in sich zusammen. In seinem Nacken steckte eine Lanze, die seinen Hals durchbohrt hatte und deren Spitze unter dem Kinn wieder ausgetreten war.
Da sprangen plötzlich mehrere Männer mit ohrenbetäubendem Gebrüll hinter der Kirche hervor, wo sie auf ihren Einsatz gewartet hatten. Sie waren mit Äxten, Schwertern und Lanzen bewaffnet; buschige Bärte hingen ihnen über ihre Kettenhemden, die unter dichten Brauen fast verborgenen Augen blitzten angriffslustig.
Allisa zog Odo am Ärmel, aber er konnte sich nicht von dem Anblick losreißen.
Ein Normanne, ein großer Kerl mit gewölbter Stirn und stahlblauen Augen, stemmte einen Fuß auf Ceparius’ Schädel, als trete er auf einen Holzklotz. Mit einem Ruck zog er die Lanze aus dessen Hals.
Der junge Normanne stand noch immer mit blutüberströmtem Gesicht unbeweglich da. Jetzt verzog er seinen Mund – und lachte. Er fuhr sich mit der Rechten durch das Gesicht und leckte sich das eigene Blut von der Hand, als wäre es süßer Honig.
Der ältere Krieger klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schulter. Dann ließ er ihn vortreten zu den vor der Kirche liegenden Menschen, die bei dem Anblick der wilden Männer erstarrt waren. Die Krieger bauten sich vor den wehrlosen Menschen auf – darunter alte Männer, Frauen und Kinder –, und auf das Kommando des Blauäugigen hin schlug der Knabe mit seinem Schwert einem um Gnade flehenden Mann eine tiefe Wunde ins Gesicht.
Die Krieger johlten vor Begeisterung. Dann begannen sie mit ihrem gnadenlosen Mordwerk. Der Geruch von Blut und Schweiß vermischte sich mit dem Duft der Frühlingsluft, die mit einer sanften Brise von den Weinbergen her in die Stadt geweht wurde. Stahl blitzte auf. Menschen brüllten vor Angst und Schmerz.
Und die Mörder lachten.
Niemals wieder würde Odo den Anblick dieser von der puren Lust am Töten getriebenen Meute vergessen.
Schließlich gelang es Allisa, Odo fortzuzerren. Fort von diesem schrecklichen Ort. Aber je weiter sie durch die Stadt liefen, desto deutlicher wurde das Ausmaß des Angriffs. Überall stießen sie auf Krieger, die wahllos und wie vom Wahnsinn getrieben die Stadtbewohner hinschlachteten.
Wie durch ein Wunder nahmen die Normannen von dem Jungen und dem Mädchen keinerlei Notiz, und so erreichten die beiden unbehelligt den Marktplatz, auf dem die Pariser bereits alle Vorbereitungen für das heutige Osterfest getroffen hatten. Auf der Mitte des Platzes hatte man ganze Wagenladungen voll Holz für ein gewaltiges Feuer aufgeschichtet. Ringsherum waren Buden aufgebaut worden, in denen die Händler geräucherte Würste, Käse und Bonbons verkaufen wollten.
Gestern noch war Odo voller Vorfreude über den Platz gelaufen. Er hatte hinter diesen und jenen Stand geschaut und es kaum erwarten können, am nächsten Tag mit seinen Eltern all die Freuden zu genießen, die das große Fest bereithielt.
Heute jedoch war der Marktplatz ein Ort des Grauens. Normannenkrieger zogen in Gruppen umher und trieben sich die Flüchtigen gegenseitig in die Arme. Der Boden war mit Blut getränkt, abgehackte Gliedmaßen lagen verstreut herum wie auf dem Hinterhof einer Schlachterei.
