Ally Condie
Cassia & Ky – Die Flucht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer
FISCHER E-Books
Ally Condie stammt aus dem südlichen Utah, USA, einer wunderschönen Gegend, die der Landschaft in ›Die Flucht‹ als Vorlage diente. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Salt Lake City. Nach ihrem Studium unterrichtete sie mehrere Jahre lang Englische Literatur in New York, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Romane um ›Cassia & Ky‹ werden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und sind große internationale Bestseller.
Weitere Titel der Autorin:
›Die Auswahl‹ (Cassia & Ky 1) – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 18835)
›Die Ankunft‹ (Cassia & Ky 3) – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 19592)
›Atlantia‹ – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 19884)
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Erschienen bei FJB, einem Unternehmen
der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Crossed‹ im Verlag Dutton, einem Unternehmen der Penguin Group, New York.
© 2011 Allyson Braithwaite Condie
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Dieses Werk wurde im Auftrag von Sonnet LLC, Writers House LLC, New York, durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Das Gedicht ›Geh nicht gelassen in die gute Nacht‹ von Dylan Thomas wurde zitiert aus der Ausgabe: Dylan Thomas ›Windabgeworfenes Licht‹, herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Martens, aus dem Englischen von Erich Fried, Curt Meyer-Clason u.a.
© 1992 Carl Hanser Verlag München
Die Gedichte ›Dich habe ich nicht erreicht‹ und ›Sie fielen wie Flocken‹ von Emily Dickinson sowie ›Überqueren der Barre‹ von Alfred Lord Tennyson wurden übersetzt von Stefanie Schäfer.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
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ISBN 978-3-10-401985-7
Für Ian,
der hinaufblickte
und loskletterte.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht,
Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert;
Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.
Weil keinen Funken je ihr Wort erbracht,
Weise – gewiss, dass Dunkel rechtens dauert –,
Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.
Wer seines schwachen Tuns rühmt künftige Pracht
Im Sinken, hätt nur grünes Blühn gedauert,
Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.
Wer jagt und preist der fliehenden Sonne Macht
Und lernt zu spät, dass er nur sie betrauert,
Geht nicht gelassen in die gute Nacht.
Wer todesnah erkennt im blinden Schacht,
Dass Auge blind noch blitzt und froh erschauert,
Im Sterbelicht ist doppelt zornentfacht.
Und du mein Vater dort auf der Todeswacht,
Fluchsegne mich, von Tränenwut vermauert.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht.
Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.
Sonnenuntergang und Abendstern
Und ein klarer Ruf für mich!
Oh, möge es kein Seufzen an der Barre geben,
Wenn ich in See nun stech’.
Aber Flut und Wellen ruh’n,
Zu voll für Ton und Gischt,
Wenn das, was aus der grenzenlosen Tiefe kam,
Weder zur Heimat kehrt.
Dämmerung und Abendglocke
Und dann danach das Dunkel!
Oh, möge keine Traurigkeit den Abschied mir erschwern,
Wenn ich an Bord nun geh’.
Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,
Mag Flut mich weit hinweg geleiten,
So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,
Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.
Ich stehe in einem Fluss. Er ist blau. Dunkelblau. Er reflektiert die Farbe des Abendhimmels.
Ich bewege mich nicht. Aber der Fluss. Er bedrängt mich und raschelt im Ufergras. »Raus da!«, befiehlt der Wachmann auf der Böschung und richtet den Strahl seiner Taschenlampe auf uns.
»Aber Sie haben doch gesagt, wir sollen die Leiche im Wasser versenken«, erwidere ich, als hätte ich den Wachmann falsch verstanden.
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie baden gehen sollen!«, blafft der Wachmann. »Lassen Sie ihn los, und kommen Sie raus. Aber ziehen Sie ihm vorher den Mantel aus. Den braucht er jetzt nicht mehr.«
Ich blicke auf zu Vick, der mir mit der Leiche hilft. Vick setzt keinen Fuß ins Wasser. Er ist zwar nicht von hier, aber jeder im Lager kennt die Gerüchte über die vergifteten Flüsse der Äußeren Provinzen.
»Alles in Ordnung«, flüstere ich Vick rasch zu. Die Wächter und Funktionäre wollen, dass wir uns vor diesem Fluss fürchten – vor allen Flüssen –, damit wir nicht auf die Idee kommen, aus ihnen zu trinken, oder versuchen, sie zu durchqueren.
»Wollen Sie keine Gewebeprobe haben?«, rufe ich dem Wachmann zu, während Vick unschlüssig ein Stück entfernt vom Ufer stehenbleibt. Das eiskalte Wasser reicht mir bis zu den Knien. Der Kopf des toten Jungen hängt in einem unnatürlichen Winkel nach hinten, und seine offenen Augen starren in den Himmel. Die Toten sehen nichts – ganz im Gegensatz zu mir.
Ich sehe zu viele Dinge. Das war schon immer so. Worte und Bilder verbinden sich auf seltsame Weise in meinem Kopf, und ich bemerke kleinste Details, wo immer ich auch bin. So auch jetzt. Vick ist kein Feigling, aber in diesem Moment erkenne ich die Maske der Angst auf seinem Gesicht. Die Arme des toten Jungen baumeln herunter, und die Fäden, die fransig von seinen Mantelärmeln hängen, schweben im Wasser. Seine dünnen Knöchel und die nackten Füße schimmern fahl in Vicks Händen, während er sich einen Schritt näher ans Ufer wagt. Wir mussten dem Jungen bereits die Stiefel ausziehen, und der Wachmann schwingt sie an den Schnürsenkeln hin und her wie ein schwarzes Pendel. Mit der anderen Hand richtet er den Lichtkegel der Taschenlampe genau auf meine Augen.
Ich werfe dem Wachmann den Mantel zu. Er muss die Stiefel fallen lassen, um ihn aufzufangen. »Du kannst loslassen«, sage ich zu Vick. »Er ist nicht schwer, ich kann ihn allein tragen.«
Aber Vick kommt zu mir ins Wasser. Die Beine des toten Jungen werden nass, und seine schwarze Zivilkleidung saugt sich voll. »Tolles Abschiedsbankett!«, ruft Vick dem Wachmann zu. Er klingt aufgebracht. »Hat er sich das Abendessen gestern ausgesucht? Wenn ja, geschieht es ihm recht, dass er tot ist.«
So lange schon habe ich keine Wutgefühle mehr zugelassen, dass sie mich jetzt förmlich überwältigen. Sie füllen meinen Mund, aber ich schlucke sie hinunter, scharfkantig und metallisch, als beiße ich mich durch die Alufolienverpackung eines Essensbehälters. Der Junge musste sterben, weil die Wächter sich verrechnet haben. Sie haben ihm nicht genügend Wasser zu trinken gegeben, deswegen ist er zu früh gestorben.
