LEHREN DES ENTSETZENS
Bis heute wirkt die Schockwelle nach – was aber war
der Dreißigjährige Krieg überhaupt? Historiker entwirren Mythos
und Realität einer Zeit, die Europa brutal verändert hat.
Von
Johannes Saltzwedel
Zwei Jahre ist der Page schon im Dienst, als 1618 der Protest von Böhmens Ständen in Krieg umschlägt. Doch von solchen Malaisen merkt Hans Christopher von Königsmarck im beschaulichen Wolfenbüttel nicht sehr viel. Gerade 13 Jahre ist er alt; die keineswegs reichen Eltern hatten Glück, dass ihr Söhnchen am Hof des schwelgerischen, politisch ahnungslosen Herzogs Friedrich Ulrich von Braunschweig und Lüneburg unterkam. Gewiss, auch in der Sphäre eines Duodezherrschers kann man Hofregeln begreifen und die Standesgesellschaft durchschauen lernen. Aber ein Mitläufer möchte der kleine Königsmarck offenbar nicht bleiben. Schon mit 15 Jahren nimmt er die Gelegenheit zum Aufstieg wahr: Er wird Kavallerist in der Kaiserlichen Armee, wo er es unter Wallenstein bis zum Fähnrich bringt.
Fortan heben die blutigen Zeitläufte ihn empor: 1632, nun im Dienst des Schwedenkönigs Gustav Adolf, ist der 27-Jährige mit einer selbstgeworbenen Kompanie Dragoner unter den Besetzern des Erzstifts Bremen. 1634 wird er Oberstleutnant, 1636 Oberst, 1640 Generalmajor. 1645 erobert er wiederum Bremen und Verden und hat als Generalleutnant beste Chancen, Schwedens militärischer Oberbefehlshaber für ganz Norddeutschland zu werden.
Als ein Jüngerer den Posten erhält, gibt sich Königsmarck verstimmt. Die Ernennung zum Feldmarschallleutnant befriedigt dann aber wieder seinen Ehrgeiz, und so gelingt ihm schließlich noch einer der allerletzten Militärcoups in diesem verheerenden Krieg: Im Juli 1648 nimmt er im Handstreich die Prager Kleinseite, Prags wichtigsten Stadtteil, macht dabei reiche Beute und verschafft den Schweden einen finalen Trumpf bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück.
Lange schon hat der Haudegen mit Weitblick mehr als gut am Krieg verdient; hinterher zahlt sich sein Dienst erst recht aus. Er bleibt Gouverneur von Bremen und Verden, bekommt obendrein auf schwedischem Grund eine Grafschaft verliehen und wird sogar ausnahmsweise in den Stockholmer Reichsrat aufgenommen. Bald ist er so wohlhabend, dass er seinem fortwährend klammen Arbeitgeber große Summen vorstrecken kann. Bei seinem Tod 1663 hinterlässt Königsmarck Grundbesitz und Vermögen im Wert von fast zwei Millionen Reichstalern.
Natürlich ist dieser Lebenslauf nicht repräsentativ, ganz im Gegenteil. Aber er belegt, dass jene Epoche, der unauslöschlich das Siegel des Grauens anhaftet, wohl kaum so leicht zu durchschauen sein kann, wie landläufige Vorstellungen es suggerieren.
Dreißigjähriger Krieg: Damit verbinden sich im Schulbuchwissen Konfessionshader und plündernde Landsknechte, Massenschlachten, Verwüstungen, Hungersnot und politisches Chaos. Teuerung, Seuchen und Schübe von Hexenwahn vervollständigen das Horrordrama zum Urbild im kollektiven Unbewussten vor allem der Deutschen: Diese Ballung des Schreckens war ein grauenhaftes Naturereignis, ein »Strafgericht Gottes«, Vorschein der Hölle auf Erden.