Und inmitten der Mörderschar sah Odo plötzlich einen Krieger, dessen Anblick ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Der mit einer Fellhose bekleidete Mann überragte die anderen Barbaren um Haupteslänge. Auf dem Kopf trug der graubärtige Krieger einen silberglänzenden Helm, unter dem schneeweißes Haar in Strähnen hervorquoll und ihm bis auf die Schultern fiel, um die er sich das Fell eines Braunbären geschlungen hatte. Seine Arme waren mit blauen Ätzungen übersät. Mit beiden Händen hielt er ein zweischneidiges Langschwert, mit dem er eine verheerende Schneise in die zusammengetriebene Menschenmenge schlug.
Der Verderber!
Odo hatte keinen Zweifel: Wenn der Teufel wirklich menschliche Gestalt annehmen konnte, dann war eine davon die dieses Kriegers, der mit ausdruckslosem Gesicht tötete, als gelte es, niemanden auf dieser Erde am Leben zu lassen.
Als der Barbar sich mit kreisender Klinge einer jungen Frau näherte, die ein in Tücher gewickeltes Baby schützend an ihren Busen drückte, sprang ihm ein Mönch in den Weg. Der Krieger zog die buschigen Augenbrauen zusammen und hielt inne.
Mit zum Himmel gerichteten Blick flehte der Mönch: «Herr! Lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht – rette uns durch deine Gnade! Herr, lass uns nicht zuschanden werden, denn ich rufe dich an! Zuschanden werden sollen die Gottlosen, verstummen im Totenreich …»
Das linke Augenlid des Kriegers zuckte nur einmal, bevor er zuschlug. Der Kopf des Mönchs flog in hohem Bogen durch die Luft und landete unweit der Stelle, an der Odo und Allisa verharrten. Für den Augenblick eines Wimpernschlags schaute der Krieger zu Odo hinüber. Es kam dem Jungen vor, als bohre sich der Blick des Normannen wie ein Feuerstrahl in sein Herz.
Dann riss Odo sich von dem Anblick los und rannte davon. Allisa folgte ihm dicht auf den Fersen. Bald darauf kamen sie in eine enge Gasse, die unterhalb der Stadtmauer in den westlichen Teil der Insel führte. Dieser Weg, der sich im Schatten der Häuserrückseiten entlangzog, wurde schon lange nicht mehr als Passage genutzt. Stattdessen entledigten sich die Bewohner hier ihres Mülls; der Unrat stapelte sich an manchen Stellen mannshoch.
Odo und Allisa kletterten über alte Fässer, Balken und zerbrochene Möbel und hatten beinahe das Ende der Gasse erreicht, als ihnen zwei Krieger entgegenkamen.
Schnell warfen sich die Kinder hinter einer alten Truhe zu Boden.
Die Barbaren kamen immer näher, wobei sie ihre Lanzen links und rechts in den Unrat stießen, um Flüchtige aufzuscheuchen. Rasch näherten sie sich dem Versteck. Odo schloss die Augen und begann lautlos zu beten. Die Normannen polterten an den Kindern vorbei, schenkten aber der Truhe keine Beachtung. Für einen kurzen Moment dachte Odo, der Herrgott habe sein Flehen erhört. Doch plötzlich begann Allisa unter der Anspannung und dem Druck zu schreien.
Sofort machten die Männer kehrt.
Während Allisa schrie und schrie, zog sich Odo noch tiefer in das Gerümpel zurück. Er machte sich so klein wie möglich, wagte nicht zu atmen.
Schreckliche Gedanken rasten durch seinen Kopf. Es war vorbei, gleich würden die Krieger sie entdecken und töten.
Aus den Augenwinkeln sah er schemenhaft riesige Hände auftauchen. Die Pranken griffen hinter die Truhe, bekamen Allisas Haare zu fassen und zerrten das Mädchen mit einem Ruck aus dem Versteck.
Odo konnte es nicht fassen. Sollten die Männer ihn verschonen?
Starr vor Angst, spähte er durch einen Spalt in die Gasse. Er sah, wie die bärtigen Männer Allisa die Kleider vom Leibe rissen. Ihre Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee, so unschuldig und unberührt.