Wir müssen die Leiche unauffällig loswerden, weil in diesem Zwischenlager eigentlich niemand sterben dürfte. Damit müssen wir warten, bis man uns hinaus in die Dörfer schickt, wo der Feind uns erledigen wird. Aber nicht immer läuft alles wie geplant.
Die Gesellschaft will, dass wir uns vor dem Sterben fürchten. Ich habe keine Angst davor. Nur davor, auf die falsche Weise zu sterben.
»So enden Aberrationen«, erwidert der Wachmann ungeduldig und geht einen Schritt auf uns zu. »Das wissen Sie doch. Es gibt keine letzte Mahlzeit. Keine letzten Worte. Lassen Sie ihn los, und kommen Sie aus dem Fluss.«
So enden Aberrationen. Ich senke den Blick und sehe, dass das Wasser genauso schwarz geworden ist wie der Himmel. Noch lasse ich nicht los.
Bürger enden mit letzten Mahlzeiten, letzten Worten und Gewebeproben, die aufbewahrt werden, um ihnen die Aussicht auf Unsterblichkeit zu bieten.
Mit einer letzten Mahlzeit oder einer Gewebeprobe kann ich nicht dienen, aber Worte kann ich ihm schenken. Worte gibt es immer, und sie wandern zusammen mit Bildern und Zahlen durch meinen Kopf.
Also flüstere ich ein paar, die zu dem Fluss und dem Tod passen:
Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,
Mag Flut mich weit hinweg geleiten,
So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,
Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.
Vick schaut mich überrascht an.
»Jetzt«, sage ich, und gemeinsam lassen wir los.
Der Schmutz ist Teil von mir. Das heiße Wasser im Eckwaschbecken läuft über meine Hände und rötet sie so, dass sie mich an Ky erinnern. Meine Hände ähneln seinen inzwischen ein wenig.
Allerdings erinnert mich fast alles an Ky.
Mit einem Stück Seife in der Farbe dieses Monats, November, schrubbe ich meine Finger ein letztes Mal. In gewisser Weise mag ich den Schmutz. Er setzt sich in jede Hautfalte und verwandelt meine Handflächen in Landkarten. Einmal, als ich sehr müde war, sah ich hinunter auf die Kartographie meiner Haut und stellte mir vor, sie könne mir verraten, wie ich zu Ky gelange.
Ky ist fort.
Meine ganze jetzige Situation – abgelegene Provinz, Arbeitslager, schmutzige Hände, körperliche Erschöpfung, seelische Qual – hängt damit zusammen, dass Ky fort ist und ich ihn suchen will. Wie seltsam, dass sich Abwesenheit wie Anwesenheit anfühlen kann. Er fehlt mir so sehr, dass ich dieses Gefühl vermissen würde, wenn es nicht mehr da wäre. Ich würde mich umdrehen und voller Überraschung feststellen, dass ich wirklich ganz allein bin, wohingegen ich vorher wenigstens etwas hatte – wenn auch nicht ihn.
Ich wende mich von dem Waschbecken ab und sehe mich in unserer Unterkunft um. Die schmalen Fenster hoch oben in den Mauern sind dunkel, denn draußen ist die Nacht hereingebrochen. Es ist die letzte Nacht, bevor wir verlegt werden, und die nächste Arbeitsstelle wird meine letzte sein. Morgen, so wurde mir mitgeteilt, werde ich nach Central gebracht, der größten Stadt der Gesellschaft, weil mein endgültiger Arbeitsplatz in einem der dortigen Sortierzentren liegen wird. Eine richtige Arbeitsstelle, nicht länger dieses Wühlen in der Erde, diese harte, zehrende Plackerei. Mein dreimonatiger Arbeitseinsatz hat mich in mehrere Lager geführt, aber bisher lagen alle in der Provinz Tana. Ich bin Ky bisher keinen Schritt näher gekommen.
Wenn ich flüchten und mich auf die Suche nach ihm machen will, muss es bald geschehen.
Indie, eines der anderen Mädchen in meiner Unterkunft, drängt sich auf dem Weg zum Waschbecken an mir vorbei. »Hast du wenigstens noch ein bisschen heißes Wasser für uns übrig gelassen?«, schimpft sie.
»Ja. Natürlich«, flüstere ich. Sie murmelt etwas vor sich hin, dreht das Wasser auf und greift nach der Seife. Mehrere Mädchen stehen hinter ihr Schlange, andere sitzen erwartungsvoll auf ihren Etagenbetten, die in langen Reihen an den Wänden stehen.
Es ist der siebte Tag, der, an dem die Nachrichten eintreffen.
Vorsichtig löse ich den kleinen Beutel von meinem Gürtel. Jede von uns hat so einen kleinen Beutel, und wir müssen ihn ständig bei uns tragen. Der Beutel ist mit Nachrichten gefüllt. Wie die meisten anderen Mädchen auch hebe ich die Seiten so lange auf, bis sie unleserlich geworden sind. Sie ähneln den zarten Blütenblättern der Neorosen, die Xander mir geschenkt hat, als ich wegzog, und die ich ebenfalls aufbewahrt habe.
Während des Wartens lese ich die alten Nachrichten. Die anderen Mädchen ebenfalls.
Schon nach kurzer Zeit vergilbt das Papier an den Rändern und zerfällt – wir dürfen die Worte lesen, sollen uns aber nicht an sie klammern. Meine letzte Nachricht ist von Bram: Er arbeite hart auf den Feldern und sei ein vorbildlicher, stets pünktlicher Schüler, was mich zum Lachen bringt. Ich weiß, dass er zumindest beim letzten Punkt die Wahrheit ziemlich strapaziert. Eine andere Passage treibt mir die Tränen in die Augen – er sagt, er habe sich den Inhalt von Großvaters Mikrochip angesehen, den aus dem goldenen Etui seines letzten Banketts.
Der Historiker liest eine Zusammenfassung von Großvaters Leben und ganz am Ende eine Liste von Großvaters liebsten Erinnerungen vor, schreibt Bram. Jede davon galt einem von uns. Seine Lieblingserinnerung an mich war das erste Wort, das ich gesprochen habe – ›mehr‹. Seine Lieblingserinnerung an dich war eine, die er ›den Tag im roten Garten‹ nannte.
Am Tag des Banketts habe ich nicht besonders auf den Inhalt von Großvaters Mikrochip geachtet. Ich war zu sehr auf seine letzten Momente in der Gegenwart konzentriert, um mich für seine Vergangenheit zu interessieren. Später habe ich mir immer wieder vorgenommen, mir seinen Mikrochip einmal in Ruhe anzusehen, doch ich bin nie dazu gekommen. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Mehr noch: Ich wünschte, ich könnte mich an ›den Tag im roten Garten‹ erinnern. Wobei ich mich natürlich an viele Tage erinnere, an denen ich mit Großvater auf einer Bank inmitten der roten Knospen im Frühling, der roten Neorosen im Sommer oder der roten Blätter im Herbst gesessen habe. Das muss er wohl gemeint haben. Bestimmt hat Bram sich geirrt, und Großvater erinnerte sich an ›die Tage im roten Garten‹, Plural. Die Tage im Frühling, Sommer und Winter, an denen wir dort zusammensaßen und uns unterhielten.
