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Inhalt

1    In dem wir einen Zentimeter verlieren, aber einen Meilenstein gewinnen

Mut zur Kommunikation

2    In dem wir unser altes Leben wegpacken

Eine Fahrtenyacht wählen und ausrüsten

3    In dem wir endlich loslassen und viel gewinnen

Segelkenntnisse

4    In dem wir den Spuren der Wikinger folgen

Hafenmanöver

5    In dem wir Skandinavien hinter uns lassen

Der Dreitagestörn

6    In dem wir Urlaub vom Meer machen

Das Dingi

7    In dem wir in Einklang mit der Natur kommen

Segeln im Nebel

8    In dem wir in die Wikingerzeit zurückversetzt werden

Ankern

9    In dem wir die dunkle Kraft genieβen lernen

Ersatzteile und Werkzeuge

10   In dem wir zu echten Hochseeseglern werden

Biskaya-Taktiken

11   In dem wir die ersten Fahrtensegler kennenlernen

Gäste an Bord

12   In dem Bernardo uns die wichtigste Lektion erteilt

Die Bordschule

13   In dem wir unser Bestes tun, um vor dem Segeln zu warnen

Versicherungen

14   In dem wir den Kurs ändern

Seekrankheit

15   In dem die Kinder uns zu den Wolkengipfeln führen

Kommunikation

16   In dem wir eine Schlacht verlieren, aber die Liebe zum einfachen Leben gewinnen

Atlantic Rally for Cruisers – ARC

17   In dem wir unsere letzten Vorbereitungen treffen

Proviantieren für den Atlantik

18   In dem wir einen Ozean überqueren

Fischen

19   In dem wir über Hochs und Tiefs reflektieren

Passatwindsegeln

20   In dem wir dem Paradies sehr nahe kommen

Diesel und Gas

21   In dem wir im Hier und Jetzt nicht an die Zukunft denken wollen

Abfall

22   In dem wir ein kleines Stückchen Frankreich besuchen und ein Gefühl für das alte England bekommen

Kochen

23   In dem wir von der gängigen Route in der Karibik abweichen

Sicherheit

24   In dem wir Abschied nehmen

Routen aus der Karibik

25   In dem wir wie durch das All gleitend eine merkwürdige Insel erreichen

Strom an Bord

26   In dem Herb uns zu jeder Zeit sicher leitet

Bürokratie und einklarieren

27   In dem wir die Azoren verlassen und ein Versprechen abgeben

Wetter

28   In dem wir den harten Weg gehen

Die Bordtoilette

29   In dem wir unsere Anfangserwartungen überprüfen

Extra-Crew

30   In dem das frühere Leben wieder zum Vorschein kommt …

Technisches

Danksagung

1

In dem wir einen Zentimeter verlieren, aber einen Meilenstein gewinnen

Träumen

Stellen Sie sich Ihr Leben doch einmal auf einem Maβband vor. Jeder Zentimeter könnte ein Jahr Ihres Lebens bedeuten. Auf wie viele Zentimeter schätzen Sie Ihre Lebenserwartung? Schneiden Sie Ihr Band dort ab. Wie viele Zentimeter sind Sie schon auf Ihrem Lebensweg gewandert? Markieren Sie diesen Punkt. Wie viele Zentimeter liegen noch vor Ihnen? Womit möchten Sie diese Zukunft füllen?

Meine Frau Karolina und ich waren schon fast 40 Zentimeter weit auf unserem Daseinsband gekommen, als wir es an einem kalten Wintertag zur Hand nahmen. Wir spielten nämlich mit dem Gedanken, irgendwo aus der Mitte unseres Weges einen Zentimeter herauszuschneiden: gleichsam symbolisch aus unserem Alltagstrott auszubrechen. Um unsere Lebenssituation besser zu begreifen, griffen wir zur Schere, schnitten drauflos und klebten die beiden Stränge des Maβbandes wieder aneinander. Das Erstaunliche war: Wir konnten kaum einen Längenunterschied an der Gesamtstrecke feststellen! Das Band erschien uns immer noch recht lang – auf jeden Fall lang genug für ein normales Leben, so wie die meisten Menschen es führen.

Der ausgeschnittene Zentimeter lag auffordernd auf unserem Wohnzimmertisch. Er sah so winzig aus, und doch könnte er mit so vielen Erlebnissen gefüllt werden. Allerdings nur, falls wir es tatsächlich wagen würden, ein Sabbatical einzulegen.

Das Herumschnipseln gaben wir bald wieder auf, den Zentimeter warfen wir in meine Nachttischschublade und vergaβen ihn. Wir hatten ja so viele vermeintlich wichtigere Dinge zu tun, als über dessen Bedeutung zu philosophieren oder über die Länge, den Inhalt oder die Qualität unseres Lebens nachzugrübeln. Wir waren voll ausgelastet und für eine Abweichung, geschweige denn einen Ausstieg, viel zu beschäftigt. Also konzentrierten wir uns weiter auf unsere Berufstätigkeit, sorgten für unsere Kinder, chauffierten sie zu ihren unzähligen Aktivitäten und wieder nach Hause und versuchten, konstant unser Tempo zu halten, um die vielfältigen Anforderungen des Alltages bewältigen zu können. Dabei verloren wir immer öfter den Blick für das Wesentliche. Abend für Abend gingen wir mit einem erhöhten Pensum an unerledigten Aufgaben zu Bett, obwohl wir uns in der hohen Kunst des Multitaskings immer mehr perfektionierten.

Ohne Zweifel hatten wir damals ein gutes Leben! Vielleicht war es nicht gerade aufsehenerregend, aber komfortabel, erfolgreich und zufriedenstellend. Die täglichen Probleme, die zu jedem Leben gehören, hievten wir wie Steine zur Seite und hofften darauf, so unseren abgesteckten Weg zum Ziel freizuschaufeln. Einige gröβere Brocken wogen schwer wie kleine Berge, aber insgesamt wussten wir immer, wie wir im Leben weiterkommen wollten. Die groβen Herausforderungen, die wir bereits in jungen Jahren erfolgreich bewältigt hatten, lagen schon einige Jahre hinter uns. Oftmals erschien uns alles so anstrengend. Doch wir erinnerten uns auch an die wunderbaren Stunden des Glücks und des Stolzes, wenn wir wieder eine Sprosse die Erfolgsleiter hinaufgeklettert waren. Im Vergleich zur früheren Befriedigung verursachte uns der ständige Alltagskampf nun jedoch zunehmend weniger Glücksgefühle. Zudem schienen auch unsere weiteren Aussichten wenig verlockend zu sein: Wir versuchten uns vorzustellen, welche Überraschungen unser Schicksal noch bereithalten könnte. Oder war das schon alles gewesen? Hatten wir auf halber Strecke schon alles kennengelernt, und würde es mit uns im besten Fall einfach immer so ähnlich weitergehen? Solche Fragen plagten uns, als wir zu träumen begannen und von einem Leben mit mehr Sinn, Tiefgang und Glück fantasierten.