Sogleich treten vor das geistige Auge Szenen aus Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens bedrückend anschaulicher Geschichte vom »Abenteuerlichen Simplicissimus« (1668), in der ein entwurzelter Bauernsohn durch das Miterleben von Folter, Verheerung, Drangsal und Leid denkbar hart im bösen Irrgarten der Welt umhergeschleudert wird. Oder die dumpfen Worte der Titelheldin aus Bertolt Brechts Schauspiel »Mutter Courage und ihre Kinder« (1941) klingen nach: »Ich muss wieder in den Handel kommen«, das ist alles, was dieser vom Elend gezeichneten Marketenderin, die ihre drei Kinder im Krieg verloren hat, noch zu denken übrig bleibt.
Spezialisten arbeiten seit langem daran, das Szenario vom katastrophalen »Tiefpunkt« menschlicher Existenz – wie es der Historiker Anton Schindling ausdrückt – durch einen nüchternen, analytischen Blick erklärlicher zu machen. Leicht ist das nicht, denn kaum eine Epoche bleibt auch bei näherer Betrachtung so verwickelt wie diese. Experten gliedern die einschüchternd komplexe Ereignisvielfalt darum heute je nach Ansatz
•regional: Gegen den spätestens seit 1635 erkennbaren Korridor erheblicher Verwüstungen, der sich von Südwestdeutschland bis an die mecklenburg-pommersche Ostseeküste erstreckte, hoben sich viele weithin unbehelligte, ja florierende Landstriche zwischen Nordwestdeutschland und Kärnten ab, und außerdem gab es heikle Gemengelagen wie in Oberitalien oder Polen;
•nach Ursachen und Interessen: Von der Zuspitzung konfessioneller Gegensätze bis zum knallharten Profitdenken cleverer Söldnerführer, von schlechten Ernten bis zur globalen Großmachtpolitik etwa des Hauses Habsburg kann man für jede Partei und jeden Akteur des Dramas, ja sogar für seine Opfer ein individuelles Geflecht der Motive und Ziele aufschlüsseln;
•zeitlich: Die Rekonstruktion des Wegs von der Frühphase über die Ausweitung zur europäischen Dauerkrise mit Beteiligung Schwedens, Frankreichs, Spaniens und weiterer Mächte bis zu den späten Jahren bleibt die klassische Methode, der chaotisch anmutenden Fülle Herr zu werden.
In einem Punkt sind alle Forscher einig: Den Krieg als böse Macht darzustellen, die »aus den tiefsten Untergründen der Zeitseele hervorbrechend« schließlich »wahllos überallhin züngelt«, wie einst der große Essayist Egon Friedell schrieb, hat mit wissenschaftlicher Erkenntnis nichts zu tun. Mag auch auf den ersten Blick seine Beobachtung einleuchtend erscheinen, dass sich im Verlauf der Krise etwas »Amorphes, Asyndetisches, Anekdotisches« zeige, ein Wust von Einzelgeschichten ohne höhere Logik; mag es tatsächlich viele zweitrangige »Genrefiguren und Chargenspieler« gegeben haben, ja oft der pure Zufall am Werk gewesen sein: Friedells Beschränkung auf wolkige Stimmungsbilder und nur zwei dubiose »Helden«, Wallenstein und Gustav Adolf, erweist sich selbst bei größtem Wohlwollen als irreführend.
Gegen solch eingängige, schwer ausrottbare Mythen setzen heutige Historiker den nüchternen Blick auf Strukturen, zum Beispiel das verschachtelte Gebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation: Kurfürsten, Fürsten und die Reichsstände (Adel, Geistlichkeit und freie Reichsstädte) berieten und verabschiedeten im Reichstag die Gesetzesinitiativen der vom Kaiser ernannten Regierung, zehn Reichskreise unter gewöhnlich zwei Landesherren sorgten regional für Ordnung; Streitfälle entschied das Reichskammergericht. Auch ein Reichsheer gab es schon seit dem 15. Jahrhundert – allerdings nahezu ausschließlich für den Verteidigungsfall.