In der Nachricht von meinen Eltern schwingt große Freude und Erleichterung mit, denn sie haben die Mitteilung erhalten, dass der nächste Einsatz im neuen Arbeitslager mein letzter sein wird.
Ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich freuen. Sie glauben selbst an die Liebe und gaben mir eine Chance, Ky ausfindig zu machen, bedauern aber nicht, dass diese Chance bald vorüber ist. Ich bewundere sie dafür, dass sie es mich versuchen ließen. Das ist mehr, als die meisten Eltern tun würden.
Ich schiebe die Blätter wieder zu einem kleinen Stapel zusammen und denke dabei an Spielkarten, denke an Ky. Angenommen, ich könnte durch diese Verlegung zu ihm gelangen? Indem ich mich im Flugschiff verstecke und mich über den Äußeren Provinzen wie ein Stein hinausfallen lasse?
Doch wenn ich es täte, was würde er sagen, wenn er mich nach dieser langen Zeit wiedersähe? Würde er mich überhaupt noch wiedererkennen? Ich weiß, dass ich mich verändert habe. Nicht nur meine Hände sehen anders aus. Trotz der reichen Mahlzeiten bin ich von der harten Arbeit sehr dünn geworden. Dunkle Schatten zeichnen sich unter meinen Augen ab, weil ich nicht schlafen kann, obwohl die Gesellschaft unsere Träume hier nicht überwacht. Zwar beunruhigt es mich, dass man sich kaum um uns zu kümmern scheint, aber ich genieße die neue Freiheit des Schlafens ohne die Elektroden. Dennoch liege ich wach und denke über alte und neue Wörter und einen Kuss nach. Der Gesellschaft gestohlen, als sie einmal nicht hinsah. Dabei bemühe ich mich wirklich, einzuschlafen, weil ich Ky am deutlichsten in meinen Träumen sehe.
Hier bekommen wir Außenstehende nur zu Gesicht, wenn die Gesellschaft es genehmigt, ob persönlich, auf dem Terminalbildschirm oder auf einem Mikrochip. Ganz früher hat die Gesellschaft es den Bürgern erlaubt, Bilder ihrer Partner und Angehörigen bei sich zu tragen. Wenn jemand verstorben oder fortgegangen war, hatte man wenigstens eine Erinnerung an diesen Menschen, doch das ist schon seit Jahren verboten. Inzwischen hat die Gesellschaft sogar mit der Tradition gebrochen, Partnern nach ihrem ersten persönlichen Treffen neue Fotos voneinander zu senden. Das habe ich aus einer der Nachrichten erfahren, die ich nicht aufgehoben habe – eine Information der Paarungsbehörde an alle, die sich für eine Paarung entschieden haben. Darin hieß es unter anderem:
Die Paarungsformalitäten werden aus Gründen der Effizienz und der Optimierung der Resultate fortan rationalisiert.
Was die Frage aufwirft, ob es noch andere Irrtümer gegeben hat.
Wieder schließe ich die Augen und wünsche mir, mir Kys Gesicht vorstellen zu können. Aber jenes Bild, das ich in letzter Zeit heraufbeschwöre, scheint unvollständig und irgendwie verschwommen. Ich frage mich, wo Ky jetzt ist, was mit ihm geschieht und ob er es geschafft hat, das Stück grünen Seidenstoffs aufzubewahren, das ich ihm geschenkt habe.
Ob er mich in seinem Herzen bewahrt hat.
Ich ziehe ein anderes Blatt Papier heraus und falte es auf dem Bett auseinander. Dabei fällt auch das rosarote Blütenblatt einer Neorose mit heraus. Es fühlt sich genauso an wie ein Blatt Papier, es ist welk und schon gelblich an den Rändern.
Meine Bettnachbarin schaut neugierig zu mir herüber, und deswegen klettere ich von meinem Bett auf das untere. Die anderen Mädchen scharen sich um mich, wie immer, wenn ich dieses besondere Blatt hervorhole. Man kann mich nicht dafür bestrafen, denn schließlich ist sein Besitz weder illegal, noch habe ich es verbotenerweise eingeschmuggelt. Es ist ein Ausdruck von einem öffentlichen Terminal, aber da wir hier nichts außer Nachrichten ausdrucken können, ist dieses kleine Stück Kunst für uns zu etwas Wertvollem geworden.
»Ich befürchte, wir können es uns heute zum letzten Mal anschauen«, seufze ich. »Es zerfällt langsam.«
»Ich habe leider nicht daran gedacht, einen Ausdruck von einem der Hundert Gemälde mitzubringen«, sagt Lin mit gesenktem Blick.
»Ich auch nicht«, erwidere ich. »Jemand hat es mir geschenkt.«
Xander hat mir das Bild gegeben, an jenem Tag, als wir in unserer Siedlung voneinander Abschied nahmen. Es handelt sich um Nr. 19 der Hundert Gemälde – Die Colorado-Schlucht von Thomas Moran –, zu dem ich in der Schule einmal eine Interpretation vorgetragen habe. Damals habe ich gesagt, es sei eines meiner Lieblingsbilder, und Xander muss sich nach all den Jahren noch daran erinnert haben. Das Bild ängstigte und faszinierte mich zugleich – der Himmel war so spektakulär, die Landschaft so schön und gefährlich, so voller Höhen und Tiefen. Ich fürchtete mich vor der Weite eines Ortes wie diesem. Zugleich bedauerte ich, dass ich dies niemals sehen würde: grüne Bäume, die sich an rötliche Felsen klammern, blaugraue Wolken, die über den Himmel wirbeln, die Landschaft badend in goldenem Licht und Dunkelheit.
Ich frage mich, ob etwas von dieser Sehnsucht in meiner Stimme mitschwang, als ich von dem Bild erzählte, ob Xander es bemerkte und sich daran erinnerte. Xander spielt seine Trümpfe noch immer sehr subtil aus, und dieses Gemälde ist einer davon. Denn wenn ich jetzt das Bild oder eines der Neorosen-Blütenblätter betrachte, denke ich daran, wie vertraut mir seine Nähe war und wie viel er wusste, und eine schmerzliche Sehnsucht erfüllt mich nach dem, was ich loslassen musste.
Ich habe recht gehabt. Es ist tatsächlich das letzte Mal gewesen, dass wir uns das Gemälde ansehen konnten. Als ich es falten will, zerfällt das Papier. Wir seufzen auf, alle zugleich, und unser vereinter Atem wirbelt die Fragmente durcheinander.