Sollte er Allisa helfen? Doch was konnte er gegen diese Hünen ausrichten, gegen diese übermächtigen Krieger? Sie waren groß wie Bären, und er war klein und schmächtig.
Odo biss sich auf die Unterlippe. Tatenlos musste er mit ansehen, wie die Krieger sich über das wehrlose Mädchen hermachten wie ausgehungerte Wölfe über ein zartes Lamm. Tränen schossen ihm in die Augen. O Gott, Allisa! Er liebte sie wie eine Schwester. Sie gehörte doch zur Familie!
Er weinte still, bis die Normannen endlich von ihr abließen. Erst als er sicher war, dass die Männer verschwunden waren, krabbelte er vorsichtig hinter der Truhe hervor. Er beugte sich über Allisas geschundenen Körper. Seine Tränen tropften auf ihre schneeweiße Haut.
Es war kein Leben mehr in ihr.
Die städtische Streitmacht hatte sich vor dem Palais versammelt. Mindestens einhundert bewaffnete Soldaten scharten sich um ihren Anführer. Graf Siegfried erteilte brüllend Befehle. Er musste versuchen zu retten, was noch zu retten war.
Siegfrieds harter Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er zu allem bereit war. Noch gab er diesen Kampf nicht auf. Mut, Entschlossenheit und Gottesfurcht waren die Tugenden, mit denen es der ehemalige Seidenhändler Siegfried von Lutetia, ein Mann mit römischen Wurzeln väterlicherseits, bis auf diesen Posten geschafft hatte. Er war in der bedeutenden Stadt Paris der erste Stellvertreter des westfränkischen Königs Karl – und er war sich seiner Position bewusst.
Odo näherte sich taumelnd den Soldaten. Beinahe wäre er vor Erschöpfung zusammengebrochen, als Siegfried seinen Sohn endlich bemerkte und ihn in die Arme schloss.
«Verzeih mir», stieß Siegfried gepresst hervor. «Verzeih mir bitte, mein Sohn, dass ich dich in die Kathedrale geschickt habe. Ich hätte auf dich achtgeben müssen.»
Rasch brachte er Odo nach Hause, während seine Männer ungeduldig auf die Befehle zum Angriff warteten. Die Barbaren wüteten bereits in fast allen Stadtteilen. Die ersten Häuser brannten. Schwarze Rauchschwaden erhoben sich über den Dächern der Bürgerstadt.
Der Eingang von Odos Elternhaus wurde von zwei Soldaten bewacht, die zu Siegfrieds Garde gehörten. Diese ausgewählte Truppe bestand aus einer Handvoll kampferprobter Männer. Siegfried hatte die beiden abkommandiert, damit sie – notfalls mit ihrem Leben – seinen größten Schatz verteidigten: seine Familie, Alexandra und Odo.
Die Soldaten traten zur Seite und öffneten die Tür. Siegfried küsste seinen Sohn auf die Wange, eine Geste, die dem harten Mann einen weichen Zug verlieh. Dann kehrte der Graf zu seinen Männern zurück, um sie in die Schlacht zu führen.
Odo trat ins Haus. Als die Tür sich hinter ihm schloss, wurde es stockfinster.
«Leg den Riegel vor.» Das war Alexandras Stimme, irgendwo aus der Dunkelheit; sie klang mühsam beherrscht.
Odo tastete nach dem Balken und sicherte die Tür von innen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er seine Mutter im schwachen Lichtschein, der durch die Ritzen in den Fensterläden sickerte. Alexandra saß zusammengesunken am Tisch, den Kopf in die Hände gebettet.
«Komm zu mir, mein Junge», flüsterte sie, rückte vom Tisch ab und nahm Odo auf den Schoß.
Er schmiegte sich an ihren weichen Busen und lauschte ihren flachen Atemzügen. Der vertraute Geruch seiner Mutter gab Odo allmählich das Gefühl von Geborgenheit zurück.