Zum Glück war dieses kaum allzu flinke, dafür flexible Netz von Institutionen seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 in einer Periode relativer Ruhe mit stetigem wirtschaftlichem Aufstieg nicht überdehnt worden. Ringsum hatte es desto mehr blutige Auseinandersetzungen gegeben: Im Ostseeraum rangen die Königreiche Polen, Dänemark, Schweden und Russland trotz der Verwandtschaft etlicher Herrscher seit Jahrzehnten militärisch um die Macht, speziell um Livland. In den Niederlanden schwelte oder tobte seit 1564 der Widerstand gegen das spanische Regiment. Und Frankreich war von 1562 an immer wieder durch Hugenottenkriege erschüttert worden. Nachdem das Konzil von Trient (1545 bis 1563) die katholische Kirche gegenreformatorisch auf Kurs gebracht hatte, waren in Europa immer deutlicher zwei große konfessionelle Lager erkennbar geworden: Habsburg, dessen beide Zweige Österreich und Spanien auch Italien weitgehend kontrollierten, bildete in Dauer-Rivalität mit Frankreich die katholische Bastion. Gegen den römischen Primat standen eine große Zahl deutscher Souveräne, die skandinavischen Länder, das anglikanisch gewordene England sowie die Reformierten in den Niederlanden und anderswo.
Übersichtlich war die Lage damit freilich keineswegs; jede Macht und Gruppierung suchte hektisch ihren Vorteil. Im Reich, wo religiöse Zersplitterung und politische Kleinteiligkeit besonders eng zusammenhingen, blockierte der Bekenntnisgegensatz Ende des 16. Jahrhunderts schon große Teile der politischen Arbeit; spätestens als 1608 die calvinistische Kurpfalz mit anderen Abordnungen im Protest den Reichstag verließ, wuchs sich die Stagnation zur Krise aus. So formierte sich nun eine protestantische »Union« – pikanterweise mit Rückendeckung des pragmatisch romtreuen Heinrichs IV. von Frankreich – gegen die Interessen insbesondere der kaiserlich-katholischen Partei. Diese brachte daraufhin im folgenden Jahr unter Federführung Maximilians von Bayern prompt auch eine »Liga« ihrer Anhänger zusammen. Dennoch verstrich fast ein weiteres Jahrzehnt, bis der Prager Fenstersturz das Signal zum böhmischen Stände-Aufstand und damit zur militärischen Konfrontation gab.
»Verschiedene Konfliktreihen verbanden sich zu einem auch zeitgenössisch so wahrgenommenen Kontinuum« – so blass und zaghaft umschreibt die Frankfurter Historikerin Luise Schorn-Schütte in einem kürzlich erschienenen Band zur Geschichte der frühen Neuzeit, wie Mitteleuropa den lange gewahrten Frieden nun Zug um Zug vertat. Weder Schuldige noch Helden mag sie namhaft machen, allenfalls Phasen der Auseinandersetzung; immerhin nennt sie das Geschehen, so sehr es auch um Verfassungsideen und Machtbalancen ging, in der Summe einen »Konfessionskrieg«. Aber nicht einmal dieses schon von Friedrich Schiller erörterte Gesamturteil würden die Kollegen im In- und Ausland vorbehaltlos unterschreiben. Spätestens seit der Brite Geoffrey Parker in den siebziger Jahren den Kampf um die »Spanische Straße«, den bislang wenig beachteten Nachschubweg von Genua über die Alpen bis in die Niederlande, als wichtige Streitsache im Positionskampf der Mächte herausgestellt hat, ist unter den Fachleuten die alte Debatte, worum es in diesem Krieg eigentlich ging, wieder voll entbrannt. Und selbst nach weit über 30 Jahren wissenschaftlicher Feldzüge scheint kein Vernunftfrieden in Sicht.