»Wir könnten uns das Bild auf dem Terminal ansehen«, schlage ich vor. Das einzige Terminal im Lager hockt summend drüben in der Haupthalle, groß und lauschend.
»Nein«, erwidert Indie. »Es ist schon zu spät.«
Es stimmt. Nach dem Abendessen müssen wir in unserer Unterkunft bleiben. »Dann eben morgen beim Frühstück«, sage ich.
Indie winkt resigniert ab und dreht ihr Gesicht weg. Sie hat recht. Ich weiß nicht genau, warum das nicht dasselbe ist, aber so ist es nun mal. Zuerst habe ich gedacht, der Besitz des Bildes mache es zu etwas Besonderem für mich, dabei war das gar nicht der springende Punkt. Entscheidend war, dass wir es uns ansehen konnten, ohne beobachtet zu werden und ohne gesagt zu bekommen, wie wir es betrachten sollten. Dadurch war es so wertvoll für uns.
Warum habe ich nicht schon früher, bevor ich hierhergekommen bin, Gemälde und Gedichte bei mir getragen? Dieses viele Papier in den Terminals, dieser große Luxus. So viele sorgfältig ausgewählte Beispiele der Schönheit, aber wir haben sie uns nicht gründlich genug angesehen. Wie konnte ich nicht erkennen, dass das Grün in der Nähe des Canyons so frisch war, dass man die Glätte der Blätter und ihre leichte Klebrigkeit – wie Schmetterlingsflügel, die sich zum ersten Mal entfalten – förmlich spüren konnte?
Mit einer raschen Bewegung wischt Indie die Reste des Blattes von meinem Bett. Sie hat nicht einmal hingesehen. Das verrät mir, wie leid es ihr um das Bild tut: Sie wusste genau, wo die Fragmente lagen.
Als ich sie zum Müllverbrenner bringe, schwimmen meine Augen in Tränen.
Schon gut, beruhige ich mich selbst. Schließlich bleiben dir noch andere, solidere Dinge, versteckt unter dem Papier und den Blütenblättern. Mein Tablettenbehälter, den alle Bürger bei sich tragen. Das Silberetui vom Paarungsbankett.
Kys Kompass und die blauen Tabletten von Xander.
Normalerweise bewahre ich den Kompass und die Tablette nicht ständig in meinem Beutel auf. Dafür sind sie zu wertvoll. Ich weiß nicht, ob die Funktionäre in meinen Sachen schnüffeln, aber die anderen Mädchen tun es ganz sicher.
Jedes Mal, wenn ich in einem neuen Lager ankomme, vergrabe ich deshalb den Kompass und die blauen Tabletten und hole sie erst kurz vor der Abreise wieder hervor. Beides ist nicht nur illegal, sondern für mich auch sehr wertvoll: Der goldglänzende Kompass kann mir die Richtung weisen, und die blauen Tabletten können mich auch ohne Wasser und Nahrung ein bis zwei Tage länger am Leben erhalten, das hat uns die Gesellschaft jedenfalls immer so erklärt. Xander hat mehrere Dutzend dieser Tabletten für mich gestohlen, so dass ich eine relativ lange Zeit überstehen könnte. Zusammen könnten diese beiden Geschenke mich vor dem sicheren Tod bewahren.
Wenn ich doch nur zu den Äußeren Provinzen gelangen könnte!
An Abenden wie diesem – kurz vor einer Verlegung – hoffe ich jedes Mal, dass ich noch genau weiß, wo ich meinen Besitz versteckt habe. Heute bin ich als Letzte vom Feld zurückgekehrt, die Hände von dem Erdreich einer ganz anderen Stelle auf dem Feld auffällig geschwärzt. Deswegen habe ich mich so beeilt, zum Waschbecken zu gelangen, in der inständigen Hoffnung, dass Indie mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe die andere Farbe meiner Hände nicht bemerkte. Auch hoffe ich, dass kein Schmutz aus dem Beutel fällt und niemand das sanfte Klingen hört, jenes verheißungsvolle Geräusch, wenn das Silberetui, der Kompass und der Tablettenbehälter aneinanderstoßen.
In den Lagern verberge ich die Tatsache, dass ich eine Bürgerin bin, sorgfältig vor den anderen Arbeiterinnen. Obwohl die Gesellschaft unseren Status normalerweise vertraulich behandelt, habe ich zufällig mitgehört, wie andere Mädchen sich darüber unterhielten, dass ihnen ihre Behälter mit den drei obligatorischen Tabletten weggenommen wurden, was bedeutet, dass ihnen – wegen eines eigenen Fehlers oder eines Vergehens ihrer Eltern – der Status als Bürgerinnen aberkannt wurde. Sie sind Aberrationen, genau wie Ky.
Unter der Aberration gibt es nur noch eine Stufe: die Anomalie. Aber man hört fast nicht mehr von Menschen, die als solche eingestuft wurden. Es ist, als hätten sie aufgehört zu existieren. Mir kommt es inzwischen so vor, als hätten nach dem Verschwinden der Anomalien die Aberrationen deren Platz eingenommen – jedenfalls in der kollektiven Wahrnehmung der Gesellschaft.
In Oria haben wir nie über die Gesetze der Deklassifizierung gesprochen, und ich habe mir ständig Sorgen darüber gemacht, durch mein Verhalten die Herabstufung meiner Familie verursachen zu können. Inzwischen habe ich mir die entsprechenden Gesetze jedoch zusammengereimt – aus dem, was Ky mir erzählt hat, und aus den Gesprächen der Mädchen in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlten.
Die Gesetze besagen: Wenn ein Elternteil deklassifiziert wird, ist die gesamte Familie betroffen.
Anders, wenn ein Kind deklassifiziert wird. Dann trägt das Kind allein die Konsequenzen seines Regelverstoßes.
Ky wurde wegen seines Vaters als Aberration eingestuft und nach dem Tod des ersten Markham-Sohnes nach Oria gebracht. Inzwischen weiß ich, wie wahrhaft außergewöhnlich Kys Situation war. Er konnte nur deswegen aus den Äußeren Provinzen zurückkehren, weil ein anderer getötet wurde, und das wiederum nur deshalb, weil Patrick und Aida hochrangiger gewesen sein mussten, als irgendjemand von uns ahnte. Ich frage mich, was aus ihnen geworden ist, und bei dem Gedanken daran wird mir eiskalt.
Aber, rufe ich mir ins Gedächtnis, wenn ich fliehe, um Ky zu finden, kann ich meine Familie nicht zerstören. Ich selbst kann herabgestuft werden, sie jedoch nicht.
An diese Gewissheit klammere ich mich –dass sie und Xander weiterhin in Sicherheit sein werden, wo auch immer mich meine Suche hinführen wird.