«Ich habe gewusst, dass du noch lebst», sagte sie. «Ich habe es gewusst … habe es immer gewusst. Niemand darf meinem Jungen etwas antun.»
Odo löste sich. Er schaute in ihre tränenfeuchten Augen. «Wie sind die Normannen in die Stadt gekommen?», fragte er.
«Jemand hat ihnen das Tor geöffnet.»
Odo sprang entsetzt auf. «Das Tor geöffnet? Aber wer hat so etwas getan?»
Alexandra zuckte mit den Schultern. Sie erhob sich seufzend und ließ Odo mit seiner Frage allein. Kurz darauf kehrte sie mit einer brennenden Kerze an den Tisch zurück.
«Siegfried glaubt, jemand habe uns verraten», sagte sie niedergeschlagen.
Ihre Finger spielten mit dem kleinen Kreuz, das sie an einer feingliedrigen Silberkette um den Hals trug. Siegfried hatte es ihr vor vielen Jahren geschenkt. Es war ein Glücksbringer, der alles Unheil von ihr fernhalten sollte. Das Kreuz glitzerte im Schein der Kerze wie die beiden herrlichen, mit verschiedenen Symbolen geprägten Silberringe, die Alexandras Hände schmückten.
Odo betrachtete das Gesicht seiner Mutter, das, obwohl in diesem Moment von tiefer Sorge überschattet, so anmutig war wie immer. Ihre Haut schimmerte wie das Licht der aufgehenden Sonne; sie hatte volle rote Lippen, und in ihren dunklen Augen spiegelte sich die flackernde Kerzenflamme, als loderten auf ihren Pupillen winzige Feuer.
Es waren diese Augen, die Odos Vater um den Verstand gebracht hatten und es noch immer taten. Vor vielen Jahren hatte er Alexandra auf einer Handelsreise kennengelernt, die ihn bis weit in den Süden geführt hatte, jenseits des großen Mittelländischen Meeres. Sie war die Tochter eines arabischen Geschäftsmannes, der Siegfried kostbare Seidenstoffe angeboten hatte, die dieser in Paris gewinnbringend weiterverkaufen wollte. Doch als er Alexandra in dem Haus des Alten erblickte, vergaß er alles Geschäftliche und warb so lange um ihre Hand, bis der Araber einwilligte.
Und so kehrte Siegfried zwar ohne Seide, aber dafür mit einem weitaus wertvolleren Schatz nach Paris zurück. Um der Liebe seines Lebens nahe sein zu können, gab er seinen Beruf auf und trat in die Armee ein, in der er es rasch zum Hauptmann brachte und schließlich vom König als Graf eingesetzt wurde.
Es schien, als füge sich alles zum Besten in dieser Verbindung voller Glück und Liebe, die bald von einem gesunden Sohn gekrönt wurde.
Odo war vom exotischen Aussehen her ganz nach seiner Mutter geraten. Seine Hautfarbe war dunkler als die anderer Pariser Kinder, ebenso sein Haar und seine Augen. Seine Zielstrebigkeit und den unerschütterlichen Willen hatte er jedoch von seinem Vater geerbt.
«Ich bringe ihn um», fauchte Odo.
Alexandra ließ das Kreuz los. «Was redest du da?»
«Den … den Verräter, der die Normannen in die Stadt gelassen hat. Ich werde ihn töten!»
«Nein», entgegnete Alexandra. «Das überlässt du deinem Vater. Er wird den Schuldigen ausfindig machen und einer gerechten Strafe zuführen. Wenn …» Sie verstummte.
Aber Odo konnte ihr ansehen, was sie hatte sagen wollen: Wenn wir diesen Tag überleben.
Stattdessen fragte sie: «Wo steckt eigentlich Allisa?»
Odo schluckte. Stockend berichtete er, dass die Normannen Allisa misshandelt und umgebracht hatten.
Alexandras Augen füllten sich mit Tränen. «Und du musstest das alles mit ansehen.»
Odo nickte stumm.