Viele Menschen verwirklichen ihren Ausstieg auf Zeit in vier Phasen: träumen, planen, handeln und wiedereingliedern. Wir liebten die ersten beiden Schritte, wobei der Schritt vom Träumen zum Planen unseren ganzen Mut erforderte. Bei diesem Übergang fällt nämlich die wesentliche Entscheidung: Der Traum wird plötzlich sehr fassbar und konkret. Die letzte Phase, die auch für uns so verzwickte Wiedereingliederung, haben wir bis heute noch nicht ganz bewältigt, erwies sie sich doch für uns alle als viel schwieriger, als wir es uns vorgestellt hatten. Denn wir haben uns verändert! Ob wir je wieder so werden wie früher, ist nicht mehr sicher. Und noch entscheidender: Wollen wir das überhaupt?

Während der ersten Phase träumten wir davon, etwas Auβerordentliches zu unternehmen: eine Zeit lang einen alternativen Lebensstil auszuprobieren und uns selbst zu verwirklichen. Vielleicht wollten wir auch einen Hauch von Abenteuer erleben, aber bitte ohne Angst! Und nicht für immer, nur für ein Jahr oder so. Eine einschneidende Veränderung ist natürlich mit neuen Erfahrungen und einem gewissen Risiko verbunden, und jeder muss für sich selbst die Entscheidung treffen, wie weit er den Wechsel treiben und welche Mittel er dabei einsetzen möchte. Auf jeden Fall füllt man eine Auszeit am besten mit einer Tätigkeit, für die eine gewisse Leidenschaft im Herzen schlummert. In unserer Familie ist es das Segeln. Und so entschieden wir uns für eine lange Reise auf dem Meer. Die zentrale Erfahrung unserer Auszeit wurde jedoch die innere Reise, ausgelöst durch die selbst gewählte Lebensveränderung, welche zu einem wunderbaren Wandel führte, der unser seelisches Wachstum förderte – unabhängig vom Boot und vom Meer. Diese Reise – und unser neues Leben – begann bereits an jenem Tag, als wir den Zentimeter aus dem Maβband herausgeschnitten hatten.

Dies ist deshalb die Geschichte einer ganz normalen Familie mit durchschnittlicher Segelerfahrung, einem stabilen Lebenslauf und einem nicht ungewöhnlichen Traum. Wir wollten gemeinsam etwas Neues machen, etwas Besonderes erreichen, etwas Mutiges, das wir noch Jahre später mit einem genussvollen und stolzen Schmunzeln aus der Erinnerung abrufen könnten. Ich glaube, wir strebten nach Selbsterkenntnis, doch das verstanden wir damals noch nicht. Unser Buch handelt von unserem inneren Wandel, den wir langsam vollzogen, ohne ihn bewusst angestrebt zu haben. Wir wurden davon überrascht und bekamen als Belohnung Gelassenheit geschenkt, sodass wir heute wichtigen Entscheidungen, gröβeren Gefahren und Herausforderungen und jeder neuen sozialen Umgebung besonnen entgegentreten können.

In welcher Lebensphase sehen Sie sich zurzeit? Möglicherweise befinden Sie sich ja schon in der Traumphase, oder hätten Sie sonst dieses Buch in die Hand genommen? Ich kann mich noch gut an die Jahre entsinnen, in denen ich an keinem Bootszubehörladen vorbeilaufen konnte, ohne in dessen Bücherregalen zu stöbern, und auf jeder Bootsmesse zogen mich die Buchstände magnetisch an, um nach den Neuerscheinungen von segelnden Familien Ausschau zu halten. Eigentlich wollte ich immer wieder dieselbe Frage beantwortet haben: Wie brachten diese Familien den Mut auf, alles Vertraute hinter sich zu lassen, um einem ungewissen Abenteuer entgegenzusegeln?

Vielleicht denken Sie ähnlich wie ich damals, dass man als Familie ganz speziell gestrickt sein muss, eine groβe Menge Mut braucht, ein wenig Waghalsigkeit, sogar einen Hauch Naivität und schlieβlich auch überdurchschnittliches Glück, damit alles gut gehen kann.

Wir nahmen unsere Kinder aus der Schule, verkauften unser Haus, gaben unsere Berufe auf, und dann, ganz einfach, lieβen wir die Leinen los und segelten aus dem Hafen. Vielleicht sind wir tatsächlich etwas abenteuerlich veranlagt, und wir brauchten sicherlich auch eine Portion Mut, aber wir sind nicht mehr vom Glück gesegnet als andere Familien. Im Gespräch mit den vielen segelnden Eltern-und-Kinder-Crews, die wir unterwegs getroffen haben, wurde deutlich, dass wir alle eine sehr ähnliche Entwicklung durchlaufen haben: mit den gleichen Fragen, mit ähnlichen Ängsten und vergleichbaren Erlebnissen vor, während und nach der Durchführung unseres Segelabenteuers.

Ein Beispiel: Während unserer Traumphase konnten wir unzählige Gründe aufzählen, warum gerade wir ein solches Segelprojekt niemals in die Tat umsetzen würden. Ich pflegte mit Ehrfurcht Segelbücher zu verschlingen, die von all den anderen Glücklichen handelten, die es geschafft hatten, ihre Träume zu verwirklichen. Wir hatten keine Erfahrung im Blauwassersegeln und zudem einen attraktiven Arbeitsplatz als Ingenieure und Kinder, die zur Schule mussten! Wir zweifelten, ob wir es uns überhaupt leisten könnten, ein ganzes Jahr ohne finanzielle Einnahmen auszukommen. Viele gute Gründe, dort zu bleiben, wo man sitzt, oder? Aber nachdem wir wieder einmal einen Vortrag von einer echten Blauwasserseglerin gehört hatten, ging ich am Ende des Referates zu ihr und sagte, dass wir auch so gerne das machen würden, wovon sie gerade erzählt hatte.

»Na, dann tu’s doch!«, antwortete sie forsch.

Ich dachte, sie hätte mich nicht verstanden. Damals war ich noch davon überzeugt, dass ich mein so sorgsam geregeltes Leben weder verändern dürfe noch könne. Wie engstirnig ich doch war! Heute weiβ ich: Was man wirklich will, das kann man auch und sollte es tun! Das Leben ist so lang – was ist da schon ein Zentimeter Auszeit? Daher warne ich meine Leser: Sie lesen unser Buch auf eigene Verantwortung! Es könnte sein, dass auch Sie vom Fernweh angesteckt werden, Ihre Chancen sehen und plötzlich den Entschluss fassen, ebenfalls die Leinen loszulassen. Auf jeden Fall würden wir uns sehr freuen, Ihnen auf den Weltmeeren zu begegnen, denn Platz ist dort genug, und das Risiko, dass Sie Ihren Aufbruch bereuen, scheint mir eher gering. Tatsächlich bereuen die meisten Menschen auf dem Sterbebett eher das, was sie im Leben unterlieβen, als das, was sie gewagt haben. Und mir ist noch keiner begegnet, der am Ende bereute, nicht genug gearbeitet zu haben.