Vom vorwiegend deutschen Kampf um die bedrohte Freiheit der Reichsstände bis zur bloßen Episode in der epochalen Kontroverse Habsburgs und Frankreichs um die Vormacht auf dem Kontinent; vom gnadenlos durchgefochtenen Wettstreit darum, ob Religion oder Politik das letzte Wort haben dürfe, bis zum bloßen Schein eines Gesamtvorgangs, wo in Wahrheit Regional-Scharmützel ohne wirkliche Beziehung zueinander ablaufen: Kaum eine Erklärung haben die Experten unerprobt gelassen. Vor drei Jahren wandte sich Peter H. Wilson, Geschichtsprofessor im ostenglischen Hull, auf gut tausend fesselnd geschriebenen Seiten gegen das geläufige Bild vom unausweichlichen, konfessionell bedingten Gewaltexzess. Er hielt dagegen: Erst von 1630 an eskalierte das Morden der Söldnerheere, erst das unglückliche Zusammentreffen apokalyptischer Prophetien, die Erscheinung dreier Kometen 1618/19 und das entsprechend nervöse Anheizen der Glaubenskonfrontation trieb nach seiner Ansicht die verunsicherten Mächte Mitteleuropas endgültig über die Schwelle des Krieges.
Nach manchen Theoriedebatten, die an dem gewaltigen Knäuel fürchterlicher Ereignisse letztlich nur das Unentwirrbar-Ungreifbare herauszustellen vermochten, wirkt Wilsons Detailpragmatismus befreiend: Anstatt nach alter deutscher Vorliebe den Weltgeist in flagranti überführen zu wollen, lernt der Leser Ziele und Sorgen von Menschen verstehen, die erleben mussten, wie ihr Kontinent, oft auch ihre Heimat und Existenz, ins Verderben schlidderte. Noch Jahrhunderte später, als man Heerführer wie Tilly, Wallenstein oder Gustav Adolf zu Helden stilisierte, geschah das meist unter dem Eindruck fataler Sinnlosigkeit des Kriegsgeschehens. Heute wiederum, in Zeiten politischer Korrektheit, hüten sich die meisten Historiker erst recht sorgfältig, dem millionenfachen Elend irgendwelche achtbaren Folgen zuzuschreiben.
Dennoch: Versucht man einmal so, wie der große Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt sein Handwerk beschrieben hat, über »Jubel und Jammer« des Tages hinauszublicken, dann fällt die Bilanz bei näherer Betrachtung keineswegs rein negativ aus. Das beginnt schon auf militärischem Gebiet: Anfangs hatten kleine Regionalverbände und privat finanzierte Söldnerheere das Bild geprägt; vor allem seit den späteren 1630er Jahren richteten diese Berufstruppen aus Soldmangel, Verzweiflung oder perfider Taktik schwere Verwüstungen und Massaker an. Am Ende des Krieges galt das staatliche stehende Heer als beste Lösung. Schon die neue Waffen- und Schanztechnik verlangte größere, trainierte Aufgebote mit höherer Disziplin und Experten in der Führung.
Wirtschaftlich gesehen konnte sich das von etwa 21 auf 16 Millionen Einwohner zurückgeworfene Reich nur allmählich von den Verwerfungen erholen, erklärt der Freiburger Spezialist Ronald G. Asch. Das »demografische Desaster« habe mancherorts die Einwohnerzahlen halbiert; die deutlich gesunkene Nachfrage drückte vielerorts bedrohlich den Getreidepreis, und von raschem Aufschwung oder gar einem Nachkriegsboom, so belegen neuere Studien, kann keine Rede sein. Doch unbestellte Äcker fanden auch wieder neue Besitzer, und ein tüchtiger Tagelöhner oder entlassener Söldner konnte nun vielerorts schneller zu Grundbesitz und Ansehen kommen als zuvor. Auch in der Verwaltung, an Höfen und im technischen Gewerbe bot sich Gelegenheit zum Aufstieg. Nur im Nordosten setzte sich gegen das frühere freie Bauerntum die knechtende Gutswirtschaft durch.
Kulturell brachten die enormen Sachzwänge natürlich oft Stagnation mit sich, aber das handfeste Grauen forderte Denker, Dichter, Maler und Musiker auch heraus. Heinrich Schütz, Chef der Dresdner Hofkapelle, musste wie viele Kollegen ertragen, dass Militärausgaben den Komponier-Etat schmälerten; um so innigere Harmonien ließ er sich für seine zahlreichen Klage-, Trost- und Andachtspsalmen einfallen.