»Nachrichten«, verkündet die Funktionärin, als sie den Raum betritt. Es ist die mit der strengen Stimme und den freundlichen Augen. Sie nickt uns zu, bevor sie die Namen vorliest. »Mira Waring.«
Mira tritt nach vorn. Sie erhält drei Nachrichten, wie immer. Die Funktionärin hat die Seiten schon ausgedruckt und gelesen, bevor wir sie zu sehen bekommen, weil es Zeit spart, wenn wir uns nicht alle am Terminal anstellen müssen.
Indie hat keine Nachricht bekommen.
Für mich ist nur eine dabei, von meinen Eltern und Bram zusammen. Nichts von Xander. Dabei hat er bisher noch keine Woche versäumt.
Was ist passiert? Ich balle eine Hand um meinen Beutel und höre, wie das Papier darin knistert.
»Cassia«, sagt die Funktionärin. »Bitte kommen Sie mit mir ins Hauptgebäude. Wir haben einen Kontakt für Sie.« Die anderen Mädchen starren mich überrascht an.
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Ich kann mir denken, wer es ist. Meine Funktionärin, die mich über das Terminal überprüfen will.
Ich sehe ihr Gesicht ganz deutlich vor mir, jeden eiskalten Zug.
Ich will sie nicht sehen!
»Cassia«, mahnt die Funktionärin. Ich drehe mich um und betrachte die anderen Mädchen und die Unterkunft, die mir plötzlich warm und gemütlich erscheint. Die Funktionärin geht mir auf dem Weg zum Hauptgebäude voraus, und ich höre schon beim Durchqueren der Eingangshalle das Terminal auf der anderen Seite summen.
Einen Augenblick lang senke ich die Augen, bevor ich den Blick zum Terminal hebe. Erst muss ich mein Gesicht, meine Hände und Augen unter Kontrolle bekommen. Haltung und Miene müssen so beherrscht sein, dass niemand in mir lesen kann.
»Cassia«, sagt jemand. Die Stimme kenne ich!
Dann blicke ich auf und traue meinen Augen nicht.
Er ist hier!
Der Terminalbildschirm ist leer. Dafür steht er vor mir, er selbst!
Er ist hier!
Heil, gesund und unversehrt.
Hier.
Er ist nicht allein – ein Funktionär steht hinter ihm –, aber egal, er ist –
Hier.
Ich schlage meine geröteten, geäderten Hände vor die Augen, weil mich der Anblick überwältigt.
»Xander«, flüstere ich.
Es ist anderthalb Monate her, seitdem wir den Jungen im Wasser zurückgelassen haben. Jetzt liege ich im Dreck, und Feuer fällt aus der Luft.
Wie immer sage ich mir: Es ist ein Lied. Der Bass des schweren Geschützfeuers, der Sopran der Schreie, der Tenor meiner eigenen Furcht. Alles Teil der Musik.
Versucht nicht, wegzulaufen. Das habe ich den anderen eingeschärft, aber neue Lockvögel wollen niemals hören. Sie glauben das, was die Gesellschaft ihnen auf dem Weg hierher weisgemacht hat: Leistet euren Dienst in den Dörfern ab, und nach sechs Monaten bringen wir euch wieder nach Hause. Dann werdet ihr euren Bürgerstatus zurückerhalten.
Keiner überlebt sechs Monate lang.
Wenn ich rauskomme, wird es nur noch geschwärzte Gebäude und zersplitterte, graue Salbeibüsche geben. Verbrannte, gefallene Leichen, verstreut über die orangefarbene, sandige Erde.
Die Musik bricht ab, und ich fluche. Die Flugschiffe ziehen weiter. Ich weiß, welches Ziel sie anvisieren.
Früh an diesem Morgen hörte ich Stiefel auf dem frostigen Boden hinter mir knirschen. Ich blickte mich nicht um, um nachzusehen, wer mir an den Rand des Dorfes gefolgt war.
»Was machst du hier?«, fragte jemand. Ich erkannte die Stimme nicht, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Ständig werden neue Leute aus den Lagern hier rausgeschickt. In diesen Tagen sterben wir schneller und schneller.
Schon bevor man mich damals in Oria in den Zug bugsierte, wusste ich, dass die Gesellschaft uns niemals zu echten Kampfeinsätzen schicken würde. Für diesen Zweck stehen ihr genügend hochtechnisierte Waffen und ausgebildete Soldaten zur Verfügung. Leute, die keine Aberrationen oder Anomalien sind.
Was die Gesellschaft braucht – und wozu sie uns benutzt –, ist Kanonenfutter. Lockvogel-Dorfbewohner. Sie verlegt uns überall dorthin, wo Menschen gebraucht werden, um dem Feind als Ziel zu dienen. Sie wollen den Feind glauben machen, die Äußeren Provinzen seien nach wie vor belebt und bewohnbar, obwohl ich bisher niemanden außer meinesgleichen gesehen habe. Aus der Luft hinuntergeworfen, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Gerade genug, um zu überleben. Bis der Feind uns tötet.
Niemand kehrt nach Hause zurück.
Außer mir. Ich bin nach Hause zurückgekehrt. Die Äußeren Provinzen waren einst mein Zuhause.
»Der Schnee«, sagte ich an diesem Morgen zu dem neuen Lockvogel. »Ich betrachte den Schnee.«
»Hier schneit es nicht«, erwiderte er abfällig.
Ich reagierte nicht, sondern schaute weiterhin hinauf zum nächstgelegenen Plateau. Ein herrlicher Anblick, weißer Schnee auf roten Felsen. Wenn er schmilzt, wird er kristallklar und funkelt in allen Farben des Regenbogens. Ich bin schon dort oben gewesen, als es geschneit hat. Es war wunderschön, wenn sich die Flocken wie Federn auf die verdorrten Pflanzen legten.
Ich hörte, wie sich der Lockvogel hinter mir umdrehte und zum Lager zurückrannte. »Schaut mal, da oben auf dem Plateau!«, rief er, und die anderen kamen auf ihn zu und beantworteten aufgeregt seine Rufe.
»Wir gehen rauf und holen Schnee, Ky!«, rief mir jemand einige Augenblicke später zu. »Komm mit!«
»Ihr werdet es nicht rechtzeitig schaffen«, antwortete ich. »Der Schnee schmilzt zu schnell. Noch bevor ihr ankommt, ist er weg.«
Aber niemand hörte auf mich. Die Funktionäre lassen uns dürsten, und das wenige Wasser, das wir bekommen, schmeckt nach dem pelzig-faden Inneren unserer Feldflaschen. Der nächstgelegene Fluss hier ist tatsächlich vergiftet, und es regnet nur selten.
Ein kalter Schluck frischen Wassers. Ich verstehe, warum sie dorthin wollten.
»Bist du sicher?«, rief einer von ihnen mir zu, und ich nickte wieder.
»Kommst du mit, Vick?«, rief ein anderer.