«Du darfst dir keine Schuld an ihrem Tod geben», sagte Alexandra sanft. «Du konntest nichts dagegen tun, und Allisa hätte bestimmt nicht gewollt, dass die Normannen dich ebenfalls töten. Aber das Wichtigste ist, dass du entkommen bist.» Sie schaute ihrem Sohn tief in die Augen. «Du bist mir das Wertvollste, das …»
In dem Moment hämmerte jemand von außen gegen die Tür. Alexandra lief zu einem der Fenster und öffnete den Laden einen Spalt.
«Allmächtiger», entfuhr es ihr.
Als Odo ihr folgen wollte, drehte sie sich zu ihm um und drängte ihn ohne Erklärung in eine Ecke. Dort stand ein Eichenschrank, in dem Wäsche und Haushaltsgeräte aufbewahrt wurden.
«Schnell! Hilf mir, ihn wegzuschieben», forderte sie Odo auf.
Er stellte sich neben sie, damit sie gemeinsam das schwere Möbelstück zur Seite rücken konnten. Sie hatten es kaum eine Handbreit von der Stelle bewegt, als es abermals gegen die Tür hämmerte.
Dann rief jemand: «Aufmachen!» Es war die Stimme eines der Gardesoldaten. «Öffnet die Tür, Herrin.»
«Weiter, weiter», zischte Alexandra Odo zu. Schweiß trat ihr vor Anstrengung auf die Stirn.
Stück für Stück bewegte sich der Schrank. Plötzlich erkannte der Junge eine kleine Öffnung in der Wand, die hinter dem Schrank verborgen war und die er nie zuvor gesehen hatte.
Der Soldat rief immer ungeduldiger: «Herrin! Herrin, aufmachen!»
Endlich hatten sie die in das Mauerwerk eingelassene Öffnung freigelegt. Alexandra beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und küsste ihn auf die Stirn.
Sie flüsterte: «Wir holen dich wieder raus, wenn alles vorüber ist.»
Odo kniete nieder und kroch in das dunkle Loch. Es war nur wenige Fuß tief, und er musste sich mit angezogenen Beinen hineinquetschen. Als er vollständig in dem Loch verschwunden war, begann Alexandra sofort damit, den Schrank wieder an seine alte Stelle zu schieben. Odo hörte sie stöhnen. Es war ihm ein Rätsel, woher sie die Kraft nahm.
Im Hintergrund war noch immer die Stimme des Soldaten zu vernehmen, der nun mit einem harten Gegenstand auf die Tür einschlug, vermutlich mit dem Griff seines Schwerts.
«Warte! Ich komme», rief Alexandra, woraufhin der Soldat endlich verstummte.
Vor Odos Augen verschloss sich allmählich die Öffnung. Da entdeckte er einen kleinen glänzenden Gegenstand, der vor dem Loch auf dem Boden lag. Odo streckte seine Hand danach aus. Es war Alexandras silbernes Kreuz.
Sie hatte ihren Glücksbringer verloren.
Der Junge hörte sie ein letztes Mal keuchen. Dann erstarb das kratzende Geräusch, das der über den Boden rutschende Schrank verursachte. Es wurde stockfinster.
Ihm war hundeelend zumute. Er begann zu bibbern. Warum hatte seine Mutter ihn in dieses schreckliche Loch gesteckt?
Er konnte hören, wie die Haustür entriegelt wurde, und vor seinen Augen wurde plötzlich ein Lichtstreifen sichtbar. Odo beugte sich vor – und tatsächlich: Er konnte das vor ihm liegende Wohnzimmer überblicken, das nun, da die Haustür weit offen stand, vom Tageslicht durchflutet wurde. Der Schrank war nicht ganz an seine alte Stelle zurückgeschoben worden. Zwischen dem Möbelstück und dem Rand der Öffnung war ein schmaler Spalt frei geblieben.
Durch diesen Spalt spähte Odo. Er sah Alexandra. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, das Gesicht auf die Haustür gerichtet, in der einer der Wachposten stand. Er war verletzt, blutete aus einer Wunde an der Schläfe, bemühte sich aber, Haltung zu bewahren.