Aus der Rückschau war für uns der Übergang zwischen der Phase vom Träumen zum Planen am schwierigsten. Diesem Schritt ging ein langer innerer Kampf voraus, der sich in unzähligen Gedanken und Diskussionen im Kreis drehte. Immer wieder erwogen wir dieselben Vor- und Nachteile, Risiken und Chancen, ohne ein klares Bild zu bekommen. Die Herausforderung schien einfach zu vielschichtig, denn wir hatten Angst vor einer Veränderung! Dieser Prozess ist verständlich und sogar notwendig.

Sollten auch Sie diesen inneren Kampf schon in sich selbst gespürt haben: Keine Sorge, wir haben alle darunter gelitten – er gehört dazu! Angst ist der Schrecken jedes denkenden Menschen! Angst steht im Zusammenhang mit stammesgeschichtlich herausgebildeten Warn- und Schutzfunktionen und kann schon bei der Vorstellung einer potenziellen Bedrohung auftreten. Daher führt sie oftmals zu Vermeidung, unterdrückt möglicherweise die Freude am Erkunden von Neuem oder am Spiel und hemmt somit Initiative und Kreativität. Aber man kann sie überwinden und den bewussten, reflektierten und respektvollen Umgang mit Angst in einem weitgehend kontrollierten Rahmen auch als lustvoll, befreiend und zutiefst befriedigend erleben. So tobt ein lebenslanger Kampf in jedem Einzelnen von uns zwischen dem Suchen, Ausprobieren und Erkunden auf der einen und dem Vermeiden, Kontrollieren und Bewahrenwollen des Bekannten auf der anderen Seite. Beide Pole haben ihre Berechtigung, und jeder Mensch muss seine eigene Balance zwischen diesen beiden konkurrierenden Kräften in sich finden. Gewinnt die Vernunft diesen Kampf jedoch vielleicht zu oft in unserer von Rationalität geprägten Informationsgesellschaft? Werden unsere Gefühle unterdrückt, fehlt es an Fantasie, Neudenken sowie der Bereitschaft umzudenken? Sind wir deshalb für individuelle und daher unübliche Gedankengänge zu blockiert? Die Evolution hat uns den Verstand und die Fähigkeit zum Angsterleben gegeben, um Gefahren erkennen und ihnen ausweichen zu können, denn das Unbekannte könnte gefährlich sein! Aber ohne den Mut, manchmal auch das Risiko einzugehen, etwas zu unternehmen, das wir nicht ganz verstehen oder kennen, das heiβt, dessen Konsequenzen nicht von Anfang bis Ende ersichtlich sind, gäbe es keine persönliche Weiterentwicklung und keinen Fortschritt.

Eines Abends lag ich lesend im Bett (dreimal dürfen Sie raten, worum es in dem Buch ging!), suchte dann nach einem Kugelschreiber und grub in meiner Nachttischschublade herum. Ich fand keinen Stift, wohl aber den mittlerweile vergessenen Zentimeter. Er hätte zu keinem besseren Zeitpunkt wieder auftauchen können. Den ganzen Tag hatte ich erfolglos versucht, den Eingangskorb meiner E-Mails, der überzulaufen drohte, in den Griff zu bekommen. Die Kontrolle über meinen Alltagsstress drohte mir aus der Hand zu gleiten. Ich fragte mich, wo das alles hinführen sollte. Die Menschen um mich herum und auch ich selbst arbeiteten alle sehr hart an dem, was man Karriere nennt. Für mich hatten diese operative Hektik und das unaufhörliche Streben nach »mehr« zunehmend etwas mit dem pausenlosen Lauf in einem Hamsterrad gemein. Alle strebten wir nach Komfort und Reichtum. Dabei wurde die Zeit für uns selbst, für die Familie, für Freunde zu einem seltenen Luxusgut. Aber Genuss braucht Zeit, die wir kaum noch dafür zur Verfügung hatten. Wir schienen das Leben aus Gewohnheit zu leben. Effiziente Routine beherrschte unseren Alltag – Gelegenheit zum Müβiggang gab es kaum noch. Wollte ich wirklich so den Rest meiner Tage verbringen? Wo waren meine Glücksgefühle abgeblieben? Das Leben vergeht so schnell, sollte ich da nicht etwas langsamer gehen?

Ich drehte den winzigen Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinger vorsichtig hin und her, während ich ihn genau betrachtete. Meine Gedanken machten sich selbstständig und führten ein Selbstgespräch mit dem kleinen Schnipsel. Ein fehlender Zentimeter im Lebenslauf, wäre das ein verlorener Zentimeter? Oder könnte er zu etwas Besserem führen? Könnte so ein Ausstieg nicht auch ein Einstieg in ein Leben mit befreiend erweitertem Erfahrungshorizont werden? Anstatt auf das Glück zu warten, damit es uns durch Zufall findet, müssen wir es uns wohl eher durch harte Arbeit erkämpfen, indem wir Probleme und Veränderungen als Herausforderungen sehen und diese zu Erfolg verwandeln. Es gibt kein objektives Glück; wir müssen uns selbst glücklich machen. Der Schlüssel dazu liegt in uns selbst. Doch Glück hat leider keine Beständigkeit, sondern im Gegenteil eine extrem kurze Halbwertszeit; es muss immer wieder neu geschaffen werden. Es ist ein Abenteuer, Glück durch selbst gesetzte realistische Ziele immer wieder neu aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu erleben. Ich glaube, man muss sich durch ein Projekt arbeiten, mit unvorhergesehenen Ereignissen rechnen, auf das Ziel fokussiert bleiben, um so schlieβlich eine Befriedigung erringen zu können. Insofern hat das Erleben von Glück auch mit Disziplin zu tun.

Ich starrte immer noch den Zentimeter an und sah vor meinem geistigen Auge das türkise Meer und eine paradiesische Palmeninsel und malte mir aus, was geschehen würde, falls mich das Blauwassersegeln wirklich so sehr faszinierte, dass ich gar nicht mehr an Land zurückkehren wollte. Wir haben einen Freund, der einmal gesagt hat, er wolle das Blauwassersegeln lieber gar nicht ausprobieren, denn er habe Angst, es so zu genieβen, dass er nie mehr in einen normalen Alltag zurückkönne.

»Besser, es nicht zu wissen …«, murmelte er, während er in seinem Büro mit dem Gestus groβer Wichtigkeit bedeutungsvolle Papiere von einem Haufen zum anderen schob. Nachdem wir das Blauwassersegeln ja nun gewagt haben und seit einiger Zeit versuchen, uns wieder an unser altes Leben zu gewöhnen, muss ich zugeben, er hatte nicht unrecht.