Vick stand auf, schirmte seine stechend blauen Augen mit einer Hand ab, sah in die Ferne und spuckte dann auf das bereifte Salbeigebüsch. »Nein«, antwortete er. »Ky sagt, er wird schmelzen, bevor wir ihn erreichen. Außerdem müssen wir Gräber ausheben.«
»Dauernd sollen wir graben«, murrte einer der Lockvögel. »Wir sollen uns wie Bauern verhalten. Das hat die Gesellschaft gesagt.« Er hatte recht. Man verlangt von uns, die Schaufeln und das Saatgut aus den Schuppen im Dorf zu nutzen, um Wintergetreide anzubauen, die Leichen dagegen einfach liegen zu lassen. Ich habe andere Lockvögel erzählen hören, dass das in den anderen Dörfern durchaus üblich ist. Sie überlassen die Leichen der Gesellschaft, dem Feind oder hungrigen Tieren.
Aber Vick und ich bestatten die Gefallenen. Mit dem Jungen hat es angefangen, und niemand hat uns bisher daran gehindert.
Vick lachte freudlos. In Abwesenheit von Funktionären oder Offizieren wurde er zu unserem inoffiziellen Führer, und manchmal vergessen die anderen Lockvögel, dass er in Wirklichkeit keinerlei von der Gesellschaft anerkannte Macht besitzt. Sie vergessen, dass auch er eine Aberration ist. »Ich zwinge euch zu nichts. Ky genauso wenig. Ihr wisst, wer das Sagen hat, und wenn ihr das Risiko eingehen wollt, dort hinaufzuklettern, werde ich euch nicht davon abhalten.«
Die Sonne kletterte höher, die Lockvögel ebenfalls. Ich beobachtete sie eine Weile lang. Durch ihre schwarze Zivilkleidung glichen sie aus der Ferne einem Schwarm Ameisen, der einen Hügel hinaufkrabbelt. Dann stand ich auf und machte mich wieder an die Arbeit. Ich hob auf dem Friedhof Gruben für diejenigen aus, die bei dem Angriff letzte Nacht umgekommen waren.
Vick und einige andere arbeiteten Seite an Seite mit mir. Sieben Löcher mussten wir graben. Nicht besonders viel in Anbetracht der Heftigkeit des Beschusses und der Tatsache, dass wir hier fast hundert Mann waren.
Ich drehte den Kletterern den Rücken zu, damit ich nicht mit ansehen musste, dass der Schnee schon geschmolzen war, bevor sie oben auf dem Plateau ankamen. Dort hinaufzugehen war reine Zeitverschwendung.
Es ist auch Zeitverschwendung, über die Menschen nachzudenken, die aus meinem Leben verschwunden sind. Und so, wie die Dinge hier draußen liegen, habe ich nicht mehr besonders viel Zeit zu vergeuden.
Aber ich kann meine Gedanken nicht aufhalten.
An meinem ersten Abend im Ahornviertel blickte ich aus dem Fenster in meinem neuen Zimmer, und nichts kam mir vertraut oder heimisch vor. Daher wandte ich mich ab. Doch dann kam Aida ins Zimmer. Sie sah meiner Mutter so ähnlich, dass sie mir das Gefühl nahm, zu ersticken.
Sie hielt mir den Kompass hin. »Unsere Eltern hatten nur ein Artefakt, aber zwei Töchter. Deine Mutter und ich kamen überein, ihn abwechselnd zu nehmen, doch dann ist sie fortgegangen.« Sie öffnete meine Hand und legte den Kompass hinein. »Das war unser gemeinsames Artefakt. Und du bist unser gemeinsamer Sohn. Es ist für dich.«
»Ich darf das nicht annehmen«, erwiderte ich. »Ich bin eine Aberration. Wir dürfen so etwas nicht besitzen.«
»Trotzdem«, beharrte Aida. »Er gehört dir.«
Dann gab ich ihn Cassia, und sie schenkte mir die grüne Seide. Ich wusste, dass sie sie mir irgendwann wegnehmen würden. Ich wusste, dass ich sie niemals würde behalten können. Daher band ich sie auf unserem Weg den Hügel hinunter an einen Baum. Rasch, damit Cassia es nicht bemerkte.
Ich mag den Gedanken daran, wie das Stück Stoff bei Wind und Wetter dort oben auf dem Hügel flattert.
Denn am Ende hat man nicht immer Einfluss darauf, was man behalten kann. Nur darauf, wie man es loslassen kann.
Cassia.
An sie habe ich gedacht, als ich den Schnee zum ersten Mal sah. Ich dachte: Wir könnten dort hinaufklettern. Auch wenn er ganz geschmolzen wäre. Wir könnten uns hinsetzen und Wörter in den feuchten Sand schreiben. Das könnten wir tun, wenn du nicht fort wärst.
Doch dann dachte ich: Aber nicht du bist fort. Sondern ich musste dich verlassen.
Ein Stiefel taucht am Rande des Grabes auf. Anhand der Kerben in der Sohle weiß ich, wem er gehört. Mit den Kerben markieren manche von uns die Zeit, die sie bereits überlebt haben. Niemand sonst hat so viele Kerben, so viele Tage, die bereits abgehakt sind. »Du bist nicht tot«, stellt Vick fest.
»Nein«, sage ich, stütze mich ab und richte mich auf. Ich spucke etwas Erde aus und greife nach der Schaufel.
Vick gräbt neben mir. Keiner von uns redet über diejenigen, die wir heute nicht begraben können. Die, die versucht haben, hinauf zum Schnee zu klettern.
Hinten im Dorf höre ich die Lockvögel einander zurufen. Einige Rufe gelten uns: Hier sind noch drei Tote!, schreien sie und schweigen abrupt, als sie hinaufblicken.
Keiner der Lockvögel, die hinauf zum Plateau geklettert sind, wird zurückkehren. Ich ertappe mich dabei, wie ich das Unmögliche hoffe: dass sie vor dem Angriff wenigstens ihren Durst gelöscht haben. Dass sie reinen, kalten Schnee im Mund hatten, als sie starben.
Xander, hier, genau vor mir. Blonde Haare, blaue Augen und ein so liebevolles Lächeln, dass ich nicht anders kann, als meine Hand nach ihm auszustrecken, noch bevor der Funktionär uns die Erlaubnis erteilt hat, einander zu berühren.
»Cassia!«, ruft Xander aus, und auch er kann nicht warten. Er zieht mich in seine Arme, und wir halten uns ganz fest. Ich versuche gar nicht erst, den Impuls zu unterdrücken, mein Gesicht an seiner Brust zu vergraben, an seinen Kleidern, die nach zu Hause und nach ihm riechen.