Dann sah Odo seinen Vater. Siegfried humpelte herein, ohne sein Schwert. Seine Kleidung war zerrissen, er hatte einen Schuh verloren. Alexandra wollte sich auf ihn stürzen. Doch er wies sie mit einer energischen Handbewegung zurück.
Und dann fiel ein Schatten in den Raum. Odo unterdrückte mit Mühe einen Schrei des Entsetzens, als eine riesenhafte Gestalt den Raum betrat.
Der Verderber!
Sie belauerten sich, schweigend, abwartend.
Siegfried saß auf der einen Seite des Tisches, der Krieger auf der anderen. Zwei Männer, deren Gesichtszüge aussahen wie aus Stein gemeißelt. Zwischen ihnen lag das gewaltige Schwert des Normannen, die Spitze zeigte auf Siegfried.
Auch wenn der Graf dem durchdringenden Blick des Normannenhäuptlings standhielt, so waren die Rollen doch eindeutig verteilt. Die Normannen hatten die Schlacht gewonnen, viele Bewohner und Soldaten getötet und zahlreiche Häuser in Brand gesteckt. Die städtische Streitmacht hatte verloren, und die Barbaren konnten nun in Paris schalten und walten, wie es ihnen beliebte.
Siegfrieds Verhandlungsspielraum war verschwindend gering.
Der Häuptling winkte einen seiner Krieger heran und redete auf ihn in einer merkwürdigen Sprache ein, die Odo niemals zuvor gehört hatte. Daraufhin verschwand der Krieger im hinteren Bereich des Hauses, wo sich die Küche und das Vorratslager befanden. Gleich darauf kehrte er mit einem Weinfass zurück. Das Fass wurde geöffnet. Man reichte dem Häuptling ein gefülltes Gefäß, das aussah wie ein Stierhorn. Er leerte es in einem Zug, rülpste und verlangte nach mehr. Auch die anderen Normannen schenkten sich kräftig ein.
Alexandra, die hinter Siegfried stand, beugte sich zu ihrem Mann vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als der Häuptling das bemerkte, knallte er sein Trinkhorn so hart auf den Tisch, dass der Wein bis an die Wände spritzte.
Alexandra schreckte zurück, auch die anderen Krieger verstummten.
Der Häuptling winkte einen Mann zu sich, der zwar zu den Normannen zu gehören schien, sich aber in seiner schlichten Kleidung und seinem glattrasierten Gesicht von den Kriegern unterschied. Er war von gedrungener Statur, sein Blick wirkte verschlagen.
Nach einer kurzen Unterredung sagte der Mann, dessen Akzent auf eine Herkunft aus dem Rheinland schließen ließ: «Der große und mächtige Ragnar ist der Meinung, dass es nun an der Zeit ist, sich gegenseitig vorzustellen.»
Siegfried verzog verächtlich die Mundwinkel. «Der Mann weiß doch längst, wer ich bin …»
«Du hast zu antworten, Graf», unterbrach ihn der Mann. «Der große Ragnar besteht darauf, die Form zu wahren. So, wie es sich für ehrenhafte Männer gehört!»
Siegfried zuckte mit den Schultern. Er nannte seinen vollständigen Namen und seine Stellung in der Stadt.
Der Rheinländer übersetzte, und Ragnar hörte aufmerksam zu. Dann sprach er.