Entschlossen schüttelte ich alle meine verrückten Träume ab, warf den kleinen Zentimeter in seine Schublade zurück und schloss sie mit einem lauten Ruck. Was für eine blöde Idee! Blauwassersegeln! Das Paradies ist sowieso kein geografischer Ort mit einer Position mit Breiten- und Längengrad. Und gäbe es ihn, er wäre überfüllt! Dann meldete sich der Ingenieur in mir zu Wort: Ist das Leben nicht wie elektrische Spannung? Es muss einen Minuspol geben, um einen Pluspol zu erzeugen. Dabei geht es um das Potenzial, denn eine absolute Spannung gibt es nicht. Ich begann das zu sehen, was die Chinesen Yin und Yang nennen. Nicht einmal Glück schien ohne Trauer, Angst, Herausforderungen und Schmerz zu existieren. Während der darauffolgenden Wochen sprachen Karolina und ich viel über unsere Lebenssituation und unsere zukünftigen Möglichkeiten. Es dauerte nicht lange, bis uns beiden klar war, dass wir unbedingt eine Veränderung wollten, selbst wenn uns damit schwierige Zeiten, harte Arbeit, wenig Geld und das Risiko des Unbekannten bevorstünden. Unsere Träume begannen sich zu formen und wurden immer konkreter. Wir sprachen plötzlich anders miteinander und fragten uns immer öfter: »Wie wäre es, wenn wir es so angehen würden …«, statt uns in zermürbenden Diskussionen über mögliche Gründe, warum wir es nicht probieren sollten, im Kreis zu drehen. Gleichzeitig vermieden wir es, mit der Familie und Freunden über unsere immer konkreter werdenden Fantasien, Ziele und Wünsche zu sprechen. Sie würden uns sowieso nicht verstehen.

An einem kühlen Herbsttag erfanden wir ein neues Spiel: Wie würde es sich anfühlen, falls wir eine bestimmte Woche festlegten für den Ausstieg? Noch war es nur ein Wunschtraum! Wann wäre der beste Zeitpunkt? Wir wollten sicher nicht mit Teenagern an Bord lossegeln. Ein Jugendlicher auf der Schwelle zum erwachsenen Leben ist lieber mit Freunden zusammen anstatt mit seinen Eltern auf einem langweiligen Boot, wo es absolut keine Abwechslung gibt. Also müssten wir vor dem dreizehnten Geburtstag unserer Tochter Jessica zurück sein. Auf der anderen Seite hatten wir noch viel vorzubereiten. So stellten wir uns vor – es war schlieβlich nur eine Gedankenübung –, wir könnten lossegeln, sobald Jessica elf Jahre alt wäre. Unser Sohn Jonathan wäre dann neun Jahre alt beim Ablegen. Wir nahmen ein neues Maβband, hängten es an die Wand und entschieden, dass jeder Zentimeter darauf eine Woche bis zum Beginn unseres Abenteuers festlegte. Die Schere ging hoch und runter, bis wir bei 87 Zentimetern stehen blieben und den Entschluss fassten, dort zu schneiden. Fertig? Achtung: eins … zwei … drei … Schnitt! Am Ende jeder Woche versammelten wir vier uns vor dem aufgehängten Maβband und knipsten einen weiteren Zentimeter ab. Plötzlich wurde alles erschreckend real: Unser Leben bis zum Tag X verstrich alarmierend schnell, und Woche für Woche wurde es kürzer! Die Tage flogen dahin, und wir standen nur da und schauten zu.

Ich glaube, das war der Zeitpunkt, als wir mit dem Träumen aufhörten und mit dem Planen begannen. Unser Leben hatte ein neues Ziel mit einem festen Datum. Ab sofort lebten wir in zwei parallelen Welten: Wir erfüllten die Ansprüche unseres Alltags, während unser Projekt gleichzeitig immer gröβere Aufmerksamkeit verlangte. Das war nicht immer einfach, aber es machte Spaβ. Wir fühlten uns plötzlich so lebensfroh wie nie zuvor, es ging vorwärts, und vor allem: Es war keine Flucht, wir liefen nicht vor etwas weg, um uns im Paradies auf einer karibischen Insel zu verstecken. Was wir suchten, war der Atem des Lebens: das Auf und Ab, Stürme und Flauten, Natur und Zivilisation, Land und Meer, Menschen und Einsamkeit. Zudem wünschten wir uns, bessere Segler zu werden und als Familie noch mehr zusammenzuwachsen.

Mehr und bewusst Zeit mit den Kindern zu verbringen war deshalb ein wichtiger Bestandteil unseres Projektes. Hatten wir nicht die Pflicht, ihnen so viel wie möglich von dieser Welt zu zeigen? Wir wollten Jessica und Jonathan die Erfahrung ermöglichen, dass man Aufgaben auf unterschiedliche Arten bewältigen kann, man es nicht überall auf der Welt gleich macht, und ihnen damit die Chance für flexibles, zukunftsorientiertes Denken geben sowie Toleranz für unbekannte Menschen und fremde Kulturen zeigen.

Während unserer ersten Phase, der des Träumens, hatten wir das Maβband genutzt, um den Status quo unseres Lebenswegs auszuleuchten. Der bewusste Zentimeter gab uns die Zuversicht und den Mut, aus unserer Tretmühle für eine gewisse Zeit auszusteigen. Während unserer zweiten Phase, der des Planens, verfestigten wir unsere Hoffnung, dass wir tatsächlich eines Tages unser bisher gewohntes und lieb gewonnenes Leben loslassen und neue Erfahrungen zulassen würden. Und wie benutzten wir das Maβband in unserer dritten Phase, der des Segelns? Ganz einfach: Wir warfen es weg. Zeit und Raum verschmolzen für uns, eine Messung wurde unwesentlich. Die kleinen Abschnitte verloren an Bedeutung, denn wir lebten mehr und mehr im Hier und Jetzt.

Im Laufe der ganzen Vorbereitung sprachen wir nur mit sehr wenigen Menschen über unser bevorstehendes Abenteuer. Nie legten wir eine zeitliche Grenze unseres Törns fest, und wir nannten auch kein bestimmtes Ziel. Viel zu leicht hätte jede Abweichung als Misserfolg verstanden werden können – falls wir zum Beispiel früher als geplant zurückkehrten oder eine kürzere Route wählten. Wir wollten uns alle Türe offen lassen. Falls uns das Leben auf dem Meer nicht mehr zusagen würde, wollten wir – zu welchem Zeitpunkt auch immer – mit einem guten Gefühl wieder nach Hause zurückkehren können. Mit gutem Gewissen würden wir dann all diese Träume aus unserem Leben streichen, schlieβlich hätten wir sie erprobt und eine Erkenntnis gewonnen. Das wäre immer noch besser, als ein Leben lang darüber zu grübeln, eventuell die wichtigste Chance im Leben verpasst zu haben. Wir entschieden, dass wir nur so lange unterwegs sein wollten, bis einer von uns vieren den Wunsch äuβerte, das Abenteuer abzubrechen. Jeder hatte ein Vetorecht, von dem er jederzeit Gebrauch machen konnte und welches ohne weitere Diskussionen von allen akzeptiert werden müsste. Zu unserem Glück kam niemals ein Veto zum Einsatz.