»Ich habe dich vermisst«, sagt Xander. Seine Stimme vibriert über meinem Kopf. Sie klingt tiefer. Er wirkt kräftiger. Es ist ein so gutes, wunderbares Gefühl, bei ihm zu sein, dass ich mich zurücklehne, sein Gesicht in beide Hände nehme, ihn zu mir hinunterziehe und ihn auf die Wange küsse, auf eine Stelle gefährlich nahe an seinem Mund. Als ich zurücktrete, haben wir beide Tränen in den Augen. Wobei Xander mit Tränen in den Augen ein so seltsamer Anblick ist, dass ich nach Luft schnappe.
»Ich habe dich auch vermisst«, sage ich und frage mich, wie viel von meinem inneren Schmerz auch daher rührt, dass ich Xander verloren habe.
Der Funktionär hinter Xander lächelt. Unser Wiedersehen lässt nichts zu wünschen übrig. Diskret geht er ein Stück zur Seite und gibt etwas in seinen Datenpod ein. Wahrscheinlich irgendetwas wie: Beide Subjekte zeigen angemessene Reaktion auf Wiedersehen.
»Warum?«, frage ich Xander. »Wie kann es sein, dass du hier bist?« Obwohl es so guttut, ihn wiederzusehen, ist es fast zu schön, um wahr zu sein. Ist das nur ein weiterer Test meiner Funktionärin?
»Unsere Paarung ist jetzt fünf Monate her«, erklärt er. »Alle, die im selben Monat gepaart wurden wie wir, haben jetzt ihren ersten persönlichen Kontakt. Das hat die Paarungsbehörde bisher noch nicht gestrichen.« Er lächelt mich an, aber sein Blick ist trotzdem ernst. »Ich habe darauf hingewiesen, dass wir nicht mehr in unmittelbarer Nähe voneinander wohnen und daher ebenfalls ein Treffen verdienen. Und es ist üblich, dass das Treffen dort stattfindet, wo das Mädchen wohnt.«
Er hat nicht gesagt, »wo das Mädchen zu Hause ist«. Das war taktvoll, aber er hat recht. Dieses Arbeitslager ist nicht mein Zuhause. Ich könnte Oria als mein Zuhause bezeichnen, weil Xander dort wohnt und unsere Freundin Em und weil ich dort aufgewachsen bin. Doch obwohl ich dort nie gelebt habe, könnte ich auch Keya als Zuhause bezeichnen, den neuen Wohnort von Bram und meinen Eltern.
Und es gibt einen Ort, an dem Ky lebt und an den ich als mein Zuhause denke, obwohl ich nicht weiß, wie er heißt und wo genau er liegt.
Xander nimmt mich an der Hand. »Wir dürfen miteinander ausgehen«, sagt er. »Wenn du Lust hast.«
»Natürlich!«, antworte ich und muss unwillkürlich lachen. Vor wenigen Minuten habe ich mir noch die Hände geschrubbt und mich allein gefühlt, und jetzt ist Xander hier! Ich fühle mich, als wäre ich an den erleuchteten Fenstern eines Hauses in Oria vorbeigelaufen, wobei ich vorgab, mir nichts aus all dem zu machen, was ich verloren habe und zurücklassen musste, und dann plötzlich in dem golden warmen Zimmer zu stehen, ohne auch nur die Hand erhoben zu haben, um die Tür zu öffnen.
Der Funktionär weist mit einer Geste auf den Ausgang, und ich bemerke, dass es nicht derselbe ist, der uns damals bei unserem ersten Rendezvous in dem Restaurant in unserem alten Viertel begleitet hat. Das war ein besonderes Arrangement für Xander und mich gewesen, anstatt einer ersten Kontaktaufnahme von Terminal zu Terminal, weil wir einander schon kannten. Der Funktionär, der uns damals begleitete, war jung. Dieser ist es auch, aber er sieht freundlich aus. Er bemerkt meinen Blick und nickt mir zu, förmlich und höflich, aber auch irgendwie nett. »Dass jedem Paar ein spezieller Funktionär zugeordnet wurde, gibt es nicht mehr«, erklärt er. »So ist es effizienter.«
»Für ein Essen ist es zu spät«, meint Xander, »aber wir können in die Stadt gehen. Wo möchtest du gerne hin?«
»Ich weiß nicht einmal, was es in der Stadt alles gibt«, erwidere ich. Vage erinnere ich mich daran, wie ich mit dem Airtrain angekommen und die Straße hinunter zum Weitertransport ins Lager gegangen bin. An fast kahle Bäume, die den Himmel mit ihren spärlichen roten und goldenen Blättern sprenkelten. Aber ist es wirklich diese Stadt oder eine andere in der Nähe eines anderen Lagers gewesen? Es musste weit früher im Herbst gewesen sein, wenn die Blätter noch so kräftig geleuchtet hatten.
»Die Einrichtungen hier sind kleiner«, erklärt Xander. »Aber es gibt alles, was es in unserer Siedlung auch gab – eine Konzerthalle, ein Spielcenter und ein, zwei Kinos.«
Ein Kino! Ich habe schon so lange keine Filmvorführung mehr gesehen. Dort möchte ich hingehen und will es schon aussprechen. Ich stelle mir vor, wie das Licht im Saal gedimmt wird und ich darauf warte, dass Bilder über die Leinwand flackern und Musik aus den Lautsprechern ertönt. Doch dann erinnere ich mich an die Angriffe und die Tränen in Kys Augen, als das Licht wieder eingeschaltet wurde, und ich habe eine andere Idee. »Gibt es hier ein Museum?«
Ein Funke blitzt in Xanders Augen auf, den ich nicht einordnen kann. Erheiterung? Überraschung? Ich beuge mich näher zu ihm hin, um sicherzugehen. Normalerweise stellt er für mich kein Geheimnis, nichts Mysteriöses dar: Er ist offen und ehrlich, und ich kann ihn lesen wie eine Geschichte, die ich wieder und wieder lese und immer aufs Neue liebe. Doch in diesem Moment weiß ich nicht, was er denkt. »Ja«, beantwortet er meine Frage.
»Da möchte ich gerne hin«, sage ich, »wenn du damit einverstanden bist.«
Xander nickt.
Bis zur Stadt ist es ein Stück zu Fuß, und draußen riecht es nach Landluft – Holzfeuer, eine kühle Brise und Äpfel, die zu Most vergären. Ich empfinde eine plötzliche Zuneigung für diesen Ort, und ich weiß, dass sie mit dem Jungen neben mir zu tun hat. Xander verschönert alles, jeden Ort, jeden Menschen. Die Abendluft trägt das bittersüße Aroma dessen mit sich, was hätte sein können, und ich atme tief ein, als Xander sich unter dem gelblichen Licht einer Straßenlaterne umdreht und ich in seinem Blick immer noch lese, was sein könnte.
Als ich sehe, dass das Museum nur einstöckig ist, verlässt mich der Mut. Es ist so klein! Was ist, wenn es hier nicht so funktioniert wie in Oria?