Die 1617 in Weimar gegründete »Fruchtbringende Gesellschaft«, die neben anderen »alten deutschen Tugenden« vor allem das Sprachgefühl beleben wollte, förderte dank ihrer standesübergreifenden Ideale sogar das internationale Miteinander. Selbst der kaiserliche Feldherr Octavio Piccolomini, ein gebürtiger Florentiner, und Schwedens Kanzler Axel Oxenstierna wurden unter den Namen »Der Zwingende« und »Der Gewünschte« in den poetisch-gelehrten »Palmenorden« aufgenommen. Künstlerisch galt bußfertige Einkehr als Gebot der Stunde. Der schon vorher erfundene niederländisch-calvinistische Bildtyp des »Vanitas«-Stilllebens, ein weltliches Andachtsgemälde, das mit Totenschädeln, einer niedergebrannten Kerze oder einem Stundenglas die Kürze und Flüchtigkeit des Lebens symbolisierte, war gefragt wie selten zuvor. Neben allen Jenseits-Sorgen ging es um sehr konkrete Ängste: Stand nicht das gute Auskommen der europäischen Mittelschicht insgesamt auf dem Spiel?
Schon viele Historiker haben herausgestellt, dass der Krieg tatsächlich schwere Rückschläge für die bürgerliche Zivilisation mit sich brachte, gerade auch auf geistigem Gebiet. »Die spontane, lebensvolle Kunst der städtischen Gemeinschaft machte der gezwungenen, verfeinerten Kultur der kleinen Fürstenhöfe Platz« – so hat die Britin Veronica Wedgwood den stilistischen Unterschied zwischen Vor- und Nachkriegszeit zu beschreiben versucht. Frankreich habe fortan das Muster nobler Gestaltung geliefert, von der Schloss- und Parkarchitektur über Druckkunst und Mobiliar bis zum Reifrock. Dem steht entgegen, dass Barockpoeten, meist aus dem Großbürgertum, gerade im Tumult des Krieges die sprachliche Kraft des Deutschen neu entdeckten. Selten sind zum Beispiel so ergreifende Sonette gedichtet worden wie die »Tränen des Vaterlandes«, das der hochgebildete Jurist Andreas Gryphius 1636 »ganz, ja mehr denn ganz verheeret« sah.
Es war auch kaum ein bloßer Zufall, dass mitten in den bösen Jahren des Krieges Forscher wie Galileo Galilei die neuzeitliche Experimentalphysik durchzusetzen begannen und René Descartes eine rationalistische Teilung der Welt in Materie und Geist vorschlug. Gegen die eitle Hoffnung, auf dem Schlachtfeld Sieger zu bleiben, und die hetzerisch-wirren Töne von vielen Kanzeln setzten Europas Intellektuelle mehrheitlich auf nüchterne Rechts- und Denkregeln, in denen die Freiheit des Einzelnen gestärkt wurde. Am ehesten für krisenfest hielten die desillusionierten Theoretiker Prinzipien, die unmittelbar aus der Natur ableitbar erschienen. Desillusionierung, erlitten oder erstrebt, ist als Leitthema der Epoche an vielen Stellen herauszuhören. Wie Shakespeare oder sein großer spanischer Zeitgenosse Lope de Vega die Welt auf der Theaterbühne als tragikomisches Narrenhaus porträtiert hatten, so zeigten die niederländischen Maler Rubens und Rembrandt bei allem bestellten Pomp immer auch die Hinfälligkeit irdischer Güter. Gegen die umfassende Ernüchterung half höchstens galanter Zeitvertreib, zum Beispiel die von Italien aus verbreitete Schäfermode mit ihren Utopien natürlicher Gleichheit in idyllischer Parklandschaft.