Mut zur Kommunikation

Mit diesem Buch möchte ich Sie gerne zum Fahrtensegeln anregen. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, Ihr Selbstvertrauen zu stärken. Sollten Sie so neugierig sein wie ich, werden Sie wahrscheinlich besonders am Anfang viele Fragen haben. Neben Learning by Doing kann man besonders viel von den Erfahrungen anderer Segler profitieren.

Sind Sie erst einmal gestartet, wird es wahrscheinlich nicht lange dauern, bis Sie Ihre eigenen Empfehlungen und Erfahrungen weitergeben können. Dann entwickelt sich alles fast von selbst: Selbstvertrauen und -bewusstsein, immer mehr Freude am Segeln sowie das wunderbare Gefühl, zur Gruppe der Segler zu gehören.

Sollten Sie Freude daran haben, in einem Hafen die Bootsstege entlangzuspazieren, dürfen Sie nicht davor zurückschrecken, Segler auf deren Booten anzusprechen und Fragen zu stellen. Fast alle und insbesondere solche, die auf einer Fahrtenyacht sitzen, lieben es, Menschen kennenzulernen, und sprechen gern über alles, was mit dem Segeln zu tun hat. Je mehr Personen Sie ansprechen, desto mehr Meinungen und höchst unterschiedliche Antworten auf dieselbe Fragestellung werden Sie erhalten: Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen. Die spannendste Frage bleibt dann, für welchen Weg Sie sich selbst entscheiden, welcher Weg und welches Ziel Ihnen entsprechen. Kombiniert man diese Gespräche mit dem Lesen von Segelbüchern, der Teilnahme an Segelkursen und selbst gewonnenen Erfahrungen, gewinnt man eine sehr solide Basis für die Theorie und Praxis des Fahrtensegelns. Auch wir haben auf diese Weise viele Tipps und Tricks kennengelernt, die ich Ihnen am Steg liebend gerne weitergeben würde, sollten Sie uns ansprechen, während wir im Cockpit sitzen. Da wir uns aber vielleicht nie begegnen werden, fasse ich meine Erfahrungen ersatzweise gebündelt am Ende jedes Kapitels zusammen. Diese Denkanstöβe und Anregungen erheben aber in keiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit und sind ebenso wenig als Lernstoff gedacht. Vielleicht sind Sie Ihnen nicht einmal von Nutzen, da Sie andere Vorstellungen, Wünsche und Ziele haben, das heiβt: anders segeln und leben möchten. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Fahrtensegeln interessant, erlebnisreich und persönlich erfüllend zu gestalten. Gerade das ist das Besondere: Fahrtensegeln bietet die gröβtmögliche Freiheit, die eigene Individualität in Harmonie mit anderen Menschen, Natur und Umwelt auszuleben. Genau das ist es, was wir daran so sehr lieben.

Auch für das Segeln gilt das Zitat von Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, auβer man tut es!« Vielleicht werden ja auch Sie eines Tages Teil der wunderbaren Gemeinschaft der Blauwassersegler, die sich selbst Yachties nennen. Ich würde mich freuen.

2

In dem wir unser altes Leben wegpacken

Planen

Es war schon Mai, und die Umsetzung des zweiten Schrittes vom Planen zum tatsächlichen Segeln lag nur noch wenige Wochen entfernt. Unser damaliges Leben als chaotisch zu beschreiben, wäre eine glatte Untertreibung. Wie konnte es dazu kommen? Wir hatten uns bis dahin für gute Organisatoren gehalten und unser Leben im Griff gehabt. Überstieg das Segelprojekt unsere Fähigkeiten? Erwarteten wir zu viel vom Leben und von uns? Und wenn es schon in der Planungsphase so chaotisch zuging, wie sollte dann erst unser Segelabenteuer enden?

In nicht mehr als zwei Wochen sollte eine Umzugsfirma unser Heim leeren: jedes Möbelstück, jedes Betttuch, jede Winterjacke, alle unsere Bücher und Ordner, unsere Töpfe und Pfannen – alles, was wir an Bord nicht benötigten – sollten in irgendeinem Lager verschwinden. Was für ein Schritt: Nur sechs Wochen zuvor hatten wir noch nicht einmal den Entschluss gefasst gehabt, unser Haus zu verkaufen. Jetzt kämpften wir mit den Folgen des Hausverkaufs, und plötzlich wurde sehr deutlich, dass Planung nicht nur Organisationstalent, sondern auch Mut und Flexibilität erfordert. Erst kürzlich hatten wir mit einer Seglerfamilie gesprochen, die mit ihren zwei Töchtern drei Jahre lang um die Welt gesegelt war.

Sie hatten uns gefragt: »Warum wollt ihr euer Haus unbedingt behalten? Warum verkauft ihr es nicht?«

Wir konnten diese Frage nicht beantworten. Vielleicht gab uns das Haus ein Gefühl der Sicherheit, falls wir die Notbremse ziehen wollten? Doch in den folgenden Gesprächen erkannten wir, dass dies ein Trugschluss war. Wir waren nicht einmal mehr sicher, ob wir überhaupt in unser Haus zurückkehren wollten, denn es war für heranwachsende Kinder nicht gerade ideal. Warum also ein Haus behalten, das unseren Bedürfnissen zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht gar nicht mehr entsprechen würde? Und schon entwickelte sich der nächste Gedanke: Die Welt ist so groβ und schön, warum sollten wir überhaupt unbedingt in dieselbe Kleinstadt zurückkehren? Das Haus könnte sogar zu einer Last werden, Mieter könnten vielfältige und unangenehme Probleme verursachen und damit unsere Handlungsfreiheit bei der Rückkehr stark einschränken. Mit jedem Schritt und mit jeder Entscheidung, die wir trafen, wurde unsere innere Welt gröβer, unsere persönlichen Grenzen verschoben sich. Unsere privilegierte Lebenssituation, Entscheidungen nach persönlichen Vorstellungen frei treffen zu können und das Leben kreativ zu gestalten, anstatt fremdbestimmt in eng gesetzten Grenzen handeln zu müssen, erfüllte uns mit immer gröβerer Freude. Doch es schlich sich manchmal auch der Zweifel ein, ob wir nicht zu viel veränderten und uns damit überforderten. Es ist nicht einfach, mit Freiheit sinnvoll umzugehen.

Unser Einzug an Bord, der aus einem nie enden wollenden Packen und Verstauen bestand, zeigte uns auch die Kehrseite eines Aufbruchs und Abschieds vom geliebten Haus und unserer Heimat. In den wenigen ruhigen Minuten, die wir vor unserer Abreise noch zum Nachdenken fanden, fragte ich mich im Geheimen, warum wir kein gröβeres Boot gekauft hatten. Wo sollten wir alles verstauen? Kiste um Kiste verlieβ unser Haus und wurde an Deck unserer REGINA abgestellt, und irgendwie geschah das Wunder, dass leere Kartons wieder den Weg an Land fanden. Falls deren Inhalt sich nicht in der feuchten Hafenluft aufgelöst hatte, musste er sich doch irgendwo an Bord versteckt haben, oder? Wir erstellten endlose Listen, um den Verbleib unserer Habseligkeiten zu dokumentieren. Würden wir sie je wiederfinden?