Als Ragnar geendet hatte, sagte der Übersetzer zu Siegfried: «Der große Ragnar Loðbrœk entstammt dem Geschlecht der dänischen Skjoldunge. Ragnar hat auf der ganzen Welt Kriege geführt und in Irland mit seinen eigenen Händen den König Melbrighde getötet. Für deine Stadt hat er einhundertundzwanzig Langschiffe aufgeboten. An einem einzigen Tag hat er deine Festung eingenommen, die du für deinen König Karl hättest bewachen sollen …»
Bei dem Stichwort Karl unterbrach Ragnar den Mann und rief ihm etwas zu. Der Übersetzer sagte mit dem Anflug eines Lächelns: «Du sollst von Ragnar wissen, Graf, dass dein König nicht mehr ist als ein fettes, feiges Weib. Er soll herkommen, um sich Ragnar im Kampfe zu stellen. Ragnar hat keine Achtung vor Männern, die …»
Aber der Rheinländer brachte den Satz nicht zu Ende. Von der Tür her hatte jemand Siegfrieds Namen gerufen.
Ragnars Augen blitzten gefährlich auf.
«Wer wagt es, den großen Ragnar zu unterbrechen?», rief der Übersetzer.
Ratpot, der Stellvertreter des Grafen, betrat den Raum. «Ihr könnt euch wohl kaum beschweren», sagte er großspurig. «Ohne meine Hilfe hättet ihr diese Stadt niemals erobert.»
Dem Häuptling entglitten die hochmütigen Gesichtszüge, nachdem ihm die Worte übersetzt worden waren.
Siegfried starrte Ratpot entgeistert an. «Du hast in der Nacht das Stadttor für die Barbaren geöffnet?»
«Ja, das war ich», erwiderte Ratpot, überheblich lächelnd. «Ich soll dir einen Gruß ausrichten von Kaiser Lothar, dem rechtmäßigen Herrscher über das gesamte fränkische Reich.»
Siegfried war fassungslos. «Du paktierst mit Lothar!»
«Nenn es, wie du willst. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass Lothar sich auf Dauer mit dem Mittelreich zufriedengibt, flankiert von seinen hinterhältigen Brüdern.»
«Aber der Frieden ist vor zwei Jahren mit dem Vertrag von Verdun besiegelt worden», warf Siegfried ein.
Im Jahre 843 hatten sich die heillos zerstrittenen Brüder Karl, Ludwig und Lothar, die Enkel Karls des Großen und die Söhne Ludwigs des Frommen, in der Stadt Verdun auf eine Dreiteilung des ehemaligen Großreiches geeinigt. Karl hatte das Westfrankenreich erhalten, Ludwig das Ostfrankenreich und Lothar das Mittelreich von Friesland bis Burgund sowie die Kaiserwürde.
Ratpot machte eine wegwerfende Handbewegung. «Verträge kann man aufkündigen. Lothar ist der rechtmäßige Erbe des gesamten Reichs.»
Siegfried sackte mutlos zusammen. «Jetzt wird mir einiges klar», sagte er. «Lothar lässt von den Normannen Paris einnehmen, um Karls Macht zu schwächen und somit den Krieg wieder aufzunehmen.»
Ratpot grinste. «Du bist schlau, Siegfried. Karl hat dich nicht ohne Grund zum Grafen gemacht.»
Siegfried ballte die Hände zu Fäusten. Odo konnte seinem Vater ansehen, dass er sich nur mit größter Mühe zurückhalten konnte, den Verräter nicht auf der Stelle zu töten.
«Und was springt für dich dabei heraus?», zischte Siegfried.
«Kannst du dir das nicht denken? Ich werde natürlich der neue Graf – in einem Paris, das von Lothar regiert wird.»
Plötzlich ließ donnerndes Gebrüll alle Anwesenden zusammenfahren. Ragnar war aufgesprungen, hatte sein Schwert ergriffen und zielte damit auf Ratpot, der erschrocken zurückwich.
Der Übersetzer sagte: «Der große Ragnar hat genug von eurem Gerede. Du wirst ihm sofort seine Belohnung auszahlen.»
Ratpot wirkte verunsichert. «Aber ich habe die Schätze nicht hier. In wenigen Tagen werden Lothars Soldaten in Paris eintreffen. Dann soll Ragnar seine Belohnung erhalten.»
«Er lügt», rief Siegfried dazwischen. «Lothar wird Ragnar niemals etwas geben. Lothar ist ein Vertragsbrecher – ein schamloser Lügner und Betrüger. Er ist eine ebenso falsche Schlange wie Ratpot.»