»Wir schließen in einer halben Stunde«, mahnt der Mann am Empfang. Seine Uniform sieht fadenscheinig und gebraucht aus, genau wie er selbst – als seien die Ränder ein wenig abgestoßen. Er fährt mit den Händen über den Tisch und schiebt uns einen Datenpod zu. »Geben Sie Ihre Namen ein«, sagt er, und das tun wir, der Funktionär zuerst. Von nahem betrachtet, hat er dieselben müden Ränder um die Augen wie der ältere Mann am Empfang.
»Danke«, sage ich, nachdem ich meinen Namen eingegeben und den Datenpod wieder dem Mann zugeschoben habe.
»Bei uns gibt es nicht viel zu sehen«, sagt er.
»Das macht uns nichts aus«, erwidere ich.
Ich frage mich, ob unser Funktionär es merkwürdig findet, dass ich ausgerechnet hierher wollte, doch zu meiner Überraschung dreht er sich praktisch sofort weg, als wir den Hauptausstellungsraum des Museums betreten. Ganz so, als wolle er uns die Möglichkeit geben, uns allein zu unterhalten. Er geht zu einer Vitrine hinüber und lehnt sich nach vorn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in einer Pose, die in ihrer Lässigkeit fast elegant wirkt. Ein netter Funktionär. Natürlich muss es die geben. Großvater war einer.
Erleichterung erfüllt mich, als ich praktisch sofort finde, was ich suche – eine Landkarte der Gesellschaft hinter Glas. Sie steht in der Mitte des Raumes. »Da«, sage ich zu Xander. »Wollen wir uns die mal ansehen?«
Xander nickt. Während ich die Namen der Flüsse, Städte und Provinzen lese, tritt er neben mir von einem Fuß auf den anderen und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. Anders als Ky, der an solchen Orten stillhält, macht Xander ständig kleine, selbstvergewissernde Bewegungen, kleine Regungswellen. Das macht ihn bei den Spielen so unschlagbar gut – das Hochziehen der Augenbrauen, das Lächeln, die Art, wie er ständig die Karten mit den Fingern hin und her schiebt.
»Diese Ausstellung ist schon seit längerer Zeit nicht auf den neuesten Stand gebracht worden«, sagt eine Stimme hinter mir, und ich zucke vor Schreck zusammen. Es ist der Mann vom Empfang. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem weiteren Mitarbeiter. Er beobachtet mich und lächelt, fast ein wenig traurig. »Die anderen sind hinten und schließen zur Nacht. Wenn Sie etwas fragen möchten, müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«
Ich werfe unserem Funktionär einen Blick zu. Er steht immer noch vor der Vitrine in der Nähe des Eingangs, scheinbar völlig vertieft in das, was immer dort ausgestellt wird. Ich schaue Xander an und versuche, ihm eine wortlose Nachricht zu übermitteln. Bitte!
Im ersten Moment befürchte ich, er habe mich nicht verstanden oder wolle mich nicht verstehen. Ich fühle, wie seine Hand die meine fester umschließt, sehe, wie sich sein Blick verhärtet, und dann nickt er. »Beeil dich«, mahnt er, lässt meine Hand los und geht hinüber zu dem Funktionär auf der anderen Seite des Raumes.
Ich muss es versuchen, obwohl ich nicht glaube, dass dieser müde alte Mann irgendwelche Antworten weiß. Die Hoffnung, die in mir aufgekeimt ist, verwelkt wieder. »Ich möchte gerne mehr über die glorreiche Geschichte der Provinz Tana erfahren.«
Eine Pause. Ein Herzschlag.
Der Mann atmet tief durch und fängt an zu erzählen. »Die Provinz Tana ist berühmt für ihre malerischen Landschaften und ihre fruchtbaren Böden, die extensive Landwirtschaft ermöglichen«, beginnt er in sachlichem Ton.
Er weiß nichts. Das Herz wird mir schwer. Daheim in Oria, so hat mir Ky erzählt, waren Großvaters Gedichte wertvolle Tauschobjekte. Durch die Frage nach der Frühgeschichte einer Provinz könne man den Archivisten mitteilen, dass man etwas eintauschen wolle. Ich habe gehofft, hier wäre es genauso. Wie dumm von mir! Vielleicht gibt es in Tana überhaupt keine Archivisten, und wenn es sie gäbe, würden sie sich wahrscheinlich an angenehmeren Orten aufhalten und nicht in diesem traurigen kleinen Museum hocken und auf die Schließungszeit warten.
Der Mann fährt fort. »Während der Prä-Gesellschaftszeit gab es manchmal Überflutungen in Tana, die jedoch schon seit Jahren unter Kontrolle sind. Wir gehören zu den produktivsten Landwirtschaftsgebieten innerhalb der Gesellschaft.«
Ich blicke mich nicht zu Xander um. Auch nicht zu dem Funktionär. Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Karte vor mir. Ich habe das schon einmal versucht, und auch damals ist es mir nicht gelungen. Doch beim ersten Mal hat es daran gelegen, dass ich es nicht fertigbrachte, das Gedicht wegzugeben, das Ky und mir gemeinsam gehörte.
Plötzlich fällt mir auf, dass der Mann aufgehört hat zu reden und mir genau in die Augen schaut. »Sonst noch etwas?«, fragt er.
Ich sollte aufgeben. Sollte lächeln, mich Xander zuwenden und das Ganze vergessen. Sollte akzeptieren, dass der Mann nichts weiß, und weitergehen. Doch aus irgendeinem Grund denke ich plötzlich an eines dieser letzten roten Blätter an den Bäumen, das sich vor dem Himmel abzeichnet. Ich atme. Es fällt.
»Ja«, sage ich leise.
Großvater hat mir zwei Gedichte geschenkt. Ky und ich liebten das von Dylan Thomas, aber in diesem Moment kommen mir Worte aus dem anderen Gedicht in den Sinn. Ich kann mich nicht mehr ganz genau daran erinnern, aber eine Strophe ist mir plötzlich so deutlich im Gedächtnis, als sähe ich sie geschrieben vor mir. Vielleicht liegt es daran, dass der Mann die Überflutungen erwähnt hat:
Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,
Mag Flut mich weit hinweg geleiten,
So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,
Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.
Während ich rezitiere, verwandelt sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Er wird clever, wach, lebendig. Ich muss mich richtig erinnert haben. »Das ist ein interessantes Gedicht«, bemerkt er. »Ich glaube, keines der Hundert.«
»Nein«, bestätige ich. Meine Hände zittern, und ich wage zu hoffen. »Aber immer noch etwas wert.«
»Ich fürchte nicht«, entgegnet er. »Es sei denn, Sie haben das Original.«
»Nein«, sage ich. »Es wurde vernichtet.« Ich habe es vernichtet. Ich denke an den Augenblick auf der Bibliotheksbaustelle zurück und daran, wie das Papier hochflatterte, bevor es hinuntersank und verbrannte.