Todmüde fielen Karolina und ich jeden Abend spät ins Bett und fragten uns immer wieder: Warum tun wir uns all dies an? Warum haben wir unser Haus verkauft? Warum haben wir unsere Firma aufgegeben? Warum gaben wir unser bequemes Leben auf, mit dem regelmäβigen Einkommen, guten Freunden, guten Weinen und mit einer Schule, die den Kindern doch so gefiel? Doch die am schwierigsten zu beantwortenden Fragen für uns waren: Warum freuten sich Jessica und Jonathan so sehr und konnten den Einzug an Bord und den Beginn unseres Segelabenteuers kaum erwarten? Waren wir alle verrückt geworden?

Es versteht sich von selbst, dass ich zu diesem Zeitpunkt von unserem Vorhaben nicht mehr ganz so überzeugt war. Das Selbstvertrauen, das ich mir während der vielen Jahre aufgebaut hatte, schien unter der schweren Bürde der Verantwortung für das zukünftige Wohlergehen meiner Familie sowie der zermürbenden Müdigkeit dahinzuschmelzen. Ich war erschöpft von der Arbeit im Büro, erschöpft von den Vorbereitungen des Umzuges und von dem endlosen Verstauen unserer Utensilien an Bord, erschöpft davon, Versicherungen abzuschlieβen, den Unterricht der Kinder für unterwegs vorzubereiten, Ersatzteile und Werkzeuge zu beschaffen; erschöpft vom Einscannen unendlich vieler Seiten aus Bedienungsanleitungen, von Kochrezepten, Fotos und wichtigen Dokumenten, damit sie alle auf der Festplatte unseres Computers mitreisten, und müde von der nie enden wollenden Auswahl von Kleidern, Büchern, CDs und Teddybären, mit denen wir den engen Platz an Bord teilen wollten.

Was wir an Land zurücklieβen, schien immer weniger Bedeutung für uns zu haben. Unzählige bisher für notwendig gehaltene Dinge, die wir weder verschenken, verkaufen noch wegwerfen wollten, verschwanden in besonders gekennzeichneten Kisten und wurden auf dem Dachboden von Karolinas Eltern in Sicherheit gebracht. Und gleichzeitig erhob sich die Frage: Warum behielten wir all dies? Für unsere Enkelkinder? Wir wussten es nicht. Viele Aspekte unseres alten Lebens verloren in dieser Anfangszeit der Reise immer mehr an Wert. Neue Steuergesetze, politische Querelen, Wirtschaftszahlen, Börsenkurse …, die früher für uns so wichtigen TV-Sendungen, die wir mit Interesse verfolgt und die unser Leben beeinflusst hatten, erreichten uns kaum mehr, wir schenkten ihnen einfach immer weniger Beachtung. Vielleicht waren wir viel zu beschäftigt und zu sehr auf unseren Abreisetermin konzentriert, an dessen mögliche Einhaltung wir kaum mehr glaubten.

Je näher der Tag des Abschiedes heranrückte, desto gröβer wurden meine Zweifel. Was würden zum Beispiel unsere Freunde und Bekannten wirklich denken, wenn wir ihnen verkündeten, zukünftig nur noch über Satellitentelefon erreichbar zu sein, sodass sie nie wissen konnten, ob sie uns gerade im Kampf mit Sturmwinden auf dem Atlantik erwischten, oder ob wir in den Tropen beim Schnorcheln waren? Würden sie sich fragen: Warum machen die das? Würden sie uns für verantwortungslos und verrückt halten?

Unsere REGINA allerdings war uns noch nie so bezaubernd und attraktiv vorgekommen: nahezu startbereit für das groβe Abenteuer. Es fehlten nur noch die Lebensmittel, wobei Karolina das Proviantieren perfekt beherrschte. REGINA schien zu lächeln, ich konnte es genau fühlen. Es waren bald nicht mehr die Reisevorbereitungen, die uns noch festhielten, sondern es war nur unser altes Leben, das uns noch festhielt. Immer wieder verstrickten wir uns in als wichtig erscheinende, noch in letzter Minute zu bewältigende Aufgaben. Warum konnten wir nicht einfach loslassen und auslaufen? Mit ein bisschen Glück wollten wir in Kürze an Bord umziehen; es gab wirklich nur noch wenige abschlieβende Probleme an Land zu lösen, während wir auf den Ferienbeginn unserer Kinder warteten. Wenn die Schule im kommenden Herbst für ihre Klassenkameraden wieder losging, würde für Jessica und Jonathan alles anders sein. Erstens würden dann ihre eigenen Eltern zu ihren Lehrern. Aber auch ganz andere Lehrmeister sollten den Unterricht prägen: bisher unbekannte Orte, neue Kulturen, fremdartige Mentalitäten und aufregende Erlebnisse.

Wie werden unsere Kinder diese neue Erlebnispädagogik bewältigen? Werden sie davon profitieren? Inwiefern werden wir uns alle verändern? Was wird das Leben uns lehren, auf einem 40-Fuβ-Boot lebend, so intensiv und eng beieinander, ohne Möglichkeit des Rückzugs und der Flucht, ständig untewegs? Warum wollten wir uns den Naturgewalten so unmittelbar aussetzen und vom gut situierten Bürger zum Vagabunden werden? Warum wollten wir nicht einfach wie unsere Freunde und Verwandten den bisher üblichen Lebensweg fortsetzen?

Die vielseitige und von Schönheit geprägte Mutter Natur wird nun unsere unmittelbare Nachbarin werden – eine groβe Chance für die Erweiterung sozialer Kompetenzen, besonders für die Eltern. Jedoch war unser bisheriger Alltag sicherlich mit viel weniger Problemen behaftet gewesen, als sich ständig deren Launen auszusetzen. Doch allen Bedenken und Zweifeln zum Trotz: Wir sehnten den Zeitpunkt immer ungeduldiger herbei, an dem wir unseren Heimathafen sachte im Kielwasser verschwinden sehen würden, und ich hoffte inständig, dass wir bis dahin noch deutlicher erkennen könnten, warum wir all dies auf uns nahmen.

Eine Fahrtenyacht wählen und ausrüsten

Die Wahl einer Fahrtenyacht sollte mindestens so sehr mit dem Herzen wie mit dem Verstand getroffen werden. Eigner und Schiff verbindet oftmals eine besondere Beziehung, eine hohe Affinität. In unserem Fall ist REGINA zum Synonym für unser Zuhause geworden. Alle in unserer Familie sprechen liebevoll von ihr, fast wie von einem Familienmitglied.