Nachdem Ragnar sich Siegfrieds Worte hatte übersetzen lassen, machte sich zum ersten Mal ein Anflug von Verunsicherung auf seinem Gesicht breit. Zögernd schaute er von Siegfried zu Ratpot.
Dann hob Ragnar sein Schwert, sein linkes Augenlid zuckte.
Odo biss sich in die Hand, um einen Schrei zu unterdrücken.
Als Ragnar zuschlug, kreischte Alexandra auf und hielt sich die Hände vor die Augen.
Mit einem wuchtigen Schlag spaltete Ragnar dem Verräter Ratpot den Schädel. Der Normannenkrieger ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Er nahm einen großen Schluck Wein, während seine Männer Ratpots Leiche in einer Blutspur aus dem Haus schleiften.
Die Nacht brach herein.
Man hatte alle verfügbaren Lampen und Kerzen aus dem Haus herbeigeschleppt, um den Raum zu erleuchten. Dann endlich – es kam Odo vor, als sei eine Ewigkeit vergangen – gab Ragnar dem Übersetzer ein Zeichen und erklärte ihm, was zu tun sei.
Der Rheinländer sagte: «Der Häuptling dieser Stadt, Siegfried von Lutetia, soll seinem weibischen König Karl eine Botschaft des großen Ragnar überbringen. Ragnar wird die Stadt niederbrennen, und er wird alle Gefangenen töten, wenn ihm der König nicht spätestens in zwei Tagen sieben Ochsenkarren voll Silber bringen lässt.»
«Sieben Wagen!», erwiderte Siegfried. «Aber das sind doch mindestens siebentausend Pfund Silber!»
Der Übersetzer zuckte mit den Schultern. «Du hast gehört, was der große Ragnar angeordnet hat. Und ich rate dir, seine Gutmütigkeit nicht länger zu strapazieren. Sorg dafür, dass die Dänen ihr Geld erhalten.»
Siegfried drehte sich zu Alexandra um, die erschöpft an der Wand lehnte. Aber sie beachtete ihren Mann nicht, sondern starrte zu dem Schrank hinüber, hinter dem ihr Sohn seit Stunden in einem winzigen Loch steckte.
Und allmählich dämmerte es auch Odo, was der flehende Blick seiner Mutter zu bedeuten hatte. Wenn sich Ragnar zwei weitere Tage in dem Haus aufhalten würde, wäre er dazu verdammt, es so lange in dem Versteck auszuhalten. Ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne eine Möglichkeit, seine Notdurft zu verrichten …
Siegfried schien vom Schicksal seines Sohnes nichts zu wissen, zumindest nicht, dass der Junge sich in unmittelbarer Nähe befand. Odo nahm an, dass Alexandra ihm vorhin nur mitgeteilt hatte, dass er sich um seinen Sohn keine Sorgen zu machen brauche.
«Was geschieht, wenn ich Ragnars Aufforderung nachkomme?», wollte Siegfried wissen.
«Dann wird er deine Stadt verschonen und wieder davonfahren», antwortete der Übersetzer.
Siegfried nickte. «Ich werde noch in dieser Nacht aufbrechen. Aber ich brauche fünf bewaffnete Männer als Begleitschutz und frische Pferde. Karl hält sich in einer Residenz auf, nur wenige Meilen entfernt. Wenn ich ihm von den Plänen seines Bruders Lothar berichte, dann wird Karl zahlen. Ich könnte bereits morgen früh mit dem Silber zurück sein.»
Als Ragnar von Siegfrieds Zustimmung erfuhr, nickte er scheinbar ungerührt, aber seine Augen blitzten gierig auf.
Und da war noch etwas anderes im Blick des Häuptlings, als er seinen Kopf ganz langsam Alexandra zuwandte. Odo konnte sich diesen Ausdruck nicht erklären. Aber er machte ihm große Angst.