Selbst auf diplomatischem Parkett brachte das jahrelange blutige Ringen ein bedeutsames Umdenken in Gang: Indem der Westfälische Frieden die Gleichrangigkeit souveräner Mächte herausstellte, habe er geradezu »stilbildend« gewirkt, erklärt der in Münster lehrende Historiker Johannes Arndt. Dieser Frieden einte das Reich nicht territorial, sondern steigerte noch die frühere Kleinteiligkeit zu nun 1789 reichsunmittelbaren Gewalten, darunter 296 Souveränen. Weite Gebiete im Norden ließ er unter schwedische Hoheit und das Elsass an Frankreich fallen. National denkenden Historikern des 19. Jahrhunderts ist dieses Ergebnis als schauderhafter »Ruin« deutscher Einheitshoffnungen erschienen, wie ihr Epigone Egon Friedell es plakativ zusammenfasste. Doch tatsächlich war die ersehnte »pax optima rerum« keineswegs eine Schmach. Nicht nur hatte das Reich, wie der Jenaer Historiker Georg Schmidt formuliert, durch die Kriegswirren einen »Verdichtungsschub« hin zu höherer Identität erfahren, es ging daraus sogar stabiler und lebensfähiger hervor. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sollte sich die Reichsverfassung als »defensive Rechtsordnung« und »politische Heimat der Deutschen« (Johannes Arndt) mehr als leidlich behaupten; Opfer, Blut und Qualen waren für ihre Entstehung schließlich im Übermaß gebracht worden.
»Europa braucht einen dreißigjährigen Krieg, um einzusehen, was 1792 vernünftig gewesen wäre«, polterte denn auch noch der Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe, als er auf dem Schlachtfeld bei Verdun erfuhr, dass seine Kollegen in Weimar den preußisch-österreichischen Schlagabtausch mit Frankreich kurzerhand zum »Reichskrieg« erklärt hatten. Er erinnerte sich noch gut an die Kaiserkrönung, die er als Junge in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main miterlebt hatte. So hielt er jede fahrlässige Unterhöhlung dessen, was 1648 in Münster und Osnabrück nach langen Mühen besiegelt worden war, für einen Schritt in die politische Apokalypse. Mehr als zwei Jahrzehnte europäischer Krieg und napoleonische Wirren sollten seinem Argwohn dann bitter recht geben.
Natürlich wird niemand den diffusen, aufreibenden Hickhack um die Macht einfach als Lernprogramm und Experiment epochalen Ausmaßes buchen mögen. Und dennoch: Vielleicht waren die Resultate nicht rein negativ. Vielleicht braucht die fatale Ereignisfolge, für die auch noch so langes Probieren kein griffigeres Etikett gefunden hat als »Dreißigjähriger Krieg«, in der historischen Bilanz nicht völlig auf der Verlustseite abgebucht zu werden. Als letzter kontinentaler Religionskrieg hat der Konflikt blutig bewiesen, wie wenig konfessionelle Lehrsätze als Leitbilder der Macht taugen – und damit unter enormen Opfern letztlich doch das Vertrauen in die säkulare Weltbetrachtung gestärkt. Im Ringen der Großmächte miteinander hat er alle Beteiligten davon überzeugt, dass niemand, nicht einmal der Kaiser, den alten Traum vom Universalreich verwirklichen könnte, also den Föderalgedanken und das diplomatische Miteinander plausibler gemacht. Und intellektuell führte das namenlose Elend sogar zu einer Grundsatz-Besinnung, in der heute die wichtigsten Vorboten der Aufklärung erkennbar sind.
Natürlich wäre es zynisch, wollte man Tod, Hunger und unermessliches Elend wegen solcher langfristigen, schwer belegbaren Konsequenzen zur nützlichen Episode auf dem Weg Europas in ein halbwegs geordnetes, von Vernunft und Toleranz geleitetes Miteinander erklären. Aber zumindest indirekt haben die drei Jahrzehnte auch positive Spuren hinterlassen. Deshalb lohnt es allemal, wie schon Zeitgenossen und Nachfahren es taten, über Ursachen, Wechselfälle und Lektionen dieser grausamen Konflikt-Epoche weiter nachzudenken.