Ähnlich wie bei der Wahl eines Lebenspartners, so sollte auch ein Schiff nicht nur eine lange Liste an Besonderheiten erfüllen, und dabei ist äuβere Attraktivität natürlich nicht von Nachteil. Denn es stimmt: Schiffe mit graziösen, ausgeglichenen Linien, die eine Freude für das Auge sind, segeln und bewegen sich wesentlich besser im Meer als plumpere Modelle.

Sie haben wahrscheinlich zumindest eine ungefähre Vorstellung, wie viel Geld Sie für Ihre Yacht ausgeben möchten. Schauen Sie sich vorzugsweise jene Schiffe an, die circa 20 Prozent unter Ihrem Budget liegen, und versuchen Sie, falls es sich um ein Gebrauchtboot handelt, weitere 15 Prozent herunterzuhandeln. Das auf diese Weise gesparte Geld wird nämlich schon sehr bald von beim Kauf nicht kalkulierten Ausgaben verschlungen werden.

Wenn Sie weder äuβerst kühn noch erfahren sind, ist es ratsam, ein »Standardfahrtenschiff« einer Serienherstellung mit herkömmlichem Rigg und bewährtem Layout zu kaufen. Falls Sie sich das Schiff auf einer Messe oder im Hafen anschauen, stellen Sie es sich bei 30 Grad Schräglage und Wellengang vor. Können und wollen Sie dann noch unter Deck arbeiten? Eine wichtige Frage.

Ein tiefes v-förmiges Unterwasserschiff schneidet Wellen auf weichere Art und ist in rauer See bequemer als ein Boot mit plattem Unterwasserschiff, das leicht schlägt in den Wellen. Sollten Sie mit einem älteren Modell liebäugeln, sollten Sie vorzugsweise ein bewährtes Fahrtenschiff und einen Schiffstyp wählen, der noch hergestellt wird.

Was die Schiffsgröβe betrifft, so bedenken Sie, dass Wasser, Diesel, Vorräte, Ersatzteile, Bücher und Habseligkeiten sehr viel wiegen, was für ein Schiff mit gröβerer Verdrängung spricht. Andererseits ist natürlich auch der Faktor Geschwindigkeit zu berücksichtigen.

Hat das ausgewählte Schiff noch keinen Ozean überquert, würde ich mir viel Zeit lassen (vielleicht sogar Jahre), um es genau kennenzulernen und auszurüsten. Sie können einen Gutachter fragen, welche Ausrüstung notwendig wird, falls das Boot als Offshore-Charterschiff Verwendung finden soll. Oder Sie orientieren sich an den Anforderungen der ARC (Atlantic Rally for Cruisers). Auch Yachtzeitschriften beschreiben die Ausrüstung, die sich auf Ozeanrallies (z.B. ARC) bewährt haben.

Am besten aber befragt man erfahrene Blauwassersegler, entweder persönlich oder man schlägt auf den vielen Webseiten im Internet nach, auf denen die Fahrtensegler ihre bewährten Ausrüstungslisten vorstellen. E-Mailen Sie, und stellen Sie Fragen!

Was erst kürzlich auf den Markt gekommen ist, ist eher mit Vorsicht zu betrachten. Lassen Sie im Zweifel die Finger davon und wählen Sie bewährte, simple, autonome und redundante Systeme. Bauen Sie nicht zu viel ein. Erstens kann, was nicht da ist, auch nicht kaputtgehen, und zweitens kann man vieles auch unterwegs nachrüsten.

Wollen Sie, dass Ihre Partnerin oder Ihr Partner mit Ihnen auf groβe Fahrt geht, vergessen Sie nicht, auch sie bzw. ihn mit einzubeziehen und ein aktives Mitbestimmungsrecht einzuräumen. Teamgeist zahlt sich an Land und zur See aus.

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In dem wir endlich loslassen und viel gewinnen

Das Kielwasser

An einem regnerischen Junitag war es endlich so weit. Unzählige Male hatte ich mir genau den Moment vorgestellt: wie es sein würde, unsere Traumreise anzutreten. Alles hatte ich mir so einfach zurechtgeträumt: Wir würden unternehmungslustig aus unserem Heimathafen Ystad in Südschweden heraus in Richtung Horizont, Freiheit und Abenteuer segeln. Die Sonne sollte von einem klarblauen Himmel scheinen. Glückliche Gesichter voller Erwartung sollten mich umgeben. Natürlich war dann alles ganz anders! Schwere Regenwolken hingen tief über dem Wasser, und ein nasser Nieselregen fegte durch die Luft. Es war kalt. Kaum jemand war unterwegs, und so fühlten wir uns recht allein. Doch vom Wetter abgesehen, empfanden wir die Einsamkeit in diesem für uns so bedeutungsvollen und emotionalen Moment als durchaus passend. Eigentlich hatten wir es uns gar nicht anders gewünscht. Wir hatten bewusst niemandem den Tag unseres Auslaufens verraten, nicht einmal uns selbst. Der Grund dafür war simpel: Wir kannten den Abfahrtstermin nicht! Wir wollten ablegen, sobald wir dafür bereit waren, uns keinen Zwang antun oder irgendeinen Druck spüren nur wegen eines am grünen Tisch festgelegten Datums.

Obwohl wir manchmal den Eindruck gewonnen hatten, mit unseren Vorbereitungen nie fertig zu werden und immerfort gestresst waren, kam der Tag zum »Leinen los« eben doch. Zufälligerweise fiel er auf den nassen, kalten, grauen sowie verregneten 13. Juni – obwohl richtige Seeleute niemals an einem 13. eines Monats den Hafen verlassen. Wir waren so erschöpft, wir vergaβen sogar unseren Aberglauben. Keine groβe Abschiedsparty an Land, kein lokaler Zeitungsreporter, keine groβartige Bekanntmachung über den Aufbruch der »heldenhaften Familie, die die Weltmeere bezwingt«, was sowieso in der Regel sofort als Weltumsegelung missverstanden wird. Abgesehen von der Entscheidung, überhaupt so ein Segeljahr durchzuführen, ist genau dieser Moment des Ablegens, wenn man Familie und Freunde zurücklassen muss, der absolut härteste Moment des ganzen Projektes.

Ich hatte vor unserer Abreise gegenüber allen Bekannten, Freunden und Verwandten inklusive meiner eigenen Familie behauptet, dass die heutige Welt um etliches kleiner geworden sei und dass gegenseitige Besuche kein Problem darstellen würden. Billige Flüge, Satellitentelefone, Skype und E-Mails könnten uns alle zusammenhalten. Verzweifelt hatte ich versucht, besonders den Verwandten einzureden, dass unser Törn im Grunde nichts anderes sei als ein gewöhnlicher, nur etwas verlängerter Segelurlaub. Offensichtlich klang ich dabei nur wenig überzeugend; sie glaubten genauso wenig dran wie ich selbst. Unsere Familie, alte Bekannte und neu gewonnene Freunde blieben nun alle an Land – fast kam es uns so vor, als ob wir sie ins Kielwasser geworfen hätten. Bald verblieben nur noch Wellen, die unsere Erinnerungen überspülten. Ich hielt meine Tränen zurück und starrte verbissen in den Wind, wobei die Vermutung nahelag, dass wir wohl noch öfter einen solchen Abschiedsschmerz spüren würden: Ich fürchtete schon jetzt all diese Abschiede von Segelfreunden, die wir unterwegs gewinnen würden, und die zum Seglerleben gehören wie das Meer, die Wellen und der Wind.

Zwölf Monate später hatte sich meine Vorahnung nicht nur als richtig erwiesen, sondern machte sich mit einem fast unausstehlichen Schmerz bemerkbar. Beim Ablegen im Heimathafen hatte ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen können, wie hart uns am Ende der Abschied von den Yachties treffen sollte. Die vielen Leute, die wir während unseres Segeljahres kennenlernten, die Freunde, die wir gewannen, die Tage, die wir teilen durften, die Abenteuer, die wir gemeinsam bestehen mussten: All dies wurde im Laufe der Zeit unverzichtbar. Begegnung und Abschied, Nähe und Distanz in menschlichen Beziehungen sind wie Wellenbewegungen. Der Abschiedsschmerz ist der Preis für gute Freundschaft, die spätere Wiederbegegnung der Lohn. Erst wenn sich diese Interaktion harmonisch, fast wie ein Tanz vollzieht und Gleichklang daraus resultiert, verstehen wir die Basis wahrer Freundschaft und sind imstande, jeden Abschied als einen Neubeginn einer vielleicht lebenslangen Freundschaft zu sehen.

Zum Glück vernahm ich an jenem 13. Juni tief in meinem Herzen eine ganz leise Stimme, die mir die verheiβungsvollen Lockungen für einen neugierigen Wanderer zuflüsterte und mich aufforderte, die Welt zu entdecken, neue Erfahrungen zu sammeln – und insbesondere neue Freunde zu gewinnen. Hätte ich diese zarten Einflüsterungen nicht vernommen, hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt abzulegen. Um Mitternacht fiel die helle Sommernacht langsam übers Kattegat. Es war kühl, und ich fühlte mich ein wenig einsam bei meiner Nachtwache, während alle anderen an Bord fest schliefen.

»Der Sommer kommt doch etwas spät in diesen Breitengraden, falls er überhaupt kommt«, sinnierte ich laut.

War es verrückt, unsere Tour in Richtung Norden zu beginnen? Es schien schon etwas paradox, dass REGINA auf nördlichem Kurs längs der dänischen Küste war, obwohl wir ja eigentlich geplant hatten, in den warmen Süden zu segeln! Ich blickte in unser Kielwasser, das sich mit der ewigen Dünung des Meeres vermischte. Wie lange würden sich unsere Freunde und Kollegen noch an uns erinnern, und in welcher Form? Ich befürchtete, unsere Lebensspuren würden schon bald – wie die Spur hinter dem Heck von REGINA im Seegang – als unbedeutend untergehen. Also richtete ich meinen Blick nach vorn, kontrollierte unseren Kurs und nahm einige Korrekturen am Autopiloten vor. Unser nächster Hafen: Unbekannt!

»Ich muss diese Entscheidung erst noch mal überschlafen«, hatte Karolina gesagt, als sie sich nach ihrer Wache in die Koje zurückzog und mich mit dem Boot und meinen Fragen zum nächstmöglichen Anlaufhafen allein lieβ. Vielleicht sollten wir nach Aalborg im Norden Dänemarks segeln und Karolinas Onkel besuchen, der dort lebt? Oder nach Skagen an der nördlichsten Spitze Dänemarks, denn dort lagen Freunde mit ihrem Boot, die, genau wie wir, gerade ihren Jahrestörn begonnen hatten? Oder warum nicht zu meiner Mutter abdrehen, die zurzeit in Lysekil an der Westküste Schwedens Urlaub machte? Vielleicht noch besser, den guten Wind ausnutzen und direkt von hier nach Norwegen durchsegeln? Mir wurde plötzlich bewusst, dass wir Familie und Freunde nicht nur zurücklieβen, sondern auch vor uns hatten. Es wurde Zeit, endlich konsequent nach vorne zu blicken.

Segelkenntnisse

Sollten Sie den Plan verfolgen, einen Ozean zu überqueren, obwohl Sie bisher noch nie gesegelt sind, haben Sie noch einiges vor sich. Dennoch gibt es eine durchaus stattliche Anzahl von Seglern, die dieses Ziel in relativ kurzer Zeit verwirklicht haben. Wir trafen viele Segler auf dem Weg in den Pazifik mit wenig Segelerfahrung.

Wenn Sie bald los wollen, wenden Sie sich am besten an eine der vielen Segelschulen im In- und Ausland, beispielsweise die Royal Yachting Association (RYA), die in vielen Ländern vertreten ist und international hohes Ansehen genieβt. Verteilen Sie Ihre Teilnahme an den Kursen auf mehrere Wochen oder sogar Länder, so gewinnen Sie an zusätzlicher Lernerfahrung: übers Wetter und über die Segelreviere bis hin zu sehr unterschiedlichen Tipps durch Ihre Lehrer und Skipper.

Um an praktischer Erfahrung zu gewinnen – auch ohne eigenes Schiff –, können Sie sich auch als Crewmitglied in Ihrem lokalen Segelklub bewerben. Oft gibt es am Anfang und am Ende der Saison Gelegenheit, eine Yacht von einem Liegeplatz zum nächsten zu überführen. Interessierte bzw. kompetente Crewmitglieder sind da häufig sehr willkommen. Ebenso könnten Sie auch als Crew an Klub-Regatten teilnehmen. Auch Blauwasserseminare, oft im Kontext von Bootsmessen angeboten, sind immer interessant. Fortgeschrittene können von Offshore Sail Training Expeditions profitieren, die in sehr interessanten Revieren der Welt angeboten werden. Spätestens in dem Sommer, bevor Sie lossegeln wollen, ist es ratsam, einige längere Törns zu unternehmen (Nachtsegeln inbegriffen), um Schiff sowie Crew zu testen und vorzubereiten. Auch Manöver wie beispielsweise Sturmtaktik, beidrehen oder Mann-über-Bord-Simulation unter Segeln und bei etwas stärkerem Wind und Wellengang sind wertvolle Übungen.

Sollten Sie schon einige Jahre Erfahrung in ihrem Revier gesammelt haben, können Sie Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auch unterwegs weiter ausbauen. Man muss nicht perfekt sein, um auf groβe Fahrt zu gehen; vieles kommt automatisch durch die praktischen Anforderungen. Doch bleiben Sie ehrlich und konstruktiv-selbstkritisch, und nehmen Sie stets Rücksicht auf Ihre Crew. Ein Team ist immer nur so gut wie sein schwächstes Mitglied. Zudem unterliegen wir Segler Begrenzungen durch Naturgewalten und Material, denen geschickt Rechnung getragen werden muss, um keine ernsthaften Schwierigkeiten zu provozieren.

irgendwannImpeller. Auch werdengrundlegenden